Kara Günlük - Mutlu Ergün - E-Book

Kara Günlük E-Book

Mutlu Ergün

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Beschreibung

»Kara Günlük« ist junge, freche politische Satire und bringt den deutschen Bildungsroman auf das nächste Level. Seit Noah Sows »Deutschland Schwarz-Weiß« und Fatih Çevikkollus »Der Moslem-TÜV« ist es offiziell: Es darf über Rassismus gelacht werden. Mutlu Ergüns »Kara Günlük - Die geheimen Tagebücher des SESPERADO« schließt an diese Tradition an. In seinen Tagebüchern zählt Sesperado nicht nur die Tage bis zur R.O.C., der Revolution of Color, dem Tag an dem sich alle People of Color (P.O.C.) vereinen, er trägt, oft auch auf sehr komische Art und Weise, mit seinen Lyrical-Guerrilla-Strategien dazu bei, diesen Tag näher zu bringen. In Kara Günlük erfahren wir zum Beispiel, was man alles auf die Frage »Wo kommst du heeeer« antworten kann und was passiert, wenn ein P.O.C.-Revolutionär zur Bundeswehrmusterung gerufen wird. Sesperados Familien- und Freundeskreis entblößt die unfreiwillige Komik des Alltagsrassismus und stößt damit Angehörige der Mehrheitsgesellschaft immer wieder aus ihrer Privilegien-Kuschelecke. Die geheimen Tagebücher sind eine amüsante Anleitung, wie man rebellieren und gleichzeitig Spaß dabei haben kann.

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Seitenzahl: 253

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Mutlu Ergün

Kara Günlük

Die geheimen Tagebücher des Sesperado

Seit Noah Sows »Deutschland Schwarz-Weiß« und Fatih Çevikkollus »Der Muslim-TÜV« ist es offiziell: Es darf über Rassismus gelacht werden. Mutlu Ergüns »Kara Günlük — Die geheimen Tagebücher des SESPERADO« schließt an diese Tradition an. »Kara Günlük« ist junge, freche politische Satire und bringt den deutschen Bildungsroman auf das nächste Level. In seinen Tagebüchern zählt Sesperado nicht nur die Tage bis zur R.O.C., der Revolution of Color, dem Tag an dem sich alle People of Color (P.O.C.) vereinen, er trägt, oft auch auf sehr komische Art und Weise, mit seinen Lyrical-Guerrilla-Strategien dazu bei, diesen Tag näher zu bringen. Im »Kara Günlük« erfahren wir zum Beispiel, was man alles auf die Frage »Wo kommst du heeeer« antworten kann und was passiert, wenn ein P.O.C.-Revolutionär zur Bundeswehrmusterung gerufen wird. Sesperados Familien- und Freundeskreis entblößt immer wieder die unfreiwillige Komik des Alltagsrassismus und stößt damit Angehörige der Mehrheitsgesellschaft immer wieder aus ihrer Privilegien-Kuschelecke. »Kara Günlük — Die geheimen Tagebücher des SESPERADO« ist eine amüsante Anleitung, wie man rebellieren kann und gleichzeitig Spaß dabei hat.

Mutlu Ergün, Exil-Berliner, lebt, arbeitet und studiert in London als Autor, Pädagoge, Sozialforscher und Performer. Seit 2001 ist Ergün Mitglied beim anti-rassistischen Verein Phoenix e.V. und dort als White-Awareness und Empowerment-Trainer tätig. Ergün organisierte zusammen mit Deniz Utlu zwischen 2004 und 2006 die Lesereihe »tausend worte tief«, die Autor_innen und Musiker_innen of Color eine Plattform für ihre Kunst bot. Er arbeitet seit 2004 als Redakteur beim Kultur- & Gesellschaftsmagazin freitext. Zusammen mit Noah Sow entwickelte er die antirassistische politische Satire »Edutainment-Attacke!«, für die er bisweilen in Deutschland performt.

Mutlu Ergün

Kara Günlük

Die geheimen Tagebücher des Sesperado

Mutlu Ergün – Kara Günlük

ebook UNRAST Verlag, Oktober 2013

ISBN 978-3-95405-013-0

© UNRAST-Verlag, Münster

Postfach 8020, 48043 Münster – Tel. (0251) 66 62 93

[email protected]

www.unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Vantoy »V« Lubanzadio

Satz: UNRAST-Verlag

Inhalt

1. Eintrag, 100. Tag vor R.O.C.

2. Eintrag, 99. Tag vor R.O.C.

3. Eintrag, 98. Tag vor R.O.C.

4. Eintrag, 96. Tag vor R.O.C.

5. Eintrag, 94. Tag vor R.O.C.

6. Eintrag, 92. Tag vor der R.O.C.

7. Eintrag, 89. Tag vor R.O.C.

8. Eintrag, 86. Tag vor R.O.C.

9. Eintrag, 84. Tag vor R.O.C.

10. Eintrag, 83. Tag vor R.O.C.

11. Eintrag, 81. Tag vor R.O.C.

12. Eintrag, 80. Tag vor R.O.C.

14. Eintrag, 70. Tag vor R.O.C.

15. Eintrag, 69. Tag vor R.O.C.

16. Eintrag, 62. Tag vor R.O.C.

17. Eintrag, 56. Tag vor R.O.C.

18. Eintrag, 55. Tag vor R.O.C.

19. Eintrag, 54. Tag vor R.O.C.

20. Eintrag, 52. Tag vor R.O.C.

21. Eintrag, 49. Tag vor R.O.C.

22. Eintrag, 45. Tag vor R.O.C.

23. Eintrag, 32. Tag vor R.O.C.

24. Eintrag, 30. Tag vor R.O.C.

25. Eintrag, 29. Tag vor R.O.C.

26. Eintrag, 26. Tag vor R.O.C.

27. Eintrag, 24. Tag vor R.O.C.

28. Eintrag, 20. Tag vor R.O.C.

29. Eintrag, 17. Tag vor R.O.C.

30. Eintrag 12. Tag vor R.O.C.

31. Eintrag, 11. Tag vor R.O.C.

32. Eintrag, 9. Tag vor R.O.C

33. Eintrag, 7. Tag vor R.O.C.

33. Eintrag, 5. Tag vor R.O.C.

34. Eintrag, 4. Tag vor R.O.C.

35. Eintrag, 3. Tag vor R.O.C.

36. Eintrag, 2. Tag vor R.O.C.

48. Eintrag, letzter Tag vor R.O.C.

Diese Geschichte ist gewidmet:

meiner Familie, Anne ve Baba, Merih, Sabriye, Dilay und Alise (Siz benim en büyük desteğimsiniz), Çayan (Ich hoffe, du findest deinen Weg), Ibowski (biz adama k…), Kazim (Danke für den Fisch), Burcu & Banu (A-Hörnchen und B-Hörnchen, — ihr seid die Süßesten), Efe & Ece (Tam can´sınız yav! Istanbul — ben geliyorum!), meinen Freunden, Deniz (Ohne dich gäb es kein TWT und keinen Sesperado!), Khalidcan (Bleib wie du bist), Onur (My London-Home-Girl - keep on rockin´!), Bilgin, Banu K. (My Hanım Ablalar — macht sie fertig!), meinem »tausend worte tief«-Publikum & das Café: vorWien (Ihr wisst, wer ihr seid, Danke für das Feedback), meiner Phoenix-Crew, Fagbola & Familie (Du bist ein Geschenk, der Geist von Phoenix ist auch im Sesperado), Andreas a/k/a Dre & Familie (Du bist einer der reflektiertesten Weißen, die ich kenne), Noah (Edutainment 4 LIFE!), meinen Lehrerinnen, Aretha (Von niemandem habe ich so viel gelernt, wie von dir), Grada (As u can c, I learned a lots in ur seminars), Frau Kramer (Sie haben mich erst zum Schreiben gebracht — R.I.P.), my Hanım Sissako (U saved my life), dem Insurrection-Notes-Team, Sharon, Pasquale und Deniz (These are just notes from the insurrection…), dem Unrast-Team, Martin und Willi (Shoot your best shot), und meiner besten Freundin Sofia (Du bist meine Inspiration — u r the bestest! Öptüm) — ich danke euch allen.

Ihr seid in meinem Herzen.

Sesperados Intro

SESPERADO muss nichts beweisen,Ich nehm’ dich mit auf Zeitreisen,Meine Worte schlagen Schneisen in Galaxien aus Eisen,Planeten kreisen um Visionen,Realitäten sind subjektive Illusionen,Subversive Emotionen schaffen in deinem Inneren einen Klon,Kleines Ego sitzt verloren auf Gottes Thron,SES ist mehr als nur ein Ton,Wo endet die Evolution?Unendlich ist nur verständlich, wenn die Logik gänzlich stirbt,Brenzlig wird das Leben, trennt es sich von dem Sinn,Was du liest, ist was ich bin,SESPERADO ist die Stimme, was du fühlst ist der Gewinn,In dir drin streckt der Schlüssel zum Nirgendwo,Dein Gehirn ist mein Kind und mein Klo,Nimm deinen Verstand und steck ihn dir in den Po,Lyrical Guerilla, direkt aus Berlin Zoo,Du kennst mich nicht,Doch ich kenn’ SESPERADO.

1. Eintrag, 100. Tag vor R.O.C.

Wo kommst du her?

Eigentlich ist dieses Thema ja total abgegessen. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, ob ich überhaupt mit dieser Belanglosigkeit mein schönes Tagebuch beschmutzen soll oder nicht. Aber schließlich habe ich mir gedacht: Ach, was soll´s, dir ist sowieso gerade langweilig, du hast nichts Besseres zu tun, also schreib einfach über dieses Thema. Du kannst nie wissen, vielleicht kommt ja doch was an.

Ihr werdet es schon ahnen: Es geht um die völlig sinnfreie, überflüssige, nervige, viel zu häufig jedem P.O.C. in Deutschland gestellte Frage: Wo kommst du her?

Ich habe mich schon lange nicht mehr unter Weißen bewegt, so dass mir diese Frage seit langer Zeit nicht mehr gestellt worden ist. Aber gestern hat mich Mecnun zu einem Essen mitgenommen, und — manchmal gibt es eben kein Entkommen.

Mecnuns Weiße Freundin Lena hatte ihn zu einem Abendessen in ihrer WG eingeladen. Ehrlich gesagt, hatte ich gar keine Lust mitzugehen, denn Lenas Mitbewohner sind alle weiß, und nicht sehr weise. Aber Mecnun bettelte und flehte; schließlich bot er mir an, den Rasen im Garten meiner Eltern zu mähen, womit ich für den nächsten Monat voll aus dem Schneider wäre. Außerdem ist er mein Cousin, also habe ich ihm den Gefallen getan.

Natürlich bin ich für solche Fälle vorbereitet. Mein Lyrical-Guerilla-Arsenal an Antworten ist bis zum Anschlag gefüllt. Ich mache keine Gefangenen. Außerdem würde ich niemals ohne die nötige Ausrüstung in einen Weißen Raum gehen. Zum einen habe ich immer benutzte und zusammengeknüllte Taschentücher in der Tasche, die ich den Leuten im Notfall an den Kopf schmeißen kann. Außerdem ein Tonband mit der Ansage: »Psst! Aus! Böses Hündchen!« und eine Kanone, genauer gesagt, eine Wasserpistole — die täuschend echte Nachbildung einer 45er Automatik. Sie enthält allerdings kein Wasser, sondern meine Pisse. So watch out now!

Lena hatte ein ausgezeichnetes Essen nach türkischer Art gezaubert, jedoch die Todsünde begangen, den Knoblauch wegzulassen. Da saßen wir nun alle am Tisch. Ich checkte die Lage sofort ab — fünf Weiße: Lena, ihre beiden Mitbewohner und deren Freunde; dann zwei P.O.C.s: Mecnun und ich.

Doch kaum hatten wir mit dem Essen angefangen — mein erster Bissen lag gerade mal auf der Gabel —, da geschah es, das erwartete Unfassbare, dieser Affront gegen jegliche interkulturelle Etikette. Einer stellte die scheinbar banale, aber im weißen Unterdrückungssystem fest verankerte Frage: Wo kommst du her?

Mecnun ging in Deckung; Lena hätte sich vor Schreck beinahe verschluckt. Ich hatte die Hand schon an meiner Wasserpistole, aber dann dachte ich mir: Okay, ich will das gute Essen nicht verderben. Außerdem bringt den Sesperado nichts so leicht aus der Fassung: Ein kurzer Griff in mein Arsenal, durchladen und feuern. Mein Spruch traf voll ins Weiße.

Mecnun und Lena lachten sich schlapp, und auch die anderen Weißen schmunzelten über meine tiefsinnige Antwort. Selbst der Fragesteller quälte sich ein Lächeln ab. Zumindest dieser Weiße hatte begriffen, dass seine Frage unangebracht gewesen war. »Ich dachte, du hättest deine Haus-Weißen etwas besser dressiert?!«, raunte ich Lena zu. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Natürlich seid ihr jetzt alle ganz gespannt und wollt wissen, was ich denn Kluges zu diesem Typen gesagt habe — aber yaavaas, ich werde euch noch etwas auf die Folter spannen. Nur Eines sage ich schon vorweg: Es ist die beste Antwort, die ich für solche Fälle parat habe. Und das muss schon etwas bedeuten, wenn der Sesperado das sagt!

Jedes Mal, wenn mir die Frage »Wo kommst du her?« gestellt wird, dann ist es, als bliebe die Zeit stehen, und mein ganzes Leben rauscht an mir vorbei. Ich erlebe die Abermillionen Augenblicke wieder, in denen mir diese Frage gestellt wurde. Und ich erinnere mich auch an all die verschiedenen Antworten, die ich auf diese Frage gegeben habe.

Aber zunächst eine theoretische Einführung ins Thema. Was meint der gemeine Teutone mit dieser Begrüßungsformel: Wo kommst du her? Hinter dieser Frage verbirgt sich kein wohlmeinendes Interesse. Um die germanische Denkweise zu veranschaulichen, verwende ich den neanderthalischen Satzbau. »Wo kommst du her?« bedeutet: »Du nicht weiß. Weil du nicht weiß, du nicht sein kannst deutsch. Also: Wo kommst du her? Ich sein weiß, ich schon vorher hier, du gekommen später. Weil ich schon vorher hier, ich mehr Rechte.«

Außerdem impliziert die Frage »Wo kommst du her?« gleich die zweite Frage: »Wann gehst du wieder zurück?«

Natürlich müssen die Strategien im P.O.C.-Guerillakampf gegen die Weiße/westliche Hegemonie verbreitet werden. Also, hier sind sie, meine Top 5, die fünf besten Antworten auf die kolonial gefärbte Frage »Wo kommst du her?«

Platz 5

»Wo kommst du her?«

»Aus Berlin. Und du?«

»Ahm…«, und dann frage ich die Frager aus. Nach ihren Eltern, Großeltern, Schwägerinnen väterlicherseits, angeheirateten Großtanten und Cousins dritten Grades. Ich betreibe intensive Ahnenforschung bis in die zwölfte Generation. Wenn die Leute dann ihren arischen Stammbaum bis auf die Unterhose vor mir ausgebreitet haben, keimt bei ihnen manchmal die Hoffnung auf, auch von mir zu erfahren, woher ich komme. Doch wenn sie ihre Frage wiederholen, dann sage ich nur kühl, das sei viel zu persönlich. Ich gebe keine Auskunft über meine kulturelle Herkunft.

Platz 4

»Wo kommst du her?«

»Aus Berlin?«

»Wie Berlin?«

»Ich komm’ aus dem Wedding. Vorher war ich in Neukölln.«

»Und wo bist du geboren?«

»In Tiergarten-Moabit. In Kreuzberg bin ich zur Grundschule gegangen, in Schöneberg aufs Gymnasium, in Zehlendorf habe ich angefangen zu studieren und jetzt bin ich in Mitte.«

Leute, das ist natürlich alles Quatsch. Der Sesperado ist ein geborener Weddinger, merkt euch das. Representin´ Berlin City. Shout outs an meine Headz aus dem Wedding! boh boh boh!

Platz 3

Platz 3 ist etwas komplexer. Wenn die Leute mich fragen, woher ich komme, dann erzähle ich ihnen eine falsche Familiengeschichte. Sie lautet folgendermaßen:

Mein Großvater mütterlicherseits ist zur Hälfte marokkanischer Kabyle und Mongole, meine Großmutter mütterlicherseits ist zur Hälfte chilenische Indígena und Kubanerin. Sie lernten sich auf Mauritius kennen und heirateten dort. Mein Großvater väterlicherseits ist zur Hälfte Libanese und Hawaiianer, meine Großmutter väterlicherseits ist zur Hälfte aus Malaysia und zur anderen Hälfte aus Mali. Sie lernten sich in Mexiko kennen und heirateten dort. Dass heißt, mein Vater ist ein Achtel malaysisch, hawaiisch, libanesisch, malisch, in Mexiko sozialisiert, und meine Mutter ein Viertel kabylisch, marokkanisch, mongolisch, kubanisch, indígena/chilenisch, in Mauritius sozialisiert. Sie lernten sich in Pakistan kennen und kamen dann nach Europa…

Ich bin in Deutschland geboren, dass heißt, ich habe einen pakistanisch, mexikanisch, mauritischen Hintergrund, mit Wurzeln in Marokko, Chile, Kuba, Mali, Mongolei, Libanon, Hawaii, und Malaysia.

Das war jetzt nur die Kurzfassung. Das Ganze kann ich bei Bedarf auf ungefähr viereinhalb Stunden ausdehnen. Mit allen Details und Anekdoten. Ich quäle die Leute so lange mit meiner Familiengeschichte, dass sie es sich beim nächsten Mal ganz lange und sorgfältig überlegen werden, ob sie fragen sollen: »Wo kommst du her?«

Platz 2

Manchmal ist die Frage »Wo kommst du her?« auch mit einem gewissen Verlangen nach Exotik verbunden. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund eignet sich mein Gesicht hervorragend als Projektionsfläche. Wenn ich die Leute meine ›Herkunft‹ raten lasse, dann glauben sie alles Mögliche, von Mittel- und Südamerika bis Nordafrika, auch Asien mit Ausnahme von Russland, Japan und Laos, aber Laos auch nur, weil das keiner kennt.

Manchmal, wenn die Leute mich ansehen und fragen, woher ich komme, dann sehe ich es aufblitzen, dieses Verlangen nach einer exotischen Geschichte. Und da ich im Tiefsten meines Herzens eigentlich ein Menschenfreund bin, will ich sie nicht mit einer banalen Antwort enttäuschen.

Dann erzähle ich, dass ich ein tibetanischer Mönch sei, aus einem Kloster in Timbuktu geflohen und auf einem großen Holzstamm den Amazonas herunter getrieben. Die Strömung und das Schicksal brachten mich dann schließlich bis nach Mecklenburg-Vorpommern.

Platz 1

Okay, ich kann es in euren Augen sehen: Ihr wollt natürlich wissen, was ich dem Typen in Lenas WG an den Kopf geworfen habe. Ihr wollt wissen, was meine beste Antwort ist. Gut, dann will ich euch nicht länger leiden lassen.

Eines muss ich vorher noch erwähnen: Diese Antwort ist eigentlich nicht von mir, sondern ich habe sie von einem Freund. Aber sie ist einfach so genial, dass ich sie in mein Repertoire aufnehmen musste.

Also hier ist sie, die Nummer Eins, Best of Five, die ultimative Antwort auf die Frage: Wo kommst du her?

Aus Mama!

2. Eintrag, 99. Tag vor R.O.C.

Cheeseburger

Wie jeder Superheld habe auch ich eine ›Superschwäche‹ — mein Kryptonit sozusagen. Ja, ich gebe es offen zu, ich bin nicht perfekt. Aber ich stehe dazu. Bei meiner größten Schwäche, meiner Achillesferse, der letzten Verführung Christi, handelt es sich um Cheeseburger.

Manchmal, völlig unerwartet, übermannt es mich, das unwiderstehliche Verlangen nach Junkfood. Glücklicherweise, so habe ich herausgefunden, bin ich mit diesem Leiden nicht allein. Ich habe einen Kumpel, und immer wenn einer von uns einen Suchtanfall bekommt, dann ziehen wir gemeinsam los und frönen unserer Obsession.

Mein Kumpel heißt Cihad. Zumindest nennt er sich so, denn sein Name ist Programm. Er hat immer einen leichten Mudschaheddin-Look mit Bart und ausgebeulten Jackentaschen. Und der Klingelton auf seinem Handy ist der Gebetsruf.

Seit dem 11. September und der Rasterfahndung ist Cihad sich sicher, dass sein Telefon abgehört wird. Damit die Leute vom LKA auch wirklich etwas zu tun bekommen, haben Cihad und ich so eine Art Geheimsprache entwickelt. Unsere Telefongespräche klingen daher meistens so:

»Der gelbe Golfball fliegt durch den drehenden See. Die Orange schimmelt, wenn es im Sommer fünf mal regnet.«

Seine Antwort: »99 Namen singen Y´ ar Ali. Die blaue Schildkröte baut einen vergesslichen Fernseher. Die Sonne scheint durch die Sure Al-Nûr.«

Wenn der andere Zeit hat, braucht er nur »auf Seite 7« zu sagen und der andere wiederholt »auf Seite 7«.

Hat der andere keine Zeit oder keine Lust, sagt er nur »Ich habe keinen Hunger«. Das kommt aber nur sehr selten vor.

Natürlich bedeutet dieses ganze Gerede nichts. Wenn der eine die Stimme des anderen hört, ist klar, wir treffen uns in einer halben Stunde.

Aus ideologischen Gründen lehnt Cihad amerikanisches Fast Food ab — also kein McDoof oder Burger King. Er sagt, er will den amerikanischen Satan nicht unterstützen. Natürlich dramatisiert er, denn eigentlich weiß ich, dass er auf Hollywood-Liebeskomödien und Whitney Houston steht. Aber wir haben aus unserer Not eine Tugend gemacht und deshalb gehen wir immer zu KreuzBürger in der O-Straße. Da gibt es die besten Tofu-Burger von Berlin.

Cihad ist in Ordnung. Wir teilen nicht alle unsere religiösen Vorstellungen, aber er respektiert mich und ich respektiere ihn. Also treffen wir uns ab und zu auf ein paar Cheeseburger und diskutieren über islamische Theologie. So wie heute.

Danach saßen wir zusammen in der U-Bahn. Auf einmal klingelte sein Handy »Allah Akbar«. Die Leute uns gegenüber wurden ganz blass und sind gleich an der nächsten Station ausgestiegen. Vielleicht dachten sie, wir wollen die U-Bahn entführen und ins Europa-Center reinrammen.

3. Eintrag, 98. Tag vor R.O.C.

Gehirn-Schimmel oder Jedi-Mind-Tricks

Ich habe drei Tanten, Beyda, Ceyda und Seyda. Die eine flucht gerne, die andere prügelt sich gerne und die dritte burnt dich einfach weg. Wie alle in unserer Familie, sehen meine Tanten (sie sind eigentlich kaum älter, als ich es bin) einfach gut aus. Sie sehen verdammt gut aus. Kastanienbraunes, glattes Haar, bernsteinfarbene Augen, dunkler Teint, perfekte Haut, königliche Gesichtszüge. Jedes männliche Wesen der Gattung »Homo sapiens« (und auch einige weibliche) möchten sich auf der Stelle mit meinen Tanten paaren. Am liebsten natürlich mit allen dreien gleichzeitig.

Es ist ein wunderschöner Frühsommertag, die Sonne scheint, die Blumen blühen, die Vögel zwitschern. Es ist heiß, so wie ich es mag. Ich bin mit meinen Tanten unterwegs, wir laufen durch den Park, genauer gesagt den Tiergarten, und überlegen, ob sich nachts das Terrain für Guerillakampf-Übungen eignen würde.

Umgeben von dem saftigen Grün und der frühsommerlichen Atmosphäre, werden die Blicke der Typen um uns herum immer aufdringlicher. Und dann passiert es, fast so ein wenig wie eine Naturkatastrophe im Fernsehen, unaufhaltsam, surreal, in Zeitlupe: ein großer, blonder, blauäugiger, breitschultriger Typ, Hautfarbe: ungesund-käsig-hellschweinchenrosa, bewegt sich mit einem komatös-debilen Grinsen auf meine drei Tanten zu. Das Großhirn ist bei ihm bereits offline, sein Handeln ist nur noch vom vegetativen Nervensystem bestimmt, und schließlich gibt er den größten Scheiß von sich, der jemals in der Geschichte der Anmachersprüche verzapft wurde.

»Na, ihr drei rassigen Araber-Stuten, hab ihr nicht Lust euch von einem echten Schimmel-Hengst zureiten zu lassen?«

Ich bin nicht geschockt, auch nicht wirklich fassungslos, aber es fühlt sich für den Bruchteil einer Sekunde an, als würde ich zusehen, wie jemand von einem Lastwagen überrollt wird. Und dann wird der Typ tatsächlich von so einer Art Lastwagen überrollt, nur handelt es sich dabei um meine drei Tanten. Beyda, Ceyda und Seyda sind alle drei ernsthaft allergisch gegen Rassismus. Und von sexistischen Sprüchen kriegen sie die Krätze. Aber bei einer Mischung aus beidem zusammen sehen sie einfach rot.

Ich weiß was jetzt kommt. Ich mache drei Schritte zurück und beobachte das Geschehen. Das hirnlose Lackaffen-Gegrinse schaut erwartungsvoll in unsere Gesichter. Beyda wendet sich dem Typen zu und lässt einen Schwall Kraftausdrücke von sich, da werde sogar ich rot und meine Fußnägel kräuseln sich. Die wenigen Leute um uns herum, die es sich auf dem Rasen gemütlich gemacht haben, drehen sich in unsere Richtung. Einige lachen verdeckt. Das Pferdegesicht, das glaubt seine Kartoffelsamen überall einpflanzen zu müssen, wird nicht nur rot, ich glaube, wenn jemand das Licht ausgemacht hätte, dann hätte er angefangen zu leuchten. Beyda ist in Hochform, sie schickt einen fiesen DISS nach dem anderen Richtung King-Kong-Albino.

Der kann natürlich die mündliche Erniedrigung nicht mehr ertragen, stampft empörten Schwachsinn stammelnd auf meine Tante zu und glaubt, handgreiflich werden zu können. Doch noch ehe er Beyda berühren kann, hat Seyda sich vor ihm aufgebaut, die Kalkleiste sieht sie irritiert an. Und dann kommt’s: Seyda zaubert ein Pendel hervor, die Augen des Steckdosenbefruchters folgen dem Pendel. Und mit ihrer tiefen, durchdringenden Stimme hat sie die Aushilfsamöbe hypnotisiert:

»Entspann dich. Atme tief und regelmäßig. Schließe dein Augen. Und schlaf!« Seyda sieht uns erwartungsvoll an. »Gleich werde ich bis drei zählen und mit dem Finger schnipsen, dann wirst du aufwachen und Folgendes tun: Du wirst dich vor uns auf den Boden werfen und dich entschuldigen. Dann wirst du nach Hause gehen und sehr lange und sorgfältig darüber nachdenken, was du zu uns gesagt hast. Du wirst dir ganz viele Bücher zu kritischen Weiß-Seins-Studien und kritischen Maskulinitäts-Studien kaufen und alle durchlesen, inklusive alle Bücher von Michel Foucault über Sexualität und Reina Lewis über Gender und Orientalismus, du wirst dir alle Theaterstücke von Lorraine Hansberry und Gedichte von Audrey Lorde durchlesen und überdenken, warum du ein Verfechter sexistischer, Weißer Vorherrschaft geworden bist und was du aktiv dagegen tun kannst!« Sie sieht uns an, und fragt ob wir noch Vorschläge hätten.

»Vasektomie?« flüstere ich. Seyda grinst und schüttelt den Kopf. Dann zählt sie bis drei und schnipst mit dem Finger.

Der Typ wirft sich flennend auf den Rasen und entschuldigt sich bei meinen Tanten dramatisch. Alle Männer um uns herum folgen schockiert der Szene.

Zuerst packt Ceyda den Typen am Kragen und schüttelt ihn durch, dann sieht sie sich um. Wir werden immer noch von den Leuten um uns herum angestarrt, aber keiner traut sich einzugreifen. In echter Taxi-Driver-Manier spielt sie sich auf und fragt ob irgendwer ein Problem hätte. Die Leute drehen sich weg, niemand traut sich, auch nur zu uns herüber zu sehen. Ich bin immer noch ein wenig berauscht vom ganzen Geschehen. Dann, um ihm die finale Message zu geben, richtet sie ihren Finger wie eine Waffe auf seinen Kopf: »Der einzige Schimmel, den wir hier sehen…«, sie macht eine rhetorische Pause, »ist der in deinem Gehirn!«

Danach lassen meine Tanten den Typen links liegen, wie ein schimmliges Stück Weißbrot. Der steht auf, klopft sich den Dreck von den Klamotten, ruft meinen Tanten noch ein herzliches Danke hinterher und rennt nach Hause. In einer Reihe laufen sie gemeinsam dem Sonnenuntergang entgegen, sie wechseln kein Wort miteinander, aber die Stärke ihrer Herzen strahlt in die Welt hinaus. Einige der Typen sehen eingeschüchtert weg, und einige der Frauen nicken ihnen respektvoll nach. Ich wache auf, wie aus einem Traum, werfe einen kurzen Blick auf den Gehirn-Schimmel, dann folge ich meinen Tanten und denke voller Stolz: ›Das ist meine Familie!‹.

So ist das: Mit meinen Tanten legst du dich besser nicht an.

Lyrical Guerilla Berlin proudly presents:

KARAGÜNLÜK

Die geheimen Tagebücher

des

SESPERADO

von

Mutlu Ergün

4. Eintrag, 96. Tag vor R.O.C.

Am Anfang war SES

Nun gut, ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich habe mich dazu entschieden, ein Verzeichner zu sein, ein ehrwürdiger Verzeichner der prärevolutionären Zeit, der Tage vor der Befreiung der N.O.C., der Nation of Color. Ich habe mich dazu entschieden, diese große Verantwortung zu übernehmen, um den kommenden Generationen ein wertvolles Erbe übergeben zu können:

DIE GESCHICHTE, die Fakten und Hintergründe, die Entscheidungen und Handlungen, aber auch die Emotionen und Reflexionen des Geschehens.

Nach langen Überlegungen habe ich den Entschluss gefasst, ein Tagebuch zu führen, eine Art Countdown bis zum großen Tag. Zuerst dachte ich an eine Video-Doku, aber dann hätte ich meine Abla fragen müssen, ob sie mir ihre Kamera ausleiht, und nach drei oder vier Wochen wäre sie bestimmt unruhig geworden. Außerdem lassen sich Video-Bänder im Zweifelsfall schwieriger vernichten als Papier!

Also führe ich Tagebuch, auch auf die Gefahr hin, mit all den Warmduschern und Turnbeutelvergessern in einen Topf geschmissen zu werden. Aber wenn die Zeiten der Weißen-Westlichen Vorherrschaft vorbei sind, werden diese Seiten von unschätzbarem Wert sein und vielleicht sogar fester Bestandteil des Lehrplans an Schulen und Universitäten. Dann sind es zwar keine ›Geheimen Tagebücher‹ mehr, aber was soll s. Ich dachte, das klingt literarischer so.

Star Wars

Nach dem kleinen Intermezzo mit dem Typen im Park haben mich meine drei Tanten zu einem Symposium mitgenommen. Dort hatte ich eine unheimliche Begegnung der 3. Art, also mit Außerirdischen, Aliens, Menschen, die so weltfremd sind, dass ich mich frage, auf welchem Planeten sie leben.

Beyda, Ceyda und Seyda brachten mich auf diese politische Veranstaltung, welche Weiße Vorherrschaft, Abschiebung und Assimilation propagierte, getarnt unter dem Titel: ›Demokratie, Toleranz und Integration^ Es war eine offene Podiumsdiskussion mit den üblichen Polit-Zombies, dabei auch der obligatorische Quoten-Kümmel, weil »naja, wenn wir schon über die ganzen Migranten reden, dann soll auch wenigstens einer mit dabei sein dürfen«.

Außerdem anwesend war die Ausländerbeauftragte, mittlerweile degradiert zur Integrationsbeauftragten.

Nachdem das übliche Blabla beendet war und das Publikum Fragen stellen durfte, sahen mich meine drei Tanten erwartungsvoll an. Ich saß etwas abseits von ihnen, und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass sie mich beobachteten. Jetzt war ich also an der Reihe. Ab und zu nehmen sie mich auf solche Veranstaltungen mit, aber sie mögen es nicht, wenn ich mich hinter ihren Rockzipfeln verstecke. Sie wollen, dass ich voll im Geschehen drinnen bin und nicht immer nur alles beobachte. Ich befand mich in einem Dilemma. Ich schaute mich um. Es waren bestimmt über 100 Leute im Raum. Die Leute auf der Bühne wirkten in ihren Anzügen so eloquent. Und auch wenn man mir es nicht unbedingt glaubt, aber ich kann manchmal etwas schüchtern sein.

Ich zögerte, aber ich wusste, wenn ich jetzt nicht den Mund aufmachte, dann würden meine Tanten den Respekt vor mir verlieren, und ich kann mir eigentlich nichts Schlimmeres vorstellen. (Ich meine, ihr habt gesehen, was sie mit dem Typen im Park gemacht haben!). Schließlich erhob ich mich, ich merkte wie sich die Blicke der Leute auf mich richteten. Es war etwas stickig im Raum, und mein Mund war zu Anfang etwas trocken. Aber dann nahm ich mich zusammen und fragte die Integrationsbeauftragte, warum sie als eine Angehörige der Mehrheitsgesellschaft diesen Job mache, und nicht eine Person mit Migrations- bzw. Minderheitenhintergrund (Bin eigentlich kein Fan von diesen Begriffen, aber in bestimmten Räumen kann der Gebrauch hegemonialer Sprache von Vorteil sein).

Meine Tanten lächelten zufrieden, langsam wanderten die Blicke der Leute von mir zur Integrationsbeauftragten. Für einen Moment fühlte ich mich richtig gut, in mir ruhend.

Die Integrationsbeauftragte blieb erstaunlich gefasst und lächelte. Sie war so um die 50, hatte kurze, graue Haare. Sie war sehr groß, wirkte etwas lang und schlaksig. Sie trug einen cremefarbenen Hosenanzug aus Leinen, der ihr ganz gut stand. Wahrscheinlich gehobene Mittelklasse, verheiratet, zwei oder drei Kinder (tendenziell eher drei), es war ihr anzumerken, dass sie ihre Arbeit mit Leidenschaft machte.

Sie antwortete mir, mit einem leicht mütterlich-amüsierten Unterton, ein wenig so, als würde sie zu einem ihrer Kinder sprechen. Sie sagte, dass die verschiedenen Minderheiten in Deutschland untereinander ja immer so zerstritten wären und dass eine Person aus der Mehrheitsgesellschaft viel objektiver, neutraler, moderater und daher eher schlichtend einwirken könne.

Ich wusste im ersten Augenblick nicht, ob sie es ernst meinte oder mich verhohnepipeln wollte. Ich stand immer noch da. Die Augen waren wieder alle auf mich gerichtet. Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig, am liebsten hätte ich irgendwen angeschrieen, dass endlich mal die Fenster aufgerissen werden sollten, ich erstickte. Wieder fühlte ich, wie meine Tanten mich beobachteten, ihre Augen waren ganz klar, ihr Blick war geschärft. Es stand in ihren Gesichtern: Würde ich mich bewähren? Nachdem ich die kolonialen Ausdünstungen der Integrationsbeauftragten verkraftet hatte, antwortete ich ganz gelassen, dass die Frauenbeauftragte, ja dann auch ein Mann sein müsse, weil die Frauen sich ständig streiten, nur rumzicken und dauernd im Konkurrenzkampf sind.

Meine Tanten grinsten triumphierend, aber unauffällig, und gaben sich Shakehands. Ja, sie haben mich gut erzogen. Die Integrationsbeauftragte wirkte etwas irritiert. Doch die meisten Leute im Publikum verdrängten die Spannung, die meine Worte verursacht hatten. Und wie immer, wenn die Wahrheit zu unangenehm ist, wurde sie einfach ignoriert, und sie gingen zur Tagesordnung über, als wäre nichts gewesen. Was soll´s, sagte ich mir, es gibt Wichtigeres. Ich setzte mich wieder hin und schaute zu meinen Tanten herüber. Blanke Gesichter zuckten mit den Schultern und dachten wahrscheinlich das Gleiche.

Als mich am Ende der Veranstaltung eine gut aussehende, kluge Schwester ansprach und sagte, sie hätte meine Bemerkungen sowohl treffend als auch witzig gefunden, fühlte ich mich bestätigt. Es gab wirklich Wichtigeres. Sie lächelte mich an. Ihr Name ist Songül. Meine Tanten waren wirklich stolz auf mich.

5. Eintrag, 94. Tag vor R.O.C.

Franz-Josef vs. Malcolm X

Ich hatte angefangen Blut zu riechen, ich wollte mehr. Ich wollte mehr verbale Duelle, mehr politisches Messen, mehr Aufmerksamkeit. Und vor allen Dingen, ich wollte Songül wiedersehen. Meine Tanten hatten mir von diesem anderen Symposium erzählt. So einer Art P.O.C-Symposium, wo es keine Weißen gibt. Sie selber hatten »irgendwelche Geschäfte zu erledigen«, aber sie meinten, es könne nicht schaden, wenn ich mich dort zeigen würde. Daher machte ich mich auf den Weg dorthin.

Unterwegs bin ich meiner Cousine Mesude auf der Straße begegnet. Sie hatte einen Jungen bei sich, einen ›Alman‹. Sie liefen Hand in Hand und schienen etwas verliebt zu sein. Erst habe ich überlegt, ob ich mich einfach dezent zurückhalten soll, aber dann dachte ich mir, dass ich doch mal sehen will, wie viel Grips der Junge in seinem Schädel hat.

Also lief ich den beiden entgegen. Als mich meine Cousine entdeckte, lächelte sie zunächst. Aber dann sah sie meine theatralisch grimmige Miene, ließ sich von mir von ihrem Freund wegziehen, verschränkte die Arme und beobachtete das Schauspiel. Ich kehrte natürlich den Buddy-Murat, den Ghetto-Osmanen schlechthin heraus.

»Ey du Arsch, was willst du von meiner Cousine.«

Zuerst stotterte er peinlich herum, dann wanderte sein Blick panisch zwischen mir und Mesude hin und her, schließlich drehte er sich um und rannte weg, so schnell er konnte. Ich schüttelte den Kopf, grinste breit und sah hinüber zu meiner Cousine. Sie sah sehr schick aus, sie sieht immer schick aus. Sie trug eine enge Jeans und eine schwarze Bluse. Aber sie stand unverändert da, mit verschränkten Armen und funkelte mich böse an. Ich ließ mein Grinsen verschwinden.

»Na prima, das hast du ja toll hingekriegt, den Typen kann ich jetzt vergessen.« Ihre Handkante zeigte in die Richtung, in die er geflohen war.

Ich tat ganz unschuldig: »Aber ich hab doch gar nichts gemacht, was kann ich denn dafür, wenn der Typ gleich denkt, dass alle Türken böse Killer sind, die die ›heimlichen‹ Freunde ihrer Schwestern und Cousinen umbringen?« Ich blickte dem Typen nach, ich konnte ihn immer noch rennen sehen. »Wenn der Typ sich wie ein Mann verhalten hätte, dann hätte er spätestens nach fünf Minuten gemerkt, dass alles in Ordnung ist und ich nur einen Spaß gemacht habe.« Ich sah sie ganz unschuldig an, so ein bisschen dieser Kleine-Jungen-Blick, wenn du eigentlich weißt, dass du Scheiße gebaut hast. »Ist es denn meine Schuld, dass dieser Karl-Heinz gleich wegrennen musste. Was hat der eigentlich für ein Problem?«