Karo König vom Albbiotop - Martin Sowa - E-Book

Karo König vom Albbiotop E-Book

Martin Sowa

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Beschreibung

Vor der Oskar-Kalbfell-Halle in Reutlingen wird ein Jugendlicher von einem Schuss aus einem Präzisionsgewehr tödlich getroffen. Sein Mitschüler Julian, der unmittelbar hinter ihm stand, entkommt nur knapp. Beide engagierten sich in der Friday for Future-Bewegung am Friedrich-List-Gymnasium. Kurz darauf wird ein weiterer Anschlag auf Heilbronner Klimaaktivisten verübt. Die Spuren führen das bewährte Reutlinger Kripp-Ermittlerduo Robert Becker und Marion Schmidt nach Pfullingen, Unterhausen, Mägerkingen, Auingen, Pliezhausen und Willmandingen. Dann geschieht ein weiterer Mord beim Albbiotop zwischen Großengstingen und Trochtelfingen. In einem Aschenbecher wird ein Schnipsel einer nicht ganz verbrannten Spielkarte gefunden. Ein Karo König.

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Dr. Martin Sowa

wurde 1954 in Hagen/Hohenlimburg (Nordrhein-Westfalen) geboren. Nach Abitur und Bundeswehr studierte er in Reutlingen an der damaligen Pädagogischen Hochschule Sonderpädagogik. Nachdem er zunächst als Lehrer an der heutigen Margarete-Steiff-Schule in Stuttgart tätig war, ging er für 23 Jahre als Dozent an das Fachseminar für Sonderpädagogik in Reutlingen, um dann sechs Jahre an einer Sigmaringer Schule zu arbeiten.

1979 gründete er die Behindertensportabteilung der TSG Reutlingen, heute TSG Reutlingen Inklusiv. Mit fast 600 Mitgliedern ist sie die größte ihrer Art in Deutschland.

Martin Sowa fungiert nach wie vor als Abteilungsleiter. Von 2013 bis 2016 war er als Referent für Inklusionssport beim Behindertenbeauftragten von Baden-Württemberg, Gerd Weimer, in Stuttgart tätig.

Seit 2017 gibt er sein Inklusionssportwissen als Projektberater des landesweiten inklusiven Fußball-Projektes PFIFF Projekt für inklusive Fußballförderung beim VfB Stuttgart weiter.

Bei der inklusiven Fußballvereinigung Fim Football is more ist er an der Erarbeitung eines Handbuchs für die Trainerausbildung im Inklusiven Fußballsport beteiligt.

Martin Sowa veröffentlichte elf Bücher und weit über 100 Fachartikel zur Thematik Behinderten-Inklusionssport, Motopädagogik und bewegte Schule.

Zu seinem Romandebüt Mord im Rinnental (Oertel+Spörer 2019) absolviert er immer wieder neue Lesungsformate mit musikalischer und szenischer Inszenierung. Zusammen mit dem Klimaexperten Roland Hummel rief er 2019 die Mordstour ins Leben, eine besondere Klima-Krimi-Wanderung auf den Spuren seines ersten Romans.

2020 folgte der Kurzgeschichtenband Faszination Alltagsmomente.

Karo König vom Albbiotop ist der zweite Krimi des Engstinger Autors, dem noch weitere folgen sollen.

Klima-Krimi-Wanderungen und Lesungstermine:

www.martin-sowa.de

Martin Sowa

Karo König vom Albbiotop

Ein Schwabenkrimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2021

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: © Dominik Trost

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Storz

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-113-8

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Nur fünf bis sieben Autos standen auf dem Parkdeck L, ganz oben im Parkhaus am Reutlinger Ledergraben. Kein Betrieb. Wer wollte sich später wieder so viele Stockwerke nach oben quälen, wenn man doch unten noch in der letzten Ecke einen Parkplatz bekommen konnte?

Er hatte sich genau überzeugt. Videokameras gab es keine. Sein Blick schweifte noch einmal über das stille und verlassene Parkdeck. Nur eine achtlos weggeworfene Bäckertüte wurde vom Wind über den Boden getrieben und blieb an dem Gestänge eines Geländers hängen. Auch die unteren Parkdecks waren um diese Zeit nur sporadisch besetzt. Ein Blick auf die Uhr: 12.53 Uhr. Jetzt musste er gleich kommen. Der 400er-Bus der Hohenzollerischen Landesbahn fuhr um 13.07 Uhr vor der ADAC-Geschäftsstelle nach Gammertingen ab. Julian würde ihn heute nehmen, so, wie viele Tage zuvor, um nach Pfullingen zu kommen. Behutsam nahm er das Präzisionsgewehr aus seiner großen Tasche. Er öffnete die Schulterstützen und fuhr noch einmal mit seiner rechten Hand über die Oberflächenbeschichtung.

Das Wellblechdach hier im obersten Stockwerk gab eine absolute Deckung. Die circa ein Meter breite Sichtöffnung auf der Seite, von der alle zwei Meter insgesamt fünf eingeschoben waren, gab ihm die optimale Möglichkeit, die todbringende Waffe aufzulegen.

Er stand in der äußersten rechten Ecke und visierte die gegenüberliegende Straßenseite an. Schon vor Tagen hatte er sich das günstigste Schussfeld ausgesucht. Während links der Straße das sommerliche Laub der Bäume recht weit nach unten hing, ließen die drei danebenstehenden Bäume eine schöne Sicht frei. Zusätzlich gab es noch eine freie Parklücke vor der Oskar-Kalbfell-Halle, was seine Erfolgsaussichten erheblich verbesserte.

»Komm nur, du mieser kleiner Klimafuzzi. Nichts mehr mit Fridays for Future. Deine Zukunft wird gleich im Himmel oder der Hölle sein!«

Während unten der Verkehrsfluss über den Ledergraben Richtung Pfullingen hinwegzog, repetierte er das Gewehr. Alles war präzise auf die Minute geplant.

Vom gegenüberliegenden Gymnasium sah er Julian Neu ankommen. Auf der rechten Seite hatte er die Längsfront der Oskar-Kalbfell-Halle. Auf der linken Seite lag das Fachwerkgebäude des Friedich-List-Gymnasiums. Einige Meter hinter dem Gymnasiasten tauchte nun ein weiterer wild gestikulierender Schüler auf.

Julian, jetzt auf dem Parkplatz vor der Oskar-Kalbfell-Halle, drehte sich um. Sein Mitschüler Max Luipold kam angerannt und blieb direkt vor ihm stehen.

»Mensch, hau ab, du Mistkerl«, flüsterte er oben im Parkdeck L in sich hinein. »Verpiss dich!«

Auf der gegenüberliegenden Seite diskutierten die beiden Schüler.

Max rollte ein Plakat auf und hielt es seinem Freund vor die Nase. Julian deutete mit dem rechten Zeigefinger auf seine Armbanduhr und blickte zur Bushaltestelle vor dem ADAC. Eine Mutter mit Kinderwagen ging hinter den beiden her in Richtung Volkshochschule, während ihr ein älterer Mann um die achtzig entgegenkam. An seinem Rollator hatte er eine Jutetasche hängen, aus der das Grün eines Bunds Möhren herausragte. Er kam vom Wochenmarkt und war wohl auf dem Weg nach Hause.

Max rollte das Plakat zusammen und wandte sich um, um wieder nach links zurückzugehen.

In dem Visier des Gewehrs war Julians Kopf nun exakt im Zentrum. Der rechte Zeigefinger des Schützen hatte den Druckpunkt erreicht. Max sprang noch einmal zurück; befand sich genau vor seinem Klassenkameraden, als der Zeigefinger den Abzug nach hinten zog. Ein nachhallender Plopp war auf der Parkfläche zu vernehmen.

Ein zweiter Schuss fiel.

Auf der gegenüberliegenden Seite brach Max zusammen.

Julian warf sich nach vorne. Lag auf dem heißen Asphalt. Ein dritter Schuss durchschlug die Scheibe auf der Fahrerseite eines schwarzen Peugeot, zerfetzte das Glas der Beifahrerseite und fuhr über Julian hinweg, der vor der Parkmarkierung an der Längsseite des Wagens lag, in die Büsche. Der Senior am Rollator trottete weiter.

Julian zitterte am ganzen Körper, so als ob starke Stromschläge ihn durchfahren würden. Sein Herz raste so schnell, dass ihm das Pochen in seinen Ohren Schmerzen bereitete. Die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, bewegte er sich nicht. Doch nichts passierte. Der Verkehr auf dem Ledergraben floss unaufhörlich in beide Richtungen, als wäre nichts geschehen.

Julian drehte sich um die eigene Körperachse, sah Max leblos hinter sich auf dem Bauch liegen. Er wusste nicht, wie lange er gelegen hatte. Jetzt drehte er sich um. Ein ohrenbetäubender unmenschlicher Schrei entfuhr seiner Kehle.

Mund und Augen weit aufgerissen, starrte er auf den bewegungslosen Gleichaltrigen. Sekunden später erfüllte ein erneuter markerschütternder Schrei das gesamte Gelände. Aus dem Kopf des Gymnasiasten floss das Blut und tränkte den grauen heißen Asphalt rot. Auch im Rücken schien Max getroffen.

Aus der Kanzleistraße kamen Menschen angelaufen und weitere Schüler des Gymnasiums standen um sie herum. Sie alle bildeten eine Traube und starrten mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen auf das schreckliche Szenario. Kein Laut war zu hören.

Auf dem Parkdeck L packte er das Gewehr zurück in die Tasche.

»So ein Mist! Egal! Hauptsache einen erwischt! Das muss es gewesen sein.« In aller Ruhe verstaute er das Präzisionsgewehr wieder in seiner Tragetasche. Er schaute sich um, suchte nach den zwei Hülsen. Die dritte steckte noch im Gewehr, da er nach dem dritten Schuss nicht mehr hatte repetieren müssen. Sie mussten hier doch irgendwo liegen. Eine entdeckte er unter einem großen SUV, der ganz in seiner Nähe stand. Aber die zweite? Er suchte fieberhaft danach. Irgendwo musste sie doch liegen. »Verdammt, wo ist das Mistding?« Seine Augen schweiften wie Suchscheinwerfer über den Boden. Nichts. Jetzt hörte er immer näher kommende Motorengeräusche. »Da will einer hier hoch.« Er hatte keine Zeit mehr, musste weg. Er riss das Gewehr in dem Futteral an sich, hastete über die Treppe bis aufs Parkdeck B hinunter, wo er über den Hinterausgang das Parkhaus verließ.

Mit schnellen Schritten entfernte er sich über den Fußweg an der Echaz entlang. Niemand war zu sehen. Am Restaurant Alte Mühle stieg er die Treppen hoch, ging Richtung Friedrich-Ebert-Straße. Bald hatte er über diese die Alteburgstraße erreicht. Er wandte sich nach links und ging die 150 Meter bis zum Parkhaus Pomologie. Aus der Ferne hörte er hinter sich die Sirenen eines Notarztwagens, der wohl jetzt von den Kreiskliniken am Steinenberg kam. Ob er schon in den Ledergraben fuhr?

Zwei Minuten später bog ein schwarzer BMW 530 aus der Ausfahrt links ab und nahm Fahrt in Richtung Alb auf. An Reutlingens Verkehrsader, dem Ledergraben, war das Chaos ausgebrochen.

Vier Monate zuvor

1

»Meine sehr verehrten Damen und Herren!« Der Bundestagspräsident eröffnete die Sitzung. »Heute Morgen steht das Thema ›Klimawandel‹ als erster Punkt auf unserer Agenda. Ich bitte den Abgeordneten Müller von der Fraktion der Blauen, zu beginnen.«

Egon Müller trat an das am Kopf des Saals stehende Rednerpult und breitete sein Manuskript vor sich aus. Er rückte noch einmal seine Krawatte zurecht und begann mit seiner Rede.

»Hohes Haus, ich freue mich, dass ich heute als Erster zu Ihnen sprechen darf. Der Klimawandel ist eines der dringendsten Probleme unserer Zeit. Wie mehrere Studien zeigen, ist eindeutig zu sehen, dass die Menschheit vor massiven Problemen steht, wenn wir jetzt nicht gegensteuern. Aus diesem Grund haben wir mehrere Ausschüsse gegründet, welche in den kommenden Jahren die Thematik aus verschiedenen Richtungen bearbeiten und diskutieren werden. Diese sind: Verkehr, Wasser, Landwirtschaft, Ernährungsverhalten, Arbeitsbedingungen, um nur einige wenige zu nennen. Wir werden …«

Die Rede glitt in immer mehr Phrasen und eine scheinbar endlose Auflistung ab und brachte bereits Gehörtes und Bekanntes neu auf das Tableau.

Oben in der zweiten und dritten Reihe des Plenarsaals auf der Zuschauertribüne saß die 11. Schulklasse eines Reutlinger Gymnasiums und versuchte vergeblich, den Ausführungen zu folgen.

Ihr Klassenlehrer Marcel Neufeld, der die Elfte nun seit Schuljahresbeginn führte, beobachtete seine Schüler mit wachen Augen. Mit zunehmender Zeit bemerkte er, wie sie nach und nach abschweiften, sich unterhielten, die Augen schlossen, ihre Handys zückten. Ihr Interesse galt allem anderen mehr als den Ausführungen des Redners oben am Podium. Ein mit dem Kopf in einem Gartenzaun stecken gebliebener wuscheliger Köter schien deutlich interessanter, als die eigene Zukunft zu sein.

Nach zwölf Minuten endete die Redezeit des Abgeordneten, der mit einem aufmunternden Applaus seiner Fraktionskollegen auf seinen Sitz zurückkehrte.

»Wie fandet ihr die Rede?«, wollte Neufeld in einer kurzen Pause wenige Minuten später von seinen Schülern wissen.

»Echt ätzend der Typ!«

»Den hätte man sich auch sparen können.«

»Voll langweilig.«

»Hat doch nichts Neues gesagt.«

»Gut«, entgegnete Neufeld. »Wer von euch hat denn eine Idee? Wie könnte man so etwas spannender gestalten?«

»Ich hätte da so eine Idee«, meldete sich nun Julian, der ganz hinten stand. »Können wir aus dem ganzen Gesagten nicht etwas herausnehmen und als Klasse ein Projekt gestalten, in dem wir die Thematik ganz konkret angehen?«

»Hast du da schon etwas Konkretes im Sinn?«, wollte einer wissen.

»Ja, habe ich schon. Aber vielleicht sollten wir das alle zusammen machen. Wir können mal eine Mind-Map erstellen, dann kann sich jeder von uns einbringen.«

Die Plenarsitzung war beendet. Die Schüler der Klasse verließen zusammen mit Herrn Neufeld den Saal. Vor der Eingangsschleuse mit zwei gläsernen Türen mussten sie warten, bis die vor ihnen stehende Gruppe das Gebäude verlassen hatte. Als der Abgeordnete Müller in ihrem Rücken zu einem der unterirdischen Gänge eilte, um über diesen das Gebäude zu verlassen, drehten sie sich alle um. »Wir werden Arbeitsgruppen bilden, die sich in den nächsten Jahren …« Immer wieder schoss diese Aussage Julian durch den Kopf. Er verfolgte den Abgeordneten mit seinen Augen und bemerkte, dass dieser für einen kurzen Moment stockte und seinen Kopf nach rechts hinten drehte. War da nicht ein kleines, feines Geräusch an der Wand rechts neben dem Aufzug zu hören gewesen? Julian hatte es als Einziger der Anwesenden auch vernommen.

Egon Müller hastete weiter und strebte dem Abgeordnetengang entgegen.

Jetzt hörte es Julian erneut. Wieder war da dieses kleine, ganz schwach zu vernehmende Geräusch; als wenn irgendwo eine Milchtüte geplatzt wäre.

Er schaute auf die Betonwand und konnte ganz unten über dem Sockel einen kleinen dünnen, vielleicht zwei Zentimeter langen, aber höchstens ein Zentimeter hohen Haarriss entdecken.

»So, jetzt ihr.«

Der Sicherheitsbeamte öffnete die Eingangsschleuse und entließ die Schülergruppe auf den freien Platz.

»Alle noch da?« Herr Neufeld überzeugte sich von der Anwesenheit seiner Schüler. »Julian«, wandte sich der dreißigjährige Studienrat an seinen Schüler, »ich finde das einen guten Vorschlag, den du vorhin gemacht hast. Das könnte doch ein tolles und sinnvolles Unterrichtsprojekt für den Rest des Schuljahres geben.«

»Finde ich auch«, untermauerte Julian die Aussage und nickte freudig. »Gucken Sie doch mal hier.« Er zeigte Herrn Neufeld zwei Fotos eines vollkommen verdorrten Obstbaumes. »Sehen Sie auch hier die Auswirkungen des Klimawandels?«

»Gut, Julian. Ich habe verstanden. Sobald wir wieder zurück sind, nehmen wir deinen Vorschlag auf und starten mit einer Ideensammlung.«

Julian schaute sich um und erblickte unter seinen Mitschülern eine Gruppe, die schon wieder in ihren Smartphones versunken war, während einige seiner Klassenkameradinnen eifrig Selfies schossen, diese sofort mit aller Welt auf Instagram teilten und lauthals vor sich hin kicherten.

Mal sehen, was dabei herauskommt, dachte er sich.

2

Julian saß in seinem Zimmer in Pfullingen und brütete über seinen Mathehausaufgaben. Hier, in der Wohnsiedlung unterhalb des Ursulabergs, war es sehr ruhig. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu der Bundestagsdebatte ab, die sie letzte Woche erlebt hatten. Nichtssagend! Einschläfernd und wertlos! Seine Blicke wanderten aus dem Fenster, hin zu den Bäumen im Garten. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Äpfel würden sie wohl in diesem Jahr keine bekommen. Viel zu trocken. Er sah auf die Stämme der Bäume. Die Rinde war aufgeplatzt, vertrocknet wie die rissige Haut eines langjährigen Handwerkers. Die Blätter hingen in einem traurigen Braun an den dürren Zweigen.

Jetzt machte sich der Klimawandel direkt bei ihnen vor der Haustür bemerkbar. Er musste etwas unternehmen, selbst aktiv werden, etwas in die Wege leiten. Hoffentlich würden die anderen aus seiner Klasse mitziehen. Sarah sicherlich. Max auch. Einige würde er bestimmt für sich gewinnen. Vielleicht doch eine überwiegende Mehrheit, aber es waren doch auch welche dabei, die in einer riesengroßen Wohlfühlblase lebten. Zwischen Online-Shopping, Festivals und den nächsten Ferien, am besten ganz weit weg.

Zweifel stiegen in ihm auf. Die Sonne warf ihre gleißenden Strahlen durch sein geöffnetes Fenster und erhitzte den Raum noch mehr. Erste Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn und liefen ihm in die Augen. Draußen im Garten hatte er schon lange keine Bienen mehr summen gehört.

3

Im Raum Nummer 204 im zweiten Stock des alten Gymnasiums am Ledergraben in Reutlingen hatte Herr Neufeld zwei große Tapetenbahnen aneinandergeklebt und auf dem Boden des Klassenzimmers platziert. Stühle und Tische waren an die Seite geräumt und alle saßen mit dicken Filzstiften um die noch leere Fläche.

Herr Neufeld gab Julian das Wort, der nun in die Aufgabenstellung einführte.

»Also, wir haben in Berlin diese Debatte zum Klimawandel gehört. Wir hatten auch besprochen, dass wir hier in Reutlingen mal ein ganz konkretes Projekt starten wollen. Mit diesem wollen wir zeigen, was wir im Alltag bewerkstelligen können, um unseren eigenen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Da kann jetzt jeder Mal hier aufschreiben, was er für Ideen hat.«

Julian nahm seinen Stift und schrieb in die Mitte des Blattes:

»Klimaschutz. Unser Beitrag!«

Gemurmel und leise Diskussionen in Zweier- oder Dreiergruppen bestimmten nun die nächsten fünfzehn Minuten. Nach und nach füllte sich die zwei auf drei Meter große Papierbahn. Viele Einzelvorschläge fügten sich immer mehr zu einem Gesamtbild zusammen.

Am Ende war eine Kreisgrafik entstanden, bei der ausgehend vom Mittelpunkt »Klimaschutz. Unser Beitrag!« die Vorschläge der Schüler wie sternförmige Strahlen auf den äußeren Rand trafen, auf dem in einem Schriftzug stand: »Klimaschutzprojekte der 11a.«

»Sehr interessant, was ihr alles zusammengetragen habt«, fasste Marcel Neufeld die Aufschriebe zusammen. Jetzt trägt bitte jeder kurz vor, was er oder sie geschrieben hat.«

Die Schüler lasen ihre Beiträge vor: »CO₂-Belastung – Einfluss: Ernährungsverhalten, weniger Flugreisen; Feinstaubbelastung; Ausbau von Radwegen; Coffee-to-go-Becher und Plastikmüll vermeiden; Fluss- und Meeresverschmutzung vermeiden …«

Die Ideen der Schüler schienen ins Unermessliche zu gehen.

Ralf stieß Manuel an, der neben ihm saß, und zeigte ihm sein Handy.

»Gut, dass wir jetzt schon da waren und nicht erst nächste Woche, wie ursprünglich geplant«, ließ sich Manuel vernehmen.

»Wo waren?«, wollte ihr Lehrer wissen.

»Es kam gerade die Eilmeldung, dass sie das Reichstagsgebäude ab heute für Besuchergruppen gesperrt haben. Kleinere Schäden am Mauerwerk. Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Aber wir wären jetzt nicht mehr reingekommen.«

Julian blickte auf. Ob das etwas mit dem Geräusch und dem feinen Riss in der Wand zu tun hatte, den er bemerkt hatte, als Egon Müller hinter ihnen das Gebäude verließ?

»Echt Glück gehabt«, war der einstimmige Tenor der meisten Schüler.

Fünf Minuten später unterbrach Svenja die Diskussion.

»Es kommt gerade eine neue Meldung.« Sie schaute auf ihr Handy und las vor. »Reichstagsgebäude in Berlin geschlossen. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass die bisher entdeckten kleinen Risse im Reichstagsgebäude in Berlin in Zusammenhang mit dem Klimawandel stehen. Wie Forscher schon vor einiger Zeit herausgefunden haben, wird sich das veränderte Klima auch zunehmend auf die gebaute Umwelt auswirken. Entscheidend für die Schadensanfälligkeit an Gebäuden ist der Standort. Der Reichstag liegt an einer Wasserader: der Spree. Erste Untersuchungen wurden eingeleitet.«

Julian meldete sich.

»Als wir letzte Woche rausgehen wollten, habe ich ein Geräusch gehört und dann gesehen, wie ein kleiner Riss entstanden ist. Der Müller von den Blauen, der mit der langweiligen Rede, der hat es auch mitbekommen. Das war es bestimmt. Wenn sich das bewahrheiten sollte, dann ist jetzt sogar die Zentrale der Bundesrepublik betroffen, und die bekommen nicht mehr hin als nichtssagendes Gefasel. Solche Luftnummern wie der Müller!«

Das Stimmengemurmel wurde lauter. Marcel Neufeld ließ der Klasse zunächst den Freiraum. Nach zehn Minuten unterbrach er die Gespräche.

»Hört mal bitte zu. Ich sehe, dass ihr voll in der Thematik seid. Ich kann eure Aufregung auch zu einhundert Prozent nachvollziehen, aber das alles wird uns und euch nicht weiterbringen. Ihr müsst das, was ihr da stehen habt, jetzt in strukturierte Bahnen bringen.«

»Haben wir doch«, meldete sich Max. »Wir haben doch schon so viel aufgeschrieben. Schauen Sie doch auf unser Papier.«

Sarah Koch, die Siebzehnjährige aus Engstingen, saß auf der Fensterbank des Klassenzimmers und schaute hinüber zum Parkhaus am Ledergraben. Unter ihr rollte der Verkehr unablässig in beide Richtungen. Bisher war sie ruhig geblieben, hatte aber aufmerksam zugehört. Sie war die begabteste Rednerin der Klasse und hatte es in der AG »Jugend debattiert« im letzten Jahr bis ins Landesfinale von Baden-Württemberg geschafft.

»Eure Beiträge sind echt top, aber Herr Neufeld hat recht. Wir müssen uns eine Struktur geben. Es sind jetzt noch acht Minuten bis zum Ende der Stunde. Vielleicht könnten wir uns in der Zeit auf Kleingruppen einigen, die sich dann um umsetzbare Themen kümmern. Die Themen könnten wir dann beim nächsten Mal an den Anfang der Stunde stellen und uns überlegen, wie wir die Dinge konkret anpacken wollen.«

Marcel Neufeld hob zum Zeichen der Anerkennung den rechten Daumen.

Julian schaute sie bewundernd an, während Max still für sich dachte:

»Verdammt, warum fällt mir so etwas nie ein?«

»Also, alle damit einverstanden? Machen wir es so?«, fragte ihr Lehrer. Marcel Neufeld schaute in die Runde und erntete zustimmendes Gemurmel.

Die Schüler teilten sich auf. Erste bildeten Kleingruppen. Marcel Neufeld hob zu einer Zusammenfassung an.

»Dann bis …« Das Klingelzeichen unterbrach ihn mitten im Satz, und bevor er weitersprechen konnte, hatten die Schüler schon eilig ihre Sachen zusammengepackt. »Der Lehrer beendet die Stunde; nicht die Klingel«, dachte er und wusste zugleich, dass es keinen Sinn haben würde, die Schüler an diese Regel zu erinnern.

Der Großteil verließ den Klassenraum im zweiten Stock. Julian rollte die Tapetenbahnen auf und sah zu Sarah.

»Fährst du jetzt auch mit dem 400er nach Engstingen? Dann könnten wir zusammen fahren!« Er hoffte, dass sie noch eine Weile beisammen sein konnten.

»Nein, ich bleibe noch in Reutlingen. Habe mich noch mit einer Freundin zum Eis im Piazza am ZOB verabredet.« Sie grinste.

Julian verzog das Gesicht zu einem zaghaften Lächeln.

»Ich weiß ja, dass du kaum Schwächen hast, aber beim Eis essen kannst du wohl nie Nein sagen oder? Vielleicht gehen wir zwei ja auch mal eins essen. Würde mir sehr schmecken mit dir.« Er versuchte sein charmantestes Gesicht aufzusetzen. »Hast du nicht Lust, dass wir eine Zweiergruppe bilden? Überleg es dir! Ich glaube, das wäre gut.«

»Ich überlege es mir. Schreib’ dir nachher eine WhatsApp, okay?«

»Okay. Wir könnten uns dann ja beim Eis treffen.«

»Mal sehen.«

Ihre Schultertasche über die rechte Schulter gehängt, verließ Sarah das Klassenzimmer. Julian schaute der 1,70 Meter großen, schlanken und sportlichen Mitschülerin hinterher. Er kniff die Lippen zusammen. »Mal sehen, ob das …« Er blickte auf seine Uhr. Er musste sich beeilen, um seinen Bus nach Pfullingen noch zu bekommen.

4

Nur knapp einen Kilometer weiter, im Polizeigebäude an der Bismarckstraße, saßen Robert Becker und Marion Schmidt zusammen. Der Schreibtisch von Robert Becker war gefüllt mit blauen und roten Ösenheftern sowie zwei grauen Leitz-Ordnern. Er hatte noch nicht alle Berichte der letzten Tage geschrieben.

Die silberne metallene Schreibtischlampe, die rechts außen auf dem Tisch stand, hätte sicherlich bei Bares für Rares einen guten Preis erzielt. Sie entsprach wirklich nicht mehr der heutigen Zeit. Aber Robert hing an ihr. Eine schwarze runde, etwa 20 Zentimeter große Plastikscheibe bildete den Sockel, von dem aus ein Metallstab in die Höhe ragte, um in einem metallenen Schirm zu enden, der in seiner Form an eine Konservendose erinnerte. Seit seiner Schulzeit, als er sein erstes eigenes Zimmer bezogen hatte, hatte sie ihm treue Dienste geleistet. Beim Lernen für die Abiturarbeiten, während der Vorbereitungen für seine Studienabschlussprüfungen, immer war sie sein treuer Begleiter gewesen. Ein Garant für erfolgreiches Arbeiten. So hatte er sich auch in seinem Berufsleben nicht von ihr trennen wollen. Hinter ihm an der Wand hing ein großes Puzzle mit ihm, seiner Frau und ihren beiden Kindern. Seine Familie hatte es ihm zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt.

Marion blickte auf den bereits wieder halb vollen Papierkorb, der links am Schreibtisch stand. Die ganze Dokumentation nahm wirklich überhand. Robert griff noch einmal zu der oben aufliegenden Akte des Mordes im Rinnental in Sonnenbühl. Morgen sollte das Urteil gesprochen werden. Dann würde auch die Bluttat an dem Engstinger Naturforscher Helmut Eberle abgeschlossen sein. Seine Gedanken schweiften noch einmal in die Vergangenheit ab. Polizeiliche Ermittlungsarbeit, Bauchgefühl, Glück. Alles hatte zusammengepasst, um diesen Fall zu lösen. Ja, aber jetzt war wieder die Gegenwart gefragt.

»Gehst du hin, Marion?«, wollte Robert von ihr wissen.

»Ich habe es vor. Will jetzt schon wissen, wie es zu Ende geht mit unserem Albmord. Gott sei Dank haben wir den noch bekommen, bevor er sich absetzen konnte.«

»Tja, manchmal haben die ganzen technischen Probleme der Bahn doch etwas Gutes, zumindest für unsere Arbeit«, spielte Robert auf die Situation am Stuttgarter Hauptbahnhof an, die dazu geführt hatte, dass sie Eberles Mörder am Ende doch noch dingfest machen konnten.

»Mal was anderes, Marion.« Robert hielt kurz inne. So erschien ihm doch die kommende Frage etwas unangenehm und eventuell zu neugierig. »Wie geht es denn jetzt mit Lukas und dir weiter? Scheint eher was Festes zu sein, oder?«

Marion räusperte sich und sagte ganz locker:

»Wir werden zusammenziehen und dann können wir auch mit einem Auto zur Arbeit kommen. Spart schon eine Menge Sprit.«

Robert mochte Lukas Behringer, den Leiter der Reutlinger Kriminaltechnik, der ihnen beim Rinnental-Fall sehr behilflich gewesen war. Er gönnte Marion die Beziehung von ganzem Herzen, zumal sie in der Vergangenheit viel Pech gehabt hatte.

»Und, habt ihr schon was im Auge?«

Marion lächelte.

»Du wirst es nicht glauben. Wenn es klappt, ziehen wir nach Engstingen. Vielleicht sogar Großengstingen. Wir sehen uns da demnächst mal was an.«

Roberts Kopf zuckte hoch.

»Du wirst Älblerin? Und die Winter?«

»Jetzt krieg dich mal wieder ein. Ich hatte ja schon damals gesagt, dass es mir da oben gefällt, und vielleicht kommen wir dann ja auch mit dem Fahrrad zur Arbeit. Der Radweg über die alte Bahntrasse führt ja fast direkt hinunter bis zu uns in die Bismarckstraße.«

»Und zurück?«, wollte Robert wissen.

»E-Bike, Robert, E-Bike. Ich kenne eine, die fährt das sogar mit 25 km/h hoch.«

An der Tür klopfte es und Manfred Zumbold trat ein.

»Der Chef will euch sprechen. Eine Tote in Orschel-Hagen. Er ist wirklich ganz mies drauf. Es ist besser, ihr kommt gleich.«

Robert und Marion tauschten schnelle Blicke, die Worte nicht ersetzen konnten. So kannten sich die beiden mittlerweile gut genug, um genau zu wissen, welche Gedanken dem jeweils anderen jetzt durch den Kopf schossen.

»Wir kommen!«, antwortete Marion ihrem Kollegen.

5

Julian war gerade auf dem Weg zum Handballtraining der A-Jugend des VfL Pfullingen. Während er sonst sein Fahrrad bevorzugte, ging er heute zu Fuß. Für den Weg von seinem Elternhaus in der Mörikestraße in Pfullingen bis zur Halle brauchte er auch nur knapp zwanzig Minuten. Zeit, um ein bisschen Musik zu hören und die Gedanken schweifen zu lassen. Tief in die wummernden Töne in seinen Ohren versunken, war er auch schon auf Höhe des Pfullinger Friedhofs und des alten Bahnhofs angelangt. Seit geraumer Zeit hatte sich in dem renovierten Bahnhofsgebäude ein Restaurant eingerichtet. Sehr häufig trafen sich an den Nachmittagen hier Spaziergänger und ältere Leute für einen Kaffeeklatsch. Aber auch für den Leichenschmaus nach einer Beerdigung auf dem nahe gelegenen Friedhof war der Gasthof prädestiniert. Draußen auf der Terrasse saßen häufig Fahrradfahrer, die sich bei einem Radler ausruhten. Mütter mit ihren Kindern verweilten nach dem Besuch des direkt daneben liegenden Spielplatzes noch einmal vor dem Heimweg. Die Gaststätte war zu einem Begegnungsort für Bevölkerungsschichten aller Altersstufen geworden.

Mehrere Fahrradfahrer kreuzten Julians Weg. Die meisten waren auf dem Heimweg von Reutlingen nach Unterhausen oder auf die Alb. Julian konstatierte immer mehr E-Bike-Fahrer unter den Radlern. Die Anzahl der elektrisch unterstützten Räder hatte merklich zugenommen. Und das nicht nur bei der älteren Generation. Sein Handy vibrierte. Julian hatte schon den ganzen Nachmittag unzählige Male auf sein Display gestarrt und immer wieder die »Zuletzt online um …«-Zeit gecheckt. Die letzte Aktivität von Sarah auf WhatsApp. Sein Puls begann sich mehr als deutlich zu beschleunigen und mit leicht zitternden Fingern tippte er auf das grüne Symbol, über dem jetzt endlich eine rot leuchtende Eins angezeigt wurde: »Würde mich freuen, wenn wir zusammen eine Gruppe machen. Morgen nach der Schule?«

Julian strahlte über das ganze Gesicht und begann sofort eine Antwort zu tippen.

»Halt stopp!«, mahnte er sich selbst. Er sollte nicht direkt zurückschreiben, sonst würde sie noch denken, er hätte nur auf ihre Nachricht gewartet. Das musste bis nach dem Training warten. Für Frauen war man dann wohl interessanter. So hatte ihm das zumindest mal Thorben, der Macho aus seiner Stufe, verkündet. Verstehen konnte er es zwar nicht, aber Thorben würde es schon wissen. Beschwingt schulterte er seine Sporttasche wieder und setzte seinen Weg fort.

Bald hatte Julian die Pfullinger Kurt-App-Sporthalle erreicht. Hier hatte die erste Handball-Mannschaft des VfL Pfullingen vor Jahren noch in der 1. Bundesliga um Punkte gekämpft. So berühmte Gegner wie der THW Kiel, VfL Gummersbach, TBV Lemgo Lippe und FRISCH AUF! Göppingen hatten ihre Visitenkarte abgegeben. Der VfL hatte nie viele Punkte erzielt, aber jedes Mal aufopferungsvoll gekämpft. Die Hölle Süd wurde die Sporthalle manchmal etwas hochtrabend genannt. Jetzt spielte der VfL Pfullingen in der 3. Liga wieder an der Spitze mit.

Kurz vor der Eingangstür traf Julian seinen Trainer Mike Degerfeld.

»Julian, alles klar bei dir? Hast so einen verklärten Blick drauf.«

»Schon okay, Mike. Freue mich auf das Training und das Spiel am Wochenende. Wenn wir das gewinnen, könnte es mit der Meisterschaft schon klappen.«

Gemeinsam gingen sie die Treppen zu den wie immer nach altem Schweiß und Gummiboden müffelnden Umkleidekabinen hinunter.

Nach einem kurzen Aufwärmprogramm standen Einheiten zu verschiedenen Abwehrformationen sowie schnelle Vorstöße auf dem Programm.

Julian holte in dem Training alles aus sich heraus, ohne dass er Ermüdungserscheinungen zeigte. Erschöpft, aber glücklich kam er an diesem Abend nach Hause. Nun konnte er ihr endlich antworten. Während des Trainings hatte er sich abgelenkt, aber jetzt war ausreichend Zeit verstrichen und er durfte schreiben. Er formulierte mindestens fünf unterschiedliche Antworten mit diversen Smileys, bis er sich schließlich für eine nicht zu euphorische, aber auch nicht zu neutrale Version entschied: »Klar, gerne. Was hältst du davon, wenn wir unsere Ideen bei einem Eis im Piazza austauschen?«

Er legte sich ins Bett und schloss die Augen. In seinem Kopf tauchten die inneren Bilder des Tages in ihm auf: Klimaprojekt ins Rollen gebracht – Training klasse – mit Sarah zusammenarbeiten – mit ihr Eis essen gehen. Mit dem Gedanken an sie und ihre schulterlangen blonden Haare schlief er ein.

6

In der letzten Schulstunde des Tages schaute Julian immer wieder verstohlen zu Sarah hinüber. Bemüht, dass es nicht zu auffällig war und sie nicht bemerkte, dass er sie gerne die ganze Zeit anstarren würde. Sie war einfach umwerfend. »Noch ein paar Minuten, dann kann ich mich endlich länger mit ihr allein unterhalten.« In Gedanken malte er sich aus, wie sie Händchen haltend durch die Fußgängerzone schlenderten. Durch die plötzlich schrillende Schulklingel wurde er völlig unvorbereitet aus seinen Tagträumen gerissen.

Eigentlich war Julian keiner, dem die Schule lästig war, aber heute war er ständig abgelenkt gewesen. Ganz auf das Treffen mit Sarah fokussiert. Viel hatte er von der vergangenen Deutschstunde nicht mitbekommen.

Da kam Sarah schon auf ihn zu. Der blonde Pferdeschwanz wippte gleichmäßig bei jedem Schritt und sie schien sich keinerlei tiefere Gedanken um das bevorstehende Treffen zu machen – während ihm das Herz mindestens bis in die neuen Sneakers, die er extra heute angezogen hatte, gerutscht war.

»Gut, Julian. Gehen wir?«

»Na klar. Freu mich, dass es bei dir klappt. Aber bei einem Eis kannst du ja auch nicht Nein sagen oder?«

Sie lächelte verschmitzt.

»Schwierig!«

Langsam schlenderten sie in der Gemeinschaft vieler anderer Schüler an der Stadtbibliothek vorbei der Bushaltestelle »Stadthalle« entgegen und freuten sich, als sie die Eisdiele La Piazza erreicht hatten. Sie ergatterten noch einen Platz am Fenster und schauten zunächst schweigend nach draußen.

Der frühere Zentrale Omnibusbahnhof hatte sich zu einem neuen Treffpunkt Reutlingens entwickelt. Auch wenn die Gartenstraße jetzt die Hauptbuslinie darstellte, kamen viele Busse immer noch hier an oder passierten den Platz. Oft trafen sich Jugendliche. In den Sommermonaten häufig bis spät in die Nacht.

»Kannst du mir was empfehlen, Sarah?«, durchbrach Julian das Schweigen, während er seinen Blick über die bunten Fotos von riesigen Eisbechern in der Speisekarte wandern ließ. »Du kennst doch bestimmt jeden einzelnen Eisbecher?«

»Ja, stimmt. Mein Lieblingsbecher ist der Gourmet Cup. Aber der Joghurette Cup ist auch mehr als zu empfehlen. Ach was, eigentlich kannst du dich überhaupt nicht vertun.«

»Also, was nimmst du, Sarah? Hab’ ja gesagt, dass ich dich einlade.«

»Mmh! Dann probiere ich heute mal was Neues. Den Irish Dream, die Soße mit Baileys klingt wirklich verlockend.«

»Okay, dann nehme ich mal deinen Gourmet Cup.«

Julian ging nach vorne an die Theke, um die Bestellung aufzugeben. Dort wurden mindestens zwanzig verschiedene Sorten Eis, dekoriert mit Schokolade, Keksen oder Früchten, präsentiert, sodass ihm direkt das Wasser im Mund zusammenlief. Er war froh, sich nicht noch zwischen all den leckeren Varianten entscheiden zu müssen.

Um diese Zeit saßen nicht viele Personen in der Eisdiele. Das meiste war Laufkundschaft. Man nahm sich ein Eis in der Waffel oder im Becher auf die Hand und verzehrte es im Weitergehen oder ließ sich auf eine der zahlreichen neu geschaffenen Sitzgelegenheiten vor dem Tübinger Tor nieder.

Sarah schaute währenddessen aus dem Fenster. Von der gegenüberliegenden Seite fuhr gerade ihr eigentlicher Bus, der 7606er, auf die Alb. Aber jetzt wollte sie zunächst mit Julian besprechen, wie die weiteren Planungen aussehen sollten. Der kam gerade wieder vom vorderen Bereich der Eisdiele zurück.

»Kommt gleich.« Er lächelte sie an.

»Und Julian, du wolltest eine Gruppe mit mir aufmachen?«

»Ja, das fände ich echt cool. Du willst doch auch, oder?«

»Ja, ich glaube, das wird schon hinhauen mit uns. Hast du schon eine Idee, wie wir vorgehen könnten?«

Julian fingerte mit seiner rechten Hand etwas ungeschickt das Handy aus der Tasche und wollte gerade ein Foto zeigen, als schon die Bedienung mit ihrer Bestellung kam.

»Wer bekommt was?«

»Der Irish Dream ist für die Dame und für mich der Gourmet Cup«, antwortete Julian.

»Danke.«

Die junge Frau, vielleicht zwanzig Jahre alt, stellte die beiden Eisbecher ab und ging zum nächsten Tisch, an dem sich gerade ein älteres Ehepaar niedergelassen hatte. Sie waren wohl auf einer Fahrradtour, wie unschwer an ihrer auffälligen neonfarbenen Radkleidung zu erkennen war.

»Jetzt zeig mal!«

»Schau dir das an.« Er hielt Sarah das Smartphone hin.

»Das ist ja krank. Das muss man doch verbieten.«

»Jetzt gibt es schon die einzelnen Bananen geschält und extra verpackt. Auf einer Kunststoffschale liegend und das Ganze in Plastikfolie eingeschweißt. Prima Geschäftsidee, oder? Ist ja nicht so, dass die Natur die Bananen schlauerweise selbst verpacken würde. Nee, da muss die natürliche Schale weg und eine neue aus Plastik drumrum!«

»Der Markt geht mit. Wenn wie 2018 in Deutschland knapp 33 Prozent der Ehen geschieden werden und die Zahl der Einpersonenhaushalte zunimmt, dann lohnt sich so etwas schon«, sagte Sarah sarkastisch, während sie die Augen in maximaler Stellung verdrehte.

»Das ist einfach nur total hirnrissig. Was meinst du, was das wiederum alles für die Umwelt bedeutet? Erst die Herstellung von diesem ganzen Plastikmist, dann die riesige Müllmenge, die anfällt. Und später heulen die Leute wieder, wenn irgendwo ein Delfinbaby mit dem Magen voll Müll am Strand angespült wird und sie beim Cocktailschlürfen stört. Hast du auch schon gewusst, dass nur 16 Prozent des angelieferten Plastikmülls wieder recycelt werden und der Rest in Verbrennungsöfen landet? Laut weltweitem Plastikatlas wurden zwischen 1950 und 2015 8,3 Milliarden Tonnen Plastik produziert, was mehr als einer Tonne pro Mensch entspricht, die heute auf der Erde leben. Allein Coca-Cola stellt jährlich 88 Milliarden Einwegflaschen her, was aneinandergereiht einunddreißigmal zum Mond und zurück reicht.« Julian referierte sein Wissen, das er sich in letzter Zeit angeeignet hatte.

»Das ist ja nicht zu glauben. Die Zahlen habe ich so genau nicht gewusst. Aber ich habe neulich im Fernsehen gesehen, wie viel Müll als Mikroplastik auf unseren Äckern landet und über den natürlichen Kreislauf so wieder in unsere Nahrung kommt. Wir also so etwas auch essen.«

Julian schaute Sarah mit zusammengekniffenem Mund an.

»Ja, Sarah, das mit dem Plastik im Meer ist bekannt, aber das mit den Äckern haben sie doch erst jetzt in so einer Panoramasendung gezeigt.«

»Wir sollten trotzdem nicht vergessen, unser Eis zu essen, sonst schmilzt uns das schneller als die Gletscher in der Arktis«, antwortete Sarah.

Sie nahm sich einen großen Löffel aus ihrem Becher, an dem der hellbeige Baileys wie kleine Flüsschen die Sahne hinunterfloss. Sie blickte Julian an, der nun ebenfalls begann, den riesigen Turm von Eis, Früchten und Sahne mit dem langstieligen Löffel zu bearbeiten.

»Übrigens Arktis. Hast du das letzte Woche im Reutlinger General-Anzeiger gelesen? Jetzt haben Forscher sogar festgestellt, dass es in der Arktis Plastik schneit. Sie haben Schnee geschmolzen und dann hinterher im Tauwasser Mikroplastik entdeckt. Aus diesem Grund, Sarah, würde ich gerne etwas gegen die Plastikverschwendung in unserem Projekt einbringen. Das ist echt krass. Ich habe es gar nicht glauben können. Aber es ist wohl so und man könnte durch so einfache Veränderungen im Alltag schon unglaublich viel bewirken.«

Sarah schaute ihn an.

»Und wie schmeckt dir das Eis?« Sie wollte eigentlich erst mal in Ruhe ihr Eis genießen, ohne sich schon wieder Gedanken darüber zu machen, ob das Kleeblatt aus grünem Plastik, das in ihrem Becher steckte, nun wirklich nötig war.

»Echt super, Sarah. Kann verstehen, warum du das so gerne isst.«

Draußen vor der Eisdiele zogen die Busse in einem ständigen Wechsel von Ankunft und Abfahrt an ihnen vorbei. Die Haltestelle bildete weiterhin die Durchfahrtstrecke für zahlreiche örtliche als auch außerstädtische Buslinien.

»Und wie hast du dir das jetzt vorgestellt, Julian?«, griff Sarah nun von selbst das Thema wieder auf. »Wie sollen wir unsere Ideen konkret umsetzen?«

»Ich habe mehrere Möglichkeiten im Kopf.« Julian schaute sie an und hoffte, nicht bis über beide Mundwinkel mit Eis verschmiert zu sein. »Zuallererst könnten wir in der Klasse auf die ganze Problematik aufmerksam machen und darüber informieren, was wirklich so abgeht: Film, Internet, Zeitungen, Social Media.«

»Gut, wenn wir das als Grundlage haben, könnten wir doch selbst alle als Multiplikatoren fungieren. Vielleicht mal zuerst in unseren eigenen Familien und in unserem Bekanntenkreis. Ich meine, dass man zum Beispiel beim Einkaufen mehr auf unverpackte Lebensmittel achten sollte«, schlug sie vor. »Bei uns in Engstingen kannst du dir im Elektroladen Eisele sogar schon ganz viele Putz- und Spülmittel direkt abfüllen lassen. Meine Eltern machen das und sparen so die Plastikverpackungen. Das macht sich im gelben Sack schon stark bemerkbar. Und an der Marienkirche hier in Reutlingen gibt es doch auch so einen Unverpackt-Laden.«

Sarah nahm einen Stift zur Hand und fing auf einer Serviette an, eine Mindmap zu erstellen und zeichnete immer mehr Verzweigungen auf. Als sie gerade den Löffel wieder zum Mund führte, stieß eine ältere Dame, ungefähr Mitte achtzig, die mit ihrem Rollator an ihrem Tisch vorbei wollte, sie an und das Eis fiel auf ihre Jeans.

»Verdammt …« Sarah schaute hoch und wollte gerade zu einer empörten Äußerung ansetzen, als sie in das faltige, aber gutmütige Gesicht der Dame sah.

»Entschuldigung, mein Kind! Das wollte ich nicht. Ich hoffe, dass es nicht so schlimm ist. Ich bin halt etwas wackelig mit meinem Rennschlitten.«

Sarah nahm ein Papiertaschentuch und wischte sich die Hose ab.

»Macht nichts. Halb so schlimm. Kaum der Rede wert oder wie sagt man im Schwäbischen: D’ Waschmaschä wäschd.«

»Danke! So höflich sind nicht alle Jugendlichen heutzutage.« Sie lächelte Sarah und Julian an. »Dann noch einen schönen Nachmittag.«

»Ihnen auch«, erwiderte Sarah.

Die Dame schob ihren Rollator langsam und vorsichtig weiter und setzte sich in die hintere Ecke.

Sarah nahm ihren Stift wieder zur Hand und schrieb ein weiteres Feld auf: plastikfreie Schule.

»An so etwas hatte ich auch schon gedacht. Wir könnten versuchen, so viel Plastik wie möglich aus der Schule zu verbannen. Coffee-to-go-Becher, Plastiktüten, PET-Flaschen, Butterbrotbeutel und so weiter«, fuhr Julian fort.

»Als Nächstes müssten wir dann raus aus der Schule, rein in die Öffentlichkeit. Infostände in der Wilhelmstraße, auf dem Marktplatz«, brachte Sarah die Gedanken von Julian auf die nächste Ebene.

»Und die Zeitungen, den SWR, zumindest das RTF könnten wir einschalten. Ich spiele doch Handball und daher kenne ich von den Sportredakteuren ein paar. Über die könnte ich sicherlich Kontakt zu einem von den anderen Sendern aufbauen.«

»Mensch, Julian, das klingt gut!«, rief Sarah euphorisch aus. »Und ich habe doch letztes Jahr bei Jugend debattiert mitgemacht. Vielleicht lässt sich mit den anderen Gymnasien eine Debatte beziehungsweise Debattierrunde zu der Thematik gestalten. Das war eine richtig gute Sache und sehr effektiv. Auf die Art und Weise erreichen wir auch die anderen Schulen.«

»Vielleicht kann man die Volkshochschule in Reutlingen ebenfalls einschalten. Die sind doch für vieles offen.«

Die beiden Jugendlichen redeten sich die Köpfe heiß, drangen immer tiefer in ihre Welt der Ideen und Vorstellungen ein, während sie sich mit dem Essen beeilen mussten, damit das Eis nicht zu schnell in ihren Bechern schmolz. Die Zeit verrann für Julian noch schneller als das Eis. Die gemeinsame Zeit alleine mit Sarah.

»Sollen wir gleich zusammen fahren?«

»Gerne, aber der Bus geht ja erst in einer Viertelstunde.«

Julian schaute durch das Fenster auf die gegenüberliegende Seite der Bushaltestelle, wo die Busse nach Pfullingen und auf die Alb abfuhren.

In diesem Moment zog eine Gruppe junger Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren am Fenster der Eisdiele vorbei. Sie trugen vornehmlich schwarze Lederkleidung, schwere Lederstiefel und machten den Eindruck, als ob sie sehr viel Zeit in Fitnessstudios verbringen würden. Nicht um des Sports willen, sondern lediglich um den Körper, insbesondere die Arme und die Brust, zu formen. Es handelte sich um Männer der sogenannten Discopumper-Szene.

Sarah deutete auf sie.

»Die sind nicht gerade das Sinnbild für aufstrebende und dynamische Jugend, die sich um die Zukunft unserer Umwelt schert. So etwas stelle ich mir etwas anders vor.«

Julian verzog das Gesicht.

»Gott sei Dank haben wir im VfL Pfullingen niemanden von der Sorte. Da kann einem echt Angst werden, wenn man das sieht. Hoffentlich haben wir mit solchen Typen nie etwas zu tun.«

»Ja, hoffentlich«, antwortete Sarah. »Hoffentlich nie.« Sie sah der Gruppe hinterher und bekam ein flaues Gefühl im Magen.

Wenige Minuten später bestiegen die beiden den Bus mit der Nummer 7606 nach Münsingen.

7

Zwei Tage später

Im zweiten Obergeschoss der Schule hatte sich die Neufeld-Klasse zu ihrer »Pro-Klima-Stunde« versammelt.

»Wir brauchen einen schnell einprägsamen Namen«, hatte Sarah schon am Tag zuvor mit Julian ihre Diskussion aus der Eisdiele fortgeführt.

»Irgendetwas mit Wiedererkennungswert sollte es sein«, hatte Julian ihr beigepflichtet.

»Lass uns mal rumspinnen, Julian. Was hältst du von ›Klimastunde‹? Nee vergiss es, ist langweilig und blöd.«

»Klimaprojekt«, nahm Julian den Faden auf. »Nein, auch nicht.«

»Doch, warte mal. Ich hab’s gleich. Was hältst du von ›Pro Klima‹. Pro kommt aus dem Lateinischen. Haben wir ja zur Genüge gehabt. Übersetzt in etwa mit: Vor, vorwärts, hervorheben, steckt im Begriff Projekt, prominent und so weiter. Julian! Ich glaube, das können wir nehmen. Was meinst du?«

»Einverstanden, sprachlich bist du einfach die Beste von uns.«

Der Vorschlag hatte sofort die Zustimmung der meisten Schüler gefunden. Allerdings hatten sich viele überhaupt noch keine Gedanken dazu gemacht. Eine kleine Gruppe um Anführer Raphael lächelte Julian und Sarah mitleidig an und verzog missbilligend das Gesicht. Die übrigen Schüler kannten die Fähigkeiten von Sarah und schätzten gleichzeitig ihre bodenständige und stets kameradschaftliche Art. Sie war in keiner Weise eingebildet und hob nicht ständig ihr großes Talent hervor.

Wieder saßen die Schüler auf dem Boden, trugen ihre nun konkreten Vorschläge zusammen. Bis auf eine Dreiergruppe hatten sich alle in Zweier- oder Dreierteams zusammengefunden. Nur die Gruppe um Raphael lehnte gelangweilt und bewusst provozierend am Klassenzimmerfenster.

Max, Sebastian und Julia wollten eine Wurst- und Fleischverzicht-Initiative starten. René, Carmen und Ines schlugen ein Spendenprojekt zur Anpflanzung von Bäumen vor. Demian, Svenja und Theo waren ganz begeistert von ihrem Fahrradprojekt »Wir radeln gemeinsam durch Deutschland, Europa und die Welt«. Jeder Kilometer, den ein Schüler oder Lehrer der Gruppe mit dem Fahrrad ab jetzt fuhr, sollte immer wieder addiert und am Schuleingang auf einer großen Tafel notiert werden. Auf diese Weise wollten sie darauf aufmerksam machen, wie man auf motorisierte Fahrzeuge verzichten und auch mit dem Rad viel erleben konnte. Auf einer Europa- und später Weltkarte wollten sie die gefahrenen Kilometer immer wieder verdeutlichen.

»Wir könnten immer wieder kenntlich machen: Schüler und Lehrer der Schule sind jetzt von Reutlingen bis Paris gefahren. Oder: Alle zusammen haben wir Norwegen erreicht. Die halbe Weltumrundung ist geschafft.«

»Super Idee!« Marcel Neufeld nickte anerkennend und stieß als Zustimmung einen deutlich vernehmbaren Pfiff aus. Das Plastikverzichtprojekt von Sarah und Julian wurde mit genauso großer Begeisterung von fast allen Schülern quittiert wie die übrigen Vorschläge.

»Und was ist mit euch?«, wandte sich Marcel Neufeld nun an die gelangweilt dastehende Außenseitergruppe.

»Ist doch alles Killefick. So ein blöder Kinderkram. Meint ihr etwa, mit euren Furzideen könntet ihr die Welt verändern? Ihr seid doch alles nur hirnlose Spinner«, setzte Raphael nun einen Gegenpol. Die Köpfe der Schüler flogen herum. Max war vollkommen empört.

»Was stellt ihr euch denn so blöd an? Wenn nie jemand klein anfängt, wird sich auch nie etwas ändern!«

»Wir machen auf jeden Fall bei diesem Kinderkram nicht mit. Haben echt was Besseres zu tun. Wir wollen unsere Zeit hier nicht mit so was vergeuden«, giftete Raphael ihn von oben herab an. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wovon du redest, Julian. Weißt du eigentlich, wie viel Arbeitsplätze gerade in der Automobilindustrie durch das ganze Klimageschwätz verloren gehen? Mein Vater arbeitet in der Montage und muss nun um seinen Job fürchten. Da trifft mich euer Gefasel ganz direkt. Was ist denn, wenn der arbeitslos wird? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht, du Klugscheißer?« Raphael stieß seinen Kopf vor und starrte Julian wütend an. Die Arme waren leicht nach hinten gewinkelt, so als wollte er sich für einen Sprung an Julians Hals vorbereiten. An seinen beiden Mundwinkeln hatten sich kleine Speicheltropfen vor lauter Wut gebildet.

»Bei meinem Vater sieht es nicht anders aus. Der arbeitet seit Jahren hier in einer Reutlinger Verpackungsfirma. Willst du alles kaputt machen? Die Stimmung bei uns zu Hause ist schon auf dem Tiefpunkt«, trat nun Oscar Raphael zur Seite. Ludger nickte zustimmend.

Julian wollte gerade wütend auf die drei zugehen, als sich Marcel Neufeld den Kontrahenten in den Weg stellte.

»Nun mal ruhig, ihr Streithähne. Die unterschiedlichen Auswirkungen, sowohl positiv als auch negativ, diskutieren wir lieber mal in Ruhe, aber dann in der nächsten Stunde.«

Raphael wandte sich ab.

»Meinetwegen, halte ich aber für sehr sinnvoll, dass man sich nicht immer nur eine Seite anhört, ohne über alle Konsequenzen nachzudenken. Du machst uns doch alle kaputt! Du Besserwisser!«

Sarah hatte sich neben Julian gestellt und legte ihm beruhigend, aber mit einem eindeutigen Druck, die Hand auf den linken Unterarm.

»Ich kann euch natürlich nicht zwingen. Ich verstehe eure Sorge. Und das besprechen wir auch wirklich zeitnah«, richtete ihr Lehrer sich nun an die Abtrünnigengruppe. Dann wandte er sich wieder an die übrige Klasse.

»Ich bin schon stolz auf euch. Das ist Kreativität und Zivilcourage, gepaart mit Begeisterung. Echt klasse. Und das in so kurzer Zeit«, zollte Manuel Neufeld den übrigen Schülern ein großes Lob.

»Von wegen nichtsnutzige Jugend. Von wegen nur am Smartphone hängen. Ich glaube, wir können es vielen Leuten zeigen, wo und wie es zukünftig lang gehen soll mit unserem Klima. Auf jeden Fall ist das jetzt einhundertmal konkreter als das Gelaber in Berlin«, gab Roman seinen Beitrag.

»Das wird hier in Reutlingen bestimmt auf fruchtbaren Boden fallen, und wenn es gut läuft, dann können wir auch noch viele andere Menschen außerhalb unserer Schule mit einbeziehen«, sagte Julian.

Sarah runzelte die Stirn.

»Alle werden wir wohl nicht überzeugen können. Das fängt ja schon bei uns in der Klasse an und schau doch mal da nach draußen!«

Die Schüler versammelten sich vor den drei Fenstern des Zimmers, die den Blick über den Parkplatz vor der Schule und auf die zentrale Verkehrsader freigab.

»Was gibt’s denn da zu sehen?«, wollte Max wissen, der in der zweiten Reihe stand.

»Komm halt nach vorne.« Julian zog seinen Mitschüler an der Hand zur Fensterfront.

»Von denen haben wir vor ein paar Tagen schon mal welche gesehen. Die streifen wohl häufig an der Stadthalle und hier in der Gegend herum«, klärte Sarah ihre Klassenkameraden auf.

Gebannt starrten die Schüler auf die Furcht einflößende Gruppe der in schwarzes Leder und löchrige Jeans gekleideten jungen Erwachsenen. Fünf Männer, eine Frau. Als diese die Blicke bemerkten, wandten sie sich demonstrativ den Klassenzimmerfenstern zu, zeigten den Stinkefinger, tippten sich als Zeichen der Verachtung an die Stirn oder zeigten laut lachend auf halb gelehrte Wodkaflaschen. Zwei Bierflaschen flogen zielgerichtet ins Gebüsch, das den Parkplatz vom Ledergraben trennte.

Raphael stieß Ludger mit dem rechten Ellbogen in die Seite und zwinkerte ihm zu. Ludger schürzte die Lippen als Zeichen seiner Zustimmung.

»Alle werden wir wohl nie erreichen. Da müssen wir aufpassen, dass wir mit denen nicht aneinandergeraten.« Sorgenfalten hatten sich auf die Stirn von Marcel Neufeld gelegt. Solche Gruppierungen verhießen nichts Gutes. Er hatte in letzter Zeit zunehmend davon gehört, wonach auch in Reutlingen Aktivitäten von der Polizei festgestellt und aktenkundig gemacht worden waren. An Stammtischen, in Vorträgen und auf Flugblättern machten diese Gruppen auf sich aufmerksam. Auch auf dem Marktplatz hatte eine dieser Gruppen bereits im Jahr 2016 demonstriert. Sie versuchte besonders junge Leute anzusprechen, weswegen den Mitarbeitern der Präventionsabteilung der Reutlinger Kripo schon oft Aufkleber in Schulen begegnet waren. Auch Marcel Neufeld hatte solche Aufkleber bereits mehrfach entdeckt. Sie hatten Runen an den Seitenrändern, die stark an die Zeichen aus dem Dritten Reich erinnerten. Der Name der Gruppierung kam ihm jedoch im Augenblick nicht in den Sinn. Aber das konnte man ja sofort, wie alles andere, im Netz nachlesen.

Bei aller Euphorie seiner Schüler. Sie mussten auch vorsichtig sein. Der Film Die Welle fiel ihm ein, bei dem ein Unterrichtsprojekt, in dem ein Lehrer seinen Schülern verdeutlichen wollte, wie Diktatur entsteht, vollkommen aus dem Ruder geriet. Dieses Experiment endete tödlich.

Die publik gewordene Nordkreuzgruppe fiel ihm ein. Hier existierten sogar Todeslisten mit Politikern und besonders engagierten Personen in Deutschland. Er blickte der Gruppe unten auf der Straße hinterher. Über dem Parkhaus am Ledergraben zogen schwarze dicke Wolken auf. Es würde wahrscheinlich gleich ein Unwetter geben.

Julian blickte auf das Dach, wo sich ein paar Krähen niedergelassen hatten. Sie warteten wohl auf weggeworfene Essensreste. In der Ferne begann es bereits zu grummeln. Ein Gewitter war im Anmarsch.

8

»Lukas, ich hätte da mal ’ne Idee und einen Wunsch.« Mit einem verschmitzten Lächeln strahlte Marion ihn an.

»Jetzt sprich. Du weißt doch, dass ich dir sowieso kaum etwas abschlagen kann. Also, um was geht es?«

»Wir waren doch mal in Tübingen beim Theatersport und hier in Reutlingen beim Tauschrausch. Das hat dir doch auch gefallen mit dem Improvisationstheater, oder?«

»Natürlich! Das war super. Was die können! Sind eben richtige Profis. Und spielen die jetzt irgendwo wieder?«

»Bestimmt, aber ich wollte da jetzt nicht schon wieder hingehen, um zuzuschauen. In Reutlingen gibt es seit einiger Zeit auch so eine Improgruppe: DIE woRThopäden. Das ist ein VHS-Kurs, bei dem jeder mitmachen kann. Die treffen sich immer freitagabends. Wie zu einem Sporttraining. Was hältst du von so was? Ich hätte echt Lust, das einfach mal auszuprobieren. Wenn es uns nicht gefällt, müssen wir ja nicht dabeibleiben. Das würde ich mir wünschen, dass wir beide das zusammen machen.«