Mord im Rinnental - Martin Sowa - E-Book

Mord im Rinnental E-Book

Martin Sowa

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Beschreibung

An einem herrlichen Wintertag wird auf der Reutlinger Alb in Sonnenbühl an einer der dortigen Klimastationen der Naturforscher Helmut Eberle ermordet aufgefunden. Das Kommissar-Duo Robert Becker und Marion Schmidt, Reutlingen, ermittelt zunächst in der näheren Umgebung auf der Alb: Engstingen, Willmandingen, Undingen. Überall hat er höchste Anerkennung genossen. Als Autor zahlreicher Bücher und Gast in den landesweiten Medien war er einem breiten Publikum bekannt. Doch was verbirgt sich hinter dieser Fassade? Becker und Schmidt suchen fieberhaft nach dem Mörder und dringen in die Idylle der Schwäbischen Alb ein. Die Spuren führen in das Reutlinger Drogenmilieu und zu einer internationalen Autohehlerbande. Da geschieht ein zweiter Mord in Stuttgart. Gibt es Verbindungen zwischen den Taten? Robert Becker und Marion Schmidt kooperieren mit den Stuttgarter Kollegen. Bald zeigen sich erste Verbindungen. Sind sie der Schlüssel zur Aufklärung?

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Dr. Martin Sowa

wurde 1954 in Hagen/Hohenlimburg (Nordrhein-Westfalen) geboren. Nach Abitur und Bundeswehr studierte er in Reutlingen an der damaligen Pädagogischen Hochschule Sonderpädagogik. Nach Lehrtätigkeit an der Körperbehindertenschule in Stuttgart-Vaihingen, heute Margarete-Steiff-Schule, war er 23 Jahre als Dozent am Fachseminar für Sonderpädagogik in Reutlingen tätig. 1979 gründete er die Behindertensportabteilung der TSG Reutlingen, heute TSG Reutlingen Inklusiv, mit fast 600 Mitgliedern die größte ­ihrer Art in Deutschland.

Martin Sowa fungiert nach wie vor als Abteilungsleiter. Von 1991 bis 1993 promovierte er an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Nach sechs Jahren Konrektortätigkeit an einer Sonderschule in Sigmaringen, heute SBBZ, war er vier Jahre als Referent für Inklusionssport beim Landesbehindertenbeauftragten von Baden-Württemberg, Gerd Weimer, in Stuttgart tätig.

Martin Sowa veröffentlichte zehn Bücher und weit über 100 Fachartikel zur Thematik Behinderten-Inklusionssport, Motopädagogik und bewegte Schule.

Über Schreibkurse bei der Stadtbibliothek und der VHS Reutlingen kam er zum Schreiben außerfachlicher Literatur. Das monatliche Treffen bei der Gruppe SIC (»Schreiben im Café«) motivierte ihn zu seinem Romandebüt.

Martin Sowa

MORD IM RINNENTAL

Kriminalroman

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder ­verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2019Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: Jürgen Meyer

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Storz

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-058-2

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

KAPITEL 1

Montag, 5. 2. 2018, 17.25 Uhr

Langsam verblasste die bis vor Kurzem noch hoch am blauen Himmel stehende Sonne und legte ihre letzten Strahlen über die dicken verschneiten Tannen, die der winterlichen Landschaft das typische Bild der Schwäbischen Alb verliehen. Ein paar vereinzelte Skilangläufer zogen ihre letzten Bahnen und glitten, die einen langsamer, die anderen etwas schneller, dem Ausgangspunkt ihrer Tour entgegen. Ein paar Läufer im Skating-Stil rasten an ihnen in der Mitte vorbei und waren im Nu hinter den ersten Hügeln verschwunden. Doch das Gros der Skifahrer, meistens ab fünfzig Jahren aufwärts, glitt gemütlich dahin, vorsichtig darauf bedacht, nicht auf den letzten Metern noch zu stürzen und sich ein Bein oder den Arm zu brechen.

Den ganzen Tag über war es sonnig und warm hier oben gewesen, und das Bilderbuchwetter hatte Heerscharen von Skiläufern und Wanderern aus dem ganzen Land auf die sonnige Alb ins Rinnental nach Sonnenbühl gezogen. Wahrscheinlich hatte die Gegend ihren Namen daher bezogen, weil die Sonne so viele Stunden am Tag diese herrliche Landschaft in ein bezauberndes Licht tauchte. An den zwei großen Ausgangspunkten für die Langlauftouren waren Autos mit Nummernschildern aus Böblingen, Esslingen, Stuttgart, Tübingen, Heilbronn, Calw, Heidelberg und vielen weiteren Städten geparkt. Ein Indiz dafür, welch ­magische Anziehungskraft diese Landschaft für die Städter hatte, die ansonsten immer über die Schwäbische Alb schimpften:

»Da ist doch nichts los!«

»Wie kann man nur da oben wohnen?«

»Da wäre es mir viel zu kalt!«

»Da musst du dich immer einen Kittel wärmer anziehen!«

Das alles waren Sprüche, die die Bürger in Undingen, Engstingen, Willmandingen, Engstingen, Trochtelfingen, und wie die Dörfer und Städte alle hießen, nur allzu häufig hörten. Sie waren irgendwie immer gleich.

Aber an Tagen wie diesen stürmten alle dorthin, wo sie meinten, dass man sich einen Kittel wärmer anziehen musste. An diesen Tagen rollte die Blechlawine die Honauer Steige, die Holzelfinger Steige, die Genkinger Steige oder die Stuhlsteige hinauf. Alle vereint in dem Ziel, an den Ort zu kommen, über den man an anderen Tagen nur abfällig munkelte. Dann gab es für die Städter nichts Schöneres, als sich in dieser sonnenüberfluteten Landschaft die Langlaufbretter unterzuschnallen und in gemächlich schlenderndem Tempo durch die stets frisch gespurten Loipen zu gleiten, sich von der Sonne verwöhnen zu lassen und den blassen Teint mit einer Winterbräune zu überziehen.

»Heckenscheißer!« wurden sie bisweilen von den Älblern genannt, denn die Anzahl der öffentlichen Toiletten war auf die einzelnen Gaststätten, das Restaurant »Albsonne« oder die Skihütte in Undingen beschränkt.

Nach und nach verloren sich die letzten Albbesucher und überließen der Natur und den Tieren wieder ihr heimisches Gefilde. Am äußersten Waldrand, dort, wo viele der Skiläufer eine Schleife drehten, um zum Ausgangspunkt zurück zu gelangen, dort, wo vom Golfplatz einer der vielen Wege zur Seitzhütte und zum Waldspielplatz über siebenhundert Meter nach oben abbog, lugte nun ein Reh in seinem braunen Winterfell aus der Tannenschonung heraus und betrat die vom fahlen Abendlicht beleuchtete Landschaft.

Als ob es die Vorhut bildete, blickte es nach links und rechts, um sodann in anmutigem Galopp über die nun wie leer gefegte Landschaft zu springen. Gefolgt von drei weiteren kleinen Artgenossen schien die Vierergruppe mühelos über die glitzernde Schneedecke zu fliegen, um alsbald in dem nächsten, nur zweihundert Meter entfernten Waldstück wieder zu verschwinden. Momentaufnahme eines typischen Wintertages dieser Alblandschaft.

Am hinteren Ende, dort wo die Tiere gerade noch zwischen den Tannen verschwunden waren, betrat nun eine in winterliche Kleidung gehüllte, männliche Gestalt die Lichtung. Ihre dicken Fellschuhe, die wärmende Hose, der Parka und die Wintermütze, die über beide Ohren gezogen war, verrieten, dass sie bestens mit den nun immer kälter werdenden Temperaturen auf der Alb vertraut war. Mit weit ausgreifenden Schritten marschierte sie auf dem platt gewalzten Schneebelag des Wanderweges Richtung »Albsonne«.

Nach einer kurzen Einkehr machte sie sich wieder auf in die Schneelandschaft. Sie schien sich gut auszukennen. Bisweilen blieb sie stehen, steckte ein kleines Messgerät in den Schnee und markierte sich die so ermittelten Werte in ihr Smartphone. Dann wieder untersuchte sie die unter der Schneedecke verborgenen Tannennadeln oder schob etwas von der weißen Masse an die Seite, um sich anschließend ihre frisch gewonnenen Erkenntnisse peinlich genau aufzuschreiben. So voranschreitend, hatte der Naturforscher Helmut Eberle alsbald in der Abenddämmerung eine der zwei Klimastationen im Rinnental erreicht.

Dabei schien er gar nicht bemerkt zu haben, dass ihn seit geraumer Zeit eine ebenso in winterliche Kleidung gehüllte Person unaufhörlich im Blick hatte, stets darauf bedacht, selbst nicht gesehen zu werden. Auch von rechts unten ­näherte sich ein Jogger oder eine Joggerin in gleichmäßigem ruhigem Lauftempo den beiden Klimastationen, welche in ­einem Abstand von fünfzig Metern direkt nebeneinander ­lagen. Wahrscheinlich wollte er oder sie die Abendstimmung noch genießen und in der untergehenden Sonne einen kleinen Trainingslauf absolvieren, um anschließend zu Hause am wärmenden Kachelofen diesen Traumtag zu beenden. Von rechts oben, dort, wo man zu Fuß durch den Wald zum Parkplatz an der Bärenhöhle abbiegen konnte, schritt eine weitere Person im Schutze der immer mehr aufkommenden Dämmerung den beiden Klimastationen entgegen. Ebenfalls vermummt. Aus Richtung der Undinger Skihütte kommend, waren noch zwei Personen auf ihren Langlaufskiern auszumachen. Aber es sah so aus, als ob sie noch eine geraume Zeit benötigen würden, bis sie die Stationen erreicht hatten, denn ihre Bewegungen verrieten, dass sie mit ihren Kräften sehr haushalten mussten. Es sah mehr nach Skispaziergang denn nach Skilanglauf aus. Ob sie sich verlaufen hatten? Würden sie ihr Auto noch vor dem Einbruch der Nacht erreichen?

So näherten sich mehrere Personen ganz allmählich aus allen Richtungen den beiden Wetterstationen, von wo aus sehr häufig die Temperaturwerte an die Wetterfachleute im Heute-Journal oder der Tagesschau gesendet wurden. Von daher war der Ort Sonnenbühl vielen Menschen in ganz Deutschland ein Begriff, wenn sie auf das unten durchlaufende Band der Temperaturdaten blickten oder Sven Plöger lauschten, wenn dieser verkündete:

»Auf dem Feldberg und der Zugspitze kann es in dieser Nacht zu Temperaturen um minus achtzehn Grad kommen, während in den Mulden der Schwäbischen Alb unter sternenklarem Himmel Werte bis fünfundzwanzig Grad minus zu konstatieren sein werden.«

Ja, das war einer dieser Orte, die häufig als der Kältepol Deutschlands bezeichnet wurden.

»Guten Abend, Rainer«, begrüßte Helmut Eberle den Wetterexperten, der gerade dabei war, die Temperaturen abzulesen und die Daten zu notieren.

Das manuelle Ablesen war an dieser modernen Wetterstation eigentlich nicht mehr nötig, denn mittlerweile wurden alle Daten per Funk und Satellit an die entfernten Wetterstudios weitergeleitet.

»Hallo Helmut!«

»Was machst du denn hier, Rainer?«

»Komme gerade aus Stuttgart. Hatte dort zwei Tage zu tun, und da dachte ich mir, dass ich doch auch mal wieder an der Station im Rinnental vorbeikommen kann; zumal ich in den nächsten Tagen auch noch Termine in Engstingen, Trochtelfingen und Willmandingen habe. Lohnt sowieso nicht mehr, nach Hause zu fahren. Vielleicht quartiere ich mich für die nächsten Tage in Engstingen oder Willmandingen ein. Jetzt sind ja auch keine Touristen mehr da, die ­einem so auf den Nerv gehen können, wenn die einen alle vom Fernseher erkennen. Und du?

»Schreibe an meinem neuen Buch. Titel habe ich noch nicht endgültig, aber irgendwie ›Naturphänomene der Alb im Sommer und Winter‹! Und da muss ich einen Tag wie diesen doch nutzen. Bist du noch lange hier, Rainer?«

»Nee! Ich muss wieder los. Habe noch einen Termin in Kohlstetten. Und morgen wollte ich noch mal zu den Windrädern in Melchingen. Aber wenn du willst, kannst du noch ein bisschen bleiben. Schließe bitte nachher wieder ab. Nicht, dass noch Fremde hier reinkommen und alles verwüsten. Du weißt ja, wie das ist. Jetzt muss ich aber. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, trinken wir noch einen Jager­tee oder einen Glühwein. Also dann, bis bald. Und wie gesagt: Abschließen bitte nicht vergessen. Du bist der Einzige, der noch einen Schlüssel hat.«

»Ist ja schon gut! Mache ich!«

Rainer Kunold verließ die Klimastation und machte sich auf, um zu seinem Porsche zu gelangen, den er am unteren Parkplatz der Bärenhöhle stehen hatte.

Er hatte die Wetternachrichten revolutioniert und war durch seine moderierten Vorhersagen deutschlandweit bekannt. Seit er bei den öffentlichen Sendern angefangen hatte, blumenreich die Vorhersagen zu präsentieren, leistete sich nahezu jeder Sender mehrere Wetterexperten, die fachkundig vor einer großen Wand die Windbewegungen, Kälteeinbrüche, drohende Unwetter oder Hitzewellen verkündeten. Im Laufe der Zeit hatte sich die Genauigkeit der Vorhersagen immer mehr präzisiert. Von daher war auch die Unterhaltung vieler Älbler auf diesem Hintergrund zu verstehen, wenn es hieß:

»Was will er denn?«

»Morgen will er Räge, aber erst gegen Nachmittag!«

Das Wort »er« war dabei sowohl auf den Wetterbericht zu beziehen als auch auf den jeweiligen Wetterexperten. Wenn es dort hieß: »Morgen Nachmittag in den südlichen Landesteilen, besonders auf der Schwäbischen Alb, am Bodensee, an der Donau und Richtung Allgäu verstärkte Bewölkung mit schauerartigen Regen«, dann war es für viele Älbler so, dass der jeweilige Wetterexperte eben Regen wollte: »Er will Räge!« Nicht das Wetter würde sich in erster Linie ändern, sondern der Wetterfrosch wollte es so.

Bald war Rainer Kunold in der Dämmerung nur noch als kleiner Punkt zu erkennen.

Nur Helmut Eberle und die sich langsam der Station nähern­den Personen schienen sich in dieser nun so ruhig daliegenden Winterlandschaft zu befinden.

Ein weiteres Rudel Rehe huschte in rund dreihundert Metern Entfernung von einem Waldstück in das andere. Während zwei Füchse oben auf dem Abschlagübungsplatz des Golfclubs verloren in der Schneelandschaft umherstreiften, um nach Nahrung zu suchen, hoppelte ein Hase in seinem Winterkleid den Weg Richtung Bärenhöhle. Eine Landschaft, in der sich Fuchs und Hase sprichwörtlich »Gute Nacht« sagten.

Helmut Eberle hatte noch einmal ein paar seiner Messins­trumente hervorgeholt, maß die Schneehöhe, die Temperatur fünf Zentimeter über dem Boden; dann aber auch in ­einer Höhe von 1,75 Metern. Fein säuberlich notierte er alles in sein Smartphone.

Er blickte zum Himmel und fotografierte das Abendrot sowie die langsam über ihn dahinziehenden Wolken. Mit seinem neuen Entfernungsmessgerät schaute er in alle Richtungen, um festzustellen, wie weit man bei dieser Witterung in dieser Jahreszeit noch sehen und etwas erkennen konnte. So meinte er auch am Waldesrand eine Silhouette wahrzunehmen, schenkte dieser Beobachtung aber keine weitere Bedeutung. Wahrscheinlich nur jemand, der sich in der Zeit vertan hatte und nun seinen Rückweg zum Auto suchte. So bemerkte er nicht, wie eine einzelne Person am Zaun der Station vorbeimarschierte.

Sein Buch stand kurz vor dem Abschluss. Es fehlte ihm nur noch ein Kapitel über die berühmten Strahlungsnächte. Und heute war eine dieser Nächte. Das wollte er jetzt selbst einmal wieder am eigenen Leib erleben. Er hatte zwar den örtlichen Wetterfrosch Horst Rampf deswegen schon mehrfach interviewt und dessen mehr als ausführlichen Erkenntnisse und riesigen Wissensschatz in sein Manuskript eingearbeitet, aber nichts ging über das eigene Erleben und das Festhalten mit der Kamera. So würde er es auch von der emotionalen Seite aus besser beschreiben können. Ein reines Fachbuch mit Fakten sollte es nicht werden. Nein, er wollte die Emotionen seiner Leser wecken. Er wollte ­ihnen mit allen Sinnen nahebringen, was es heißt, Temperaturunterschiede, Temperaturschwankungen von bis zu dreißig Grad am selben Tag zu erleben. Darüber hinaus war es seine Absicht, das Werk mit typischen Kochrezepten von der Schwäbischen Alb zu bereichern, sodass der Käufer sich mit Leib und Seele in seinem Buch vertiefen konnte. Aus diesem Grund hatte er auch schon das »Albgold«-Restaurant kurz vor Trochtelfingen besucht, im »Hirschen« in Erpfingen gegessen und vor allen Dingen im »Ochsen« in Trochtelfingen gespeist, als es diesen noch gab. Auch die »Pizzeria Paradiso«, kurz »Toni« genannt, in Engstingen hatte es auf einige Seiten seines neuen Buches gebracht. Warum nur zog diese Pizzeria so viele Menschen an, wo sie doch mitten an einer Durchgangsstraße zwischen Trochtelfingen und Reutlingen lag? Hatte dieses auch etwas mit der Mentalität der Älbler zu tun? Viele reisten in alle Länder der Welt, aber ein großer Teil der Älbler blieb häufig einfach gerne in seinem »Flecke«. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?

›Warum soll ich mich denn auf die vollen Autobahnen hocken, um dann vier- oder fünfhundert Kilometer weiter, in einem anderen Dorf, ähnlich wie Engstingen oder Willmandingen, Urlaub zu machen, nur dass man dann eben sagen konnte, dass man in Österreich, der Schweiz oder Italien gewesen war? Warum sollte man sich im Sommer in die Hitze begeben, um dann eng gepfercht Liege an Liege an einem Strand zu liegen? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn.‹

Viele Frauen hatten zwar einen solchen oder ähnlichen Wunsch schon ab und an geäußert; aber die Antwort: ›Wo soll ich dann mein Holz machen?‹, hatte sie schnell verstummen lassen. So begnügten sich viele mit dem italienischen Flair in der »Pizzeria Toni« in Großengstingen. Das war Italien genug.

Pizza Meeresfrüchte, Spaghetti Carbonara, Valpolicella, Montepulciano, Chianti und hinterher Espresso. Dann war es von Italien auch nicht mehr so weit nach Hause. Fünfhundert Meter. Höchstens tausend. Letztere konnte man ja auch mit dem Auto zurücklegen.

Helmut Eberle war so vertieft in seine Arbeit und Gedanken, dass er gar nicht hörte, wie die Maschendrahttür der Klimastation hinter ihm leicht geöffnet wurde und eine Person in das Innere der Station trat.

Erst als er ein leichtes Knirschen im Schnee vernahm, drehte er sich um und sah sich einer Person gegenüber, die sich eine schwarze Sturmhaube über den Kopf gezogen hatte. Aus den engen Augenschlitzen fixierten ihn zwei ­magische Blicke.

»Rainer? Bist du das?« Helmut Eberle vermutete, dass Rainer Kunold noch einmal zurückgekommen war.

»Hast du etwas vergessen?«

Keine Antwort.

»Bitte verlassen Sie die Station. Haben Sie nicht das Schild gelesen: Betreten strengstens verboten? Ich darf Sie also bitten!«

Helmut Eberle wies mit seiner Rechten auf die offenstehende Tür, als sein Gegenüber zu einer Frage anhob:

»Entschuldigen Sie. Ich bin fremd hier und habe mich verlaufen. Könnten Sie mir den Weg zum unteren Parkplatz an der Bärenhöhle erklären? Möchte nicht hier in der Saukälte die Nacht verbringen und womöglich erfrieren, um dann morgen früh als vereiste Leiche gefunden zu werden.«

Der in der Luft gefrierende Atem des Fremdlings stand wie eine weiße Dunstglocke vor dem Mund des Fragenden, der ebenfalls durch einen leichten Schlitz in der Sturmhaube schemenhaft zu sehen war.

»Also gut!«

Helmut Eberle kam ein paar Schritte auf die fragende Person zu.

»Sehen Sie da vorne an der anderen Klimastation. Da geht ein Weg in den Wald hinein. Gehen Sie den hinauf, und nach circa fünfhundert Metern können Sie rechts abbiegen und dann immer geradeaus dem Weg entlang folgen. Dann kommen Sie linker Hand direkt beim Parkplatz raus. Aber jetzt darf ich Sie bitten. Ich habe zu arbeiten und möchte heute auch noch fertig werden.«

Mit diesen Worten deutete er erneut auf die Tür und schob den Fremden leicht Richtung Ausgang, um sich dann aber sofort wieder seinen Untersuchungen am Boden zu widmen.

Komisch! Irgendwie kam ihm die Stimme bekannt vor. Unter der Sturmhaube war sie natürlich nicht so genau zu vernehmen gewesen. Aber er kannte auch zu viele Leute hier in der Umgebung. Er kam ja selbst aus der Albgemeinde Engstingen.

Gefangen in seinen Beobachtungen sah und hörte er nicht, wie der gerade Fortgeschickte hinter ihn trat und ihm mit immenser Wucht zweimal von hinten in den Rücken stach. Er zuckte zusammen, drehte sich um; wollte den Angreifer abwehren. Seine Hände versuchten, den Hals des Angreifers zu erreichen. Vergeblich. Sie stießen ins Leere und machten den Anschein abgerissener Zweige eines Baumes im Sturm. Mit weit aufgerissenem Mund und großen Augen blickte er durch die Sehschlitze der Sturmhaube in die hasserfüllten Augen seines Gegenübers, als ihn ein dritter Stoß in die Brust traf. Voller Aggression drehte der Vermummte die Tatwaffe beim Herausziehen noch in der todbringenden Wunde.

»Du machst uns hier nicht alles kaputt!«, war der letzte Satz, den Helmut Eberle in seinem Leben noch vernahm.

Dann stürzte er in den Schnee, und seine vom Tod gezeichneten Augen konnten nicht mehr sehen, wie sich zwei schwarze Raben von ihren zwanzig Meter weit entfernt stehenden Pfählen in die Luft schwangen, um dann auf den Gipfeln einer schneebedeckten Tanne zu verschwinden. In pulsierenden Schwallstößen schoss ihm das Blut aus dem Mund, und ein roter blubbernder Blasenschaumteppich quoll zwischen seinen Lippen hervor und lief über seine linke Wange. Totenstille hatte sich über die gesamte Landschaft gelegt.

KAPITEL 2

Mit einem missmutigen Blick aus dem Fenster schob Robert Becker seinen Schreibtischstuhl ein paar Zentimeter weiter in Richtung Heizung. Er hasste den Winter, diese Kälte, wenn sie sich durch alle Ritzen und Nischen in sein kleines kahles Büro im Kommissariat drängte, um sich schließlich seines auch etwas in die Jahre gekommenen 56-jährigen Körpers zu bemächtigen.

Wenigstens gab der weiße schlichte Heizkörper an der schmucklosen Wand seines Raumes etwas Wärme ab, ohne allerdings seine Laune wesentlich aufhellen zu können. Eine Stunde noch, dann hatte er Feierabend. Sein Blick wanderte durch das Fenster auf die Straße, auf der sich die Passanten dick vermummt im Eiltempo bewegten, um schnell an ihr Ziel, in ein Geschäft, ihre Wohnung zu kommen, um wieder in der Wärme zu sein. Nicht mehr lange, dann würde auch er wieder zu Hause sein. Sein Blick ging noch einmal zur Wanduhr gegenüber. Mit seiner Rechten fuhr er sich durch das schütter gewordene Haar.

»Also dann noch einen Bericht«, murmelte er vor sich hin und wandte sich gelangweilt zu dem rechts von ihm liegenden Aktenstapel.

Er griff den oben aufliegenden roten Hefter: Elvira Meier. Der Fall war abgeschlossen. Elvira Meier war Opfer eines Eifer­suchtsdramas geworden. Ihr Lebensabschnittsgefährte, Axel Mittenwald, ein Gelegenheitsarbeiter bei einer Zeitarbeitsfirma, hatte sie in flagranti mit ihrem Exfreund erwischt. Nachdem er diesen nackt aus der Wohnung geprügelt hatte, hatte er sich in blinder Wut und Raserei auf seine Freundin gestürzt und sie zusammengeschlagen, als sie schreiend aus der Wohnung zu fliehen versuchte. Ihre Schreie hatten sein Nervenkostüm beinahe zerrissen, sodass er ihr ihren Slip mit brachialer Gewalt in den Mund stopfte, damit er die markerschütternden, todesängstlichen Schreie nicht mehr länger hören musste. Ohne zu überlegen, hatte er die Schere auf dem Tisch gegriffen und Elvira mit drei Stichen in Brust und Bauch getötet. Das auf das vergilbte und verdreckte Bettlaken fließende Blut hatte ihn in einen Rausch versetzt, sodass er wie ein Irrsinniger auf sie eingestochen hatte, bis er selbst vor Erschöpfung am Ende seiner Kraft angelangt war. Heftig nach Atem ringend, die Augen aufgerissen, hatte er reglos vor der Leiche verharrt. Die Polizeisirenen vor dem Haus waren nur wie durch dicke Wattebäusche in das Innere seines Gehirns gedrungen. So hatte er es zumindest im Verhör zu Protokoll gegeben. Widerstandslos hatte er sich festnehmen lassen, scheinbar vollkommen emotionslos alles gestanden. Der Fall war klar. Robert Becker konnte aus seiner Sicht den vorläufigen Abschlussbericht seiner Ermittlungen schreiben.

›Wenigstens keine lange Recherche‹, dachte er. Den Täter unmittelbar nach der Tat gestellt. Ein Geständnis: Mord aus Eifersucht. Den Rest sollten die Richter übernehmen.

»Jetzt reicht es mir für …« Mitten in seinem noch nicht zu Ende gesprochenen Satz riss ihn das Klingeln des Telefons aus seinen schon feierabendlichen Gedanken »Kachelofen und Rotwein.«

Er starrte auf den Hörer.

›Ich nehme nicht ab.‹

›Bin gerade nicht da.‹

›Habe eine Besprechung.‹

Den Anrufer am anderen Ende schien das nicht im Mindesten zu interessieren.

Roberts Blick fiel auf das Display: Sein Chef. Dann musste er wohl. Er verdrehte seine Augen und ließ einen langen Luftstrom durch seine Zähne über seinen vollen Schreibtisch raus: »Ja, Becker!«.

»Warum nehmen Sie nicht ab? Egal, Becker. Auf der Alb, bei der Klimastation in Sonnenbühl, ist gerade eine Leiche gefunden worden. So wie es aussieht: Mord. Becker, das ist Ihr Fall. Nehmen Sie die Schmidt mit. Angaben zum Fundort holen Sie bitte bei mir im Büro ab. Jetzt auf, Becker! Die Kriminaltechnik unter der Leitung von Lukas Behringer ist schon mit drei Leuten unterwegs auf die Alb um Spuren zu sichern. Hoffentlich ist da noch nicht alles zertrampelt. Becker jetzt beeilen Sie sich. Sie werden schließlich gut bezahlt für ihren Job.«

Robert Becker schloss die Augen und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Der Conrads ging ihm auf die Nerven. Immer dieser Befehlston. Warum hatte der nicht bei der Bundeswehr angefangen? Auf dem schnellsten Weg nach oben wollen.

Alb! Heute Abend und bei dieser Eiseskälte! Himmelarsch und Zwirn! Konnten diese Blödmänner sich nicht tagsüber umbringen, wenn wenigstens etwas die Sonne schien?

»Hoffentlich geht alles so schnell wie bei Elvira Meier«, dachte er, während er die Tür zum Nachbarbüro öffnete.

»Marion! Jetzt hast du mal Gelegenheit deinen Pelz auszuführen. Los auf! Mord auf der Alb. Wir müssen noch eben beim Chef rein, oder kennst du die Klimastation da oben in Sonnenbühl?«

»Natürlich kenne ich die. Da war ich doch erst letzte ­Woche zum Langlaufen.«

Marion schnappte sich ihren Mantel vom Kleiderhaken und lief Becker voraus.

»Nun komm schon, Robert. Je eher wir oben sind, desto früher kommen wir nach Hause. Und du willst doch zu Kachel­ofen und Rotwein, oder?«, fragte ihn seine junge Kollegin.

»Das weißt du genau so gut wie ich«, grummelte der Hauptkommissar. »Ich sag’ kurz dem Chef Bescheid.«

Im Vorbeigehen öffnete er die Tür zum Büro seines Vorgesetzten.

»Chef, die Kollegin kennt den Weg.«

»Sie nehmen die Beschreibung trotzdem mit, Becker. Man kann nie wissen was passiert.«

Keinen Widerspruch duldend, drückte er ihm ein mit eini­gen Zeilen beschriebenes DIN-A4-Blatt in die Hand.

»Becker, Sie werden das schon machen. Ist ja nicht Ihr erster Mord.«

»Aber der erste in einer so verfluchten Kälte.«

Die Antwort schien sein Chef, Benno Conrads gar nicht mehr mitzubekommen, denn er hatte sich schon wieder in seine Akten vertieft, sodass er nicht sah, wie Robert Becker verächtlich die Augen verdrehte und ein lautloses ›Arschloch‹ murmelte, bevor er die Tür zuzog und hinter seiner Kollegin hereilte.

Hoffentlich wird der bald woandershin befördert.

KAPITEL 3

Dunkelheit hatte sich über die Stadt gelegt. Nur oben auf der Alb, wohin ihr Weg sie jetzt führte, war noch ein heller Schimmer am wolkenlosen Himmel zu sehen.

»Wenn es jetzt dort nicht bewölkt ist, dann können wir uns auf etwas gefasst machen«, grollte Robert. »Das heißt noch mal um einiges kälter als hier.«

»Jetzt hab’ dich nicht so. Du Weichei. Du hängst doch sonst immer so den harten Capo raus.«

»Jetzt sag bloß, du hast Bock, Montagabend in die Eiseskälte zu fahren. Dir dort vielleicht ein paar Stunden um die Ohren zu hauen?«

»Ich hatte auch was anderes vor.«

»Herrgott noch mal! Warum geht das denn nicht vorwärts?«

Sie quälten sich stadtauswärts durch den abendlichen Feier­abendverkehr gen Unterhausen. Tempo 30. Das Nadelöhr. Bereits im Tunnel bei Pfullingen hatte sich eine lange Schlange gebildet.

»Setz’ das Martinshorn oben aufs Dach«, wies er seine Kollegin an. »Das dauert ja sonst ewig.«

Sobald die ersten Töne das ständige Rauschen des langsam dahin kriechenden Verkehrs durchdrangen, setzte er links zum Überholen an und preschte gen Unterhausen.

Marion Schmidt erhaschte die Lippenbewegung mancher Wagenlenker neben sich und konnte Worte ablesen wie:

›Die haben jetzt bestimmt schon Feierabend!‹

›Und können nicht schnell genug nach Hause kommen!‹

›Scheiß Bullen!‹

Marion wandte den Blick geradeaus. Plötzlich riss sie die Augen auf. Die gelben Blitze der Radaranlage hatten sie voll erwischt.

»Habe ich wenigstens Beweise für zu Hause, dass ich dienstlich unterwegs war«, murmelte Robert und setzte seine rasante Fahrt links der Kolonne mit unverminderter Geschwindigkeit fort.

Keine fünfhundert Meter weiter traf es sie zum zweiten Mal.

»Hast du vor, dein Fotoalbum zu füllen?«, fragte ihn Marion von der Seite.

»Ich will es einfach nur hinter mich bringen und nach Hause.«

Fünf Minuten später durchkreuzten sie Engstingen und ließen sich ein drittes Mal verewigen.

»Aller guten Dinge sind drei!«, raunzte Robert.

»Hoffentlich haben sie auf dem Rückweg nicht alle umgedreht.«

Auf der Haid bogen sie rechts ab Richtung Erpfingen und erreichten bald das Golfplatzgelände.

»Da vorne musst du rechts rein, Robert. Dahinten sind die Kollegen. Ich sehe schon die Blaulichter. Aber bitte langsam! Das ist sauglatt auf dem Schnee und Eis hier.«

Wenige Augenblicke später erreichten sie den Tatort.

Grelle Strahler leuchteten das 10 x 10 Meter große Maschendrahtrechteck der Klimastation aus. Das kleine Tor stand sperrangelweit offen und bewegte sich leise in dem bitterkalten Ostwind. Klimastation Rinnental-Sonnenbühl/735 Meter NNlas Robert. In einem großen Abstand hatten die Kollegen des örtlichen Polizeipostens und die Kriminaltechniker das Gelände abgesperrt.

Auch die Umgebung war in das grelle Licht der Lampen eingetaucht. Eine solche Helligkeit kannte man sonst nur bei abendlichen Flutlichtfußballspielen.

Überall musste nach Spuren gesucht werden, nicht nur am unmittelbaren Tatort. Irgendwie musste der Mörder oder die Mörderin hierhergekommen und dann auch wieder verschwunden sein.

Der Mond, der sich über dem Riesenrad der Bärenhöhle erhob, hatte fast seine volle Kreisform erreicht und beschien mit seinem gespenstischen Licht die bizarre, ungewöhnliche Szene.

Hier, wo sich um diese Uhrzeit höchstens noch Fuchs und Hase ein abendliches Tête-à-Tête lieferten, wimmelte es von frierenden Menschen. Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen setzten kleine Täfelchen in das Maschendrahtrechteck der Klimastation. Ein Unbeteiligter hätte sie für wandelnde oder elektronisch gesteuerte Schneemänner halten können. Dabei waren es nur die Beamten der Kriminaltechnik.

Ein Rot-Kreuz- und ein Notarztwagen parkten in unmittelbarer Nähe des Tores im Schnee.

Eine Ärztin war über eine verkrampfte, an einem fünf Meter hohen Masten liegende Person gebeugt.

Robert schaute auf das Display seines Armaturenbretts.

»Minus neunzehn Grad. Verdammter Mist. Ich hab’s gewusst. Arschkalt!«

Sein Blick wanderte zu seinen Füßen. Er verdrehte die ­Augen.

»Verflucht Marion, ich habe meine Stiefel vergessen.«

Die dünnen Lederschuhe, die er immer im Büro trug, konnten ihm hier selbst den Tod bringen.

Hoffentlich war es ein Elvira-Meier-Fall. Starr blickten seine Augen noch einmal auf die Temperaturanzeige: minus 20 Grad Celsius. Das Thermometer fiel.

Marion gab ihm einen Stoß.

»Raus jetzt!«

Robert setzte seine Füße nach draußen und versank bis zu den Waden in der an dieser Stelle unberührten weißen Schneemasse.

Er fühlte, wie sich das Nass seinen Weg durch seine ­Socken in das Innere seiner Schuhe bahnte.

»Ich hab’s geahnt! Dies wird echt nicht mein Abend«, fluchte er vor sich hin.

Sie zückten ihre Ausweise und gingen den eigens für die ermittelnden Beamten abtrassierten Pfad zum Tatort, um nicht Spuren, die noch nicht gesichert waren, zu vernichten.

»Becker, Kripo Reutlingen, und das ist meine Kollegin Schmidt, Marion Schmidt. Habt ihr schon was?«, richtete er seine Frage an die Ärztin.

»Gewaltsamer Tod. Die Todesursache ist aber noch unklar. Stichverletzungen in Rücken, Schulter und Brust.«

Robert war lange genug bei der Polizei und der Mordkommission. Ein Mord geschah nicht einfach so. Ein Mord stand in der Regel nur ganz am Ende von vielen zuvor geschehenen Ereignissen. Sie würden diese ganzen Ereignisse aufrollen müssen. Sie mussten an den Anfang der Kette, dann würden sie den Fall lösen können.

»Messer oder Schere?«, beugte sich Marion Schmidt nun fragend über den Toten.

»Weder noch! Muss sich eher um einen spitzen Gegenstand gehandelt haben, der nach hinten immer breiter wird. Könnte irgendetwas wie ein Eispickel gewesen sein. Was die Todesursache war, können wir hier aber momentan nicht sagen. Dazu müssen wir noch genauer untersuchen. Ergebnisse haben wir frühestens morgen. Rufen Sie dann bitte in der Gerichtsmedizin an. Sie kennen sich ja aus.«

›Gott sei Dank‹, dachte Robert, ›dann kann ich hier endlich bald weg.‹

Er kniete sich nieder, um das Thermometer in Augenschein zu nehmen, das sich waagerecht mit einer Länge von circa zwanzig Zentimetern in fünf Zentimetern Höhe über dem Boden befand: minus 21 Grad Celsius.

»Ich wusste es doch. Es ist das kälteste Loch Deutschlands.«

Seine Füße waren zu Eis gefroren. Vielleicht könnte er gleich die Ärztin fragen, ob sie ihm nicht schon mal vorsichtshalber zwei oder drei Zehen amputieren könnte.

»Sonst noch etwas?«

»Ja. Es muss höchstens ein kurzer oder gar kein Kampf stattgefunden haben. Alles deutet darauf hin, dass der Ermordete von hinten überfallen wurde und von dem Angriff ganz überrascht war«, gab der Chef des Engstinger Polizeipostens, Manfred Huber, zu Protokoll.

Er war mit seinem Kollegen Hinrichsen als einer der Ersten am Tatort gewesen und auch penibel darauf bedacht, keine Spuren zu zerstören. Es würde sowieso schon schwierig genug sein, in dieser Schneelandschaft etwas Verwertbares zu finden.

Einer der »Schneemänner«, Lukas Behringer näherte sich dem Ermittlerduo.

»Guten Abend Marion! Hallo Robert! Wir haben hier ein paar Fußspuren festmachen können. Wir werden sie zeitnah genauer untersuchen. Sie wiesen eindeutig auf an den Außen­sohlen abgelaufene Schuhe hin. Links mehr als rechts. Aber es gibt auch noch einige andere.«

»Wie habt ihr denn das gemacht? Könnt ihr einfach Gips in den Schnee gießen?«, fragte Marion.

Lukas Behringer schaute sie mit einem Lächeln an.

»Natürlich nicht. Durch das Einbringen von Gips entsteht Wärme und dann würde alles verlaufen. Das heißt, wir würden uns selbst ausbooten. Wir haben extra Streiflicht dabei. Damit können wir Spuren, die mit bloßem Auge kaum oder gar nicht zu erkennen sind, sichtbar machen. Entsprechend weit haben wir das Gelände abtrassiert, damit niemand wild hier herum stolpert. Zum Glück haben die Kollegen aus dem Engstinger Polizeiposten aufgepasst und sind auf dem trassierten Weg gegangen.«

»Ja und wie macht ihr das dann, wenn ihr was ausfindig gemacht habt? Gips, hast du gesagt, kann man ja nicht einfach in die Spuren gießen?«

Lukas holte eine Dose hervor und deutete darauf: »Snow Wachs – Spray. Damit können wir den Abdruck im Schnee für die Abformung vorbereiten. Zuerst muss man zwei Schichten aus circa fünfundzwanzig bis dreißig Zentimetern aufsprühen, dann anschließend sechs weitere aus einer Entfernung von circa fünfzehn Zentimetern. Jede Schicht sollte dann ein bis zwei Minuten trocknen, bevor die Abdruckmasse rein gegeben wird.«

Marion schaute ihn an und blickte dann auf die große abgesperrte Fläche.

»Ja mein Gott! Wie lange habt ihr dann hier noch zu tun? Das muss ja ewig dauern!«

»So, wie es aussieht, werden wir hier wohl noch bis nach Mitternacht arbeiten müssen.«

»Ach oh Gott! In dieser Kälte!« Marion bedauerte den Kollegen von der Kriminaltechnik.

»Wenn wir Schwefelblüte hätten, ging es natürlich schneller, aber so hilft uns das Snow-Wachs schon erheblich.«

»Dann hoffe ich, dass ihr schnell vorankommt«, versuchte Marion ihn etwas aufzuheitern.

Lukas nickte ihr zu.

»Danke Marion. Das hoffen wir auch. Aber wir werden mit Sicherheit morgen noch außerhalb der Station hier zu tun haben.«

Robert blickte ihn entsetzt an. Er hatte jetzt schon genug von der eisigen Kälte hier oben auf der Alb. »Wisst ihr, wer der Tote ist?«, richtete Robert seine Frage an die Umstehenden, wobei er glaubte, mit seinen Füßen in seinen eisigen Schuhen auf dem Untergrund festgefroren zu sein.

»Den kennen Sie auch! Helmut Eberle, der Naturforscher. Helmut Eberle war in der letzten Zeit gerade in der Landesschau des Öfteren zu sehen. Die Frauen liebten ihn, weil er die Naturphänomene so charmant erklären konnte«, antwortete Manfred Huber.

»Auch das noch!«

Robert und Marion starrten sich an. Ihnen war klar, was das nach sich zog:

Reporteraufläufe! Fernsehteams aus der ganzen Republik! Ein verbissener Chef, der schnelle Erfolge wollte! Hektik! Stress! Berichte! Recherche! Puzzlearbeit unter den ­Augen der Öffentlichkeit! Nichts mit Kachelofen und Rotwein.

»Zeugen?«, wollte Marion wissen.

»Bis jetzt nicht. Ein älteres Ehepaar, das sich beim Langlauf in der Zeit vertan hatte und als letztes auf dem Weg aus der Dunkelheit kam, hat ihn gefunden. Sie sitzen drüben im Restaurant ›Albsonne‹.«

›Wenigstens ein kleiner Lichtblick‹, schoss es Robert durch den Kopf. ›Wärme! Wärme!‹ Ein letzter Blick auf das am Boden befindliche Thermometer zeigte ihm: minus 23 Grad Celsius.

»Marion, wir fahren zum Restaurant«, sagte er. Und, zur Ärztin gewandt: »Den Bericht hätte ich gerne morgen bei mir auf dem Schreibtisch.«

»Rufen Sie bitte in der Gerichtsmedizin an, Herr Becker«, gab die Rotblonde zur Antwort. »Aber zunächst einmal wird die Leiche, wenn wir hier fertig sind, in die örtliche Leichenhalle nach Undingen gebracht. Und dort wird sie auch über Nacht bleiben. Wenn Ihr Staatsanwalt die Obduktion angeordnet hat, dann kann sie nach Reutlingen in die Gerichtsmedizin gebracht werden. Also stehen Sie noch nicht morgen früh um sieben auf der Matte.«

»Bis dahin bin ich auch noch nicht wieder aufgetaut«, murmelte Robert Becker vor sich hin, sodass nur Marion ihn verstehen konnte.

Jetzt bloß weg aus dieser Eiseskälte. Robert Becker hatte die Sitzheizung auf Stufe 5 gestellt und auch die Wagenheizung lief auf 29 Grad Celsius. Er war froh dieser Kältekammer entflohen zu sein und jetzt im warmen Inneren seines Wagens zu sitzen. Aber bis in sein Inneres würde die Wärme wohl nicht reichen und die Füße würde er so auf keinen Fall mehr trocken bekommen. Warum hatte er bloß seine Stiefel nicht mitgenommen? Doch wer konnte auch ahnen, dass heute noch ein Mord in diesem Loch passieren würde. Langsam und vorsichtig fuhren sie durch die weiße Schneelandschaft, welche unter dem sternenklaren Himmel und dem hoch am Firmament thronenden Mond lag.

KAPITEL 4