Kate in Waiting - Becky Albertalli - E-Book
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Kate in Waiting E-Book

Becky Albertalli

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Beschreibung

Witzig, romantisch, queer und einfach schön: Becky Albertallis humorvoller Young Adult Liebesroman »Kate in Waiting« steht »Love, Simon« in nichts nach. Anderson ist Kates bester Freund. Seit sie denken können, teilen die beiden einfach alles: die Leidenschaft für Musicals, die Höhen und Tiefen des Alltags und sogar ihre Schwärmereien.. Doch als Matt Olsson in ihrem Theater-Kurs auftaucht, wird ihre Harmonie empfindlich gestört. Denn Matt ist nicht nur ausgesprochen talentiert und mehr als nur ein bisschen attraktiv – er ist auch haargenau Kates Typ. Die Sache hat allerdings einen gewaltigen Haken: Auch Anderson ist völlig hin und weg von Matt … Der Young Adult Liebesroman »Kate in Waiting« ist der würdige queere & humorvolle Nachfolger des Bestsellers »Love, Simon«, für den die amerikanische Autorin Becky Albertalli mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. »Lustig, bewegend und erstaunlich weise.« Kirkus Review über Becky Albertallis queeren Young Adult Liebesroman »Love, Simon«

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Seitenzahl: 418

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Becky Albertalli

Kate in Waiting

Liebe ist (nicht) nur Theater. Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannah Brosch und Kristina Koblischke

Knaur e-books

Über dieses Buch

Anderson ist Kates bester Freund. Seit sie denken können, teilen die beiden einfach alles: die Leidenschaft für Musicals, die Höhen und Tiefen des Alltags und sogar ihre Schwärmereien.

Doch als Matt Olsson in ihrem Theater-Kurs auftaucht, wird ihre Harmonie empfindlich gestört. Denn Matt ist nicht nur ausgesprochen talentiert und mehr als nur ein bisschen attraktiv – er ist auch haargenau Kates Typ. Die Sache hat allerdings einen gewaltigen Haken: Auch Anderson ist völlig hin und weg von Matt …

Inhaltsübersicht

WidmungOuvertüreSzene 1Szene 2Szene 3Szene 4Szene 5Szene 6Szene 7Szene 8Szene 9Szene 10Szene 11Szene 12Szene 13Szene 14Szene 15Szene 16Szene 17Szene 18Szene 19Szene 20Szene 21Szene 22Szene 23Szene 24Szene 25Szene 26Szene 27Szene 28Szene 29Szene 30Szene 31Szene 32Szene 33Szene 34Szene 35Szene 36Szene 37Szene 38Szene 39Szene 40Szene 41Szene 42Szene 43Szene 44Szene 45Szene 46Szene 47Szene 48Szene 49Szene 50Szene 51Szene 52Szene 53Szene 54Szene 55Szene 56Szene 57Szene 58Szene 59Szene 60Szene 61Szene 62Szene 63Szene 64Szene 65Szene 66Szene 67Szene 68Szene 69Szene 70Szene 71Szene 72Szene 73Szene 74Szene 75Szene 76Szene 77Szene 78Szene 79Szene 80Verbeugungsrunde
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Für Adam Silvera natürlich

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Ouvertüre

Wirklich alles an diesem Moment fühlt sich nach einem Ende an. Mit den zugezogenen Vorhängen könnte die Bühne genauso gut ein fremder Planet sein. Ein gut ausgeleuchteter Planet voller riesiger Schaumstofffiguren, der nur von Andy und mir bewohnt wird – und Matt.

Cola-Werbungs-Matt.

»Jetzt oder nie«, flüstert Andy. Er bewegt sich kein Stück.

Ich auch nicht.

Irgendwie stehen wir nur da, im Schatten der riesigen außerirdischen Monsterpflanze Audrey 2, aus Pappmaschee.

Es gibt nichts Traurigeres als das Ende einer heimlichen Liebe. Und das hier war schließlich weit mehr als eine Schwärmerei für einen unerreichbaren Unbekannten. Mit diesem Jungen haben Andy und ich tatsächlich gesprochen. Und zwar mehrfach und in ganzen Sätzen. Eine nicht zu verachtende Leistung, denn Matt ist der Typ, bei dem es uns normalerweise die Sprache verschlägt. Er hat eines dieser klassisch schönen Gesichter, mit blonden Haaren und rosigen Wangen. Unsere Freundin Brandie sammelt Cola-Merchandise, und ich schwöre, der Typ auf dem Vintage-Poster in ihrem Badezimmer sieht haargenau aus wie Matt. Deshalb auch der Spitzname. »Thirst stops here« steht auf dem Plakat. Das trifft bei uns allerdings nicht zu, eher im Gegenteil. Bei Matt hört unser Durst nie auf.

Das ist wie Grundrechnen nach Avril Lavigne. Wir waren die Junior Coaches im Musical-Camp. Er der süße Stimm-Trainer aus der Stadt. Berechenbarer geht es ja kaum. Und sechs ganze Wochen lang war er der Mittelpunkt unseres Sonnensystems. Aber Tatsache ist, er wohnt hier beim Camp, in Mentone, Alabama.

Bis nach Roswell, Georgia, sind es also mindestens einhundert Meilen.

Andy hat also recht. Jetzt oder nie.

Einmal tief Luft holen. »Hey. Äh, Matt.«

Ich schwöre, ich kann Andersons überraschte Anerkennung beinahe spüren. Krass, Garfield. Einfach so loszulegen. Das sollte ich mal bringen.

Ich räuspere mich. »Also. Wir wollten uns verabschieden. Und. Ähm. Uns bei dir bedanken.«

Matt steckt ein Notenblatt in seine Tragetasche und lächelt. »Bei mir bedanken?«

»Für das Vocal-Coaching«, sage ich. »Und alles.«

Andy nickt inbrünstig und rückt seine Brille zurecht.

»Oh, Kate! Ich danke euch auch. Es war toll, euch kennenzulernen.« Matt wirft sich die Tasche über die Schulter und schiebt sich kaum merklich Richtung Tür. Er macht den Abgang. Shit. Ich sollte einfach –

»Können wir ein Selfie machen?«, platze ich heraus. Beinahe versinke ich vor Scham im Boden. Und wisst ihr, was echt cool wäre? Wenn meine Stimme nicht so zittern würde. Und, Anderson. Manometer. Vielleicht stehst du mir hier mal bei?

»Ja, klar«, sagt Matt. »Kommt her.«

Okay.

Wir drängen uns nebeneinander ins Bild, der Vorhang kitzelt uns am Rücken, und ich strecke den Arm genau in dem Winkel aus, den Anderson mir beigebracht hat. Und dann lächeln wir. Ich meine, ich versuche es. Aber ich bin so aufgeregt, dass meine Lippen zittern.

Aber das ist es wert. Auch wenn ich am Ende aussehe wie ein entrücktes Fangirl, das ist es wert. Raina und Brandie verlangen schon seit Wochen nach Beweisen für das unglaubliche Aussehen von Cola-Werbungs-Matt, und alle Suchanfragen bei Instagram blieben bislang erfolglos.

Aber dieses Foto ist nicht für die Crew. Nicht wirklich. Im Ernst, die beiden machen sich wahrscheinlich ohnehin nur wieder lustig über uns, weil wir uns schon wieder in denselben Typen verknallt haben. Laut Raina sind Andersons und meine Persönlichkeit miteinander verwoben, was im Grunde auch nur eine hübsche Umschreibung für Co-Abhängigkeit ist. Anscheinend sind manche Leute der Meinung, dass man sich nur alleine verlieben sollte.

Und bei den Noten, die Raina im Psychologiekurs abgesahnt hat, ist sie beinahe schon lizensierte Therapeutin. Aber eines versteht sie nicht. Es geht nicht um Matt. Oder um Josh von letztem Sommer, für den Frühstück eine Art Religion war. Oder Alexander, vom Sommer davor, der ständig betont hat, dass er aus Michigan kommt. Mit all diesen Jungs hat es nichts zu tun.

Es geht nur um Anderson und mich. Um das Pläneschmieden in der Requisitenkammer, während wir viel zu viel in jeden noch so kurzen Blickkontakt hineininterpretieren. Darum, sich sechs Mal am Tag die Zähne zu putzen, falls es unerwarteterweise zu einem Kuss kommen sollte. Und wenn am Ende des Sommers kein einziger dieser Küsse je stattgefunden hatte, war das auch egal. Jedes Mal. Weil es eigentlich nie ums Küssen ging.

Es ging immer nur um dieses verrückte Gefühl.

Ich gebe zu, das klingt jetzt alles nach ziemlich viel Drama, aber so sind Andy und ich eben. Wir schaukeln uns gegenseitig hoch. Und ganz ehrlich, ein gemeinsamer Sommerschwarm ist so ziemlich das unterhaltsamste Hobby, das man haben kann.

Auch wenn es jetzt, am Ende des Sommers, nicht mehr ganz so unterhaltsam ist. Denn was jetzt noch bleibt, ist nur noch dieses Weltuntergangsgefühl einer Liebe, die zu Ende gehen muss, noch bevor sie richtig angefangen hat.

Aber auch der Weltuntergang ist nicht ganz so schlimm, wenn man ihn mit seinem besten Freund teilt.

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Szene 1

Das neue Schuljahr hat noch gar nicht richtig angefangen, und ich bin schon raus. Nein, im Ernst. Dieses Jahr sollte verboten werden.

Ich schaffe es nämlich kaum, die Augen offen zu halten. Was nichts Gutes verheißt, wenn man bedenkt, dass ich das Schulgebäude noch nicht mal betreten habe. Tatsächlich habe ich nicht mal den Parkplatz verlassen. Und bin noch angeschnallt.

Schuld daran ist Anderson.

Weil Anderson Walker genau weiß, dass ich sieben Stunden Schlaf brauche, um nicht auszusehen wie ein Zombiedämon auf Valium. Und dieser unmögliche Kerl hat sich trotzdem, trotzdem (!) um halb sechs Uhr morgens in mein Haus geschlichen, bis in mein Zimmer, und hat das Licht angemacht. Weil er meine Meinung über seine Cardigan-Auswahl für den ersten Schultag hören wollte. Marineblau mit braunen Knöpfen oder marineblau mit marineblauen Knöpfen. »Sag einfach, welchen du spontan besser findest«, hat er gesagt.

Ich habe ihm spontan ein Kissen an den Kopf geworfen.

Jetzt, fast drei Stunden später – also genau im Zeitplan –, dreht er auf dem Parkplatz schon wieder durch.

»Bist du sicher, dass Marineblau okay ist?«

»Andy. Marineblau ist absolut in Ordnung.«

»Nur in Ordnung?«

»Mehr als in Ordnung. Du siehst super aus.«

Und das tut er. Immer. Ganz ehrlich, Anderson ist einfach zu süß für diese Welt. Glatte, dunkle Haut, Grübchen und ein kurzer, sorgsam frisierter Afro. Ganz zu schweigen von den großen braunen Augen hinter den plastikgerahmten Brillengläsern. Den stylishen Matrosenjungen-Look hat er dazu auch noch perfektioniert: gebügelte Button-down-Hemden, Cardigans und umgeschlagene Hosenbeine.

Er reibt sich über die Wangen. »Ich will einfach nicht total bescheuert aussehen. Es ist der erste Schultag im Junior Year und  –«

Seine Stimme geht im Dröhnen eines Trap-Songs unter, der aus einem Jeep schallt. Macht Platz für die Arschlochtypen.

Leider ist die Roswell Hill High School quasi die Wiege aller Arschlochtypen. Bei den meisten handelt es sich um den sportfanatischen Vorstadt-Subtyp. Arschlochus sportikus. Kein Witz. Wenn man im Schulflur steht, muss man nur zwei Sekunden lang den Arm ausstrecken, und man trifft einen Arschlochtypen, genau in die Mitte seiner Sporthose. Sie sind überall, ganze Armeen von ihnen, alle im RHHS-Team-Outfit. Sie sind so allgegenwärtig, dass wir ihnen einen nicht besonders kryptischen Codenamen verpassen mussten. A-Typen. Gut, es verschleiert die Bedeutung jetzt eher so auf ihrem eigenen Niveau, aber wenigstens schont es Brandies unschuldigen Ohren.

Ich starre den Jeep durch das Beifahrerfenster finster an. Der Fahrer hat die Hände um den Mund gelegt wie ein Megafon und trötet in Richtung einer Gruppe Mädchen, die gerade vorbeilaufen. Der Paarungsruf der A-Typen. Leider steht dabei seine Autotür sperrangelweit offen und hindert mich am Aussteigen.

Wie dreist kann man eigentlich sein?

»Kate.« Anderson pikst mich mit seinem Schlüsselbund, und ich schnappe es ihm aus der Hand. Seinen Rapunzel-Schlüsselanhänger finde ich so genial, dass er fast den Wunsch in mir weckt, doch mal selbst zu fahren. Fast.

Gleichzeitig vibrieren unsere Handys. Zweifellos eine Nachricht von Raina oder Brandie.

Andy wirft einen Blick auf sein Display. »Jetzt komm, sie sind schon drin.«

Okay, das versetzt mich in Bewegung. Raina haben wir nach dem Camp ein paar Mal gesehen, aber Brandie ist am Tag vor unserer Rückkehr nach Mexiko geflogen. Was bedeutet, dass die Crew seit über sechs Wochen nicht mehr komplett war.

Anderson greift nach meiner Hand und hilft mir, über den Schalthebel zu klettern, dann laufen wir quer über den Parkplatz, wobei wir den Haupteingang links liegen lassen. Stattdessen halten wir auf die Seitentür zu, von der aus man auch in den Theatersaal kommt. Direkt in Ms Zhaos Revier, wo sich die üblichen Verdächtigen schon versammelt haben.

Wenn man ehrlich ist, sind wir Musical-Kids genauso eindeutig erkennbar wie die A-Typen. Auch wenn es bei uns nicht so sehr an der Kleidung liegt. Es ist eher eine Art Aura. Mein Bruder hat mal gesagt, die Musical-Kids liefen alle rum, als stünden sie ständig unter ihrem eigenen Scheinwerfer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht als Kompliment gemeint war.

Aber es stimmt. Zum Beispiel gibt es hier keine Spur dieser gezwungenen Lässigkeit, die am ersten Schultag so allgegenwärtig ist. Stattdessen stehen Margaret Daskin und Emma McLeod am Aufzug und zerreißen sich das Maul über Newsies, Lindsay Ward starrt auf ihr Handy, und Colin Nakamura spielt Schlagzeug auf Pierra Embrys Kopf. Und natürlich Lana Bennett, die Kelley Matthews einen Vortrag hält, weil er wahrscheinlich gerade den Fehler gemacht hat, das Schulmusical als Theaterstück zu bezeichnen. Es gibt nichts auf der Welt, das Lana Bennett lieber tut, als jemandem den Unterschied zwischen Musicals und Theaterstücken zu erklären … der den Unterschied zwischen Musicals und Theaterstücken eindeutig kennt.

Brandie und Raina lehnen dagegen ziemlich entspannt an der hinteren Wand und lesen irgendetwas auf ihren Handys. Ich glaube, es ist allgemein anerkannt, dass sie die Personen in unserer Crew sind, die ihr Leben weitestgehend im Griff haben. Ich habe lange darüber nachgedacht, welche von beiden in unserer Gruppe wohl eher die Mutterrolle einnimmt, aber tatsächlich tun sie es einfach beide. Nur auf unterschiedliche Art und Weise. Raina ist die Organisierte, die dafür sorgt, dass alle gesund bleiben, ausreichend trinken und ihre Hausaufgaben machen. Brandie ist eher die Gefühlvolle, die zulässt, dass du ihr den Pullover vollheulst, wenn dein Schwarm plötzlich mit einem A-Girl aus dem Volleyballteam zusammen ist.

Aber heute sind sie so abgelenkt, dass sie uns erst bemerken, als wir direkt vor ihnen stehen.

»Buh!«, rufe ich.

Erschrocken sehen beide auf, wobei Rainas Blick sofort an Andersons Schlüsselanhänger in meiner Hand hängen bleibt. »Kate, bist du etwa gefahren?«

Lachend gebe ich Andy die Schlüssel zurück. »Ganz sicher nicht.«

»Hast du nicht gesagt, dass du –«

»Jep. Mach ich auch. Irgendwann.«

Raina zieht die Augenbrauen zusammen.

»Wirklich! Demnächst.«

Technisch gesehen, könnte ich morgen anfangen. Die Theorie kann ich schon lange. Aber irgendwie traue ich mich nicht. Und ich bin auch gar nicht so scharf drauf.

Ich bin sowieso eher der Typ Beifahrerin.

Brandie umarmt mich. »Deine Frisur sieht super aus!«

Vielleicht hat sich Andersons früher Weckruf ja doch gelohnt. Normalerweise sind meine Haare ein heilloses Durcheinander. Weder blond noch braun und ohne jede Menge zeitaufwendiger Pflege unzähmbar lockig. Aber heute habe ich das, was Anderson »White-girl-auf-YouTube-Locken« nennt. In Anbetracht der Tatsache, dass ich ein Mensch bin, dessen Gesamt-Attraktivität stark von den Haaren abhängt, ist es wohl schon ab und an die Quälerei wert. Aber jetzt fühle ich mich, als würden alle sehen, wie viel Mühe ich mir gegeben habe, heute gut auszusehen.

»Wie war Mexiko?« Mit den Fingern berühre ich den rüschenbesetzten Ärmel von Brandies Kleid. »Ich liebe dieses Kleid.«

Sie lächelt. »Es war super. Aber echt heiß. Wie war das Camp?«

»Immerhin ist niemand gestorben.«

»Gut gemacht«, sagt Raina.

»Und.« Ich lege mir die Hand aufs Herz. »Matt kennt unsere Namen.«

»Coladosen-Matt?« Raina grinst.

»Okay, das geht zu weit.« Ich werfe ihr einen finsteren Blick zu. »Ernsthaft, Matts klassische Schönheit  –«

»Wäre ihnen bereits ein Begriff, wenn hier jemand in der Lage wäre, Selfies aufzunehmen, ohne den Leuten den Kopf abzuschneiden.«

»Äh, es ist nicht mein Fehler, dass er über eins achtzig groß ist«, erwidere ich. »Habe ich schon erwähnt, dass er über eins achtzig groß ist?«

»Nur mindestens zehn Mal«, sagt Raina.

Anderson wendet sich an Brandie und Raina. »Habe ich erzählt, dass er wusste, wie man Aischylos ausspricht? Ohne nachzudenken?«

»Klingt nach Boyfriend-Material«, sagt Brandie.

»Himmel, ja«, erwidert Anderson. »Ich meine, was könnte man mehr wollen, als dass er dir seine Jacke um die Schultern legt und dir –«

»Sein Bett zeigt?«, fragt Raina.

Anderson unterdrückt ein Lächeln, dann schüttelt er schnell den Kopf. »Egal.« Sein Blick wandert zu Ms Zhaos Tür. »Nichts Neues?«

»Nichts«, bestätigt Raina. »Nicht mal ein Hinweis. Harold glaubt, es wird A Chorus Line.«

Anderson fährt zu ihr herum. »Warum?«

»Bauchgefühl?« Raina zuckt mit den Schultern. »Rothaarigen-Intuition?«

»Rothaarigen-Intuition? Gibt’s das?«

»Laut Harold schon.«

Harold MacCallum: harte Schale, weicher Kern. Ein Sonnenstrahl in Jungengestalt. Rainas Freund. Sie haben sich vor einem Jahr in dieser Online-Trans-Support-Gruppe kennengelernt, die Raina moderiert. Er ist cis, aber sein Zwilling ist nicht-binär. Harold wohnt ganz in der Nähe. Er ist superschüchtern und auf wunderbare Weise seltsam. In Rainas Stimme liegt jedes Mal ein Lächeln, wenn sie von ihm spricht.

»Okay, ich habe auch eine Theorie«, sagt Anderson. »Es ist Mittelalterjahr.«

»Was?«

»Hör zu. Letztes Jahr war es West Side Story. Davor Into the Woods. Und als wir in der Achten waren, haben sie Bye Bye Birdie aufgeführt.«

»Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst«, sagt Brandie.

»Ich meine ja bloß. Es ist doch nie für irgendetwas Geld da, oder? Also recyceln wir immer nur zwei Kostümsets. Wir haben Kostüme für die Fünfziger und fürs Mittelalter, und die werden immer abgewechselt, damit es niemandem auffällt. Pass auf. Gleich kommt Zhao mit der Anmeldeliste raus.« Andy macht eine Kunstpause und zeigt seine Grübchen. Offensichtlich gefällt er sich in seiner Rolle. »Du wirst schon sehen. Es ist ein Mittelalterjahr, ganz sicher. Cinderella, Camelot –«

»Oder es wird A Chorus Line«, sage ich, »und du fühlst dich wie der letzte Depp.«

»Schon möglich.« Er hebt einen Finger. »A Chorus Line in Mittelalterkostümen. Folge dem Geld, Garfield. Folge dem Geld.«

Raina und ich schnauben in exakt demselben Moment auf. Aber noch bevor eine von uns den unabwendbaren Klugscheißer-Kommentar äußern kann, öffnet sich mit einem Quietschen Ms Zhaos Tür.

Im ganzen Flur herrscht plötzlich Schweigen.

Anderson nimmt meine Hand, und auf einmal klopft mir das Herz bis zum Hals. Was keinen Sinn ergibt, schließlich ist die Angelegenheit nicht im Geringsten spannend. Es ist nämlich jedes Jahr das Gleiche. Am ersten Schultag verkündet Ms Zhao den Titel des Herbstmusicals. Dann raste ich eine oder zwei Wochen grundlos aus, höre den Soundtrack auf Repeat und lasse meinen Tagträumen freien Lauf. Jedes Mal derselbe unsinnige Gedanke. Vielleicht dieses Jahr. Vielleicht wird diesmal alles anders. Aber in Wahrheit weiß ich immer ganz genau, wo ich mich wiederfinde, wenn die Besetzungsliste aufgehängt wird.

Ganz unten. Als namenloser Teil des Ensembles. In der Kategorie namenloser Ensemblemitglieder bin ich eine absolute Legende.

Aber trotzdem ist dieser Moment am ersten Schultag immer etwas ganz Besonderes. Wie alle plötzlich erstarren, wenn Ms Zhao aus ihrem Zimmer tritt. Ihr geheimnisvoller Gesichtsausdruck und die Art und Weise, wie sie mit niemandem Blickkontakt aufnimmt, bis die Anmeldeliste offiziell an der Tür hängt.

So zumindest sollte es laufen.

Aber als die Tür endlich aufgeht, ist es überhaupt nicht Ms Zhao, die dort steht.

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Szene 2

Andersons Hand fällt kraftlos nach unten. »Heilige Scheiße.«

Jetzt weiß ich, dass ich mir das Ganze nicht nur einbilde.

Aber es ergibt keinen Sinn. Er kommt nicht aus Roswell. Er wohnt nicht mal in Virginia.

Das Herz schlägt mir bis zum Hals.

Denn. Da. Steht. Matt. Cola-Werbungs-Matt. Weltuntergangs-Matt.

»Alles okay mit euch?« Brandie sieht uns besorgt an. »Kennen wir den?«

»Schhhh!«

»Er hat uns gesehen«, krächzt Anderson mit erstickter Stimme. »O mein Gott. Was macht der hier? Was zum – Hiiii.«

Er läuft auf uns zu. DER Matt, der aussieht wie einem Vintage-Plakat für Cola-Werbung entsprungen, läuft direkt auf uns zu, sein Blick geht zwischen Andy und mir hin und her. Und, Grundgütiger. Die Werbung ist immer noch falsch. Der Durst ist endlos, endlos, endlos. »Hi.«

Dieser schwache Alabama-Akzent.

»Bist du …« Ich verstumme.

»Ich bin gerade hergezogen.« Er fährt sich mit der Hand durchs Haar.

»Du …« Ich blinzle. »Gehst jetzt hier zur Schule?«

»Ja. Ich bin im Senior Year.«

»Guck sie dir an. Guck dir diese Gesichter an«, flüstert Raina Brandie zu.

»Liebe auf den ersten Blick«, wispert Brandie zurück.

»Eher wieder so eine dysfunktionale Doppel-Verknalltheit auf den ersten Blick.«

Wow, Mädels. Ihr seid wieder mal herrlich subtil. Und so wertungsfrei! Aber Raina versteht es einfach nicht. Keine von beiden versteht es, und wahrscheinlich werden sie es auch nie tun.

In Wahrheit ist es nämlich so: Ohne Andy verknallt zu sein, ist sinnlos. Schlimmer als sinnlos, es ist schmerzhaft. Alleine verknallt sein ist wie Textüben ohne eine weitere Person. Niemand, der den Ball zurückspielt, die eigene Stimme klingt falsch und zu laut.

Aber momentan funktionieren weder meine Stimme noch mein Verstand. Die Unterhaltung registriere ich kaum. Ich bin viel zu absorbiert von der Tatsache, dass Matt gerade Brandies Hand geschüttelt und sich mit vollem Namen vorgestellt hat. Wie mein Opa. Kann es etwas noch Süßeres geben?

Matt Olsson.

Ich kann nicht fassen, dass er hier ist.

Es hat mir das Herz gebrochen, von ihm Abschied zu nehmen. Total bescheuert, schließlich waren wir nicht einmal richtig befreundet. Er war nicht dabei, wenn wir nachts gemeinsam in den Stockbetten liegend Geheimnisse ausgetauscht haben. Himmel, bis vor fünf Sekunden kannten wir nicht mal seinen Nachnamen.

Aber es hat sich angefühlt, als würden wir ihn kennen. Und das lag nicht nur am korrekten Aischylos-Namedropping, das Andy so angemacht hat. Mir ist Aischylos völlig egal. Ich fühle mich einfach total – ich weiß nicht, wie ich das nennen soll. Irgendwie gaga. Ja, das passt.

Denn vor mir steht Matt Olsson und sieht aus, als sei er gerade einem Archie-Comic entsprungen. Goldblondes Haar und einfach nur unglaublich gut aussehend. Im Senior Year der High School. MEINER High School. In meinem Roswell, Georgia, zwanzig Meilen nördlich von Atlanta, Heimat eines erstaunlich gut ausgestatteten Super-Target-Marktes, zahlloser Waffle Houses und einer abartigen Anzahl von Arschlochtypen.

Er sieht mir in die Augen. »Du hast eine neue Frisur.«

»Das ist total abgefahren«, sage ich tonlos.

Matt lacht. »Ja, ich weiß. Ich bin gerade zur ersten Stunde hier runtergekommen«, sagt er und zeigt vage Richtung Theaterraum. »Ich hätte nicht gedacht, dass –«

»Du bist in der ersten Stunde bei Ms Zhao?« Andersons Augen werden groß. »Im Advanced Drama Kurs?«

Advanced Drama, besser bekannt als Drama A. Keine Ahnung warum, bis auf die Tatsache, dass es eben der Dramakurs für das Senior Year ist und die Leute sich gerne wissend »Drama, ah« sagen hören. Zhao nimmt einen nicht mal in die engere Wahl, wenn man es nicht wirklich ernst meint mit dem Theaterspielen. Und angeblich geht es in den ersten zwei Monaten um nichts anderes als um das Erarbeiten einer Vertrauensbasis, weil die ganze Sache oft ziemlich intensiv wird, und das klappt nur, wenn man sich komplett öffnen kann. Alle sagen, wer Drama A besteht, hat seinen Abschluss an der Schauspielschule quasi schon in der Tasche. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich glauben soll, aber ich weiß, dass dieser Kurs die Leute für ihr ganzes Leben zusammenschweißt. Andy und ich freuen uns schon seit unserem ersten Jahr an der High School auf diesen Kurs.

»Na ja«, sagt Matt. »Ich soll jetzt jedenfalls ein Formular in Mr Merceds Büro hochbringen.«

»Jetzt?« Brandie deutet mit dem Kopf auf die Tür. »Aber Ms Zhao verkündet gleich, welches Musical wir dieses Jahr spielen. Es kann nicht mehr lange dauern.«

»Ist das denn ein Geheimnis?«

Raina fährt zu ihm herum und starrt ihn mit zusammengezogenen Brauen an. »Sie hat es dir schon verraten, stimmt’s?«

Matt lächelt das süßeste, unschuldigste kleine Lächeln, das ich in meinem Leben je gesehen habe.

»Sag es uns.« Anderson klatscht in die Hände. »Bitte, sag es uns.«

Matt legt den Kopf schief. »Ach, soll ich das?«

Okay, er zieht uns auf? Jetzt schon? Wie cool ist dieser Typ? Ich versuche noch immer, einen klaren Gedanken zu fassen, und Matt steht da und benimmt sich, als würde er uns schon seit Jahren kennen.

»Ihr meint also, wenn das Musical zufällig Once Upon a Mattress wäre, dann würdet ihr das wissen wollen?«

»Heilige Scheiße.« Raina sieht genauso fassungslos aus, wie ich mich fühle. Zhao hat Matt verraten, was wir dieses Jahr spielen. Wow. So viel zur Tradition. So viel zu Glanz, Gloria und Geheimhaltung. Sie hat es ihm einfach … gesagt. Matt hat sie es gesagt.

Cola-Werbungs-Matt. Der hier vor mir steht.

Okay, jetzt wäre wohl der richtige Zeitpunkt für diese Yoga-Atemübungen. Ruhig einatmen. Bis zehn zählen. Langsam wieder ausatmen. Kate Garfield, du bist cool wie ein Turnschuh. Ausrasten ist keine Option. Nein. Alle deine Synapsen sind vollkommen entspannt.

Matt sieht mich an und lächelt.

Okay, danke. Jetzt kann ich weder richtig denken noch richtig atmen. Eigentlich kann ich nicht mal mehr meinen Kopf oben halten, ich kann nicht –

»Ich muss mal«, flüstert Andy.

Ganz langsam nicke ich und hole tief Luft.

Ich muss mal.

Unser Geheimcode für Rückzug.

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Szene 3

Okay, es ist nicht wirklich ein Code.

Es heißt nichts weiter, als dass wir uns auf der Toilette treffen. Genauer gesagt, im Jungenklo am Ende des Theater-Flurs, auch bekannt als das Vergessene Klo, kurz VK. Wir sind die Einzigen, die es noch benutzen. Eigentlich ist es ein ganz anständiges Klo. Nur wenig Graffiti, und das, was man sieht, hat einen angenehmen Vintage-Touch – größtenteils Edding-Penisse und stilisierte, mit Spitzen versehene Variationen des Buchstaben S. Wir halten geradewegs auf unsere nebeneinanderliegenden Lieblingskabinen zu und nutzen die Toilettendeckel als Stühle. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich das so eingespielt hat. Ich weiß nur, dass es irgendwie seltsam intim ist, so nebeneinanderzusitzen – in zwei WC-Kabinen, in denen wir uns durch die Trennwand hindurch unterhalten. Ich bin Jüdin, aber vielleicht fühlt es sich so an, als wenn man zur Beichte geht. Wenn wir hier drinnen sind, sage ich immer ein bisschen mehr, als ich eigentlich vorhatte.

»Was. Zum. Teufel. Geht hier vor?«, stößt Anderson hervor. Obwohl zwischen uns eine Wand ist, kann ich ihn genau vor mir sehen, wie er seltsam unbeholfen auf dem Toilettensitz hockt, als säße er auf einem Esel.

»Warte, warum rasten wir jetzt aus? Wegen des Stücks oder wegen –«

»Cola-Werbungs-Matt. Ich habe das nicht gerade geträumt, oder? Er ist hier? An unserer Schule?«

»Cola-Werbungs-Matt ist an unserer Schule«, bestätige ich.

»Aber warum?«

»Weil er hierhergezogen ist?«

Andy atmet aus. »Warum sollte er denn hierherziehen?«

»Vielleicht hat er uns verfolgt?« Ich schiebe meine Füße nach vorne über die Fliesen.

»O Gott. Er hat sich in uns verliebt und ist uns aus dem Camp nachgezogen.«

»Meinst du –«

»Ich meine, er muss das doch gewusst haben, oder?«, fragt Andy.

»Nein, ja, auf jeden Fall. Der Zufall ist einfach zu groß, um –«

»Aber«, unterbricht mich Andy. »Aber, aber, aber. Er war eindeutig überrascht, uns zu sehen.«

»Vielleicht hat er geschauspielert.«

»Immerhin ist er im Advanced Drama Kurs.«

»Das ist so abgefahren«, sage ich zum gefühlt millionsten Mal diesen Morgen.

»Mega abgefahren.«

»Wie sollen wir überhaupt –«

Aber meine Stimme bricht ab, weil sich plötzlich die Tür zum Waschraum öffnet. Und dann, einen Moment später, hört man deutlich, wie jemand in ein Urinal pinkelt.

Nachricht von Anderson: ÄHMMMMMMM

Ich schreibe zurück: ein Unbefugter!!!!!!!!!

EINDRINGLING. WAS BILDET DER SICH EIN, schreibt Andy, und ich kichere los, bevor ich mich zurückhalten kann.

Das Pinkelgeräusch verstummt plötzlich.

Einen Moment lang ist es totenstill.

»Du kannst weiterpinkeln«, sagt Andy schließlich.

Diesmal presse ich mir beide Hände auf den Mund, um nicht laut loszulachen.

Der Eindringling räuspert sich. »Bin ich …«

»Ja, vollkommen richtig hier«, sagt Anderson. »Einfach weitermachen und einen angenehmen Tag noch.«

EINEN ANGENEHMEN TAG NOCH??, schreibe ich Andy. Du klingst wie ein Kult-Leader.

Okay, aber warum pinkelt er nicht?!!

Weil du ihm Angst eingejagt hast. Deinem Kult des »Angenehmen Tags« will er nicht beitreten

Du bist nur neidisch, weil man in meinem Kult noch angenehme Tage hat,schreibt er. Außerdem bist du doch diejenige, die in der Kabine gekichert hat. Wer macht denn so was??

Äh, ich. Offensichtlich.

Katy, der haut nicht mehr ab, was machen wir???

Wer, glaubst du, ist das?, frage ich.

OMG

WARTE MAL

Einen Moment lang sehe ich nur Auslassungspunkte. Dann nichts. Dann ein Glühbirnen-Emoji, gefolgt von einem Close-up-Selfie von Andersons weit aufgerissenen Augen.

Dann: Ist es MATT??

»Habe ich euch bei irgendwas gestört?«

Das ist nicht Matts Stimme, schreibe ich zurück.

»Nein«, erwidert Andy unbeschwert. »Gar nicht. Wir machen hier nur. Du weißt schon, was.«

»Pipi«, sage ich schnell. »Wir machen hier einfach nur Pipi.«

»Kate?«, fragt der Eindringling.

Und plötzlich erkenne ich die Stimme, auch wenn ich bezweifle, dass es Andy ebenso geht. Ich steige vom Toilettensitz herunter und schließe die Tür auf, halte aber kurz inne, bevor ich sie öffne. »Ist deine Hose wieder zu?«

»Lass dich überraschen, Little Garfield.«

Mmm. Ratet mal, wie sehr ich es liebe, von jemandem Little Garfield genannt zu werden, der sechs Wochen jünger ist als ich.

»Ohne Bestätigung komme ich nicht raus, Noah.«

»Ja, meine Hose ist zu.«

Vorsichtig öffne ich die Tür einen Spaltbreit und spähe hinaus. »Was machst du hier?«

»Im Jungenklo? Was machst du hier?«

Noah Kaplan, der A-Typ von nebenan. Okay, technisch gesehen, von gegenüber. Jedenfalls wenn wir bei Dad sind. Er und mein Bruder sind quasi unzertrennlich, und das, obwohl Ryan ein Senior ist. Ich nehme an, es handelt sich um eine dieser Baseball-Teambrüder-Freundschaften, die keine Altersgrenzen kennen.

»Das hier ist nicht die Sportumkleide«, ruft Anderson aus seiner Kabine.

Andy hat nichts übrig für A-Typen. Auch nicht für A-Tussis. Oder sonst irgendwen, der auch nur im Entferntesten mit der A-Gang in Verbindung gebracht werden kann. Und wer könnte es ihm verübeln? Die Arschloch-Truppe hat nicht gerade eine Gay-Pride-Parade veranstaltet, als Andy sich geoutet hat. Aber Noah ist nicht so schlimm. Es gibt zwei Arten von A-Typen: Die einen machen einfach mit allem rum, was Brüste hat, die anderen sind noch dazu homophob. Noah gehört immerhin nur zur ersten Gruppe. Er ist einer dieser Jungs, die entweder gerade demonstrativ flirten, öffentlich rumknutschen oder lautstark im Flur verlassen werden. Letztes Jahr hatte er zwei Dates für den Homecoming-Ball, und es war nicht mal ein Geheimnis. Er hat sogar zwei verschiedene Ansteckblumen getragen.

Einmal hat Andy Noah aus dem Blauen heraus angesehen und gefragt: »Geht es euch Hetero-Jungs eigentlich gut oder braucht ihr Hilfe?«

Eine Frage, so alt wie die Zeit.

Jetzt lächelt Noah trocken. »Ich bin nicht auf der Suche nach der Sportumkleide.« Er zieht den Ärmel seines Kapuzenpullovers hoch – und ich bemerke den schneeweißen Kunststoffgips, der fast bis zu seinem Ellbogen reicht.

»Krass. Was ist passiert?«, frage ich.

»Distale Radiusfraktur.«

»Ein Sportunfall?«

»So ungefähr.«

Anderson öffnet seine Tür und sieht uns durch den Spalt an. »Zu dumm, dass wir nicht Dear Evan Hansen aufführen«, sagt er.

»Das ist eine Musical-Referenz«, sagt Noah.

»Noah Kaplan«, erwidert Andy. »Ich bin beeindruckt.«

»Ich wärme mich nur schon mal für die erste Stunde auf«, sagt Noah.

»Moment mal.« Ich trete aus meiner Kabine und schließe die Tür hinter mir. »Du hast Drama A belegt?«

»Was für ein Drama?«

»Drama A. Der Kurs. Advanced Drama. Andy, komm sofort hier raus.« Ich lehne mich an meine Kabinentür und starre Noah an. »Du bist im Junior Year. Drama A ist nur für Seniors.«

Anderson verlässt seine Kabine, als steige er aus einer Limousine. Er sieht Noah direkt in die Augen. »Wie hast du das gemacht?«

»Ich … bin einfach hingeschickt worden?« Mit zusammengezogenen Brauen sieht er uns an. Der klassische Noah-Gesichtsausdruck. Kennt ihr das, wenn sich manchmal ein bestimmtes Bild von jemandem in eurem Gehirn festsetzt wie ein Foto im mentalen Adressbuch? Genau so sieht Noah in meinem Kopf aus. Immer mit diesem fragenden Ausdruck in den braunen Augen. Es ist nicht so, dass wir noch befreundet wären. Aber irgendwie ist er immer da – bei den Nachbarschaftspartys in Dads Straße oder mit Ryan auf unserer Couch vor dem Fernseher, wenn es regnet.

Anderson, der sich offenbar gerade in einen TV-Anwalt verwandelt hat, nimmt das Kreuzverhör auf. »Haben sie irgendetwas darüber gesagt, dass du noch im Junior Year bist?«

»Nein.«

»Oder über die Tatsache, dass du noch nie Theater gespielt hast? Ich meine, noch nie?«

Noah zuckt mit den Schultern. »Ich musste halt aus dem Sportkurs raus, und da gab es noch freie Plätze –«

»Wie bitte?« Andy zieht scharf die Luft ein. »Warum gibt es noch freie Plätze?«

»Es gibt nie freie Plätze«, sage ich.

»Es sei denn –« Andy unterbricht sich selbst und tippt hektisch auf seinem Display herum. Dann hält er mir sein Smartphone vor die Nase. »Kate, guck mal, guck doch mal!«

Es ist die Roswell Hill High School Website. Abteilung für Musik. Neuigkeiten und Updates.

Ich starre Andy an. »Glee Club ist jetzt keine AG mehr, sondern ein Kurs?«

»Seit diesem Jahr. Ich habe den Flyer gesehen, aber nicht eins und eins zusammengezählt.« Anderson klingt außer Atem. »Katy, der findet in der ersten Stunde statt –«

»Also zeitgleich mit –«

»Ja! Okay, ja. Kein Wunder –«

»Alles in Ordnung mit euch?«, fragt Noah.

»Es ging uns noch nie besser.« Anderson nimmt meine Hand und zieht mich mit sich, und bevor ich begreife, was passiert, stehen wir schon vor der Tür zum Kursberatungsbüro.

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Szene 4

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Sie verstehe«, sagt Mr Merced, der Kursberater. Er ist neu – was vielversprechend ist –, und er ist jung. Also kriegen wir ihn vielleicht rum. »Sie wollen beide Advanced Drama belegen?«

Mein Herz klopft wie wild. »Ja.«

Er schiebt seine Brille hoch und blickt auf den Monitor. »Ich bin mir nicht sicher, ob das System das zulässt.«

»Würden Sie es versuchen?«, fragt Anderson.

Mr Merced tippt bereits. »Andrew … Walker?«

»Anderson Walker.«

»Ah, okay. Hier habe ich Sie.« Mr Merced schürzt beim Scrollen die Lippen. »Erste Stunde, da haben Sie –«

»Freilernen«, sagt Andy. »Kein Unterricht. Eine Wegwerf-Stunde. Ich meine, erste Stunde Freilernen. Wer geht denn da überhaupt hin?«

Mr Merced hebt die Augenbrauen.

»Außer mir, meine ich«, sagt Anderson schnell. »Ich gehe natürlich hin. Ich würde nie auch nur eine einzige Stunde schwänzen. Niemals.«

»Niemals. Ich auch nicht«, sage ich nickend.

Anderson rutscht vor bis auf die Stuhlkante und legt seine Ellbogen auf Mr Merceds Schreibtisch. »Und tatsächlich haben verschiedene Studien gezeigt, dass ein Engagement im künstlerischen Bereich dabei hilft –«

Mr Merced unterbricht ihn. »Okay, Mr Walker. Sie können teilnehmen.«

»Moment – wie bitte?«

»Erste Stunde, Advanced Drama, Zhao, Raum –«

»Nein, das weiß ich. Aber … ich bin drin?«

»Ich drucke Ihnen einen überarbeiteten Stundenplan aus, und dann können Sie loslaufen. Brauchen Sie eine Bestätigung, weil Sie nach Unterrichtsbeginn noch unterwegs sind?«

Mit offenem Mund blickt Anderson mich an.

»Was ist mit mir?«, sage ich. »Kate Garfield.«

Mr Merced tippt. »Sie möchten denselben Wechsel machen wie Mr Walker, ja? Also statt Freilernen –«

»Na ja, ich habe erst in der Siebten Freilernen. In der Ersten habe ich Algebra II bei –«

»Oh.« Mr Merced legt die Stirn in Falten. »Ms Garfield, wenn Ihre erste Stunde mit einem akademischen Pflichtfach belegt ist, dann –«

»Ja, ich weiß.« Die Worte purzeln mir nur so aus dem Mund. »Aber wenn ich das in die dritte Stunde verlege –«

»Das ist nicht wirklich –«

»Und dann Chemie in die vierte Stunde schiebe, dann –«

Es klopft und Mr Merced steht auf. »Da ist mein Neun-Uhr-Termin.«

»Warten Sie –«

»Ach ja!« Mr Merced zeigt auf uns, als hielte er zwei Colts in den Händen. »Die Laufzettel.« Im Stehen zieht er die Kappe von seinem Stift. »Zeit: 08:57 Uhr … auf dem Weg zu Algebra II … bei … Ms Evans. Bitte sehr.« Er reicht mir den Zettel, und mein Herz rutscht mir bis in die Turnschuhe. »Und Mr Walker … sagen wir 08:58 Uhr … auf dem Weg zu Advanced Drama … bei … Ms Zhao.«

»Moment, Moment, Moment«, sagt Anderson und springt von seinem Stuhl. »Es muss doch eine Möglichkeit geben –«

Aber Mr Merced schiebt uns bereits in Richtung Tür. »Ich werde die Änderung der Aufsichtsperson für die erste Stunde Freilernen mitteilen. Keine Sorge.«

Und dann schiebt er uns mit einer aalglatten Bewegung aus der Tür in den Vorraum, wo Frank Gruber mit einem ziemlich zerknitterten Stundenplan wartet. Ich kenne Frank nicht besonders gut, auch wenn wir früher oft aus alphabetischen Gründen zur Partnerarbeit eingeteilt wurden. Aber in der Neunten war ich mal ungefähr eine Minute lang in ihn verknallt. Manchmal haben wir uns vor Unterrichtsbeginn unterhalten, und er hat immer mitten im Satz aufgehört zu reden und auf meinen Mund gestarrt. Wie ein Satellit, der plötzlich aus der Umlaufbahn fällt. Und die Tatsache, dass ich, Kate Eliza Garfield, die Fähigkeit hatte, einen süßen Jungen so aus der Bahn zu werfen, war irgendwie elektrisierend.

Aber leider fand Anderson Frank überhaupt nicht süß, was ihn sofort mindestens einhundert Attraktivitätspunkte gekostet hat. Ich weiß, das ist schlimm. Aber so läuft es nun mal bei mir. Wenn ich mich wirklich in jemanden verknallen soll, muss Andy den Typen auch gut finden. Sonst legt sich in mir irgendein Schalter um – und plötzlich ist nichts mehr elektrisierend und der Kerl ist auch nicht mehr süß, und die ganze Sache geht vor die Hunde. Andy geht es umgekehrt meistens genauso. Raina sieht das als weiteren Beleg unserer Co-Abhängigkeit und sagt, genau das sei der Grund, warum keiner von uns je jemand anders gedatet hat.

Natürlich läuft auch Frank Gruber jetzt an uns vorbei in Mr Merceds Büro, ohne uns auch nur anzusehen.

Die Tür fällt zu, und Anderson sieht aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Katy, es tut mir so, so leid. Das ist doch Mist. Ich kann meinen Stundenplan wieder zurückändern und –«

»Schon okay.«

»Nichts ist okay. Wir wollten Drama A unbedingt zusammen belegen.«

»Ach, na ja.« Ich versuche, ungerührt zu wirken, aber er zuckt trotzdem zusammen. Und das ist auch in Ordnung so. Ich bin nicht stolz darauf, aber ein winzig kleiner Teil von mir freut sich darüber, dass er sich scheiße fühlt. Ich weiß, es ist nicht seine Schuld. Und ich weiß auch, dass es nur ein blöder Kurs ist. Bis vor zehn Minuten hätte ich nicht im Traum auch nur daran gedacht, dass ich dieses Jahr Advanced Drama belegen könnte. Aber jetzt fühlt es sich so an, als hätte mir jemand etwas direkt vor der Nase weggeschnappt.

Denn es ist nicht nur Drama A. Es ist Drama A mit Matt.

Anderson wird den Kurs zusammen mit Matt belegen.

»Kate. Im Ernst.« Anderson nimmt meine Hände. »Mr Merced soll die Änderung streichen. Wir machen Drama A zusammen. Nächstes Jahr. Du und ich.«

»Andy, jetzt hör auf.«

Er zieht die Augenbrauen zusammen.

»Schon okay. Geh hin.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Irgendwer muss doch Informationen über Matt sammeln.«

Er nickt langsam. »Das stimmt.«

»Und natürlich wirst du mir alles erzählen.«

»Natürlich. Bis ins kleinste Detail. Versprochen.« Anderson nimmt mich in den Arm. »Du bist so –«

»Ich komme zu spät zum Unterricht.« Schnell halte ich den rosafarbenen Laufzettel der algebraischen Verdammnis hoch. »Ich muss los.«

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Szene 5

Die letzte Stunde ist lange vorbei, aber Andy und ich machen unserem Streberruf alle Ehre und hängen seit fast einer Stunde Ms Zhaos Flyer für das Musical-Casting in der ganzen Schule auf. Irgendwie gibt es sie immer: diese eine Lehrkraft, für die man alles tun würde. Dieser eine Mensch, der – in einem anderen Kontext natürlich – absolut das Potenzial zur Lieblingsperson gehabt hätte.

Bei uns ist das Ms Zhao. Kein Witz. Die ganze Crew liebt sie. Sie ist Anfang vierzig oder so, mit Frau und Kindern und allem, was dazugehört, aber sie weiß immer Bescheid, was abgeht, welche Musik gerade in ist und kennt alle unsere dummen Memes. Und das, ohne peinlich bemüht zu sein. Man merkt einfach, dass sie uns für coole und interessante Menschen hält. Was für eine Lehrkraft eigentlich keine besonders revolutionäre Haltung sein sollte, es aber trotzdem ist.

Als wir nach Hause kommen, steht Moms Wagen in der Garage, und dahinter blockiert Ryan die komplette Einfahrt. Glücklicherweise spielt das keine Rolle, weil Andy sowieso immer gleich nebenan in seine eigene Einfahrt abbiegt und wir einfach durch den Vorgarten wieder zurück zu meinem Haus laufen. Die Hunde bereiten uns einen Ehrenempfang, als wir zur Tür hereinkommen. Charles und Camilla, aka Pupper und Doggo.

Mom steht an der Küchentheke und richtet einen Snack-Teller. Als sie uns sieht, hellt sich ihr Gesicht auf. »Oh, hey! Katy, du hast gerade deinen Bruder verpasst. Er ist joggen gegangen.«

Natürlich. Ich schwöre, Ryan ist eigentlich von Natur aus eine Couch-Potato, aber mittlerweile merkt das kein Mensch mehr, vor allem nicht während der Baseball-Saison. Dann mutiert er zum Inbegriff einer Sportskanone.

»Machst du Goldfisch-Cracker-Kunst?«, fragt Anderson.

Ich werfe einen genaueren Blick auf Moms Teller, und tatsächlich: eine Regenbogenspirale aus farbigen Käsecrackern in Goldfisch-Form. Normalerweise sind Ryan und ich ziemliche Schlüsselkinder. Genauso wie Andy – seine Eltern sind meist bis zum Abendessen in ihrer Arztpraxis mit Behandlungen beschäftigt. Und Mom ist Musiklehrerin an der Middle School, und dazu gehört eben auch die Chor-AG am Nachmittag und die Leitung der jährlichen Talentshow. Aber wenn sie früh zu Hause ist, versucht sie, alles so besonders zu machen wie möglich.

Jetzt trägt sie ihr Cracker-Meisterwerk zu uns herüber, verteilt aber vorher schnell eine Runde Wangenküsse. »Mein Boychick. Mwah.«

Es ist wirklich lustig – wenn es um Ryan und mich geht, ist Mom geradezu besessen davon, niemanden vorzuziehen. Alles ist geradezu akribisch gleich – gleiches Taschengeld, gleich große Müslischüsseln auf dem Frühstückstisch. Ich bin mir fast sicher, dass sie uns Ryan und Kate genannt hat, damit sie den gleichen Betrag für die individuell angefertigten Holzbuchstaben zahlen musste, die an unseren Zimmertüren hängen. Ich meine, technisch gesehen, gehört mir sogar die Hälfte von Ryans Auto, und ich habe nicht mal einen Führerschein.

Aber all das gerät in Vergessenheit, wenn es um Anderson geht. Wenn er da ist, mutiert sie zum jüdischen Muttertier. Es ist ein bisschen beängstigend.

»Also? Welches Musical ist es?«, fragt sie und stellt die Goldfisch-Spirale zwischen uns ab. Anderson lässt sich auf einen Stuhl fallen, schnappt sich eine Reihe roter Fische vom äußeren Rand und stopft sie sich in den Mund wie Popcorn. Gefolgt von energischem Kauen. Natürlich nur, um meine Mutter noch ein bisschen auf die Folter zu spannen, denn dieser Junge lebt für die Dramatik der Pause.

Schließlich schluckt er und lächelt strahlend zu ihr hinauf. »Once Upon a Mattress.«

»Ach, nein!« Mom presst beide Hände auf die Brust. »Das haben wir im Sommercamp aufgeführt. Ich war Winnifred!«

Andersons Augen werden groß. »Hör auf.«

»Wirklich.« Mom strahlt. »Eine meiner liebsten Rollen aller Zeiten. Die Märchenvorlage der Prinzessin auf der Erbse fand ich schon als Kind wunderbar!«

Es ist nämlich so: Ich kann ein bisschen singen. Mom kann richtig singen. Als sie in meinem Alter war, hat sie die Hauptrolle in jedem Musical gespielt, für das sie vorgesungen hat. Nicht nur in der Schule – auch im Gemeindetheater. Und natürlich war sie geradezu eine Berühmtheit beim Camp Wolf Lake jeden Sommer. Ich glaube, ungefähr ab der vierten Klasse hat sie da das gesamte Musical-Programm angeführt.

»Once Upon a Mattress. Wie aufregend! Das muss ich Ellen erzählen. Katy, du erinnerst dich an meine Freundin Ellen, oder?«, fragt Mom. Und schon legt sie los. »… sind zusammen aufgewachsen und waren im Camp immer absolut unzertrennlich, aber dann haben wir den Kontakt verloren … mindestens … oy … fünfundzwanzig Jahre haben wir nicht mehr miteinander gesprochen.« Mom schüttelt traurig den Kopf. »Wir hatten einen dieser lächerlichen Streits, wisst ihr? Sie war mit diesem furchtbaren Jungen zusammen, und ihr kennt mich ja. Ich kann einfach den Mund nicht halten. Was für ein Schmock. Zum Glück war das irgendwann vorbei. Ellen ist wirklich herzallerliebst. Du erinnerst dich doch!«

»Klar. Ellen aus dem Camp, die einen Trottel gedatet hat.«

»Sogar noch schlimmer. Sie hat ihn geheiratet«, sagt Mom. »Oy Gevalt. Zum Glück ist die Scheidung jetzt fast durch, und sie ist wieder hier in Roswell…«

Meine Gedanken schweifen ab. Ich liebe meine Mutter, aber sie ist eine echte Quasselstrippe. Mit Ausrufezeichen. Sie kann stundenlang mit sich selbst reden. Als wir jünger waren, haben Ryan und ich manchmal heimlich die Zeit gestoppt. Natürlich nickt Andy die ganze Zeit höflich, schließlich ist er ganz der brave Boychick.

»…Schabbatmahl«, kommt meine Mutter zum Schluss. »Aber egal, ich halte euch nur auf. Ihr wollt doch eigentlich bestimmt schnell hoch und euch den Soundtrack anhören.«

»Ach nein –«, fängt Andy an, aber ich unterbreche ihn.

»Ja. Ganz genau. Wir müssen uns unbedingt den Soundtrack anhören. Danke, Mom. Du bist die Beste.«

Junge, wenn meine Mutter einem die Möglichkeit zur Flucht bietet, ergreift man sie besser.

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Szene 6

Leider versetzt schon die erste Stunde Geschichtsunterricht meinen geplanten Tagträumereien einen ziemlichen Dämpfer. Ich finde die Erwartung der Lehrpersonen, dass wir uns acht Tage vor dem Vorsingen noch auf den Puritanismus konzentrieren sollen, wirklich respektlos.

Schließlich muss ich bis dahin noch an so viele Sachen denken. Welche Songs wir auswählen, welche Atemübungen am besten sind und nicht zuletzt die Frage, wie sehr Zhao die Besetzung diesmal von der Klassenstufe abhängig macht. Alle paar Jahre setzt sie sich in den Kopf, dass alle guten Rollen mit Leuten aus dem Senior Year besetzt werden müssen. Was, hinsichtlich einer zukünftigen Entwicklung, wirklich ein hervorragender Einfall ist – nur zu, Ms Zhao, setzen Sie im nächsten Jahr gerne zu hundert Prozent auf diese Strategie. Aber wenn sie die Alterskarte diesmal spielt, habe ich keine Chance.

Aber irgendwie hoffe ich trotzdem mal wieder darauf. Typisch ich, vom Rampenlicht zu träumen. Mein Name ganz oben auf der Besetzungsliste. Meine Stimme, emporgetragen auf den unsichtbaren Flügeln eines kabellosen Mikrofons. Standing Ovations. Donnernder Applaus. Jedes Jahr packt mich die Vorstellung aufs Neue.

Und jedes Jahr versage ich.

Es ist ein so alberner Wunsch. Eine Hauptrolle. Eine Gesangsrolle. Ich habe ja kaum jemals eine Sprechrolle abbekommen. Ich glaube ja nicht mal, dass ich es wirklich durchziehen könnte. Wen interessiert es, wie gut ich klinge, wenn ich alleine in meinem Zimmer bin? Alle wissen, dass ich unter Druck völlig zusammenbreche.

Alle.

Aber irgendwie schaffe ich es nicht, die Träumerei abzustellen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, kann ich es vor mir sehen. Ich als Prinzessin Winnifred die Weinerliche. Wie ich im kunstvoll beschmutzten Mittelalterkleid alleine im Scheinwerferlicht von Sümpfen singe. Wie ich auf einem Stapel Matratzen throne und der Rest der Besetzung mich umschwärmt.

Ich, in den Fußstapfen der Gigantinnen. Carol Burnett. Sarah Jessica Parker. Tracey Ullman. Meine Mom. In keinem Tagtraum verliere ich mich lieber.

Leider ist Mr Edelman der Meinung, im Geschichtsunterricht sollte man etwas über Geschichte lernen, und heute möchte er das mit einem ganzen Stapel Arbeitsblätter erreichen. Der Verzweiflungsgrad einer Lehrperson lässt sich daran messen, wie schnell sie damit anfängt, nur noch Arbeitsblätter auszuteilen.

Es ist der dritte Schultag.

Wenigstens dürfen wir in Gruppen arbeiten. Aber die Zusammenstellung ist suboptimal. Ich bin zwar mit Brandie in einer Gruppe, aber statt mit Raina und Anderson müssen wir uns mit diesem A-Typ herumschlagen, Jack Randall. Es muss wohl nicht gesagt werden, dass der Stapel Arbeitsblätter nicht besonders schnell schrumpft. Teils weil Jack ein Trottel ist, teils weil die Puritaner unerträglich langweilig und Brandie und ich deshalb mit unseren eigenen Nachforschungen beschäftigt sind.

»Woher wissen wir, ob es die Originalversion oder die Neufassung wird?«, fragt Brandie.

»Ich kann dich auch mal neu fassen«, sagt Jack. Die Muttersprache aller A-Typen. Sinnlose sexuelle Andeutungen. Brandie sieht nicht mal von ihrem Handy auf. Er beugt sich näher an sie heran und atmet theatralisch ein. »Brandie Reyes. Dein Haarparfüm. I like.«

Okay, jedem, der »I like« als Floskel benutzt, sollte mal jemand in die Eier treten. Daran werde ich festhalten bis zum Tod.

»Das nennt man Shampoo«, erwidert Brandie.

Von uns allen ist Brandie am geduldigsten mit den A-Typen, was die Tatsache, dass sie ihn gerade nicht in die Eier getreten hat, wieder einmal beweist. Raina ist natürlich das genaue Gegenteil – mittlerweile reicht ihr schon der bloße Anblick eines A-Typen und sie sieht rot. Es ist ziemlich lustig, dem Ganzen in freier Wildbahn zuzugucken. Der Anblick von Raina und Brandie zusammen löst nämlich bei A-Typen eine Art unkontrollierbare chemische Reaktion aus – meine Theorie ist, dass es daran liegt, dass sie beide echt süß sind, aber eben auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Raina hat eines dieser makellosen Gesichter mit eleganten Wangenknochen und könnte problemlos als vernünftige kleine Schwester einer dieser vielen Fernsehschauspielerinnen mit heller Haut und braunen Haaren durchgehen. Brandie dagegen ist eher der Typ Mädchen von nebenan, strahlt aber in ihrem verträumten Boho-Style diese unglaubliche Natürlichkeit aus. Außerdem ist Brandie absolut unempfänglich für jede Art der Flirterei, was sie für eine bestimmte Sorte A-Typen einfach unwiderstehlich macht. Was wohl auch zu dieser wunderbaren Szene geführt hat, in der Jack sich beharrlich nach Brandies Haarpflegeroutine erkundigt. Und kein Einziger von uns hat auch nur das erste Arbeitsblatt angefangen.

Jack wirf einen Blick über meine Schulter. »Suchst du nach Pornos?«

»Wie bitte?«

»Upon a Mattress. Ganz schön dirty.«

»Das ist ein Musical.« Gereizt krame ich in meinem Rucksack nach den Kopfhörern. Etwas sagt mir, dass ich Hilfe brauchen werde, um Jacks Stimme zum Verstummen zu bringen.

»Ein Porno-Musical?«, fragt er völlig unbeeindruckt. Hinter mir höre ich Anderson kichern.

»Findest du mich gar nicht lustig, Garfield?« Jack legt den Kopf schief und grinst. »Dein Freund findet mich lustig.«

Natürlich meint er Andy – auch wenn er nicht wirklich denkt, Andy und ich seien zusammen. Mittlerweile hat wirklich jeder an der Schule Andys Coming-out mitgeschnitten. Wobei das Lustige daran ist, dass Anderson und ich wirklich mal miteinander gegangen sind, in der Siebten. Nach unserem zweiten Kuss war ihm klar, dass er schwul ist.

Trotzdem stört es mich irgendwie, wenn die Leute es seltsam finden, dass wir uns so nahestehen. Wenn wir ein Paar wären, würde keiner ein Wort darüber verlieren. Aber alle sagen immer, wenn sie nicht wüssten, dass Andy auf Jungs steht, würden sie niemals glauben, dass wir nur befreundet sind.

So ein Bockmist. Erstens ist Andy mein bester Freund.

Zweitens gibt es gar kein Nur. Freundschaft ist kein Nur. Ja, Andy ist schwul. Nein, wir sind kein Paar. Aber Anderson Walker ist zweifellos der wichtigste Mensch in meinem Leben.

»Once Upon a Mattress.« Jack grinst. »Das kann kein echtes Musical sein.«

Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und scrolle durch meine Musikbibliothek. Lizzo, dem Himmel sei Dank. Sie ist die Einzige, die gegen dieses unglaubliche Ausmaß an A-Typen-tum ankommt.

»Google doch mal«, sage ich.

Dann drücke ich auf Play.

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Szene 7

Raina schlägt mit den Handflächen auf die Tischplatte. Wir sitzen beim Mittagessen. »Letzte Bestandsaufnahme.«

»Den Soundtrack gibt es auf Spotify.« Ich setze mich neben sie und packe aus, was in meiner Papiertüte ist. »Vom Film gibt es zwei Versionen –«

»Karaoke-Tracks?«

»YouTube ist voll davon«, sagt Andy. »Außerdem hat Kates Mom schon mal mitgesungen, also –«

Hinter mir ertönt Gelächter, und ich muss mich nicht mal umdrehen, um zu wissen, von welchen Tischen es kommt. Ich sage ja gar nicht, dass es in Roswell Hill zugeht wie in einem dieser Teen-Dramas, in dem die Kamera durch die Schulmensa schwenkt und nur perfekt voneinander trennbare Cliquen in Nahaufnahme zeigt.

Aber die A-Gang.

Keine Ahnung, wie ich das erklären soll. Einzeln sind sie gar nicht so schlimm. Gut, Jack Randall ist eine Art menschlicher Dildo, und ich bin mir ziemlich sicher, Mira Reynolds und Eric Graves sind tatsächlich Superschurken. Aber alleine ist der Großteil von ihnen echt erträglich.

Zusammen sind sie allerdings eine ganz andere Nummer.

Ich will jetzt nicht mit Anschuldigen um mich schmeißen. Und ich weiß, dass ich mich an Dingen aufhänge, die schon Jahre her sind. Geschichten aus der Middle School. Manchmal sogar aus der Grundschule. Aber die Wunden, die die A-Gang hinterlässt, sind kein Witz.

»Ähm«, sagt Andy und starrt über meine Schulter. »Ich glaube, Chris Wrigley stellt gerade irgendwas mit dem Pulli deines Bruders an.«

»Er – was?« Ich fahre herum und entdecke Ryan sofort. Seine betont lässige Körperhaltung würde ich überall erkennen. Er sitzt mit dem Rücken zu uns, zwischen Vivian Yang und Chris Wrigley.

»Ich sehe nichts. Was …«

Andy deutet mit dem Kinn in Ryans Richtung. »Wart’s ab.«