Kein Bier vor vier - Bernd Imgrund - E-Book

Kein Bier vor vier E-Book

Bernd Imgrund

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Beschreibung

Der Klügere kippt nach Der eine geht auf den Pilgerpfad, der andere auf Kneipentour. Autor Bernd Imgrund hat es mehr mit Bier und Frikadellen als mit Wasser und Brot. »Und gute Geschichten lassen sich auf beiden Wegen sammeln«, sagte er sich, packte seine Tasche und machte sich auf zu einem 100-tägigen Sabbatical durch deutsche Kaschemmen.Die Milieus, in die er unterwegs eintaucht, werden in der Literatur selten ausgeleuchtet. Es sind die schrägen Welten der Eckensteher und Quartalstrinker, der einsamen Frauen und redseligen Schnapsdrosseln, der Nörgler, Misanthropen, Aufschneider, Großmäuler, Prasser, Schnorrer und sympathischen Clowns an den Rändern unserer Gesellschaft. Der Tresen ist der mythische Ort, an dem sie zusammenkommen und ihre Geschichten erzählen: hirnrissige und herzzerreißende, derbe und dramatische, trostlose und tragikomische. Mittendrin der Autor, der von seinem Barhocker aus die Fäden weiterspinnt: in die Ur- und Abgründe der Gastronomiehistorie genauso wie in die (Kultur-)Geschichte des jeweiligen Ortes.Im Dienste seiner Notizen folgt er einer eisernen Regel: Kein Bier vor vier.Eisern?Nun ja.

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Seitenzahl: 403

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Inhalt

TitelOstfriesische BohnensuppeGefoppt, gemobbt und verkloppt»Stoßet an und ruft einstimmig …«Schwule PinguineKlassenkampf und Kassenklampf»Unsere Leber ist glücklich«Der KaugummiQuitten und KuttelnEndstationHumpen, Haxen, HostienBarock statt BarhockerDie Ballade von Ina und FiorenzoEselschweiß und SchwarzbierWenn die Oma mit dem Rollmops baden gehtDie Bollen-JusteChinesische VasenFliederrouladen4711BuchAutorImpressum

Ostfriesische Bohnensuppe

Prolog

Die Frau mit der blondierten Haarpalme mochte Neil Young nicht. Also legte der Wirt Hannes Wader auf, das 7-Lieder-Album von 1972. Die Frau, die ich später als Nadine kennenlernte, hatte noch nie von Hannes Wader gehört, mochte ihn jedoch spontan noch weniger als Neil Young. Das war, bevor die zwei Typen in der Ecke anfingen, »Heute hier, morgen dort« mitzusingen. Und bevor der etwas schlankere von beiden sich bei ihr einhakte und mit ihr zu schunkeln begann.

Ich hatte nach meiner Lesung den Wunsch geäußert, statt wie üblich in die nächstgelegene Pizzeria in eine möglichst lebhafte Kneipe zu gehen. Die Buchhändlerin schien zunächst ein wenig ent-, dann jedoch auch ein bisschen be-geistert zu sein. Jedenfalls stornierte sie den bestellten Tisch und führte unsere überschaubare Gruppe in dieses enge, angenehm angeranzte Ecklokal. Links auf dem Tresen stand ein riesiges Einmachglas mit in Weinbrand eingelegten Rosinen.

»Bei uns zu Hause nennen wir das Ostfriesische Bohnensuppe«, erklärte mir die Wirtin, eine rüstig-rustikale Frau in den besten 60ern. »Normalerweise wird die für Geburtsfeiern angerührt, davon hast du ziemlich schnell die Lampe an.« Ihre Oma jedoch habe allmorgendlich mit diesem Zeug gegurgelt, um es danach in die Hände zu spucken und dem Opa in die Glatze zu massieren. Das wirke belebend und kuriere von Kopfschmerz.

Hannes Wader war inzwischen beim »Tankerkönig« angekommen, einem 11 Minuten 45 langen Song, in dem der Erzähler unter anderem einen Ölmogul zum Kiffen bringt, der daraufhin den Schoßhund seiner Frau erschlägt und vom Villendach in den Tod springt. Dass auch bei diesem Talking Blues musikalisch nicht gerade die Post abgeht, schien Nadine mittlerweile egal zu sein. Wenn sie lachte, schlug sie ihrem neuen Bekannten bereits kumpelhaft vor die Brust. Ihre Haarpalme hatte sich zum Zopf gelöst.

»Liebe geht eben durch den Magen, das weiß man nicht nur bei uns im aufgeklärten Abendland«, hob einer der Lesungsbesucher, ein emeritierter Ethnologe, an. In Ecuador, erzählte er, gebe es einen Indianerstamm, der die Penisknochen von Nasenbären pulverisiere, um sie dann der angebeteten Frau ins Getränk zu mischen. Von gewissen Beduininnen aus Palästina wiederum wisse man, dass sie sich zunächst die Fußnägel schnitten, wenn sie einen jungen Mann begehrten. Danach wurde das Material sieben Mal gewaschen und eingeweicht, bevor es ebenfalls zum Ingrediens eines aphrodisischen Cocktails mutierte.

Unsere Runde war begeistert. Auch Nadine hatte zugehört, weil sie gerade an der Theke zwei neue Jäger M mit Cola bestellte. Als sie kamen, warf sie einen misstrauischen Blick auf die Gläser, gerade so, als sei hier womöglich Nasenbär im Spiel.

Ich hingegen war in Gedanken noch immer bei der Oma, die sich ihre Mandeln mit Rosinenschnaps marinierte. Irgendetwas an der Geschichte mit Opas Kahlkopf leuchtete mir nicht so recht ein.

»Aber warum«, fragte ich schließlich, »musste es unbedingt der vorgegurgelte Aufgesetzte sein?«

»Ist doch klar«, antwortete die Wirtin. »Damit’s den Opa nicht so kalt überkam.«

Die Rosinen, verschrumpelt, wie sie waren, erinnerten an labbrige Warzen. Und wenn sich eine von ihnen ins Glas verirrte, stellte der Trinker fest: So schmecken sie auch. Aber wer sagt schon Nein, wenn die Gastgeber eine Runde nach der nächsten schmeißen?! Mit anderen Worten, ein großartiger Kneipenabend nahm seinen Lauf. Am Ende hatten sich der Wader-Interpret und die Haarpalme zwar wieder getrennt, aber dafür knutschte ihre mit seiner Begleitung. Die Buchhändlerin schnitt sich verträumt die Fußnägel, die Indianer gingen auf Nasenbärjagd. Und während der emeritierte Ethnologe Rosinen aufs Parkett kotzte, schenkte mir die Wirtin ein ganzes Glas ihrer Ostfriesischen Bohnensuppe.

Na ja, beinahe. Jedenfalls sang Hannes Wader »Kokain« dazu.

Ich hatte so etwas lange nicht mehr erlebt – viel zu lange. Anstatt meine Zeit glücklich zu vertrödeln, hatte ich allzu viele öde Tage arbeitend verbracht. Das muss sich ändern, sagte ich mir, du solltest dir eine Auszeit nehmen. Wie aber könnte so ein ganz auf dich zugeschnittenes Sabbatical aussehen? Es ist erstaunlich, wie schnell selbst so ein existenzielles Brainstorming zu einem alle Seiten befriedigenden Ergebnis führen kann. Im Grunde war die Sache mit dem allerersten Gedanken beschlossen: Der eine geht auf den Pilgerpfad, der andere auf Kneipentour. Ich hab’s halt mehr mit Bier und Frikadellen als mit Wasser und Brot. Und wenn ich dieses Deutschland danach ein bisschen besser kenne, schadet das sicher auch nichts.

Gesagt, getan. Drei Monate später war ich startklar. Das Konzept meines Sabbaticals, angenehm simpel: Ich nähere mich 100 Tage lang nicht der Heimat und gehe in jede Kneipe, die mich anzieht.

Reiseregel Nummer 1, damit die Sache nicht vorzeitig endet:

Kein Bier vor vier.

Reiseregel 2:

»Bei Helga« ist es immer schöner als »Im Goldenen Löwen«. Jederzeit einen Besuch wert sind auch Lokale à la »Zum Anker«, »Hannen-Eck«, »Kurts Bierstübchen« oder »Gaststätte Schmitz«. Bevorzuge Kneipen, die keine Website haben und im Internet praktisch nicht zu finden sind. Wenn es nicht einmal Telefon gibt – nichts wie hin!

Daraus ergeben sich logisch Reiseregel 3 …:

Meide Lokale, die ihre Kontaktnummern mit internationaler Vorwahl versehen. Welcher Bulgare ruft denn schon den »Roten Ochsen« in Oberniederdorf an, um sich für abends einen Jägerschnitzeltisch zu bestellen? Dahinter stecken entweder hoffnungslos aufgeblasene Land-Wirte oder echte großgastronomische Langweiler.

… und Reiseregel 4:

Meide Lokale, deren Websites und Speisekarten mit Vokabeln wie »lauschig« (gern in Verbindung mit »Biergarten«), »urig« (gern mit »Gewölbekeller«) oder auch »kultig« werben. Verdächtig auch, wenn schon auf Seite 1 dreimal das Wort »verwöhnen« vorkommt. Vgl.: »Wir sind nur für SIE da!«, »Wir küssen Ihnen die Füße und unser freundliches Personal aus Osteuropa kümmert sich während des Mahls liebevoll um Ihren Hund«.

Vor Ort gilt stattdessen Reiseregel 5:

Frage nach der ältesten, der schönsten und der miesesten Kneipe der Stadt. Besuche sie alle drei, es wird immer interessant sein, welche dir am besten gefällt. Falls möglich, eruiere zudem die Öffnungszeiten: Lokale, in denen schon morgens um acht gezapft wird, können nicht falsch sein. Rette sie vor dem Aussterben!

Um meine Tour de Deutschland ein wenig zu strukturieren, beschließe ich, Großstädte außen vor zu lassen. Die Qual der Wahl zwischen allzu vielen Vierteln und Kneipen will ich mir ersparen. Auf dem Land wiederum ist das Risiko zu groß, fünf Tage allein mit dem Wirt im Dorfkrug zu sitzen. Die Regel werden also Kleinstädte sein, und bei der Frage, wohin die Reise zunächst gehen soll, orientiere ich mich an der Schnapswerbung: Nach Norden und dann immer geradeaus.

Von Köln aus gelangt man auf diese Art genau nach Helgoland. Bevor ich jedoch dorthin übersetzen kann, hänge ich in Cuxhaven fest, der Stadt an der Elbemündung. Nicht zu meinem Unglück, wie sich herausstellen wird.

Gefoppt, gemobbt und verkloppt

Cuxhaven

»Wer in Duhnen Urlaub macht und nicht bei Aale gewesen ist, der hat keinen richtigen Urlaub gehabt. Ist ein Superpublikum dort, man kann lachen, bis der Arzt kommt«, schreibt ein »C.H.« euphorisch. »Jochen und Barbara aus Hagen« pflichten bei: »Aale Peter, ein Original, das viele Witzchen und Geschichten auf Lager hat. Jedes Jahr kommen zwei, drei neue hinzu.«

Der Nachsatz könnte zu denken geben, und dementsprechend fallen auch die kritischen Internetkommentare zu dieser Cuxhavener Kneipe aus. »Ich wusste nicht, wie mir geschah, als er plötzlich die Ballermann-Musik ausmachte und meinte, einen Witz zum Besten zu geben«, beschwert sich »Rattendoll« aus Hamm. »Richtig peinlich« sei ihm das gewesen, weil »er nur alte Kamellen von sich gab und dabei von sich so überzeugt war, als wäre er Fips Asmussen selbst«.

Mein Gefühl sagt mir, dass der Aale Peter und ich von verschiedenen Planeten kommen. Aber auch, dass ich dort unbedingt hinmuss.

Mein Zimmer in Cuxhaven habe ich blind im Netz gebucht. Zentrumsnah, billig, frei – nehme ich. Vor Ort packt mich ein gewisser Bammel, dieses Haus folgt einer ganz alten Schule. Die Stimme in der Gegensprechanlage fragt mich aus wie ein nordvietnamesischer Grenzbeamter. Eine falsche Antwort, und du bist tot, Bürschchen. Zu weiteren Verhandlungen werde ich in den zweiten Stock beordert, wo mich Frau Pohl mit einer Verächtlichkeit mustert, die nur 80-jährige Frauen zustande bringen. Sie ist schlecht auf den Beinen, die gleichwohl viele, viele Kilos tragen müssen. Ihr Gesicht unter der fadenscheinigen Dauerwelle hat wegen des ewigen Ärgers mit der Kundschaft quaddelige Zornpocken angesetzt.

Ein Sommerfrischler mit Pepitakäppi von anno 1973 wäre meiner Wirtin sichtlich lieber gewesen. Auch mein Zimmer hat den Charme von Frau Pohls frühen Jahren. Angeknabbertes Eichenfurnier an Bett, Nachttisch und Kleiderschrank, darunter ein flauschiger Teppich irgendwo auf dem Weg von Dunkelrot zu Graubraun, dessen krause Kunsthärchen so dicht gewebt sind, dass kein Staubsauger der Welt die bruchgelandeten Hornfortsätze meiner Vorgänger daraus entfernen könnte. Weil man sich hier kaum drehen kann, ohne Schürfwunden und Prellungen zu riskieren, versuche ich ein wenig Platz zu schaffen. Aber als ich die Vase auf den Schrank stelle, zerfällt das Strohblumenarrangement in 1000 Stücke und regnet mir wie irrlichternde Motten auf den Kopf.

Spektakulär gebrochen wird das Retroensemble der Pohls durch den vollautomatischen Rollladen, den ich über einen Kippschalter am Kopfende meines Bettes bedienen kann. Als Frau Pohl mir diesen stupenden Mechanismus erklärt (»Wenn Sie links drücken, geht der Rollladen runter. Wenn Sie rechts drücken, hoch«), hellt sich ihre Miene für einen Augenblick auf. Diese Gelegenheit nutze ich, um sie auf das ausgewiesene WLAN anzusprechen.

»5,95 pro Tag«, nennt sie mir ihren Preis, der in etwa einer Jahresflatrate entspricht. Frau Pohl scheint das zu wissen, blickt mir aber nur umso angriffslustiger in die Augen. »5000 Euro hat uns der Anschluss damals gekostet. Denken Sie, das bezahlen wir selber?«

Einen Moment lang bewundere ich jenen Handwerker, dem es gelungen ist, dieser beinharten Greisin so viel Geld für ein paar Meter Kabel aus dem Kreuz zu leiern. Aber gleichzeitig verfluche ich ihn auch für seine Dreistigkeit, die mir nun schadet. Mit Frau Pohl einige ich mich vorerst auf ein Unentschieden. Im Einzelnen: Ich bekomme kein Internet, sie keine Jahresflat.

Der Aale Peter residiert in Duhnen, einem Cuxhavener Ferienvorort. Bevor ich mich auf die gut einstündige Wanderung mache, will ich zunächst einmal mein näheres Umfeld erkunden. Es scheint vor allem aus Altersheimen zu bestehen.

Ein Mütterchen, noch wackliger als Frau Pohl, schiebt seinen Rollator so schwächlich, dass er über die ganze Breite des Bürgersteigs eiert. Jede aus den Fugen geratene Gehwegplatte kostet sie mehrere Anläufe. Jede abschüssige Ausfahrt droht sie über den Bordstein und unter die nächsten Räder zu jagen. Aus ihrem Altenheim auf der anderen Straßenseite stakselt eine weitere Frau, quer über die Fahrbahn und ohne auf den Verkehr zu achten. Ihre osteuropäische Verfolgerin ist völlig aus dem Häuschen. »Frau Klinkhammer, wo wollen Sie denn hin? Ist doch Abendbrotszeit.«

»Ich habe keinen Hunger«, sagt Frau Klinkhammer mit malmenden Kiefern.

Aber die Krankenpflegerin kennt ihre Klientel. »Ja, aber Sie haben doch gar keine Jacke an.«

»Huch«, macht Frau Klinkhammer. Und kehrt nun bereitwillig um.

Weil ich ohnehin kein klares Ziel habe, begleite ich die ausgebüxte Oma auf die andere Straßenseite. Vor dem Eingang zum Pflegeheim steht zur Abwechslung mal ein Mann, der seinem zerknitterten Gesicht zufolge gerade aus der Mittagsruhe kommt.

»Haben Sie gut geschlafen, Herr Klaßen?«, fragt Frau Klinkhammer formvollendet.

»Weiß ich nicht«, antwortet Herr Klaßen.

In der zentralen Flanierzone, dem Lotsenviertel, werden die Straßen von bescheidenen Häuschen gesäumt, die alle einen kleinen, hanseatisch-protestantischen Abstand zueinander wahren. Im überdachten Einkaufszentrum hat ein Billigbäcker Mobiliar zum Verspeisen der belegten Brötchen und Pizzastücke aufgestellt. Am gekennzeichneten »Stammtisch« sitzen drei Frauen in Strandkörben. Während sie sich zurückgelehnt unterhalten, sieht man nur ihre Pappbecher wippen, im müden Takt des Parkinson-Boogie. Die Rollatoren haben sie so zwischen sich und ein paar Blumenkübel postiert, dass nur ein schmaler, leicht zu bewachender Durchlass zu ihnen führt. Aber gut, ich will mich da ja nicht einmischen. Eigentlich brauche ich eher ein Bier als einen Filterkaffee.

Duhnen wacht nur in den Sommerferien richtig auf. Das Meer und gutes Wetter bilden das Fundament beinahe jedes Hauses hier. Von den Dutzenden Pensionen, Hotels und Restaurants, den kleinen Geschäften für Mode, Kosmetik und Geschenknippes ist jetzt im Mai nur ein Bruchteil geöffnet. Als ich einen riesigen Einheimischen nach der Kneipe Zum Aale Peter frage, zeigt er auf eine besonders hässliche, von einem leuchtturmhohen Wohnhaus zerdrückte Einkaufspassage. »Siehst du das Schild da?«

Ich sehe es. Darauf steht: »Sitzplätze: 350. Jedenfalls nach und nach.« Und mir schwant allmählich, was jene Internetuser gemeint haben könnten, die den Humor des Wirtes eher grenzwertig fanden.

»Da«, fährt mein Wegweiser fort, »geht’s zum Aale Peter.« Dann lacht er, als habe er über den Schilderwitz gerade zum ersten Mal nachgedacht. Eine krachende Rechte landet auf meiner Schulter und zwingt mich kurz in die Knie. »Grüß ihn von Hauke.«

Der Aale Peter ist einer dieser Jungs, die sich beim Eintritt in eine Kneipe sofort im Takt der Musik wiegen und jeden Bekannten mit einem angedeuteten Boxhieb begrüßen, bevor sie seinen Nacken in beide Hände nehmen und ihn an sich ziehen. Sein Gesicht sieht aus, als hätte man es fürs Ohnsorg-Theater geschnitzt. Haare aus Draht, klaftertiefe Furchen rings um den Schnauz und eine Nase wie ein Amboss. Dazu eine mit 40er-Sandpapier geschmirgelte Stimme, gegen die Ivan Rebroff wie ein Chorknabe klingt.

Als hätte man mein Kommen angekündigt, dreht der Peter direkt einmal seine Anlage aus und lässt einen Witz vom Stapel.

Den mit der Frau, die zum Arzt kommt. Sie wissen schon.

»Hab ich heute Nachmittag schon mal erzählt«, sagt er. »Aber schad’ ja nix.«

Meine Uhr zeigt gerade einmal kurz nach sieben. Dennoch bekommt man im Aale Peter keine Sardelle mehr unter. (Apropos Sardellen. Dazu später mehr.) Vor allem der rundlaufende Tresen wird belagert wie einst das Köln der heiligen Ursula von den Hunnen. Nur tobt hier keine Schlacht, sondern es wird hemmungslos gelacht. Nach jedem von Peters Witzen bricht die Meute kollektiv zusammen. Hier schlägt sich einer die Hände vors Gesicht, da knallt eine Stirn aufs Thekenbrett, dort nässt sich jemand ein. Ich unterdrücke den Impuls, einen Schwindelanfall vorzutäuschen und mich rückwärts wieder hinauszustehlen. Stattdessen bestelle ich mir erst mal ein Bier und klammere mich daran wie ein Affenkind ans Fell seiner Mutter.

Joachim Ringelnatz, der in Cuxhaven seine Marinezeit während des Ersten Weltkriegs verbrachte, hatte sich in der Kaserne ein Terrarium eingerichtet. Mittels Einmachgläsern, Netzen und Fallgruben schuf er sich ein eigenes Reich, eine Welt aus Kupferottern, Ringelnattern, Fröschen, Molchen, Eidechsen, Heuschrecken, Grashüpfern, Mistkäfern, Sandböcken, Regenwürmern, Maden und Raupen. Er sammelte faules Holz und Kuhfladen, legte Wasserlöcher und unterirdische Gänge an. Und immer wenn der über die Maßen eintönige Dienst ihm Zeit ließ, sah er zu, wie die Tiere spielten, jagten und dösten, wie sie sich bekämpften, töteten, auffraßen. Wie sie verwesten.

»Oh, wie war ich dann glücklich«, schrieb der kriegsmüde Minensucher. Damals hieß er noch Hans Bötticher. Bald darauf jedoch legte er sich den Künstlernamen Ringelnatz zu.

Folgt man seiner Beschreibung der Terrariumwelt, so spielte darin wohl die Kröte Willibald die Hauptrolle. Die wohnte normalerweise in einem von einer Suppenschüssel am Versickern gehinderten Tümpel. Wenn jedoch eine der Schlangen zur Wasserstelle kam, musste Willibald weichen. Zahllose Male, so Ringelnatz, habe eines der Reptilien versucht, den Kröterich zu fressen. Willibald jedoch wusste, dass er wegen seiner schieren Leibesfülle nichts zu befürchten hatte. Welch ein vollendeter Stoizismus: sich in Ruhe attackieren zu lassen in dem Wissen, so viel gefressen zu haben, dass man nicht mehr gefressen werden kann. So sehen Sieger aus.

An Ringelnatzens Hobby muss ich denken, während ich beim Aale Peter sitze. Denn diese Kneipe – wie alle Kneipen – ist nichts anderes als ein Terrarium. In jeder Kneipe findet man den aufgeblasenen Frosch, die lauernde Kupferotter, die Made im Speck und den schwatzhaften Grashüpfer, der mal hier, mal dort auftaucht. In der Performance des Aale Peter wiederum erkennt der Fachmann jenes Beharrungsvermögen, das die Kröte Willibald auszeichnete: Was auch immer kommen mag, wer auch immer gehen mag, ich bleibe – hier und wie ich bin. Dass in dieser Duhnener Höhle nur einer an der Spitze der Nahrungskette steht, wird besonders deutlich, wenn sich mal ein Gast an einem Witz versucht. Unwillkürlich setzt dann ein allgemeines Gemurmel ein, das dem vorlauten Menschen zu verstehen gibt: Egal, was du erzählst, es interessiert uns nicht. Und erst recht nicht werden wir darüber lachen. Die meisten geben dann auf halber Strecke auf, ihre Stimme erstirbt, ohne dass es jemand anderem auffällt als der pikierten, von ihrem Mann restlos enttäuschten und beschämten Gattin. Warte nur, bis wir nach Hause kommen! Vier Wochen Lysistrata, du Loser!

Und der Aale Peter dreht die Anlage auf, grinst mit kleinen Augen in die Runde und wendet sich dem Zapfhahn zu.

Bald durchschaue ich erste Mechanismen. Wie alle anderen nehme auch ich auf jeden Witz einen tiefen Schluck, anders geht das gar nicht. Und schon wieder ist ein Glas leer. Mittlerweile bin ich ein wenig lockerer und habe sogar Anschluss gefunden. Harry und Marianne fahren seit über 40 Jahren nach Duhnen und landen jeden Abend beim Aale, wie ihn die Insider nennen. Vor ein paar Jahren haben sie sich hier eine Ferienwohnung gekauft, in der sie jede freie Minute verbringen. Wenn sie nicht gerade auf Kreuzfahrt sind: »Im Juli muss der Aale auf uns verzichten. Da haben wir auf der Aida gebucht.«

Marianne ist es auch, die mich dem Phänomen näherbringt, dass in dieser lauten, überfüllten, männerbündischen Kaschemme so unverhältnismäßig viele Frauen verkehren. »Wenn Kinder hier drin sind, erzählt er keine versauten Witze«, sagt sie, während ihre Augen durch sanftes Wasser zum Wirt hinüberkraulen.

Natürlich landen Peters Geschichten gerne mal unter der Gürtellinie. Ich könnte jetzt noch den Jokus mit dem kleinen Asiaten referieren, zu dem der Wirt immer einen winzigen Gummipenis aus einer seiner Schachteln zaubert und den ein bisschen wippen lässt. Aber fängt man damit Frauen? Womöglich bin ich hier, in Duhnen bei Cuxhaven, einem großen Geheimnis der Menschheitsgeschichte auf der Spur. Das da lautet: Frauen sind genauso primitiv wie Männer.

»Der Peter hat auch schon mal Freikarten fürs Autokino auf Neuwerk drucken lassen und die dann an Neuankömmlinge verteilt«, erzählt meine Nachbarin. »Dabei wohnen da im Wesentlichen nur Vögel.«

Wieder habe ich den Eindruck, nur ein Medium zu sein für das sehr intime Gelüst dieser Frau, den hiesigen Gastwirt im Munde zu führen. Der ist unterdessen in seiner kaum quadratmetergroßen Kombüse verschwunden, die er sich in den Rückraum der Theke gebaut hat. Als er hintenherum wieder erscheint, trägt er eine Zombiemaske, streckt seine rote Zunge durch den Mundschlitz und nähert sich von hinten einer ahnungslosen Frau. Der Saal feixt, die Frau schiebt wegen der auf sie gerichteten Blicke bereits Panik, bevor sie sich umdreht. Ihr folgender Schrei ist markerschütternd und psychoakustisch durch keinen Mallorca-Hit zu toppen.

»Die Maske hab ich mir in Hamburg gekauft, mal sehen, wie lange ich die besitze«, sagt der Aale. Das männliche Wackelschweinchen, das Kopulierbewegungen machte, habe man ihm letzte Woche gestohlen. Von der Theke weg! Jetzt bleibt ihm nur noch das weibliche Wackelschweinchen, das aber längst nicht so eindrucksvoll ist. Denn das zieht nur an einer Stelle die Bluse hoch und zeigt seine Speckfalten. Um die Trauer über den herben Verlust zu bekämpfen, reißt Peter den Regler runter und erzählt den Witz mit den drei Männern im Krankenhauszimmer.

Wo der eine Hämorrhoiden hat, der nächste einen Hodenbruch und der letzte die Hasenscharte. Sie wissen schon.

Während Schweinchen und Maske fertig gekauft wurden, geht der Flaschenzug rechts überm Tresen auf das Konto des technisch begabten Wirtes. Ein daran befestigtes Tablett befördert Bier und Spirituosen an den Tisch ganz hinten in der Ecke. Damit die Sache richtig gefährlich aussieht, hat der Schöpfer auf einen hochstehenden Rand verzichtet. Die Pilstulpen werden in Aussparungen gehängt, Flaschen und Schnapsgläser schwanken frei auf der Fläche. Wer jetzt vermutet, dass der Wirt diese Konstruktion gern über einem der Tresenköpfe schaukeln lässt, nun, der liegt richtig.

Muss ich mir unbedingt merken, denkt man sich. Aber zwei Schlückchen später schon hat man die umwerfende Anekdote bereits vergessen. Um solche Verluste zu minimieren, steckt vorn links in meiner Hose ein kleiner Notizblock. Weil ich mich bislang jedoch nicht traue, ihn öffentlich zu zücken, verschwinde ich für eine Weile aufs Klo. Die Geschlechterkennung der Toiletten erledigen hier »Dietrich« und »Marlene«; das habe ich anderswo schon alberner erlebt. In der Jubiläumsbroschüre zum 100. Geburtstag des Emdener Wirtevereins liest man etwa: »Für die Kennzeichnung hatte der damalige Inhaber des Schwarzen Bären eine außergewöhnliche Idee. An den Türen der stillen Örtchen hingen Schilder mit einer ausgefallenen Bezeichnung. Für die Herren ging es ›Zum Blasorchester‹ und für die Damen ›Zu den Niagarafällen‹.«

Dann doch lieber zu »Dietrich« und »Marlene«.

Auch hier hinten scheppert die Musik ohrenbetäubend, wie beim Niveau seiner Witze kennt Aale in Sachen Dezibel keine Kompromisse. »Zehn nackte Friseusen«, singt irgendein schamloser Mensch ohne Stimme. Als ich wieder vor meinem Bier stehe, hat sich der Wirt einen alten Besenstiel aus der Kammer gefischt, mit dem er gegen die Decke hämmert. »Kannst die Flamme abdrehen, will keiner mehr was essen«, ruft er einem imaginären Koch zu. An dem Stock hat er ein Schild befestigt, auf dem in krakeliger Schrift »Nix mehr zu essen« steht. Und die kindliche Klaue auf diesem lumpigen Stück Pappe spült mich plötzlich auf Peters Seite.

Diesen ganzen Aufwand, die stundenlange Clownerie betreibt der Mann für einen abendlich wechselnden Haufen von Verrückten wie mir. Dieses Improvisierte, Gnadenlose, dieser Mut auch, mit dem Aale seine immer gleiche, immer andere Show darbringt, sind schlicht bewundernswert. Inzwischen habe ich auch den Witz von dem Mann, der mit grün und blau geschwollenem Geschlechtsteil zum Ohrenarzt kommt, delektiert. Der war, live vorgetragen, ebenfalls umwerfend komisch. Für diesen Kerl, sage ich mir, müsste man ein neues Genre erfinden. Wie andernorts zum Krimi gedinnert wird, säuft man sich hier zu unfassbaren Witzen die Hucke zu. So ein Sketchgelage ist allemal billiger als ein dreigängiger Dinnerkrimi. Und ich wage zu behaupten: auch spannender.

Bis Cuxhaven-City sind es fünf Kilometer, die ich mir nach dieser Vorstellung nicht mehr per pedes zutraue. Es ist Samstagabend, der »hauptste Tag«, wie mein Kölner Kumpel Rupert sagen würde. Aber der letzte Bus macht hier, am Fisch-Ende von Deutschland, schon um 22.16 Uhr die Biege. Den muss ich kriegen, ein Taxi käme zu dieser Zeit des Jahres wahrscheinlich von Hamburg angereist. Als ich endlich neben dem Fahrer sitze, merke ich, wie erschöpft ich bin. Keine Ahnung, wie viel ich getrunken habe, jedenfalls hat der Aale Peter konditionell alles aus mir herausgeholt.

Und das Schärfste ist: Der trinkt selber gar nichts.

In der Nacht bin ich viele Male aufgewacht. Die Federkernmatratzen der Pohls katapultieren den Schläfer bei jeder leichten Wendung bis knapp unter die Decke. Immerhin kann man auf dem Weg zurück nach unten nicht neben dem Bett landen – dafür ist es hier einfach zu eng. Beim Versuch, den haarscharf zwischen Bettgestell und Wand passenden Stuhl herauszuziehen, habe ich mir den rechten Mittelfinger gequetscht. Um ihn mit Wasser zu kühlen, musste ich den Sitz wieder unter den Tisch schieben, weil er sonst die Tür zum Badezimmer versperrt. Selbst Harry Houdini wäre es schwergefallen, sich hier frei zu bewegen. Einmal wache ich mit einem kleinen, peinlich hellen Schrei auf: Ich hatte von Willibald im über die Maßen aufgerissenen Maul der Kupferotter geträumt. Ihre Augen waren die der Frau Pohl.

Auch ihr Mann ist ein fürchterlicher Fischkopp. Um mich für meine nächtlichen Unannehmlichkeiten zu rächen, stehe ich Punkt acht Uhr im Frühstücksraum. Direkt nebenan in der Schänke sitzt der Hausherr an seinem Stammplatz, einen Haufen handbeschriebener Zettel und Kreuzworträtsel um sich herum. Weder liegen die Brötchen in ihrem Korb, noch ist die Wurstplatte aufgetragen. Auch das morgendliche Ei fehlt mir auf dem Buffet, und das lasse ich Herrn Pohl auch spüren.

»Bin ich etwa zu früh?«, frage ich mit einer angemessenen Portion Scheinheiligkeit. Denn natürlich habe ich vorher auf dem Zimmeraushang kontrolliert, dass hier auch sonntags ab acht gefrühstückt werden kann.

Dienstbeflissen und ein bisschen schwitzend macht er sich auf in die Küche. Weil er mir offenbar mehr misstraut als dem Leibhaftigen, hat er mich genau in der Sichtachse postiert, die meinen Tisch mit seinem Stammplatz verbindet. Kurz nachdem er einen ersten Blick über seine fleischige Schulter geworfen hat, lasse ich das soeben geschmierte Schinkenbrötchen in meiner mitgebrachten Serviette verschwinden.

Am Fenster sind zwei weitere Tische eingedeckt, aber die Herrschaften schlafen wohl noch. Vielleicht liegen sie auch längst mumifiziert im Keller, exekutiert wegen gastronomischer Aufmüpfigkeit. Es ist ausgesprochen unangenehm, in einem großen Frühstücksraum allein zu essen, während nebenan ein Mann sitzt, der einen von Herzen hasst. Die offene Tür zur Kneipe sowie die Tatsache, dass Herr Pohl kein Freund morgendlicher Radioberieselung ist, machen es auch nicht leichter, sich mit Proviant für den Tag einzudecken. Aber geübt wie ich bin, gelingt es mir, auch noch eine dicke Camembertwacke, einen Joghurt, einen Apfel und mehrere Tomaten abzuzwacken. Ein zweites Ei zu stehlen, spare ich mir allerdings, denn die Eier im Körbchen entsprechen offenbar der Zahl der Gäste. Es sind fünf.

»Möchten Sie noch einen Kaffee?«

Möchte ich eigentlich schon. Um ihm jedoch zu demonstrieren, dass ich seinen Vorurteilen zum Trotz ein seriöser Gast und kein maßloser Schlemmer bin, lehne ich dankend ab. Die durch diesen Verzicht gewonnene Souveränität ermutigt mich zu einem weiteren Vorstoß in Sachen Internet. »Herr Pohl, ich gebe Ihnen 5 Euro 95 für alle drei Tage zusammen. Okay?«

Der Gastwirt betrachtet mich mit jenem Blick, den Robert de Niro in »Taxi Driver« kultivierte: »Reden Sie mit mir?«

Dann erzählt er mir in knappen Worten von dem Haufen Geld, den man für die Installation hingeblättert habe. Seine Frau nach oben korrigierend, spricht er von 5500 Euro. Als er dabei die Hände in meine Richtung erhebt, zwei Mal fünf Finger streckend, ergreife ich die Flucht.

Die Nordsee begrüßt mich im feucht-funkelnden Wattkleid und mit völliger Windstille. Ein kühler, klarer Sonntagmorgen ist das, genau das Richtige für meinen aalgepeterten Schädel. Schiffe aller Art kreuzen zwischen Hafen und Horizont, als hätte ein Modellbauer sie programmiert. Die Krähen krächzen bereits ihren Morgenchoral, während die Möwen anscheinend erst mit den Cuxhavenern auf die Beine kommen. Ich will durch die ganze Stadt und »umzu« laufen, wie man hier sagt. Ein früher Jogger führt seinen Hund aus, der eine rundum mit Bernstein besetzte Halskette trägt. Auf der Alten Liebe, einer Aussichtsplattform, sitzt ein Mann vom Caravanstellplatz mit seinem Sohn in der Sonne. Rechts von uns wächst der Hamburger Leuchtturm in den Aquariumshimmel, ebenso ausgedient wie die berühmte Kugelbake zur Linken. Das Cuxhavener Wahrzeichen liegt auf halber Strecke gen Duhnen in Döse und markierte in alten Tagen die Elbmündung. 1924 ersetzte man die namensgebende Kugelspitze durch zweidimensionale Scheiben, und die heutige Konstruktion wurde erst nach 1945 errichtet. Aber bereits 1914, als Joachim Ringelnatz hier anlangte, hatte die alte Bake ihre nautische Bedeutung verloren.

Als ich bei ihr anlange, ist es Mittag geworden, die Frühlingssonne scheint vom Himmel. Im Sand, zu Füßen des 30 Meter hohen, hölzernen Bauwerks, sitzt eine junge Familie. »Wenn auf dem Spielplatz noch irgendein anderer Mann seine Jacke ausgezogen hätte, hätte ich’s auch getan«, sagt der Vater der beiden blonden Kinder. »Mir war nämlich bannig warm.«

Seine Frau nickt verständnisvoll und zupft ihrem Kleinen den Nackenkragen zurecht.

Ringelnatz war 17, als er 1901 sein Elternhaus verließ, um zur See zu fahren. Der Junge war blass und schmächtig, entsprach also nicht gerade dem Klischee eines Seemanns. Als gebürtiger Sachse hatte er zudem noch nie Meeresluft geschnuppert. Wie sein Dialekt bei den Kameraden ankam, ist nicht überliefert. Sein Witz jedoch, der ihn später bei den Frauen so beliebt machen sollte, stempelte ihn in der Männerwelt an Bord eher zum Hanswurst als zum Filou. Mit anderen Worten: Hans Bötticher, der Schiffsjunge mit dem Nussknackergesicht, wurde permanent gefoppt, gemobbt und verkloppt. Schon auf seiner allerersten Fahrt hielt er es nicht mehr aus. In Belize flüchtete er vom Schiff und versteckte sich im Dschungel. Dass man ihn bald wieder einfing, dürfte seine Situation nicht gerade verbessert haben.

Dennoch hielt Ringelnatz durch. Drei weitere Jahre verdingte er sich auf den verschiedensten Frachtern und bereiste die Weltmeere. Sämtliche Biografen heben seine Zähigkeit und den Ehrgeiz heraus, mit dem er seine Seemannskarriere vorantrieb. 1917, mit 34 Jahren, wird der gehänselte Knabe von einst zum Offizier befördert. Als Leutnant zur See kommandiert er fortan ein Minensuchboot.

Den kompletten Krieg über schiebt er Kohldampf und ernährt sich vor allem von Kleienudeln und Steckrüben: »gekocht, gedämpft, gebraten, gebacken, gerieben, paniert.« Die oft stundenlange Arbeit im eiskalten Wasser führt zu langwierigen Krankheiten und körperlichen Malaisen aller Art. Gegen den Stumpfsinn hinter der Front helfen nur wilde Saufgelage und wechselnde Geliebte. Und das Schreiben. Wird nicht gerade Verdunkelung befohlen, arbeitet Ringelnatz in jeder freien Minute, bei jedem noch so wilden Seegang, an neuen Novellen. Manchmal werden sie von einer Satirezeitschrift akzeptiert, zumeist jedoch schon vorher von der kaserneninternen Zensur eingezogen. Ständig leidet er unter Geldnot, aber Uniform und Säbel muss der angehende Offizier selbst bezahlen. Ringelnatz schreibt Bittbriefe an seine Freunde und hat damit Erfolg. Von den 20 Mark Restgeld kauft er sich eine völlig verschüchterte Terrierhündin. Matrosen hatten sie mit Schnaps betrunken gemacht und sich daran erfreut, wie die Kreatur ein ums andere Mal die Kajütentreppe hinunterstürzte. Nach dem an seinen neuen Offizierssitz angrenzenden Wernerwald bei Sahlenburg tauft er sie Frau Werner.

Wer Ringelnatzens biografische Texte zum Ersten Weltkrieg liest, verfolgt die Ernüchterung und zunehmende Verzweiflung eines Mannes, der mit Hurra in die Schlacht zog, um bald zum entschiedenen Kriegsgegner zu mutieren. Nie und nimmer hätte er sich an dem pathetischen »Minensucher-Ehrenmal« erfreut, das heute an der Cuxhavener Mole liegt. »Wo aus Tiefen der Tod/ deutsche Kriegsfahrt bedroht,/ setzten Männer sich ein,/ daß frei sollten sein/ die Andern«, steht da zu lesen. Eine nachträglich installierte Tafel interpretiert dies als »Mahnung zum Frieden« um. Das Ehrenmal gedenke aller Seemänner »gleich welcher Nationalität als Verbundenheit der Gemeinschaft aller Minensucher«.

Mal abgesehen davon, dass der kleine Sachse besser gereimt hätte: Ist da nicht ausdrücklich von »deutscher Kriegsfahrt« die Rede? Und gehören zu den Minensuchern nicht zwangsläufig auch die Minenleger? – Wie sieht es denn mit deren internationaler »Verbundenheit« aus?

Da knirscht die Schraube doch gewaltig im Kies, irgendwie.

Das selbstverständlich als Mine gestaltete Denkmal wurde 1935 eingeweiht. Weil jedoch jeder weiß, in welche Zeit das fällt, steht auf der Erklärungstafel, dass es bereits fünf Jahre zuvor geplant worden war. Man sieht sie beinahe vor sich, die alten Seebären, wie sie schwitzen und sich krümmen unter der Last der gegen sie sprechenden Fakten. Und wie sie sich in immer neuen verschwiemelten Formulierungen ergehen, die aus Schwarz Weiß machen sollen, ohne eine Sekunde ignorieren zu können, dass sie da ein sehr faules, kratziges Seemannsgarn spinnen. Wer vor diesem plumpen Monument steht, spürt die Bigotterie geradezu körperlich – als ein Frösteln und Fremdschämen. Mariner scheinen bis heute von dem irrigen Glauben auszugehen, dass ihre alten Kameraden zunächst nicht Ausführende des Hitlerregimes waren, sondern vor allem Seefahrer und als solche Teil einer verschworenen Subgemeinschaft.

Auch Ringelnatz genoss die wärmende Kameradschaft der Mariner, verachtete aber stets jeden primitiven Nationalismus. Schon im ersten Kriegsjahr retournierte er eine Ansichtskarte mit dem Aufdruck »Deutsch sein, heißt edel und tapfer sein«, indem er kurz und bündig kommentierte: »Geschmackloser Quatsch.«

Das kleine, privat betriebene Museum an der Südersteinstraße hat einen Stadtplan erstellt, mit dem man Cuxhaven auf den Spuren des Dichters erwandern kann. So gelange ich vom Schloss Ritzebüttel über seinen alten Exerzierplatz an der Marienstraße zur Villa »Kiek in de See«, in die er sich nach seiner Beförderung im Herbst 1917 einmietete. Ein paar Meter weiter an der Dohrmannstraße liegt das ehemalige Café Royal, in dem er seine Absacker nahm und das später in Ringelnatz-Kneipe umbenannt wurde. Dass sie geschlossen ist, enttäuscht mich zutiefst. Außerdem kommen gewisse Fragen hoch: Wäre auch der Mariner Ringelnatz früher oder später beim Aale Peter aufgekreuzt? Wie wäre sein Urteil über diese Kneipe ausgefallen?

Meine Recherche in Sachen Aale ist, so scheint es mir, noch nicht ganz abgeschlossen. Die journalistische Gründlichkeit erfordert es, dort noch einmal nachzuarbeiten, die eine oder andere Facette unter Umständen hinzuzufügen. Außerdem wächst, je geschlossener mir die Pforte der Ringelnatz-Kneipe erscheint, mein Durst.

In Cuxhaven ist inzwischen die entspannte, immer auch ein bisschen traurig stimmende Betriebsamkeit eines Sonntagnachmittags ausgebrochen. Das Pinguin-Museum (einziges Pinguin-Museum in Deutschland, größte Pinguin-Sammlung der Welt, Pinguine aus Plüsch, Keramik, Glas, Holz und Porzellan, Pinguine in Büchern und Ü-Eiern, Panini-, Puzzle-, Opel-, Steiff-Pinguine und vieles mehr) hat neue Öffnungszeiten. Am Kiosk bekommt man auch einzelne Roheier, und im Deichtreff kostet der Korn nur 1,20. Eine sehr dicke Frau sagt angesichts eines Erotikladens zu ihrem sehr dicken Mann: »Oh Markus, da würd ich mich nie reintrauen.« Die Sportsbar am Hallenbad heißt Sportler. Direkt davor quert ein Radfahrer mit goldblauer Mütze die Straße und passiert die Penner, die mit ihren Pullen rund ums öffentliche Pissoir sitzen. Wer jedoch war Kapitän Alexander, nach dem im Hafen eine Straße benannt ist? Ich setze einen Joker auf Minensucher und marschiere weiter. Richtung Duhnen, und dann immer geradeaus.

Peters Terrarium beherbergt auch heute keine Haie, dafür aber ein paar Wesen, die sich für ganz tolle Hechte halten. Allesamt kommen sie aus Gelsenkirchen und geben sich hier noch ein Stück blau-weißer als daheim. Damit auch Neuankömmlinge stets informiert sind, stimmen sie zu jedem neuen Bier das Steigerlied an: »Die Bergmannsleut sind kreuzbrave Leut/ denn sie tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht/ und saufen Schnaps.« Schalke 04 hat das frühe Sonntagsspiel gewonnen, die Jungs sitzen also seit mindestens drei Stunden hier. Der Aale Peter übernimmt erst am Abend den Zapfhahn, erstaunlich, wie anders die Atmosphäre ohne ihn ist. Jeder scheint die Leerstelle füllen zu wollen, und jeder versinkt darin, weil sie zu groß für ihn ist. Die Konversation unterscheidet sich nicht wesentlich von der gestrigen, aber ohne den Charme des Burlesken wirkt sie schaler.

»Ich nehme die Striche«, sagt Karl-Heinz, lautester Frosch aus dem Schalketümpel. Während ich an meinem ersten Bier nippe, beobachte ich, wie es in seinem Hirn mahlt und qualmt. Karl-Heinz überlegt, ob er den nächsten Schritt wirklich gehen soll. Von irgendwoher scheint ihm der Tipp zuzufliegen, dass sein avisierter Anschluss völlig sinnfrei daherkommen wird. Aber Karl-Heinz ist im Urlaub und hat neue Kumpels kennengelernt. Also haut er raus, was rausgehauen werden will: »Ich nehme die Striche. Aber ich geh nicht auf den Strich.«

Nein, aber auf den Sack. Mir.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragt Karl-Heinz seinen Zechgenossen zur Rechten. Das ist der Dicke, der mir später (viel später!) erzählen wird, er habe mal drei Jungs gleichzeitig vermöbelt, weil sie seine Frau anbaggern wollten.

»Meine Bine ist ein echter Feger!«, wird er mir erklären, aber jetzt antwortet er: »Ich bin der Hans.«

Ivan Rebroff ist ein geborener Hans, das verblichene Foto von ihm an der Aale-Theke hängt draußen im Glaskasten. Und auch Ringelnatz alias Bötticher wurde auf diesen Vornamen getauft. In seinem Museum kann man sich eine kurze Filmsequenz ansehen, in der ihm zum 50. Geburtstag gratuliert wird. Als man ihn anschließend um ein Gedicht bittet, kündigt Ringelnatz an, etwas Brandneues parat zu haben. Und dann trägt er, sächselnd, näselnd, schelmisch und mit einer sprachlichen Präzision sondergleichen, das »Reh« vor: »Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum/ still und verklärt wie ein Traum./ Das war des Nachts elf Uhr zwei./ Und dann kam ich um vier/ morgens wieder vorbei./ Und da träumte noch immer das Tier./ Nun schlich ich mich leise – ich atmete kaum –/ gegen den Wind an den Baum/ und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips./ Und da war es aus Gips.«

Ein Mann mit einem Witz, der von innen kommt, ohne je laut werden zu müssen. Ein Gran von diesem Hans im Unglück, der er war, würde man auch den Schalker Knappen am anderen Ende des Tresens wünschen. Aber immerhin lässt es Hubi, mein direkter Thekennachbar, etwas ruhiger angehen. Früher besaß er eine Kneipe auf Gran Canaria, die Zum Hubi hieß. Besonders gut lief die nie, erzählt er, und am Ende blieben die Leute ganz weg. Nach drei Jahren gab er auf und zog zurück nach Castrop-Rauxel. Sieben Tage die Woche hatte er selbst hinterm Tresen gestanden, er erledigte den Einkauf, führte die Bücher, und selbst geputzt hat er auch. Seine Frau Daniela fand das alles nicht wirklich prickelnd und weigerte sich standhaft, mit ihm auf der Insel zu leben.

»Ich hab ein Nagelstudio, verstehst du, da steppt der Bär! So einen Laden geb ich doch nicht für ’ne Klitschkneipe auf den Kanaren dran.«

Die beiden haben sich auf Gran Canaria kennen- und lieben gelernt. Im Gegensatz zum eher schwerfälligen Hubi hat seine Frau jedoch echten Drive. »Hast du den vorher in die Mikrowelle gestellt?«, blafft sie die Kellnerin an, die ihr statt kühlschrankkaltem Ouzo zimmerwarmen Sambuca kredenzt hat.

Das Missverständnis wird aufgeklärt, Daniela bekommt einen echten Anisschnaps offeriert. Es wäre der zweite Hochprozentige binnen einer Minute, viele Menschen würden jetzt einknicken. Nicht so Daniela. Sie kippt auch den Ouzo, wischt sich den Mund ab und sagt: »So, der war richtig.«

Hubi hat nach dem Fußballspiel noch Handball geguckt, Fernseher hält er für das wichtigste Möbelstück, auch im Urlaub: »Hubi ohne Flimmerkiste vorm Bett geht gar nicht«, sagt er. Und dass er sich in Cuxhaven als Erstes ein langes Kabel gekauft hat, um den Flachbildschirm vom Wohn- ins Schlafzimmer zu transponieren. »War ganz schön teuer, das Kabel. Aber das packe ich jetzt immer mit in ’n Koffer.«

So langsam er spricht, so gerne gibt Hubi Zwischengas, indem er sein Pils mit einem Kurzen aufmotzt: »Mach mal zwei Hausschnaps, Aale.«

Der »Gehängte« entpuppt sich als Dosensardelle, die über den Glasrand in ein Quantum Wacholderschnaps lappt. Das gekrümmte Tier erinnert mich an einen Aufsatz aus der »Neuen Bunzlauischen Monatszeitschrift« von 1792, den ich in irgendeiner Gastrozeitschrift zitiert fand: »Eines Gehangenen Finger im Bierfass aufgehängt schafft dem Bier guten Abgang«, heißt es dort. Und noch besser schmecke der Sud, wenn der Verurteilte unschuldig war.

Ob meine Sardelle zu Lebzeiten wohl eine weiße Weste bewahrte?

Ich hoffe es, noch mehr für mich als für sie.

»Sagen wir es so: Die Sardelle macht den Wacholder trinkbar. Und der Wacholder die Sardelle essbar«, hat – für mich völlig überraschend – Karl-Heinz nach seinem ersten Glas erklärt. Eleganter und toleranter kann man das nicht formulieren. Es ist ein unvergleichliches Gefühl, dieses brutal salzige Stück Fisch einzuschlürfen und seine ohnehin labbrige Konsistenz kauend in losen Brei zu verwandeln, bevor man es mit jenem Schnaps herunterspült, für den mir spontan das Wort »gewöhnungsbedürftig« einfällt.

Aber kommt Zeit, kommt Gewöhnung. Um mir nicht nachsagen zu lassen, ich bliebe je etwas schuldig, kriegt Hubi seinen Gehängten zurück. Und Daniela einen Ouzo. Hubi wiederum liegt lieber vorn und ist schnell bei der nächsten Runde. Nach dem vierten Abtausch sind wir Freunde fürs Leben. Hubi plant, mit mir eine Kneipe in Castrop-Rauxel zu eröffnen, die wir entweder Zum Hubi oder Bei Bernd nennen werden. Daniela will uns derweil umsonst die Nägel maniküren, weil »das der Damenwelt besser gefällt, wenn ihr da mit schönen Händen am Zapfen seid«. Was mich angeht, ich bin eher für Bei Bernd.

Irgendwo hinter uns sinkt die Sonne ins Meer. Ivan Rebroff zieht die Vorhänge seines Schaufensterchens zu. Im Wernerwald streicht ein Widergänger um das Stipsgipsreh, während hier drinnen bei uns das Wackelferkel erwacht. Inzwischen ist auch der Hausherr eingetroffen, und Karl-Heinz lässt direkt mal seine Kontakte spielen. »Hallo Peter, da bin ich wieder, der Karl-Heinz aus Gelsenkiachen, der immer so leise ist. Ich soll dich auch von Werner Kopielski aus Herne grüßen.«

Ganz offensichtlich hat Aale noch nie etwas von einem Werner Kopielski gehört. Und dann auch noch aus Herne. »Ach, der Werner«, sagt er.

Eine sehr blonde Mittdreißigerin namens Uschi arbeitet an ihrem geschätzt zehnten Wodka-Apfelsaft. Der Cocktail hat ihre Stimme inzwischen merklich gestärkt. Ähnlich wie bei Daniela wirkt ihr Mann wie der rollende Stein im reißenden Fluss. »Willst du wirklich noch einen?«, hat er gerade gefragt. Aber da war sich Uschi mit Aale längst einig.

»Eigentlich heiße ich Ursula«, sagt sie. »Aber alle meine Freunde nennen mich Uschi.«

Durch den Rundlauf des Tresens sitzt sie mehr oder weniger den Schalkern gegenüber und hat ein chorales Verhältnis zu Karl-Heinz aufgebaut. Uschi singt praktisch jedes Lied mit, beängstigend, wie textsicher diese Frau selbst bei Songs ist, die mir aus einem völlig fremden Kulturraum zu stammen scheinen. Namen wie Tim Toupet und Mickie Krause fallen wie Goldbarren, Wolle Petry und DJ Ötzi werden so kultisch verehrt, dass man in deren Refrains nur mit geschlossenen Augen einstimmt. Aber am lautesten singt Uschi bei Andrea Berg mit.

»Ein Kumpel von mir war mit Andrea Berg in der Schule, stell dir das mal vor«, sagt Hubi, als das Lied schon beinahe vorbei ist.

»Super«, sage ich anerkennend, denn ich merke, dass Hubi das wichtig ist.

Der Abend legt sich nun in die Schlusskurve und beschleunigt dabei noch einmal stark. Jeder will den finalen Treffer setzen, bevor der Wirt zur letzten Runde läutet.

Hubi spricht inzwischen mehr mit seiner Sardelle als mit mir, noch immer diskutiert er die Vorzüge verschiedener Schlagersängerinnen. »Ich muss sagen, Helene Fischer ist auch nicht schlecht. Die hat vielleicht nur nicht diesen«, und jetzt klappt er von Daniela weg an meine Schulter und raunt mir ins Ohr: »diesen Sex-Appeal.«

Gerade haben die Schalker sich gegenseitig Mallorca-Fotos auf ihren iPhones gezeigt und danach ihre Frauen angesimst. Karl-Heinz hat seiner Gattin von Hans geschrieben, der nicht Hans-Dieter heiße, aber ein Kind mit Andrea Berg habe. Zu unser aller Freude hat er uns seine Nachricht dann auch noch einmal komplett vorgelesen.

Möglicherweise ist es der Kontaktaufnahme mit seiner Frau geschuldet, dass Karl-Heinz bald darauf nach Hause muss. Der dicke Hans hingegen wird noch ein Stündchen bei uns bleiben, weil Bine erst am Mittwoch nachkommt. Als schließlich das letzte Lied verklungen ist und der Wirt sich ans Kassieren der Deckel macht, fällt mir etwas auf, das meine Achtung vor diesem eigentümlichen Thekenkünstler noch steigert. Aale hat an diesem Sonntagabend kaum einen Witz erzählt und kein einziges Mal seinen Flaschenzug laufen lassen. Auch die große Spinne am Thekeneck, die auf ein Klatschen hin ins nächste Bierglas plumpst, hatte heute Ruhetag.

Es war wohl Hubi, wegen dem ich länger als geplant geblieben bin, mein letzter Bus steht schon lange im Depot. Gehängter macht dich zum Hänger, so ist das wohl. Draußen hat es höchstens noch sechs Grad, und vor mir liegen fünf düstere Kilometer vorbei an Haus Seeblick, Haus Seemöwe, Haus Seepferdchen und Seezunge und Seeadler, Seezeichen, -teufel, -igel, -not und -geltörn. Die Kälte kriecht mir den Rücken hoch und vereinigt sich auf halber Strecke mit dem nadeldünnen Nieselregen Niedersachsens. Ich fühle mich elend, schlapp und schlabbrig wie die Sardelle im Wacholderglas. Stärker als mein Bettwunsch ist nur noch mein Hunger. Aber wer hält da neben mir, kaum dass ich mir die erste Erdnuss aus der Notreserve in den Mund geschnickt habe?

Der Aale Peter.

»Wo musst du hin, Bernd?«, fragt er mich.

Und dann gondeln wir ganz gemütlich gen Cuxhaven, unterhalten uns wie alte Kumpels über dies und das und geben uns zum Abschied die Hand.

»Bis morgen, Peter.«

»Bis morgen, Bernd.«

Karl-Heinz würde vor Neid erblassen.

Am nächsten Morgen schaffe ich es erst um zehn zum Frühstück. Herr Pohl mag es nicht, wenn ein Gast derart unberechenbar ist. »Und wann kommen Sie morgen?«, will er sofort wissen.

Ich habe einen dicken Kopf. Der Gehängte pocht gegen meine Stirnlappen wie ein Teppichklopfer. Mindestens eine der sieben Sardellen war wohl alles andere als unschuldig. Zur Strafe für meine Unzuverlässigkeit hat der Hotelier mich an einen anderen Platz versetzt. Nun kann er mich zwar nicht mehr beobachten, aber dafür umso besser hören. Wir sitzen quasi Wand an Wand. Immer wenn ich ins Brötchen beiße, knipst Herr Pohl seinen Kuli an. Im Hotel bin ich inzwischen der einzige Gast, und was aus Frau Pohl geworden ist, weiß niemand. Wahrscheinlich hat sie die ganze Nacht im Internet gepokert, um die 17,85 WLAN-Euro wieder reinzuholen, die ihr bei mir durch die Lappen gegangen sind.

Meinen letzten Tag in Cuxhaven verbringe ich – kurz gesagt – mit Geist- und Körperpflege. Am frühen Abend reift der Beschluss, ein letztes Mal beim Aale Peter nach dem Rechten zu sehen. Der zweistündige Umweg über Ringelnatzens Terrariumstandort Sahlenburg lohnt sich. Die Sonne scheint auf eine flache Landschaft mit gewölbten Äckern, weiten Pferdewiesen und lichtem Laubwald. Die Krähen hier tragen, anders als bei uns im Westen, einen grauen Kragen. Als ich ein Auto mit baumelndem S-04-Bonsaitrikot sehe, zucke ich für einen Moment zusammen, gehe dann aber stramm weiter. In Duhnen ist ein Schwung neuer Gäste eingetroffen, bei Peter herrscht Hochbetrieb. Karl-Heinz ist da. Hubi und Daniela sitzen auf denselben Hockern wie gestern, Uschi tanzt mit dem weiblichen Wackelschweinchen. Und Peter erzählt den Witz von der Frau mit den drei Männern.

Wo der erste Architekt, der zweite Musiker und der dritte Handwerker ist. Sie wissen schon.

Ich trinke zwei ruhige Bier und mache mich früh vom Acker.

»Stoßet an und ruft einstimmig …«

Helgoland

Drei Stunden ohne Festland, bevor Helgoland am Horizont auftaucht. Sonnenstrahlen springen wie Lichtkristalle über die Wellenkämme längs der Fähre. In dieser dem kaum vergangenen Winter abgetrotzten Klarheit wächst die Insel mit übernatürlicher Schärfe aus dem Wasser. Dank einer Kneipenliste des Aale Peter fühle ich mich bestens vorbereitet. Helgoland, so gab er mir zu verstehen, sei in jeder Hinsicht ein gastronomisches Abenteuer. Er sollte recht behalten.

Im Bordrestaurant habe ich eine Schwäbin kennengelernt, die mit ihrer Tochter nach Helgoland fährt. »Urlaub vom Vater und Ehemann«, erklärt sie mit einem Lächeln, das mir zu vieldeutig ist, um es zu entschlüsseln. Sie trägt blondiertes, strubbeliges Haar und eine verwaschene Jeansjacke, die knapp unter der Achsel endet. In ihrer Heimat schafft sie als Lehrerin für Erdkunde und Deutsch. Sie findet es erstaunlich, dass jemand Gedichte von Hoffmann von Fallersleben liest und dazu unaufhörlich Bier trinkt. Sie benutzt tatsächlich das Wort »unaufhörlich«, dabei arbeite ich zu dem Zeitpunkt gerade mal an meinem dritten Fläschchen Jever. Aber sie selbst trinkt gar nichts und will stattdessen mit Laura am Helgoländer Inselmarathon teilnehmen.

Zusammen mit 200 anderen Besuchern kämpfe ich mich durch den Südhafen. Die meisten von ihnen sind Tagestouristen ohne Gepäck, eine Spezies, der man hier – ich werde das lernen – mit ein wenig Verachtung begegnet. Den steuerflüchtigen Schnäppchenjägern verdankt Helgoland ein Gutteil seines Wohlstandes. Aber wer wegen einer Stange Marlboro Light oder einem Liter Mariacron über die Mole schwappt, der muss sich seinen roten Teppich schon selber weben.

»Kennen Sie sich hier aus?«, frage ich den Mann, der gerade dabei ist, mich zu überholen. Erst als ich mich richtig zu ihm umdrehe, bemerke ich, dass ich ihm kaum bis zum zweiten Knopf seiner Gummijoppe reiche. Wieder einer dieser Riesenfriesen. Wenn die Evolution hier keine Purzelbäume geschlagen hat, muss irgendwo hinter dem gewöllartigen Vollbart ein Mund liegen. Gleich wird er mir sicherlich einen Satz wie »Noch ein Wort, und du bist bei den Fischen« zuraunen.

Aber nein, der Mann sieht mich freundlich an und sagt: »Jou.«

Tatsächlich kennt er dann nicht nur meine Straße, sondern auch die Pension, in der ich ein Zimmer gebucht habe. Frau Lohmann entpuppt sich als ausgesprochen liebenswürdige Wirtin, die ihre Gäste weder als Feinde betrachtet noch ihre Aufgabe darin sieht, dem Fremden das Leben zur Hölle zu machen. Die Rollläden werden hier zwar nur rein mechanisch bedient, aber dafür hat der Teppich kompakte, staubsaugerfreundliche Härchen. Und der Frühstücksraum zwei Ausgänge.

Ein kurzer Tagtraum zeigt mir Helgoland, wie ich es mir vorgestellt habe: urige Fischerkneipen, in denen der Ofen bollert und die Pfeife kreist, geschmaucht von rauen, wettergegerbten Nordseecowboys, die Robbenbabys harpunieren und sich zum Frühstück eine Möwe rupfen. Das Erste, was ich an der Uferpromenade sehe, sind jedoch zahllose Grüppchen von jungen Leuten, die sich als Autonome der 1980er verkleidet haben. Wo immer eine öffentliche Bank steht, schläft ein Schwarzgewandeter, umhüllt von einem Gazeschleier aus verdampfendem Alkohol. Die etwas fitteren Kämpfer lassen am Kai der Landungsbrücke die Beine baumeln. Andere salutieren der Büste Hoffmann von Fallerslebens, die mein erstes Ziel ist.

In welcher emotionalen Randlage muss man sich wohl befinden, um sein Gedicht mit solch einem Doppelvers zu beginnen: »Deutschland, Deutschland über alles,/ Über alles in der Welt«?

Die Antwort im Falle Hoffmanns lautet: betrunken, übernächtigt und verkatert wie ein Helgoländer Punk.