Eine kleine Geschichte des Scheiterns - Bernd Imgrund - E-Book

Eine kleine Geschichte des Scheiterns E-Book

Bernd Imgrund

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  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Das menschliche Scheitern hat viele Facetten: Sie reichen von der totalen Niederlage über die gewöhnliche Peinlichkeit bis zum sportlichen Knock-out. Bernd Imgrund folgt den Scheiternden durch die Geschichte, im Kleinen wie im Großen, von Napoleons Waterloo bis zu Jesus von Nazareth, vom sich sinnlos mühenden Sisyphos zu Donald Trump, der der Welt nach der verlorenen US-Präsidentschaftswahl eine eindrucksvolle Lektion in schlechtem Verlieren erteilte. Ein unterhaltsamer Streifzug, eine fröhliche Ode ans Scheitern – und natürlich gilt es, dabei »etwas zu lernen«. Und sei es bloß, sich vom König der Scheiternden, dem Lucky Loser, der allen Niederschlägen noch etwas Positives abgewinnen kann, ein Scheibchen abzuschneiden.

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BERND IMGRUND

EINE KLEINE GESCHICHTE DES SCHEITERNS

BERND IMGRUND

EINE KLEINE GESCHICHTE DES SCHEITERNS

VON SISYPHOS BIS DONALD TRUMP

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2021

© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

D-80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Friederike Moldenhauer

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/durantelallera, Shutterstock.com/Leremy

Layout und Satz: abavo GmbH, Buchloe

Druck: CPI books GmbH, Leck

ISBN Print 978-3-7423-1742-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1438-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1439-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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INHALT

Vorwort

Absichtlich scheitern

Scheitern mit Mehrwert

Hässliche Entlein

Lucky Loser, Underdogs und ewige Zweite

Schlechte Verlierer

Tragikomische Helden

Zwischen Genie und Wahnsinn

Der Stein der Weisen

Märtyrer

Superhelden und Bösewichte

Missverständnisse

Der (Un-)Sinn des Lebens

Scheitern als Chance

Anstelle eines Nachworts

Scheitern

VORWORT

Scheitern ist die normalste Sache der Welt. Ein Baby lernt laufen, indem es zig Mal auf den Po fällt. Es braucht dafür ungefähr ein Jahr, viel weniger Zeit also, als Thomas Edison für die Entwicklung der Glühbirne benötigte. Aber wie das Kleinkind sah auch er keinen Anlass zu jammern. Er habe seine fehlgeschlagenen Experimente nie als ein Scheitern empfunden, sagte der Meister. Sondern tausend Wege entdeckt, die nicht zum Ziel führten. Recht ähnlich resümierte auch Michael Jordan, bester Basketballer aller Zeiten, seine Karriere: »Ich bin gescheitert. Immer und immer wieder. Und darum war ich so erfolgreich.« So kann man das eben auch sehen!

Aus einer Niederlage lernt man mehr als aus einem Sieg. Ein einzelner gelungener Versuch beweist nicht, dass ein Experiment immer funktionieren wird. Aber ein einziger misslungener belegt immerhin etwas: dass es nämlich auf diese Art nicht klappen kann. »Scheitern ist ein Umweg, keine Sackgasse«, schrieb einst der amerikanische Autor Zig Ziglar. Und nicht anders sahen das sicherlich schon die Steinzeitmenschen: Jede zerbrochene Axt war Anlass für den Bau einer besseren.

Dieses Buch ist kein Ratgeber, es geht hier weder um Coaching noch Motivationstraining. Eher kann man es mit einem Reisebegleiter vergleichen, der die weitverzweigte Welt des Scheiterns erschließt. Wir begegnen dem Tragikomischen und dem Superhelden, dem Lucky Loser, dem Märtyrer und dem Bösewicht. Sie alle scheitern – immer wieder und auf ihre eigene Art. Ihre Niederlagen rühren uns zu Tränen und bringen uns zum Lachen. Und klar, ganz en passant lernen wir dabei auch so manches … vielleicht sogar, gescheiter zu scheitern.

ABSICHTLICH SCHEITERN

Anfang der Nullerjahre kam dem amerikanischen Künstler Kent Rogowski eine skurrile Idee. Er fragte sich, ob Puzzle-Produzenten wohl immer wieder dieselbe Stanzmaschine benutzten, um ihre Teile in Form zu bringen. Rogowski besorgte sich ein paar dutzend Spiele eines einzelnen Herstellers und stellte fest: Das ist so!

Streng genommen war Rogowski gescheitert. Schließlich entsprachen seine Ergebnisse nicht den Vorgaben auf dem Deckel der Puzzle-Packung.

Ziele werden nicht gesteckt, um sie zu verfehlen, hatte schon der griechische Philosoph Epiktet (um 50–138) festgestellt. Ebenso werden weder Fußballregeln noch Friedensverträge formuliert, um gebrochen zu werden. »Ordnung muss sein«, sonst drohen Chaos und schlimmstenfalls Krieg. Rogowski jedoch scherte sich nicht um die bestehenden Raster, sondern schuf eine neue, seine eigene Ordnung. Er hatte sich kreativ verpuzzelt, wenn man so will. Anstatt idyllische Naturaufnahmen zu reproduzieren, hatte er Bilder montiert, die dem Betrachter die Aufgabe stellen, sie zu entschlüsseln. To be puzzled, das meint im Englischen: verwirrt, verdutzt, perplex sein. Und genau dieser gelenkte Effekt schuf den Mehrwert gegenüber den Originalen. Massenware wurde durch Manipulation zu Kunst. Was normalerweise als billiger Zeitvertreib für Kinder und pensionierte Buchhalter gehandelt wird, erzielte plötzlich Preise von mehreren Tausend Dollars.

FRAGMENTE UND TORSI

Dass Künstler permanent scheitern, ist eine banale Tatsache. Nur Genies werfen ihr Werk aufs Papier und sind fertig. Alle Sterblichen hingegen probieren aus, wägen ab, verwerfen, verzweifeln, setzen neu an und kommen dann vielleicht irgendwann zu einem vorzeigbaren Ergebnis. Mit anderen Worten: Scheitern ist der Kunsterzeugung immanent, es geht nicht ohne. Oder positiv gewendet und mit den Worten Truman Capotes: »Scheitern ist die Würze, die dem Erfolg Geschmack verleiht.«

Auf dem Weg zum Ziel kann Scheitern zur Methode werden. Manche Regisseure legen die Messlatte absichtlich zu hoch, um ihre Darsteller an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu treiben. Die deutsche Frühromantik erhob das Scheitern gar zum Kunstprinzip. Für sie wurde das Fragment zur bedeutendsten literarischen Gattung. Das theoretische Fundament lieferte die von den Gebrüdern Schlegel gegründete Zeitschrift Athenäum, vor allem das Athenäumsfragment 116 mit seiner Entwicklung einer »Progressiven Universalpoesie«. Die stete Progression der Poesie bedinge eine permanente Unabgeschlossenheit. Zwangsläufig müsse also auch jedes literarische Werk als vorläufig, fragmentarisch verstanden werden: »Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann«, schrieb Friedrich Schlegel. In diesem Sinne lobte er Novalis und dessen – wohl unabsichtlich – unvollendeten Heinrich von Ofterdingen, und er selbst schrieb den fragmentarischen Roman Lucinde. Jenseits dessen blieben einige der bedeutendsten Schriften der deutschen Literatur unabgeschlossen, ohne das man je an ihrem Status gekratzt hätte. Dazu zählen etwa Georg Büchners Woyzeck, Robert Musils Mann ohne Eigenschaften oder auch Franz Kafkas Prozess.

Ähnliches vollzog sich im 19. Jahrhundert auch in der Bildenden Kunst. Bezeichnete der Torso bis dato vor allem den Überrest einer alten Plastik, so erhob ihn Auguste Rodin (1840–1917) in den Rang einer eigenen Gattung. Und dort rangiert er bis heute – das Unfertige wird als fertig deklariert, und niemand stört sich dran. Zumal sich immer wieder Kunsttheoretiker fanden, die genauso dachten. Walter Benjamins komplettes Werk ist fragmentarisch montiert. Sein Kollege der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno, schrieb in seiner posthum erschienenen Ästhetischen Theorie: »Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische.« Und die amerikanische Diskursqueen der Popkultur Susan Sontag vermutete 1978: »Das Fragment scheint die angemessene Kunstform unserer Zeit zu sein.« Da befand man sich dann bereits in der Hochphase der alle Tradition in fragmentierte Stückchen reißenden Punk-Ära.

NO FUTURE

Der eingangs erwähnte Kent Rogowski erregte mit einer weiteren Werkreihe Aufsehen, die ebenfalls auf Verfremdung und De- beziehungsweise Rekonstruktion setzte. Für Bears entfernte er die Füllung herkömmlicher Teddybären, um sie sodann eigenhändig neu zu stopfen. Rogowskis Resultate belegen, dass dies nicht so einfach ist, wie es sich anhört. Offenbar ist es einem Laien unmöglich, den Füllstoff so zu verteilen, dass das ursprüngliche Äußere wiederhergestellt wird. Was einst als Schmusetier für Kinder gedacht war, kommt bei Rogowski als verunstalteter Freak daher. Manche seiner Exemplare sind von mitleiderregender Zottigkeit – Kandidaten für den Tierschutz. Andere erinnern eher an Missbildungen aus dem Labor des Dr. Frankenstein.

Der Künstler hatte einen größtmöglichen Kontrast kreiert. Sein Vorgehen erinnert an den provokanten Dresscode der Punkbewegung. Wie man Teddybären normalerweise mit süß, flauschig oder knuddelig assoziiert, so Jugendliche mit propper, rosig und frisch. Die frühen Punks Mitte der 1970er-Jahre jedoch traten bewusst vollkommen anders auf. Sie trugen zerrissene Hosen, ranzige, von Badges übersäte Lederjacken und struppig-ungekämmte Haare. Anstatt »der Zukunft zugewandt« durchs Leben zu gehen, schrieben sie sich einen Slogan der Sex Pistols aus »God save the Queen« aufs Banner: No Future!

»Don’t be told what you want

Don’t be told what you need

There’s no Future

No Future

No Future for you.«

Mit ihrer inszenierten »Hässlichkeit« konterkarierten die Punks wie Rogowskis Bären die allgemeinen Erwartungen. Ihr Anderssein forcierte die Abgrenzung vom Spießbürger. Was dieser als asozial verachtete, war jenen eine Feier nihilistischer Verweigerung. Der Kapitalismus, der 9-to-5-Mensch und seine Werte waren ihnen nur einen müde erhobenen Mittelfinger wert. Sogar die Natur, Zufluchtsort des gebeutelten Industriemenschen, bekam ihr Fett weg. »Ich hasse das Land. Wenn ich eine Kuh sehe, könnte ich kotzen«, sagte Mick Jones einst. Der Gitarrist von The Clash war damals Anfang zwanzig, da haut man sowas schonmal raus. »Zurück zum Beton« sangen zur gleichen Zeit die Deutschpunks von S.Y.P.H., und sie meinten damit: Wir sind Stadtkinder. Der deutsche Wald, dieser ganze braune Mystikmüll kann uns mal. Wir lieben den Mief, der aus den U-Bahnschächten aufsteigt. Ein graffitibeschmiertes Hochhaus toppt jede verdammte Eiche – Pennerasyl statt Yggdrasil, die Weltesche der Germanen!

Hinter der punkigen Totalverweigerung steckte nicht nur ein »Dagegen«, sondern auch ein sehr vitales »Dafür«: Wir leben uns aus, ohne Rücksicht auf Verluste, die Schule, den Job oder die Zukunft. »Live hard«, und wenn’s denn sein soll: »die young.« Aber die aggressive Anti-Haltung erschöpfte sich. Die ersten Punkbands, Sprachrohre der Bewegung, lösten sich auf oder machten kodex-widrig Karriere in der Musikindustrie. Zerrissene Jeans gab es in den Kaufhäusern schneller en masse, als man sie zu Hause zurichten konnte. Wie so oft erntete der Kapitalismus die Früchte der Revolution, die ihn eigentlich hatte vom Sockel stoßen wollen. Die einst rebellischen Punks sanken herab zu obdachlosen Jugendlichen, die äußerlich eher an Rogowskis Berber-Bären erinnern als an die grölende Bande von einst. Die offensive Verneinung bürgerlicher Tugenden erschöpfte sich bald im Schnorren von Geld, Tabak oder Hundefutter – das aktive war zu einem passiven Scheitern verkommen. Den eklatanten Wandel spiegelt bereits die Körperhaltung: Während der Ur-Punk Pogo tanzte und rempelnd, hüpfend über sich selbst hinauswuchs, sitzt der Post-Punk unten auf dem Trottoir. Und schaut auf zu jenen, die er doch eigentlich verachtet.

EIN FREIWILLIGER ABSTIEG

Im Jahr 2002 veröffentlichte Bodo Kirchhoff seinen Schundroman, den er an die amerikanische Pulp-Literatur der 1940er-Jahre anlehnte. Des Autors Kalkül: Indem ich hier bewusst künstlerisch scheitere, werde ich kommerziell erfolgreich. Als Teil der »Hochkultur« bediente sich Kirchhoff also der billigsten Kolportage, um eine möglichst heiße Story zusammenzuschweißen. Und der Plan ging auf: Der Schundroman wurde ein Bestseller.

»GEH MIR AUS DER SONNE«

Aussteigertum und dessen öffentliche Demonstration gab es selbstverständlich schon vor den Punks. Ihre unmittelbaren Vorgänger waren die Endsechziger-Hippies, und davor gab es die Mods, Teds, Beatniks und »Halbstarken«. James Dean als der Rebel Without a Cause verkörperte überzeugend die Rebellion einer ganzen Generation. Der gleichnamige Film von 1955 (deutsch: Denn sie wissen nicht, was sie tun) rückte als erster die aufmüpfige Jugendkultur der Nachkriegszeit in den Fokus Hollywoods.

Wer noch weiter zurückgeht in der Geschichte, trifft Huckleberry Finn und Henry David Thoreau, begegnet Jesus und landet irgendwann bei Diogenes, dem griechischen Philosophen (um 413–323 v. Chr.). In mancher Hinsicht geht er als der kühnste Freak der Weltgeschichte durch, ein Individualist und Sturkopf, gegen den Alan Ginsburg oder John Lydon Waisenknaben waren. Die Bürgerschrecks des 20. Jahrhunderts mochten sich noch so radikal geben – am Ende des Tages schlüpften sie in ein weiches Bett, womöglich sogar zu Hause bei Mami und Papi. Diogenes jedoch schlief in einer Tonne, einem alten Weinfass. Und während Generationen von Revoluzzern irgendwann die Lederjacke gegen das Jackett und den Palästinenserschal gegen die Krawatte tauschten, blieb sich der Philosoph vom Schwarzen Meer bis ins hohe Alter treu: Soziale Konventionen scherten ihn einen feuchten Kehricht.

Realität und Legende sind in seinem Fall kaum mehr zu trennen. Aber glaubt man der Überlieferung, führte er das Leben eines Obdachlosen freiwillig, ohne Scham und schlechtes Gewissen. Auf körperliche Hygiene legte er nicht allzu großen Wert, ein winziger Haushalt samt Decke, Gehstock und ein paar weiteren Utensilien bildete seinen ganzen Besitz. Seine Mahlzeiten nahm er öffentlich zu sich, obwohl dies im alten Griechenland verpönt war. Diogenes soll sogar vor aller Augen onaniert haben, weil er es für ein natürliches Bedürfnis hielt. Seine Geringschätzung von Autoritäten machte selbst vor Alexander dem Großen nicht halt. Angeblich näherte sich der berühmte Feldherr dem Dösenden auf einem belebten Platz in Korinth. Die Situation verkennend, fragte ihn Alexander, ob er ihm irgendwie behilflich sein könne. Diogenes, Erwiderung wurde zum geflügelten Wort: Er möge ihm »ein wenig aus der Sonne« gehen, beschied er den makedonischen König.

Auch Diogenes scheiterte also mit Vorsatz. Bei aller Nonkonformität jedoch war er alles andere als ein Faulpelz oder »Schluffi«. Sein Aussteigertum verband er mit eiserner Disziplin dort, wo sie ihm angebracht schien. So trainierte er etwa hart dafür, sich von Träumereien und Luxusdenken zu befreien – indem er steinerne Statuen anbettelte. Körperlich geschadet hat ihm sein eigenwilliger Lebenswandel offenbar nicht. Diogenes lebte 90 Jahre lang und erreichte damit ein für seine Zeit nahezu biblisches Alter. Und selbst im Tod demonstrierte er eherne Konsequenz: Er starb, indem er sich das weitere Luftholen verbat.

LIPS OF THOMAS

Sich selbst zu ersticken – eine radikale, im Sinne des Wortes finale Form der Autoaggression! Die Beschädigung des eigenen Körpers im Dienste einer Idee war immer mal wieder en vogue, man denke etwa an die Flagellanten des Mittelalters. In den 1970er-Jahren stieg sie zu einem gängigen Kunstkonzept auf. Punks zelebrierten es, indem sie sich Sicherheitsnadeln durch die Wange stachen. Aber auch Performancekünstler stellten die Selbstverletzung ins Zentrum ihrer Aktionen. Mehr als einmal setzte etwa der österreichische Aktionskünstler Wolfgang Flatz (geb. 1952) seine Gesundheit aufs Spiel. Mal ließ er sich minutenlang ohrfeigen, mal gegen ein »Preisgeld« mit Dartpfeilen bewerfen. Im Jahr 1990 wiederum hängte er sich in Tiflis kopfüber und mit gefesselten Händen zwischen zwei Stahlplatten, um als menschlicher Klöppel zu dienen. Noch radikaler inszenierte die Serbin Marina Abramović (geb. 1946) den eigenen Körper und seine Verwundbarkeit. In Neapel lieferte sie sich 1974 einem zunehmend entfesselten Publikum als Objekt aus und ließ sich entkleiden, mit Rosendornen, Nägeln und schließlich einer geladenen Waffe traktieren. Ihren Tod oder eine Vergewaltigung hätte sie gemäß der von ihr selbst aufgestellten Versuchsanordnung in Kauf genommen. Bei ihrer bekanntesten Aktion, Lips of Thomas (2005), betrat sie die Bühne völlig nackt. Sie aß ein Kilo Honig und trank einen Liter Wein, bevor sie das Glas mit bloßer, bald blutender Hand zerdrückte. Nebst weiteren Torturen griff sie schließlich zu einer Rasierklinge und ritzte sich einen Stern in den Bauch, dessen Linien sie immer wieder nachzog. Sieben Stunden dauerte die selbstauferlegte Folter im New Yorker Guggenheim Museum.

»Der Mensch hat vor zwei Dingen Angst: vor seiner Sterblichkeit und vor dem Schmerz. Nur wenn man sich von beiden Ängsten befreit, kann man sein Leben genießen«, sagt Abramović über ihre Motivation. Im Alltagsleben habe sie Angst vor Blut, und »wenn ich mich in der Küche mit dem Messer schneide, schreie ich. Ich suche keinen Schmerz.«

Auch Marina Abramović strebt also als Privatperson nach dem Ideal der körperlichen Unversehrtheit. Ihre Performances inszeniert sie demgegenüber als radikales Scheitern an diesem Maßstab – eine künstlerische Destruktion, die in ihrem Fall ausgesprochen konstruktiv wirkt. Durch ihre Selbstverletzung richtet Abramović das Augenmerk der Zuschauer unbarmherzig auf die Fragilität des menschlichen Körpers. Die Autoaggression verstärkt die Aggression der Teilnehmer, sei es in schützender oder zerstörerischer Hinsicht. Indem sie ihrem Körper Gewalt antut, macht sie genau dies zum Thema: Gewalt gegen Körper – Misshandlung, Brutalität, Sadismus.

HARRY HOUDINI

Der »Entfesselungskünstler« Harry Houdini (1874–1926) war ein Pionier der autoaggressiven Performance. Immer wieder ließ er sich unter Lebensgefahr in Ketten legen, um sich sodann spektakulär zu befreien. Unter anderem warf man ihn, gefesselt von einem geübten Polizisten, in einen Fluss. Houdini betonte stets mit äußerster Verve, nie getrickst zu haben. Er wurde auch nie eines Schwindels überführt.

GOLDGELBE ZÄHNE

Es muss nicht immer um Alles oder Nichts gehen beim absichtlichen Scheitern. Neben todernsten, existenzialistischen Herangehensweisen à la Abramović kommt es zuweilen auch humorvoll daher. In der Barockzeit etwa war es beliebt unter den Dichtern, die an Petrarca angelehnte Minnelyrik zu parodieren. Antipetrarkistische Gedichte feierten eben nicht die Unerreichbarkeit der Schönen, sondern ihre Makel. Im Sonett von Martin Opitz (1597–1639) scheint die Angebetete ganz petrarkistisch in höchsten Tönen gelobt zu werden. Aber wenn da nicht die Lippen, sondern die Augen »rubinrot« leuchten, dann sind sie eben blutunterlaufen. Und der Holden »goldgelbe Zähne« glänzen auch nur auf den ersten Blick.

Auch die postmoderne Ironie spielt auf dieser Flöte: So wird an der San José State University seit 1982 ein »Preis für Unterlassen« ausgelobt. Der Bulwer-Lytton Fiction Contest prämiert jährlich den »gelungensten« Vorschlag dafür, wie der erste Satz des miesesten vorstellbaren Romans lauten könnte. Als Vorbild dient den Ausrichtern gemeinerweise Bulwer-Lyttons Roman Paul Clifford, der zugegebenermaßen mit der raunendsten aller literarischen Floskeln anhebt: »Es war eine dunkle und stürmische Nacht …« Wer je die Peanuts las, kennt diese Einleitung. Snoopy, der erfolglos schriftstellernde Hund, benutzt ihn für jedes seiner trostlosen Manuskripte. Während jedoch Snoopys Einsendungen von allen Verlagen abgelehnt werden, zahlt sich die Teilnahme am Bulwer-Lytton Fiction Contest zumindest für den Sieger aus. Er gewinnt 250 Dollar, obendrein erscheinen die Einsendungen in Buchform.

Absichtlich scheitern, Verweigerung zum Ziel erklären und sogar noch belohnen: In ein ähnliches Horn stößt die 2020 eröffnete Schule der Folgenlosigkeit. Gründer Friedrich von Borries ist Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Er stellte sich die Frage, wie ein ökologisch »folgenloses« Leben aussehen könnte. Während es Designern, Produktentwicklern oder direkt Produzenten stets um die Schöpfung von Dingen geht, erhebt die »Schule der Folgenlosigkeit« die kreative Unterlassung zum Ideal. Seit 2021 werden deshalb drei »Stipendien für das Nichtstun« vergeben, dotiert mit je 1600 Euro. Die Aufgabenstellung: »Die Bewerber müssen aufzeigen, welche Handlungen sie unterlassen wollen, damit ihr Leben keine negativen Folgen für das Leben anderer hat.«

DER HOAX

Im Jahr 2008 verkündete Joaquin Phoenix auf der Höhe seines Ruhms als Schauspieler, er wolle nun Rapper werden. Aber sein unbeholfenes Gereime erntete nur Kopfschütteln: Hier machte sich jemand selbst zum Affen. »Joaquin, tut mir leid, dass du heute Abend nicht kommen konntest«, verabschiedete David Letterman Phoenix aus seiner Show. Was der Moderator nicht ahnte: Es war tatsächlich nicht der »echte« Joaquin Phoenix, der da bei ihm performt hatte. Sondern Phoenix, der Schauspieler. Zwei Jahre lang zog er seine angebliche Rap-Karriere als Hoax durch, bevor er den Coup als Satire outete.

SCHEITERN MIT MEHRWERT

Fangen wir mit Goethes Prometheus an. Das Gedicht über die Entthronung der Götter und die Emanzipation der Menschheit beginnt mit einem fulminanten Wurf, der den Göttervater Zeus zum Wurm degradiert: »Bedecke deinen Himmel, Zeus,/ Mit Wolkendunst/ Und übe, dem Knaben gleich,/ Der Disteln köpft,/ An Eichen dich und Bergeshöhn!/ Mußt mir meine Erde/ Doch lassen stehen,/ Und meine Hütte, die du nicht gebaut,/ Und meinen Herd,/ Um dessen Glut/ Du mich beneidest./ Ich kenne nichts Ärmeres/ Unter der Sonn’, als euch, Götter!«

Man muss sich Goethe als selbstbewussten jungen Mann vorstellen, als er diese Zeilen raushaute. Begonnen hat er die Hymne 1772, »Sturm und Drang« hieß nicht nur die Epoche. Und eines der Role Models jener Jahre war ein alter Grieche: Pindar (518–438 v. Chr.). »Ich wohne jetzt in Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Palasts glücklich machte, müsst’ ichs sein«, schrieb Goethe an Herder. Seinen Prometheus hätte es allerdings nie gegeben, wenn Goethe und Genossen nicht einem massiven historischen Irrtum aufgesessen wären. Und genau darum soll es in diesem Kapitel gehen. Um Irrtümer, die grandiose Folgen zeitigten – Scheitern mit Mehrwert.

Schon das antike Rom verehrte Pindar. Im späten 18. Jahrhundert dann galt er den Literaten des Sturm und Drang als ein Beispiel ursprünglichen, zügellosen Dichtens. Freie Verse wie der wilde Grieche wollte man schmieden, die Steifheit des Reims und der Metrik brechen. Was sind Jambus und Trochäus, Anapäst und Daktylus gegen die wie Blitze geschleuderten Worte eines jungen Genies! So dachte Herder, und so dachte auch Goethe, als er spätere Klassiker wie eben den Prometheus, Wandrers Sturmlied oder auch An Schwager Kronos zu Papier brachte. Die »Pindarische Ode« wurde zur Mode, mit der sich eine aufbegehrende Dichterjugend von den Altvorderen abzusetzen suchte.

Aber ganz so frei, wild und punkig war Pindar dann doch nicht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand man heraus, dass auch er strengen poetischen Regeln folgte. Die Illusionen waren dahin, aber die Gedichte in der Welt. Goethes irrige Annahme hatte eine neue Art von Lyrik befördert.

GEWÜRZE, SEIDE UND PORZELLAN

»Manchmal passiert ein Missgeschick, und es entsteht Schönes daraus«, hat der amerikanische Schriftsteller William Gass (1924–2017) einmal gesagt. Was auf Goethe zutrifft, gilt erst recht für Christoph Kolumbus. Seine weltbewegende Entdeckung Amerikas war das Resultat gleich einer ganzen Reihe von Irrtümern und Zufällen. Auf einen Seeweg gen Indien waren sie alle erpicht, die damaligen Handels- und Seefahrernationen, und der Mann aus Genua wollte sie ihnen erschließen. Jahrelang jedoch war Kolumbus mit falschen Berechnungen hausieren gegangen. Sowohl in Portugal als auch zunächst in Spanien stieß er auf taube Ohren. Erst als Königin Isabella von Kastilien im Kampf gegen das muslimische Granada das Geld ausgegangen war, bekam Kolumbus seine Chance. Der Import von Gewürzen, Seide und Porzellan mittels Schiffen, unter Umgehung von Zöllen und Zwischenhändlern, versprach gigantische Gewinne.

Glückliche Fügungen erschlossen Kolumbus eine schiffbare Westroute über den Atlantik. Wochenlang war die Santa Maria unterwegs. Die Vorräte gingen zur Neige, die Stimmung an Bord schwankte zwischen Lethargie und Aufruhr. In der Nacht zum 12. Oktober 1492 jedoch hieß es plötzlich »Land in Sicht«. Aber was eigentlich Indien hatte sein sollen, waren in Wirklichkeit karibische Inseln – die Kolumbus wiederum für Japan hielt. Und damit nicht genug. Bis zu seinem Tod wollte der Genuese nicht wahrhaben, dass er wirklich einen neuen Kontinent entdeckt hatte. Die Tragweite seiner Reise, dieses epochale Ereignis der Menschheitsgeschichte, war ihm nie bewusst. Beinahe tragikomisch mutet es vor diesem Hintergrund an, dass die Geschichtsforschung ihm den posthumen Titel des Entdeckers von Amerika tatsächlich wieder abnahm. In den 1960er-Jahren entdeckte man Siedlungsspuren von Europäern im heutigen Neufundland. Leif Erikson und seine Wikinger waren schon 500 Jahre vor Kolumbus auf amerikanischen Boden getreten.

Kolumbus’ Starrsinn hinderte seine Zeitgenossen nicht daran weiterzuforschen. 1497/98 umsegelte Vasco da Gama das Kap der Guten Hoffnung und fand den östlichen Seeweg nach Indien. Ferdinand Magellan brach 1519 zur ersten bekannten Umsegelung der Welt auf. Die ebenfalls von zahllosen Zufällen begleitete Reise erbrachte en passant den endgültigen Beweis einer Hypothese, die damals ohnehin kaum noch umstritten war: dass die Erde eine Kugel sei.

»DIE DREI PRINZEN VON SERENDIP«

Etwas finden, wonach nicht gesucht wurde: In Fachkreisen spricht man in solchen Fällen von »Serendipität«. Eingeführt wurde der Begriff durch den britischen Schriftsteller Horace Walpole (1717–1797). Beim Stöbern in seiner Bibliothek hatte der 4. Earl of Oxford ein Wappen entdeckt, das identisch war mit jenem auf einem seiner Gemälde. So erfreut wie erstaunt, machten seine Synapsen Luftsprünge und landeten bei einem Märchen, dass Horace als Kind gelesen hatte: Die drei Prinzen von Serendip (Letzteres der alte Name für Sri Lanka). Es handelt von drei Königssöhnen, die auf Reisen gehen, seltsame Entdeckungen machen und daraus noch seltsamere Schlüsse ziehen. Offenbar hatte dem kleinen Earl bereits damals imponiert, welche Umwege das Glück manchmal nimmt. Nun, als Erwachsener, gab er dem Phänomen einen Namen: Serendipität.