Kein Mord wie jeder andere - Karin Köster - E-Book

Kein Mord wie jeder andere E-Book

Karin Köster

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Anstatt sich mit den anderen Bewohnern der Seniorenwohnanlage dem Klatsch und Tratsch hinzugeben, joggt Martha Millers lieber am Bremerhavener Weserdeich oder hilft einem Freund im Bestattungsinstitut aus. Doch wenn die Spürnase der patenten Siebenundsechzigjährigen Witterung aufnimmt, gibt es kein Halten mehr. Sie löst Mordfälle auf ihre eigene, chaotische Weise – was ihrem Sohn, dem Kriminaloberkommissar, ganz und gar nicht in den Kram passt. Diesmal ist ihre Freundin Elfriede in ein grausames Verbrechen verwickelt, also setzt sie alles daran, den wahren Schuldigen zu finden. Handelt es sich bei dem Frauenmörder um einen Serientäter? Martha Millers zieht alle Register und schreckt auch vor körperlichem Höchsteinsatz nicht zurück. Sie hätte die Seestadt im Nordwesten längst zu einem sicheren Ort gemacht, würden die Männer in ihrem Leben sie bloß nicht immer ausbremsen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 428

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kein Mord wie jeder andere

Ein Fall für Martha Millers

Kriminalroman aus der Seestadt Bremerhaven

Karin Köster

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 © 2023 Karin Köster

3. überarbeitete Auflage

1. Auflage 2009 Schardt Verlag, Oldenburg

Cover: Marcus Friedeberg nach einer Vorlage von Svetlana Kail

Mehr von Karin Köster:

Wer zweimal stirbt, dem glaubt man nicht

Männer unerwünscht

Lass beim Sex die Socken an

Schnittenfänger

Spürnase

Puppenhaus

Verrückt vor Glück

Verflixt verliebt

Film ab für die Liebe

Ein Tierarzt zum Verlieben

www.facebook.com/koester.karin

1

Ich rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. Meine Haut war von einem dünnen Schweißfilm bedeckt und ich spürte, dass das Baumwollshirt unter dem signalroten Jogginganzug an meinem Körper klebte. Trotz einer Temperatur nahe dem Gefrierpunkt glühte mein Gesicht vor Hitze.

Ein Mann im langen Mantel mit aufgestelltem Kragen kam mir entgegen. Schon von weitem sah ich, dass seine Nase und Wangen von der Kälte gerötet und die Haare vom Seewind zerzaust waren. Als er meiner gewahr wurde, verließ er den schmalen, gepflasterten Gehweg des Deiches und wich aufs Gras aus.

Ich beendete meinen Hundertmetersprint und passierte den Spaziergänger im gemäßigten Joggingtempo. Ein rostbraunes Frachtschiff glitt neben uns durch die schiefergraue Weser und zog eine schäumende Schneise in die Wasseroberfläche. Flüchtig streifte ich den Blick des Mannes, als plötzlich eine Möwe über unseren Köpfen ein durchdringendes Kreischen ausstieß. Mir stockte der Atem und eine eiskalte, stählerne Faust griff nach meinem Herz.

Das konnte nicht wahr sein! Völlig unmöglich… Es waren nur Sekundenbruchteile, während derer ich ihm ins Gesicht geschaut hatte, dennoch gefror mir das Blut in den Adern: Ich hatte in die schwarzen Augen eines Mannes gesehen, der mir einst hasserfüllt gedroht hatte, mich bei unserer nächsten Begegnung umzubringen.

Wenn ich den Sprint schon sehr schnell gelaufen war – jetzt raste ich los wie eine Irre. Ein mächtiger Adrenalinschub mobilisierte meine Restreserven und ließ mich den nächsten, einsamen Kilometer Deichweg in Rekordgeschwindigkeit bewältigen.

Statt die steinernen Stufen zu nehmen, lief ich den steilen Deich hinunter. Ich strauchelte, überschlug mich und rutschte auf dem Hosenboden das nasse Gras hinunter, sprang wieder auf und rannte weiter. Mein Herzschlag donnerte in meinen Ohren und ich spürte, wie meine Brust eng wurde. Ich traute mich nicht, einen Blick über die Schulter zu werfen.

Auf dem Parkplatz am Fuße des Deiches standen drei herrenlose Autos. Ich tippte auf den BMW älteren Baujahrs. Schwarzgetönte Scheiben, tiefer gelegt, Auspuffrohre wie Schornsteine – das war sein Stil. Ich hatte nicht mehr lange zu leben, wenn er sich ins Auto setzte und mich damit verfolgte.

Der Mülleimer aus Eisengeflecht unterhalb der Informationstafel über die heimische Fauna hing nicht mehr in seiner Halterung, sondern lag kopfüber auf dem grauen Pflaster. Bierdosen rollten auf der Erde hin und her, eine McDonalds-Papiertüte wehte über den Asphalt.

Zwei hohe Windräder ragten vor mir auf, sie drehten sich wie verrückt in der immerwährenden Brise und machten dabei ein mechanisch schleifendes Geräusch. Hier begann die Straße Am Luneort, die einzige und nur mäßig befahrene Verbindung zwischen dem Seedeich und dem Gewerbegebiet Bohmsiel in Wulsdorf, Bremerhavens südlichem Stadtteil, in dem ich zu Hause war.

Meine Joggingschuhe flogen über den gelben, feinen Kies des Radwegs. So sehr ich mich auch bemühte, das stoppelbärtige, graue Gesicht mit den eingefallenen Wangen aus meinem Gehirn zu vertreiben, es gelang mir einfach nicht. Ich dachte an das kurze, überraschte Aufflackern, als sich unsere Blicke begegnet waren und schlussfolgerte, dass er mich ebenfalls erkannt hatte. Mir wurde speiübel. Warum trieb sich der Kerl an diesem sonnigen, kalten Novembermorgen auf dem Weserdeich in Bremerhaven herum? Und warum, in Gottes Namen, saß er nicht mehr im Gefängnis?

Vor sieben Jahren hatte ich dafür gesorgt, dass Lonzo Zacharias niemandem mehr etwas zuleide tun konnte. Damals hatte er seine Mutter Luise, eine an Diabetes leidende Siebzigjährige, kaltblütig und auf grausamste Weise ermordet. Geschickt hatte er die Polizisten für sich eingenommen, so dass diese den vermeintlichen Indizien für einen Einbruch und Lonzos Unschuldsbeteuerungen geglaubt hatten.

Doch er hatte die Rechnung ohne Martha Millers gemacht. Dank meiner hartnäckigen Ermittlungstätigkeiten war Zacharias im Knast gelandet – auf Nimmerwiedersehen, wie ich gehofft hatte.

Wenn er tatsächlich mit dem Auto zum Deich gefahren war und die Verfolgung aufnahm, wäre ich jetzt leichte Beute für ihn, denn der Luneort zog sich ellenlang durch die Einsamkeit. Er konnte mich in aller Seelenruhe erschießen oder überfahren oder all die Dinge mit mir tun, die seinem kranken Hirn gerade in den Sinn kamen.

Der eigentümlich schale Geruch der Kläranlage überlagerte die klare, salzige Seeluft. Ich rannte am Regionalflughafen vorbei und erblickte dort keine einzige Menschenseele. Die Parkplätze sowohl für Gäste des Restaurants als auch für Passagiere waren leergefegt. Vermutlich ging heute kein Flieger in die Luft und man sperrte die Gaststättentür deshalb gar nicht erst auf. Es kam mir vor, als sei ich der einzige Mensch auf dieser Welt.

Ich lauschte angestrengt, was bei meinem keuchenden Atem nicht ganz so einfach war. Täuschte ich mich oder nahte von hinten ein Auto? Jetzt wünschte ich mir, ich wäre der einzige Mensch, denn ich würde lieber bis in alle Ewigkeit mutterseelenallein durch die Einöde joggen, als in die Gewalt eines Zombies zu geraten.

Leider irrte ich mich nicht, ich hörte den Wagen jetzt ganz deutlich. Er war direkt hinter mir, verlangsamte das Tempo und der Fahrer schaltete einen Gang zurück. Ich kniff die Augen zusammen wie ich es als Kind getan hatte, als ich meinte, dadurch unsichtbar zu werden, und wünschte mir nichts sehnlicher herbei als mein Verteidigungsspray. Doch das lag nichts ahnend zuhause in meiner Handtasche.

Kurzzeitig erwog ich, an einer der mannshohen Holztüren, mit denen sich die Kleingartenbesitzer an der Lune zur Straße hin gegen neugierige Blicke abschirmten, zu rütteln und dabei um Hilfe zu schreien. Dann fiel mir ein, dass mitten im November vermutlich sowieso niemand den Rasen mähte oder sein Paddelboot zu Wasser ließ. Ich würde nur kostbare Zeit vergeuden.

Das Auto hielt sich dicht hinter mir, hatte sich meinem Tempo angepasst. Der Motor lief unrund, der Auspuff röchelte und spuckte. Vor meinem geistigen Auge erschien Lonzos hämisch grinsende Fratze hinter einem Sportlenkrad, das kleiner als sein Handteller war. Tränen der Verzweiflung stiegen mir in die Augen, ich betete still das Vaterunser.

Der Sportboothafen lag verlassen da. Weder die Segelboote noch die dazugehörigen Menschen waren zu sehen und auch das Holzhäuschen, aus dem sonst Aal verkauft wurde, war verrammelt.

Doch was war das? Gott hatte mein Gebet erhört und schickte mir Hilfe! Meine Tränen der Verzweiflung wurden zu Tränen der Freude und unendlichen Dankbarkeit und rannen nun hemmungslos über meine Wangen. Von vorn näherte sich in der lang gezogenen Kurve ein Betonmischer. Zischend ließ er Druckluft ab, schaltete einen Gang hoch und rumpelte auf mich und meinen Verfolger zu. Ich riss beide Arme in die Luft und winkte ihm zu wie eine Schiffbrüchige, während ich einen innerlichen Jubelgesang anstimmte: Nicht der skrupelloseste Verbrecher, auch nicht Lonzo Zacharias, würde am helllichten Tag unter den Augen eines Betonmischerfahrers einer unschuldigen Joggerin das Lebenslicht auspusten, oder?

Plötzlich beschleunigte das Auto hinter mir und brauste mit aufjaulendem Motor an mir vorbei. Es handelte sich um einen über und über mit grün-weißen Werder-Bremen-Aufklebern versehenen Opel Kadett mit doppelten Sportauspuffrohren und einem überdimensionalen Spoiler auf dem Heck. Ich bezweifelte zwar, dass Lonzo Werder-Fan war, doch wer auch immer diesen Wagen fuhr, ich atmete unendlich erleichtert seine Auspuffgase ein. Der Betonmischerfahrer tippte auf die Hupe und winkte mir fröhlich zu, sein Beifahrer zeigte mir einen Vogel.

Vielleicht fuhr Lonzo überhaupt keinen Wagen und hatte den Deich von der Doppelschleuse aus zu Fuß erreicht, überlegte ich, und versuchte mich damit zu beruhigen. Ich malte mir aus, wie er den ganzen Deichweg wieder zurück latschen musste, um den für eine Verfolgung nötigen fahrbaren Untersatz zu bekommen, während ich längst über alle Berge war.

Dass ich Lonzo tatsächlich glücklich entkommen und jetzt in Sicherheit war wurde zur Gewissheit, als ich endlich die Zivilisation erreichte. An der Kaufland-Tankstelle standen die Autos Schlange und ich begegnete auf dem Gehweg einer mit diversen Einkaufstüten beladenen Frau. Ihr Mund bildete ein auf dem Kopf stehendes U und sie blickte dermaßen mürrisch drein, als sei ihr gerade ein Bus über den Fuß gefahren. In meinem freudigen Überschwang wäre ich ihr beinah um den Hals gefallen, bedeutete ihre Gegenwart doch gleichzeitig meine Rettung aus Lebensgefahr.

In Höhe des Ruck-Zuck-Selbstabholer-Möbelmarktes hatte ich mich soweit beruhigt, dass ich mein Tempo auf langsamen Dauerlauf reduzierte. Ich erreichte die Weserstraße, und bemühte mich jetzt auch nicht mehr bei jedem vorbeifahrenden Auto, einen Blick auf das Gesicht des Fahrers zu werfen.

Ich musste sofort herausfinden, warum Lonzo nicht mehr im Gefängnis war! Hatte man ihn wegen guter Führung vorzeitig entlassen? Undenkbar. War er geflohen? Dann würde ich alles daransetzen, ihn wieder hinter Gittern zu bringen! Ob er wusste, wo ich jetzt wohnte? Ich seufzte auf. Es war ein Leichtes, eine Adresse herausfinden und für einen Kerl wie Lonzo weniger als ein Kinderspiel. Er würde mich ausfindig machen und dann gnade mir Gott!

Als der rote Backsteinbau mit seinen gepflegten Rasenflächen, geschwungenen Wegen und Gaslaternen-Imitaten in meinem Blickfeld auftauchte, fiel ich in Schrittgeschwindigkeit. Ich holte die Stoppuhr aus meiner Hosentasche und drückte auf den Knopf. Fünfzehn Kilometer Dauerlauf, dazwischen drei Hundertmetersprints, und zum Schluss dieses irrsinnige Gerenne lagen hinter mir, und ich hatte nur eine knappe Stunde gebraucht. Ich genoss das erhebende Gefühl, das sich einstellt, wenn man seinen Körper bis an die Grenzen gefordert hat, und freute mich auf eine erfrischende Dusche.

Bevor ich die gläserne Eingangstür des Wohnblocks aufstieß, wappnete ich mich mit einem tiefen Atemzug gegen die Duftwolke aus Birken-Haarwasser, Franzbranntwein, Mottenkugeln und Bohnerwachs, die mir gleich entgegenschlagen würde.

Ich passierte das gläserne Kabuff von Richard Knülle, der neben seinem Hausmeisterposten auch so eine Art Pförtnertätigkeit in der Wohnanlage versehen sollte, doch wie üblich war der Glaskasten leer.

Schon stand ich im geräumigen Hausflur, dem die Wohnungsgesellschaft großspurig den Titel Foyer verpasst hatte. In Wirklichkeit handelte es sich um den Eingangsbereich einer Seniorenwohnanlage, wo rund um die Uhr mindestens eine Handvoll Bewohner herumlungerten. Sie hielten die kunstledernen Sitzflächen der Stühle warm, die wie in der Wartezone des Einwohnermeldeamtes nebeneinander aufgereiht waren. Beim Eintreten wurde man beäugt wie ein zum Verkauf stehender Gebrauchtwagen.

Hannelore Guggenfink, deren Gesichtshaut zerknittertem Pergamentpapier glich, auf dem sich unzählige braune Flecken angesiedelt hatten, war zweiundneunzig und trug eine glänzende, tiefschwarze Mireille-Matthieu-Perücke. Sie hielt sich nicht lange mit Begrüßungsfloskeln auf. Wenn auch nur die belangloseste Kleinigkeit die tägliche Monotonie durchbrach war es an ihr, die Neuigkeit kundzutun.

„Hast du die neue Pflegerin schon gesehen, Martha?“

Sie wartete eine Antwort gar nicht erst ab, so sehr brannte es ihr unter den Nägeln.

„Sie heißt Grazina und kommt aus Polen! Das Mädchen spricht fließend Deutsch, da glaubt man gar nicht, dass sie aus einem anderen Land stammt!“

Wilhelmine Germascheck schüttelte den Kopf, dass die kleinen, weißen Pudellöckchen nur so flogen, doch ich wertete diese Geste nicht als Beitrag zum Thema. Wilhelmine war etwa einen Meter fünfzig groß mit einer Figur wie ein Fußball und auffallend roten Wangen. Seit ein paar Jahren litt sie an Parkinson und deshalb schüttelte sie fast den ganzen Tag lang den Kopf. Wenn sie sich aufregte, konnte sich dieses Phänomen um ein Vielfaches steigern.

Im Vorbeigehen blieb mein Blick an einem unglaublich dicken Mann hängen, der zusammengesunken auf einem der Stühle hockte. Sein rot-weiß-kariertes Baumwollhemd war bis in den allerletzten Winkel mit Körpermasse ausgefüllt, und die blanken Kunststoffknöpfe standen kurz davor, sich auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden. Der Hals vom Umfang eines Kanalisationsrohrs hatte das stoppelbärtige Kinn verschluckt und ruhte in mehreren Lagen über dem Hemdkragen. Seine beige Feincordhose hatte einen halben Meter rund um den Schritt einen dunkleren Farbton angenommen.

„Ernst ist da ein kleines Malheur passiert“, klärte mich Albert auf, der meinem Blick gefolgt war. Nur noch eine Handvoll weißer Härchen zierten seinen ansonsten kahlen Schädel, er hatte ein glattes, rundes Kinn und klare, leicht amüsiert blickende, hellblaue Augen. Trotz seiner einundachtzig Lenze war Albert der mit Abstand hellste Kopf im Empfangskomitee.

Ernst hatte die Augenlider geschlossen und aus seinem offenen Mund drangen halblaute Pfeifgeräusche.

„Puh!“ machte ich, schlug einen Bogen um den schlafenden Mann und fächelte mir Luft zu, „der gehört gründlich gewaschen und trockengelegt.“

„Mein Reden“, pflichtete Albert mir bei und blinzelte verschmitzt. Albert war vierzehn Jahre älter als ich und hatte einst nur wenige Meter von meinem Elternhaus entfernt gewohnt. Als Achtjährige hatte ich heimlich dabei zugesehen, wie er die nimmersatte Gudrun in einem halb zerfallenen Schuppen am Wulsdorfer Bahndamm herkriegte. Während andere Mädchen in meinem Alter noch nicht den blassesten Schimmer hatten, war ich dank Albert schon frühzeitig bestens aufgeklärt.

„Er war gestern Abend betrunken und nun hat er seinen Piephahn nicht im Griff!“ schimpfte Berta Koppstein, die kurz vor ihrem Fünfundsiebzigsten stand und sich ausschließlich in rosa- oder lilafarbenen Strickwaren kleidete.

„Soll vorkommen“, erwiderte ich und zwinkerte Albert zu, als ich weiterging.

„Für ne Pflegerin ist er zu geizig!“ hörte ich Hannelore Guggenfink wettern.

„Dann muss er Vorlagen benutzen!“ ging die Diskussion weiter. Wie immer ignorierte ich den Fahrstuhl. Während ich zwei Stufen auf einmal nehmend zum zweiten Stockwerk hinauf sprang, und die Stimmen hinter mir verklangen, fragte ich mich wieder einmal, warum das Schicksal mich hierher verschlagen hatte.

Seit einem halben Jahr lebte ich in der seniorengerechten Wohnanlage Eichengrund, die in drei Blöcken U-förmig um die Endstation, das Pflegeheim, errichtet worden war. Gleich nebenan befand sich der Seniorentreffpunkt Miteinander, ein Flachdachbau, der Austragungsort von Mensch-ärgere-dich-nicht-Turnieren, Sing- und Bastelnachmittagen war.

Eichengrund war erst im vergangenen Jahr aus dem Boden gestampft worden und modern mit apricot-farbenen Wänden, Türen aus Buchefurnier, kurzflorigen Teppichen und Müllschlucker ausgestattet. So weit so gut, wenn es sich nicht um eine Senioren-Wohnanlage gehandelt hätte. Mit Vierundzwanzig-Stunden-Notrufknopf in jeder Zimmerecke und sämtlichen Pflege- und Betreuungsdiensten, die sich der Bewohner nach Bedarf und Liquidität wie ein Menü zusammenstellen konnte. Derlei Dinge waren für mich vollkommen überflüssig.

Ich bin siebenundsechzig und verabscheue nichts so sehr wie das Altwerden. Gebrechen, Gejammer und Gehhilfen sind mir zuwider. Und hier, in diesem Haus, wurde ich genau damit tagtäglich konfrontiert.

Schuld an dieser Situation war einzig und allein mein Fernseher, der eines Nachts zu einer Bombe mutiert war und meinem kleinen Häuschen den Flammentod bescherte. Statt eines Eigenheims besaß ich plötzlich nur noch einen großen Haufen Asche und einen überschwemmten Vorgarten.

Der Wohnkomplex Eichengrund war gerade fertig gestellt worden, befand sich gleich um die Ecke und bot mir praktischerweise augenblicklich eine neue Bleibe. In Bremerhaven, der schönsten deutschen Stadt an der Nordsee, gab es zwar ein überschaubares Angebot an Miet- und Eigentumswohnungen, seitdem keine amerikanischen Soldaten mehr hier stationiert waren. Allerdings nicht in meinem Heimatstadtteil Alt-Wulsdorf.

Zu diesem Wulsdorfer Viertel rund um die altehrwürdige Dionysiuskirche und den Jedutenberg gehörten nur ein halbes Dutzend schmale Straßen. Hier bestimmten vereinzelte reetgedeckte Bauernhäuser neben soliden Siedlungshäusern, uralte Eichen und Kastanien und zum Teil sehr altes Kopfsteinpflaster das Straßenbild. Die Anwohnerschaft war eine bunte Mischung aus alteingesessenen Rentnern, jungen Familien, Fischwerkern, Hausfrauen, Werftarbeitern und ein paar Besserverdienern. Ich kannte jeden Einzelnen persönlich und wollte mein Lebtag nirgendwo anders wohnen.

Nach dem Brand hatte meine Schwiegertochter mir spontan angeboten, in ihren vier Wänden zu nächtigen. Ebenso spontan hatte ich abgelehnt und eine Wohnung im Eichengrund gekauft.

Der Pluspunkt meiner jetzigen Behausung war die Größe von sechzig Quadratmetern Wohnfläche. Von jeher eine lausige Hausfrau und ebensolche Gärtnerin, war ich meinem Fernseher sogar ein kleines bisschen dankbar, dass er mich von Haus und Grundstück befreit hat. Wenn ich nur nicht in einem verdammten Altersheim gelandet wäre!

Die Wohnungstür fiel hinter mir ins Schloss und ich befand mich sogleich im Wohnzimmer. Die Raumaufteilung war dem amerikanischen Wohnstil nachempfunden und wirkte modern und großzügig.

Durch das große Fenster, welches von leichten, sandfarbenen Vorhängen eingerahmt wurde, bahnte sich die Herbstsonne ihren Weg. Um einen niedrigen Teakholztisch gruppierten sich zwei Sessel und die beiden Couches aus weichem, hellem Stoff, bestückt mit bunten Kissen und einer flauschigen Wolldecke. Auf dem Fußboden lag eine grüne Frotteesocke und ein Buch mit dem Titel: „Die Dreikaiserschlacht von Austerlitz“, das den Einband der Stadtbibliothek trug. Eine halbvolle Rotweinflasche stand auf dem Tisch neben einem Glas, das auf der Platte mehrere kreisrunde Abdrücke hinterlassen hatte.

Das Esszimmer war in einer Nische im Wohnzimmer gleich neben der Küche untergebracht. Ich nutzte die dunkel gebeizte Sitzgruppe nur zu besonderen Anlässen wie meinem Geburtstag, als mein Sohn Bernd samt Gattin bei mir aufgeschlagen war.

Im Vorbeigehen warf ich einen Blick in den großen ovalen Spiegel, der von einem goldenen, reich verzierten Rahmen umgeben war, welcher beinah kitschig anmutete. Aber nur beinah - der Grat zwischen Kitsch und Kunst ist ja bekanntlich sehr schmal.

Ich grinste meinem Spiegelbild zu und fand wie immer, dass mein Mund zu breit war. Nicht extrem breit, aber doch eben eine Spur zu breit. An meiner Nase gab’s nichts auszusetzen, sie ist gerade und weder groß noch klein. Das Schönste an mir sind meine Augen: Sie sind hellgrau und von solcher Intensität, dass manche Menschen Schwierigkeiten haben, meinem Blick standzuhalten. Wenn ich zornig bin verdunkelt sich die Iris um einige Nuancen und gleicht einem aufziehenden Unwetter.

Meine Haare reichten mir bis zu den Schultern – zeitlebens konnte ich mich nicht für einen praktischen Kurzhaarschnitt erwärmen. Bis vor einigen Jahren waren sie hellbraun mit einem leicht goldigen Schimmer. Mittlerweile half ich der Natur in regelmäßigen Abständen mit Haartönungen auf die Sprünge, weil sich ein Alte-Leute-Grau dort breit zu machen drohte.

Bei einer stattlichen Größe von eins zweiundsiebzig war ich schlank mit einem leider kaum vorhandenen Busen. Meine Beine waren zum Glück bisher von Besenreiser-Inseln und Krampfadern verschont geblieben, was möglicherweise daher rührte, dass ich eine ausdauernde Läuferin war.

Ich hatte den letzten Seestadt-Halbmarathon in meiner Altersklasse gewonnen! Die Konkurrenz war zwar nicht sehr groß - genau genommen war ich die einzige siebenundsechzigjährige Frau - jedoch bin ich die gesamten einundzwanzig Kilometer gelaufen und nicht wie Rudolf Odenthal, der Busfahrer, eine halbe Stunde vor dem Ziel zusammengebrochen. Zum Zeitpunkt der Siegerehrung lag Rudolf im Krankenhaus unterm Sauerstoffzelt und das, obwohl er zwanzig Jahre jünger war als ich.

Ich warf meine Sweatjacke auf einen Sessel und ging in die Küche. Das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem kleinen, runden Tisch, der mit Krümeln übersät war. Die Salami aalte sich in der Sonne und rollte sich wohlig an den Enden auf.

Noch immer hatte ich den miefigen Geruch aus dem Hausflur in der Nase und so trat ich ans Fenster und ließ frische Luft herein. Im Haus gegenüber hatte Ursel Sengstaken ihr Fenster ebenfalls ganz geöffnet und es sich mit einem Kissen unter den aufgestützten Armen und dem abgelegten Busen bequem gemacht. Ich schwor mir, niemals meine Freizeit auf diese Art zu verbringen und trat gerade energisch einen Schritt zurück, als ich meine Freundin Elfriede den Bürgersteig entlang hasten sah.

Sie trug eine blaue Kittelschürze, weiße Gesundheitssandalen und gelbe Gummihandschuhe. Das feine weißgraue Haar stand ihr in wirren Strähnen vom Kopf ab. Ihre Eile in Verbindung mit dem Outfit machte mich stutzig, und so ging ich zurück ans Fenster. Im gleichen Augenblick sah Elfriede hoch zu mir, blieb wie angewurzelt stehen und winkte mir so heftig zu, als ginge es um ihr Leben. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und ihr Gesicht von unnatürlich Blässe.

„Was ist los?“, rief ich hinunter.

Elfriede blickte sich nach allen Seiten hin um, wie jemand, der ein Geheimnis hütet. Schließlich formte sie die Hände zu einem Trichter und schrie mit schriller Stimme hindurch: „Martha! Es ist etwas Furchtbares passiert! Schnell, komm schnell runter!“

Ängstlich sah sie sich um, ob ihr Rufen außer mir noch jemand gehört hatte und erschrak: Diverse Gardinen in diversen Wohnungen waren beiseite gezogen worden. Nasen wurden an Fensterscheiben platt gedrückt. Die dicke Ursel von gegenüber beugte sich aus lauter Neugier so gefährlich weit über den Sims, dass ihr Busen wie ein überdimensionales Glockengeläut über der Brüstung hing. In meinem Viertel passierte selten etwas, da konnte sogar eine umgefallene Mülltonne schnell zur Sensation werden.

Ich bedeutete meiner Freundin, auf mich zu warten, schnappte mir die Sweatjacke von der Sessellehne, klemmte meine Handtasche unter den Arm, schoss aus der Wohnung, sprang die Treppe hinunter und war Augenblicke später neben ihr auf dem Gehweg.

Elfriedes Augen schwammen in Tränen, ihr Kinn zitterte und ihr Gesicht hatte die Farbe eines frisch gestärkten Bettlakens. Mit einem erstickten Seufzer ließ sie sich auf die nächste Bank fallen. Bänke gab’s in diesem Mekka der Gehbehinderten zuhauf.

Elfriede und ich kannten uns schon seit der Schulzeit. Meine Freundin war anderthalb Jahre jünger als ich und von jeher spindeldürr. Ihre braunen Augen huschten stets unruhig hin und her, als sei sie auf dem Sprung. Sollte Elfriede als Tier wiedergeboren werden, dann würde sie als Reh zur Welt kommen. Sie war unselbständig, hoffnungslos naiv, tief gläubig, und niemals würde ich sie überzeugen können, dass nicht alle Menschen gut und edel sind.

„Martha, stell dir nur vor: Charlotte Honnef ist tot“. Ein Zittern wie Schüttelfrost erfasste ihre magere Gestalt und sie schlug die Hände in den Haushaltshandschuhen vors Gesicht.

„Tot! Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen!“

Ich schon. Schließlich hieß einer meiner besten Freunde Knuth Gellermann und war von Beruf Bestattungsunternehmer.

„Nun, deine Chefin ist gestorben“, startete ich einen Versuch, das Häufchen Elend neben mir zu beruhigen. „Vielleicht musst du dir eine neue Putzstelle suchen, aber ansonsten…“

Irgendwie konnte ich ihre Aufregung nicht so ganz nachvollziehen. Schließlich ging Elfriede ihrer Reinemache-Tätigkeit mehr oder weniger aus Spaß an der Freud nach. Geld hatten sie und ihr Mann Heino höchstwahrscheinlich genug.

„Meine Arbeit ist doch jetzt gar nicht wichtig!“, presste Elfriede zwischen bleistiftdünnen Lippen hervor. „Ich weiß nicht…, was soll ich bloß machen?“

Hä? Irgendwie widersprach sie sich nun aber selbst. Ich setzte eine mitfühlende Miene auf und tätschelte unbeholfen ihren knochigen Arm.

Elfriede ließ die Hände sinken und wandte mir ihr tränennasses Gesicht zu. „Soll ich Feierabend machen und so tun, als hätt’ ich nichts gesehen?“

„Ja, aber, was hast du denn gesehen?“, rätselte ich.

„Dass Charlotte tot ist. Mausetot. Liegt in ihrem eigenen Blut auf dem Fußboden. Oh Martha, es ist… es ist einfach schrecklich!“ Elfriedes Schultern zuckten und sie schluchzte auf.

„Und das sagst du erst jetzt?“, rief ich und sprang auf. „Na los, komm schon!“ Ich ergriff ihre Handgelenke und zerrte sie von der Bank.

„Was hast du vor?“

„Na was schon? Deine Chefin angucken!“

„Nein, Martha, nein! Um alles in der Welt – ich will das nicht noch einmal sehen!“

Elfriede rammte ihre Gesundheitslatschen in den Bürgersteig wie ein störrisches Maultier, das sich weigert, einen einzigen Schritt zu tun.

„Brauchst du ja auch nicht. Aber ich muss mir das angucken!“

Widerstrebend setzte sich Elfriede in Bewegung, aber auch nur, weil ich mit aller Kraft an ihren Armen riss.

„Erst werde ich mir einen genauen Überblick verschaffen, später müssen dann weitere Schritte eingeleitet werden: Notarzt, Polizei, vielleicht sogar die Spurensicherung, Gerichtsmedizin…“, frohlockte ich. Ein wohliger Schauer der Vorfreude strömte wie eine warme Welle durch meinen Körper und verursachte ein Kribbeln auf meiner Haut. Ich liebe dieses Gefühl wie kein anderes.

„Martha, du bist meine beste Freundin, aber ich kann einfach nicht verstehen, warum du Tote interessant findest.“ Elfriedes Tonfall drückte unverhohlenen Abscheu aus.

„Das muss an meinen Genen liegen: Mein Großvater war Totengräber und meine Großmutter Leichenwäscherin“, entgegnete ich gutgelaunt.

„Aha“, machte sie, wenig überzeugt. Nach ein paar Metern bat sie eindringlich: „Würdest du bitte gleich bei der Polizei anrufen? Ich trau mich das nicht.“

„Selbstverständlich“, beruhigte ich sie.

Elfriede atmete erleichtert auf und beschleunigte endlich ihren Schritt. „Gut, dass ich zu dir gelaufen bin. Ich hab den ganzen Weg hierher gebetet, dass du mir helfen würdest, Martha. Ich kenne niemanden, der so patent ist wie du!“

In der verkehrsberuhigten Straße im Stadtteil Surheide standen moderne Bungalows in gesundem Abstand zu architektonischen Wunderwerken. Büsche und hohe Hecken sorgten dafür, dass weder die jeweilige Hausherrin beim Sonnenbaden noch ihr Gatte beim Nichtstun beobachtet werden konnten. Hier hielt man was auf sich und fuhr als Zweitwagen mindestens eine A-Klasse.

Familie Honnef bewohnte einen riesigen Winkelbungalow auf einem parkähnlichen Grundstück. Über einen geschwungenen Gartenweg aus grob behauenem Granit erreichten wir die massive Eichentür. Sie war angelehnt und ich stieß sie weit auf.

Noch vor dem Eintreten roch ich den Tod. Ich spürte, wie meine Sinneswahrnehmungen von Sekunde zu Sekunde immer sensibler wurden, und geriet wie gewöhnlich in solchen Situationen in einen Rauschzustand.

Gleich nachdem wir die mit italienischem Marmor geflieste Diele betreten hatten, setzte ich Elfriedes wehrlosen Körper in den nächstbesten Polstersessel. Dessen Muster aus Rattangeflecht wiederholte sich in dem niedrigen Telefontischchen, und der wiederum befand sich in dekorativer Nachbarschaft zu einer üppigen Stechpalme.

Elfriede sackte in sich zusammen wie eine achtlos dahin geworfene Schlenkerpuppe und ich folgte meinen Instinkten.

Mein Blick fiel auf eine gerahmte Fotografie, die ein gut aussehendes Paar mittleren Alters zeigte. Beide hatten jeweils einen Arm um die junge Frau in ihrer Mitte gelegt, die ein Abbild der Mutter war. Es war ein Bild aus glücklichen Tagen, die Personen lachten übermütig in die Kamera. Im Hintergrund waren tiefblaues Meer und hellblauer Himmel zu sehen. Ich ging weiter und der Geruch wurde stärker.

Die Leiche lag im palastähnlichen Wohnzimmer und starrte mit leerem Blick an die Zimmerdecke. Unter ihr befand sich ein großer, bunt gemusterter orientalischer Teppich. Er war schwarz von Blut.

Es handelte sich um eine zierliche Frau, kleiner als einen Meter sechzig mit einem Gewicht von höchstens fünfundvierzig Kilo. Sie wirkte zart wie ein junges Mädchen, fast zerbrechlich, und hätte vermutlich gegen einen nur halbwegs kräftigen Angreifer nicht den Hauch einer Chance gehabt.

Es bestand kein Zweifel, dass sie tatsächlich tot war, denn ich schätzte den Blutverlust auf mindestens zwei Liter. Trotzdem hockte ich mich neben die Frau und überprüfte gewissenhaft Puls und Atmung. Beides war nicht mehr vorhanden.

Ich holte einmal tief Luft, verlagerte mein Gewicht auf die Fußballen und drehte Charlotte behutsam auf die Seite. Vorsichtig schob ich das Plüschoberteil des türkisfarbenen, blutgetränkten Hausanzugs und die nur durch einen Gummizug gehaltene dazugehörige Hose so gut es ging hoch beziehungsweise runter und suchte auf der Rückseite der Frau nach Leichenflecken. Diese entstehen eine halbe bis eine Stunde nach dem Ableben an der aufliegenden Seite des Körpers, weil das Blut der Kapillargefäße nicht mehr transportiert wird. Ich wurde fündig und bettete Charlotte wieder auf dem Rücken, wie ich sie vorgefunden hatte.

Ich zählte sechs klaffende Wunden im linken und mittleren Brust- und Bauchbereich. Es handelte sich um schwalbenschwanzförmige Messerstiche, die entstanden waren, weil die Klinge zwischen Einstich und Herausziehen rotiert wurde. Der Täter war kein Profi, so viel stand für mich fest. Es sah so aus, als hätte er mehrmals wahllos auf sie eingestochen, bis Charlotte schließlich am akuten hämorrhagischen Schock infolge Verblutens nach innen in Körperhöhlen oder nach außen aus arteriellen beziehungsweise venösen Gefäßen gestorben war.

Behutsam strich ich das dunkel gelockte Haar der Frau zur Seite und stellte fest, dass die am stärksten beanspruchten Muskeln, der Unterkiefer und der Nacken, bereits erstarrt waren. Ihr Gesicht und ihre Hände fühlten sich glatt und kühl an, die Körperoberfläche wie der mit geronnenem Blut bedeckte Bauch war noch warm.

Ihre Erscheinung wirkte äußerst gepflegt. Die hellrosa lackierten Fingernägel waren nicht eingerissen - also war sie vermutlich kampflos überwältigt worden. Mit etwas Glück würde die Spurensicherung trotzdem etwas Brauchbares unter ihren Nägeln finden.

Bevor ich mich aufrichtete, zupfte ich Charlottes Kleidung und ihre Haare wieder zurecht. Wie bereits bei meinem Eintreten ließ ich die Szenerie noch einmal auf mich wirken und prägte mir jedes Detail im Zimmer ein. Von der Tatwaffe fehlte jede Spur.

Ich trat ein paar Schritte zurück und umkreiste und betrachtete die Leiche konzentriert aus jedem Blickwinkel. Nach ihrem Tod war sie etwa zwei Meter weit transportiert worden, das zeigten die blutigen Schleifspuren auf den Fliesen und dem Teppich. Die todbringenden Verletzungen hatte man ihr vor dem Kulissentisch zugefügt.

„Warum hat er sie hierher geschleift, statt sie einfach neben dem Tisch liegen zu lassen?“, fragte ich mich laut, überlegte einen Augenblick und antwortete mir dann:

„Möglichkeit eins: Mord im Affekt, also keine geplante Tat, wobei der Täter unter enormer psychischer Anspannung steht. Er sticht sie ab, glaubt, dass er sie dort nicht liegenlassen kann, weil jeder, der das Wohnzimmer betritt, sofort die Leiche sieht. Er will sie verstecken, also schleppt er die Tote ein Stück und stellt dann erschrocken fest, dass er eine Blutspur hinter sich herzieht. Deshalb lässt er sie wieder fallen.

Möglichkeit zwei: Geplanter Mord. Der Täter hat Charlotte möglicherweise deshalb so platziert, weil er etwas Bestimmtes aussagen will. Vielleicht hat dieser Platz für ihn eine besondere Bedeutung?“

Das Wohnzimmer der Honnefs hatte eine stattliche Größe von rund fünfunddreißig Quadratmetern. An der rechten Seite befanden sich vor einem rustikal gemauerten, offenen Kamin, weinrote Clubsessel aus weichem Leder. Auf einem antik anmutenden Beistelltischchen standen ein sauberer kristallener Aschenbecher, ein Benzinfeuerzeug mit Kristallfuß und ein Trockengesteck in Pastelltönen. An den cremeweiß getünchten Wänden hingen zwei übergroße Drucke von Werken der Worpsweder Künstlerin Paula Modersohn-Becker.

Das weitere Mobiliar bestand aus einer Serie verschieden hoher, blank polierter Mahagonischränkchen, die mit Vasen, einem chinesischen Teeservice, mehreren in Leder gebundenen Büchern und einer antiken Standuhr im Miniaturformat dekoriert waren. Der massive Kulissentisch mit zwölf Stühlen stand vor der Fensterfront. Auf der glänzend blanken Tischplatte entdeckte ich zwei einzelne, aufwändig verpackte Marzipan-Amaretto-Pralinen mit der kunstvollen Aufschrift Je t’aime.

Ich betrachtete die erlesenen Süßigkeiten und plötzlich wurde mir bewusst, wie hungrig ich war. Ich hatte in aller Früh eine Scheibe Toast gegessen und jetzt war es nach elf. Also wickelte ich eine Praline aus, stopfte sie mir in den Mund und das Papier in meine Hosentasche.

Zart zerrann die Schokolade in meinem Mund. Ich schmeckte Schnapsgetränktes Marzipan und stieß auf eine winzige Haselnuss in der Mitte. Köstlich!

Während ich auch die zweite Praline genoss, ließ ich das Wohnzimmer weiter auf mich wirken.

Der mit feinen Schnitzereien verzierte Sekretär zog mich magisch an. Ich öffnete die Klappe und nacheinander sämtliche Schubladen. Nachdem ich etwa eine halbe Stunde lang Papiere und Korrespondenz gesichtet hatte, wusste ich über einige Privatangelegenheiten des Opfers und seiner Familie gut Bescheid. Ein mittels einer Heftlasche zusammengehaltenes Dokumentenbündel, welches versteckt unterhalb einer Schublade gelegen hatte, verstaute ich in meiner Handtasche.

Die restlichen Papiere legte ich zurück an ihren Platz, schloss den Deckel des Schreibtischs und trat hinaus in die Diele. Elfriede saß noch genauso auf dem Sessel, wie ich sie zurückgelassen hatte. Als sie meiner gewahr wurde, hob sie den Kopf und sah mich an.

„Und?“, piepste sie.

„Sie wurde heute Morgen getötet.“

„Heute Morgen? Um Gottes Willen, da wäre ich dem Mörder ja beinah in die Arme gelaufen! Ich war um acht Uhr hier…“

„Hast du etwas Außergewöhnliches bemerkt?“

„Nein.“ Elfriedes rehbraune Augen flogen unruhig von einer Zimmerecke in die andere. „Jedenfalls nicht, bevor ich Charlotte fand. Ich hab die Haustür aufgeschlossen, denn die Honnefs sind zur Arbeit, wenn ich komme. Wie immer habe ich im Obergeschoss mit dem Schlafzimmer angefangen, dann habe ich das Bad geputzt, das Gästezimmer, in dem früher Veronika wohnte, die Treppe, die Diele, und als nächstes wollte ich das Wohnzimmer… Bis dahin war alles so, wie jeden Montag.“

„Hast du irgendwelche Spuren in der Diele gesehen? Fußabdrücke?“

„Meinst du etwa Blut? Blutige Schuhabdrücke?“, quiekte Elfriede. Sie bekreuzigte sich dreimal.

„Nein“, keuchte sie, „da war nur etwas Staub und Sand, wie immer.“

„Und letzte Woche? Ist dir da was aufgefallen? War etwas anders als sonst?“

Elfriede wirkte erschöpft und machte den Eindruck, als hätte sie Mühe, sich zu konzentrieren. „War es vergangenen Montag? Ja… Als ich das letzte Mal hier war, lag Charlotte krank oben im Bett. Sie hatte sich einen Virus eingefangen. Ich habe alle Räume außer dem Schlafzimmer sauber gemacht.“

„Hast du Charlotte gesehen?“

„Ja, kurz. Sie rief mich zu sich herein und bat mich, ihr einen Pfefferminztee zu kochen. Das tat ich und mittags, als ich fertig war, verabschiedete ich mich von ihr. Oh, sie war wirklich sehr krank. Hat richtig gekrächzt beim Sprechen, die Ärmste, und ein ganz rotes Gesicht. Sie bedankte sich für meine Mühe… Charlotte war immer sehr freundlich.“ Tränen sammelten sich in Elfriedes Augen, formierten sich zu kleinen Rinnsälen und liefen über ihre Wangen. Sie blinzelte.

„Rufst du jetzt endlich die Polizei an? Ich will nach Hause. Stell dir bloß mal vor, der Mörder kommt zurück! Vielleicht hat er was vergessen!“, schluchzte sie verzweifelt und machte Anstalten, sich vom Sessel zu erheben, doch ich war schneller und schubste sie zurück ins Polster.

„Bevor ich die Polizei anrufe, muss ich schnell das Haus durchsuchen. Wenn die Meute hier erst einfällt, sind ruck-zuck alle Spuren verwischt.“

Elfriedes Blick drückte Unbehagen aus und sie hob protestierend die Hand, aber ich hatte die Treppe schon halb erklommen. Während der nächsten Stunde durchkämmte ich Zimmer für Zimmer, riss Schranktüren auf und stöberte in Schubladen herum.

Zu guter Letzt stellte ich das Schlafzimmer auf den Kopf. Ich ging systematisch vor und war hochzufrieden, als ich schließlich fertig war und die Treppe hinunterging.

Ein entsetzter Aufschrei ließ mich jäh innehalten.

„Mama!“

Verdammt, ich hätte es wissen müssen! Warum nur hatte ich Elfriede allein neben dem Telefon sitzen lassen? Die Zeit, während der ich eifrig Detektiv gespielt hatte, war ihr gewiss wie eine Ewigkeit erschienen.

„Bernd! Na das nenne ich eine Überraschung!“ rief ich mit glockenheller Stimme. Ich straffte meine Schultern, spannte die Handtasche wie in einen Schraubstock zwischen Rippen und Oberarm, stieg die verbliebenen Stufen hinab und empfing meinen Sohn, Herrn Kriminaloberkommissar Bernd Millers, so würdevoll, als sei ich hier zu Hause.

Dessen Gemüt entsprach normalerweise dem eines Schafs während der Tiefschlafphase, doch heute schien er sich arg zu beherrschen, um mir nicht an die Gurgel zu springen.

„Was machst du hier, in Gottes Namen? Dies ist ein Tatort!“ schrie er wutentbrannt. Die Frage war rein rhetorischer Natur und er hätte sie sich schenken können. Er kannte die Antwort, denn er kannte mich - seine Mutter.

Statt einer Entgegnung lächelte ich ihn deshalb nur treuherzig an.

„Scheiße! Verkackte Oberscheiße!“

brüllte er, die Augen zu Schlitzen verengt. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und ich sah die Fingerknöchel weiß hervortreten. Wäre er nicht mein Sohn so hätte ich geglaubt, er wolle mich schlagen.

„Wahrscheinlich finden sich jetzt im ganzen Haus deine Fingerabdrücke! Hast du die Leiche etwa auch angefasst?“ spie er so heftig, dass winzige Speicheltröpfen in meine Richtung flogen. An den Arzt und seine Kollegen, die in Hörweite ihren Aufgaben nachgingen, verschwendete er vermutlich keinen Gedanken.

Ich setzte eine mütterlich-nachsichtige Miene auf, als wäre Bernd vier statt vierzig und hätte soeben einen Tobsuchtsanfall vom Zaun gebrochen, weil ich ihm seine Lieblingsbonbons nicht kaufte.

„Sie ist seit zwei…“ Ich warf einen Blick auf die sportliche Herrenarmbanduhr, die unter seinem Jackenaufschlag aufblitzte. – Oh, so spät schon!

„Seit etwa drei Stunden ist sie tot. Schwalbenschwanzförmige Messerstiche im linken bis mittleren Brust- und Bauchbereich, akuter hämorrhagischer Schock. Der Täter ist groß und kräftig, Anfänger und höchstwahrscheinlich Rechtshänder, da dem Opfer die Wunden von vorn in die linke Körperhälfte zugefügt wurden. Die Leiche wurde ein bis zwei Meter weit bewegt, vom Tisch weg, dort, wo der Mörder sie getötet hat“, gab ich höflich Auskunft.

„Pah!“ machte Bernd so unglaublich abfällig, dass ich einen Moment befürchtete, er würde mir auf die Schuhe kotzen. „Ich werde dich einsperren! Ich steck dich in die Sammelzelle des Frauengefängnisses, mal sehen, wie du dann aus der Wäsche guckst! Du behinderst nicht nur massiv die Ermittlungen in einem Mordfall, du…“

„Herr Millers, würden Sie sich das bitte mal eben näher ansehen…!“, rief ein mit Aknepickeln übersäter junger Polizeibeamter, während er sich im Laufschritt näherte. Als er meiner ansichtig wurde, stoppte er und salutierte auf der Stelle wie der Adjutant seinem General.

„Oh, Entschuldigung, ich wusste ja nicht, dass wir Unterstützung bekommen haben!“ Mit einem strahlenden Lächeln kam er auf mich zu und bedachte mich mit einem festen Händedruck. „Guten Tag, Frau Millers! Schön, Sie einmal wiederzusehen!“

„Hallo Olcher! Ich freue mich auch, wieder dabei zu sein!“, begrüßte ich ihn wie einen alten Kriegskameraden.

Bernds Gesicht färbte sich dunkelrot, an seinem Hals trat eine Ader wie ein Strang hervor. Mit einer barschen Bemerkung schickte er seinen Untergebenen zurück an die Arbeit, bevor er auf mich losging. Er sprach jedes einzelne Wort so überdeutlich aus, als hätte er es mit einer minderbemittelten Gehörlosen zu tun: „Damit eines klar ist: Du bist nicht dabei! Nicht dabei! Haben wir uns verstanden? Deine ungefragte Einmischung im Fall …“

„Wieso ist Lonzo wieder draußen?“, fiel ich ihm ins Wort.

„Was sagst du da? Willst du mich ablenken, aus dem Konzept bringen, oder was? - Nein, Mama, ich werde nicht dulden, dass du mich noch einmal blamierst! Deine ungefragte Einmischung im Fall Mengele hätte mich um ein Haar meinen Job gekostet! Und an Hubert Lessing darf ich gar nicht denken! Splitternackt am Bettpfosten…“

„Ohne mich hättest du die Täter bis heute nicht festgenagelt!“ gab ich hoheitsvoll zurück, zog Elfriede vom Sessel, hakte sie unter, und lotste sie geschickt an einem Beamten vorbei, der mit einem großen, schwarzen Koffer bewaffnet ins Haus stürmte.

„Die Haushälterin muss sich zur Zeugenaussage bereithalten!“ schrie Bernd mir hinterher.

„Zunächst wird sie sich ausruhen, die Ärmste. Und du suchst vorerst lieber nach dem Messer“, empfahl ich und ließ ihn und seine Mannschaft mit der Toten allein.

2

Ich führte Elfriede heim wie ein Kind, das sich verlaufen hat. Sie schluchzte und weinte in einem fort und wäre wahrscheinlich ohne meinen stützenden Arm unterwegs lang hingeschlagen. Die Bahnschranken waren geschlossen und wir mussten abwarten, bis ein Güterzug mit unzähligen Containern aus dem Hafen vorbeigedonnert war. Als wir endlich den Glockenturm, das Wahrzeichen der Wulsdorfer Lieth-Breden-Siedlung, erreichten, war ich heilfroh.

Die Siedlung war in den Jahren nach dem Krieg als Seefahrersiedlung entstanden, deshalb trugen die Straßen Namen wie Wikingerweg und Normannenweg. Mittlerweile wohnten hier alle möglichen Berufsgruppen, und meines Wissens nur noch ein einziger Seefahrer: Heino, Elfriedes Ehemann, war ehemaliger Kapitän zur See, und hatte aus jedem angesteuerten Hafen ein Souvenir mitgebracht. So hob sich das Haus der Hansens von den übrigen Siedlungshäusern deutlich ab, weil unzählige maritime Gegenstände den Vorgarten zierten. Unter dem Haustürvordach stolperte ich über das spitze Ende eines Ankers, weil Elfriedes Knie plötzlich nachgaben.

Glücklicherweise öffnete der Hausherr genau im richtigen Moment die Tür, um seine taumelnde Ehefrau aufzufangen.

„Mensch noch mol, Elli, watt is denn mit di los?“, rief er erschrocken mit dröhnendem Bass. Heino, der mit seinem breiten Kreuz, dem vollbärtigen, wettergegerbten Gesicht und dem unübersehbaren Bauchansatz wie der Inbegriff eines Seemanns aussah, war in Ostfriesland nahe der holländischen Grenze geboren. Sein heimatliches Plattdeutsch konnte kein normaler Mensch verstehen.

Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern schulterte seine Frau kurzerhand wie einen besoffenen Matrosen und beförderte sie in die Koje. Unnötig zu erwähnen, dass der Weg dorthin eine Slalomstrecke um verschiedene Leuchttürme, Modellschiffe und ausgestopfte Seemöwen war.

Elfriede kam schließlich unterhalb eines riesigen lackierten Bretts zu liegen, auf dem die unterschiedlichsten Seemannsknoten aus dickem Tau anschaulich dargestellt wurden. Ich würde einen Knall kriegen, wenn ich jeden Morgen unmittelbar nach dem Aufwachen diese lehrreiche Tafel angucken müsste.

Ungeschickt stopfte Heino ein Kissen unter das Haupt seiner Frau und strich mit seinen großen, behaarten Händen die Bettdecke glatt.

„Schall ick di watt to’n drinken bringen?“, fragte er.

Elfriede schüttelte schwach den Kopf. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen und die Lider klappten zu wie bei einer Schlafpuppe.

„Watt is denn nu öberhaupt passeert?“

„Charlotte Honnef ist ermordet worden“, gab ich Auskunft. Kaum hatte ich’s ausgesprochen, da riss Elfriede die Augen wieder auf und begann erbärmlich zu zittern. Ihr Gesicht war kalkweiß. Ein gespenstisches, lebloses Weiß.

Ich befand, dass sich sicherheitshalber ein Arzt um sie kümmern sollte, und wollte ihren Mann gerade mit dem Telefonat beauftragen, da sah ich, dass dessen gesunde Gesichtsfarbe einem grünlichen Grau gewichen war. Plötzlich schwankte der große, schwere Mann und plumpste direkt neben seine Gattin aufs Ehebett.

„Ermordet?“, keuchte er. Ich nickte bestätigend. Dicke Tränen liefen Elfriedes Wangen hinab.

„Nee… Wer deiht… denn bloß… so watt?“ Heino fasste sich ans Herz und schnappte nach Luft wie ein Heilbutt. Es war vermutlich das Beste, wenn ich den Arzt selbst anrief, damit er gleich beide Hansens untersuchte.

Ich konnte nachvollziehen, dass ein zartes, naives Persönchen wie Elfriede von den Geschehnissen des heutigen Tages wie erschlagen war. Aber die Reaktion ihres Mannes fand ich merkwürdig. Einen Seebären wie den sollte so schnell nichts aus den Pantinen hauen.

„Kanntest du Charlotte näher?,“ hakte ich beiläufig nach.

„Nähjer? Watt meenst du mit nähjer?“, fragte er misstrauisch und ließ die Hand, die eben noch sein Herz beruhigt hatte, in den Schoß sinken. Er richtete sich auf und allmählich gewann sein Gesicht die ursprüngliche rosarote Farbe zurück.

Auch dieses Verhalten fand ich seltsam. Spontan fühlte ich mich an Ferdinand erinnert, eine kurze Liebesbeziehung während meiner Jungmädchenzeit. Ferdinand hatte das Ich-zeig-dir-mein-Würstchen-Spiel mit meiner Erzfeindin Rosemarie vehement geleugnet, obwohl ich die beiden mitten im schönsten Vergnügen erwischt hatte. Auch ihm hatte das schlechte Gewissen quasi im Gesicht geschrieben gestanden.

Ich betrachtete Heino eingehender und ließ meiner Phantasie freien Lauf. Nach etwa fünf Sekunden hielt ich es für möglich, dass er was mit Charlotte Honnef gehabt hatte. Ich beschloss, dieser Vermutung bei nächster Gelegenheit auf den Grund zu gehen. Nur sollte Elfriede nichts davon mitbekommen - allein mein Verdacht würde sie umbringen.

„Ich muss los“, sagte ich und strich ihr zum Abschied behutsam über die Wange. Ich bin eigentlich überhaupt nicht der Streichel-und-in-den-Arm-nehm-Typ, aber das kleine blasse Persönchen unter der dicken Bettdecke tat mir entsetzlich Leid. Es gibt Menschen, die pustet der kleinste Windstoß um und sie kommen von allein nicht wieder auf die Füße - Elfriede war einer von ihnen. Ihre Lider flatterten und sie wisperte kaum hörbar: „Danke, Martha!“

„Du rufst am besten sofort euren Hausarzt an“, wandte ich mich mit eindringlicher Stimme an Heino.

Dieser folgte mir mit schweren Schritten aus dem Schlafzimmer. An der Haustür hatte er mich eingeholt und wollte ganz offensichtlich Näheres über den Mord wissen.

„Wie is es denn genau passeert?“, fragte er atemlos.

Ich sah ihn mit unbewegter Miene an und entgegnete ungerührt: „Charlotte wurde erstochen.“

Aufstöhnend hielt Heino sich am Türrahmen fest, seine volle Unterlippe zitterte. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen.

Ich brauchte zehn Minuten, um auf der schmalen Asphaltstraße durch den Wasserwerkswald zurück zum Haus des Opfers zu joggen. Als ich um die letzte Kurve bog sah ich, dass noch immer zwei Polizeiwagen auf der Straße parkten. Ein anthrazitfarbener, überlanger Mercedes-Kombi hatte sich dazugesellt.

Ich hatte gerade den Gartenzaun erreicht, als die Haustür geöffnet wurde. Zwei identisch gekleidete Männer mit akkuraten Haarschnitten und bewegungslosen Gesichtern trugen vorsichtig eine Bahre samt geschlossenem, grauem Leichensack die drei Stufen hinunter und den Gartenweg entlang. Dann verstauten sie ihre Fracht fachgerecht im Auto.

Der Anblick des Leichensacks versetzte mir einen schmerzhaften Stich ins Herz und gleichzeitig stieg eine unbändige Wut in mir auf. Sie stieg in mir auf, und ich verwandelte sie in stählerne Entschlossenheit. Die Fotografie der glücklichen Familie Honnef erschien vor meinen Augen, und hätte ich mir nicht sowieso schon auf die Fahne geschrieben, den Täter zu finden, dann wäre dieser Plan spätestens jetzt in mir gereift.

Die beiden Bediensteten schlossen die Heckklappe, nahmen im Wagen Platz und fuhren mit schnurrendem Motor von dannen. Ich sah ihnen nach. In der Luft hing säuerlicher Katalysatorgeruch.

Im Haus waren die Polizisten nach wie vor zugange, und ich verspürte nicht den Wunsch, dem lieben Bernd erneut in die Arme zu laufen. Auch der gutmütigste Mensch ist in Extremsituationen zu roher Gewalt fähig.

Außerdem hatte ich da drinnen sowieso schon alles gesehen. Mein nächster logischer Anlaufpunkt war demzufolge die Nachbarschaft. Ich fragte mich, ob und wie gut sich die Nachbarn in dieser Anonymität hinter hohen Hecken und Sichtschutzzäunen kannten.

In meinem Viertel hätte längst ein Würstchenverkäufer seine Chance genutzt und einen Stand errichtet. Wenn dort ein Polizeiauto einparkte, kamen mehr Menschen zusammen, als wäre der Papst persönlich zu Besuch.

Von Menschenauflauf konnte hier keine Rede sein. Direkt gegenüber hatte sich eine Frau im mittleren Alter augenscheinlich zum Ziel gesetzt, nach Unkraut in ihrem Vorgarten Ausschau zu halten. Zwei Häuser weiter entdeckte ich eine schemenhafte Gestalt verborgen hinter einer weißen Gardine. Ansonsten war niemand zu sehen. Ich beschloss, mir die beiden Wachtposten für später aufzuheben, und begann zu meiner linken bei einem modernen Einfamilienhaus mit Turm, Giebeln und sehr viel Glasfläche.

Ein dumpfer Gong ertönte, als ich die Klingel betätigte. Kurz darauf öffnete mir eine vollbusige Brünette, die offensichtlich die beste Zeit ihres Lebens hinter sich hatte. Die scharfen Linien von der Nasenwurzel hinunter zu den abwärts geneigten Mundwinkeln traten noch deutlicher hervor, als sie meine Erscheinung kritisch musterte.

„Woll’n Sie was verkaufen? Könn’ Sie alles behalten! Ich brauch’ nix.“ Damit hätte sie mir die Tür vor der Nase zugeballert, wenn ich nicht noch schnell meine Handtasche dazwischen geklemmt hätte.

„Was fällt Ihnen ein?“, keifte sie und betrachtete ungläubig die robuste Ledertasche. Dieser Dame konnte ich nur auf die harte Tour kommen.

„Mir wird eine ganze Menge einfallen, wenn Sie nicht kooperieren! In Ihrer Nachbarschaft ist ein Verbrechen geschehen, und ich benötige Ihre Aussage.“ Ich starrte sie drohend an, bis sie die Augen verdrehte und mir genervt auf die Schuhe sah.

„Sind Sie bei der Polizei?“, fragte sie, nun eine Spur kleinlauter.

„Was dachten Sie denn?“, entgegnete ich barsch und umging damit eine direkte Antwort. Lügen kommen mir verdammt leicht über die Lippen, doch ich verwende sie nur in Notfällen. Schließlich will ich in den Himmel, wenn’s mal so weit ist, und von Jahr zu Jahr wird mir dieses Ziel etwas wichtiger.

„Seit wann beschäftigen die denn alte Tanten in roten Trainingsanzügen?“

Ich ließ die Beleidigung an mir ablaufen wie einen Schauer Regen und registrierte triumphierend, dass die Frau sich einen Schritt zur Seite bewegte und mir Einlass gewährte. Dabei stellte sie demonstrativ eine Leichenbittermiene zur Schau. Zügig ging ich hinein, denn eben hatte ich aus dem Augenwinkel Bernd gesehen, der aus dem Honnefschen Haus trat. Ich hoffte, er würde nicht so schnell auf die Idee kommen, sich in der Nachbarschaft umzuhören.

Die Hausherrin führte mich in den „Salon“, einen geschmackvoll in Gelb- und Orangetönen eingerichteten Raum, in dem Tabakqualm wie eine Nebelschwade hing.

Sie deutete auf einen Stuhl und fragte in einem Ton, der eine Verneinung erwartete: „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

Ein Atemschutzgerät, dachte ich bei mir, lehnte aber höflich ab, weil ich es mir mit ihr nicht verscherzen wollte.

„Ich will Sie nicht lange aufhalten, Frau…?“, startete ich durch.

„Viola Hünerfus“, half sie mir und gab sich keine Mühe zu verbergen, dass ihr meine Anwesenheit entsetzlich auf den Senkel ging. Sie betrachtete abwechselnd ihre Armbanduhr und ihre künstlichen Fingernägel.

„Verheiratet, keine Kinder. Meinem Mann und mir gehört das Dessous-Geschäft am Elbinger Platz. Wir teilen uns den Job. Er arbeitet vormittags, ich nachmittags. Sonst noch was?“

Meine Neugier war geweckt. Ich hatte noch nie eine Dessousgeschäftsinhaberin persönlich kennen gelernt und nutzte die Gunst der Stunde, um meine Allgemeinbildung ein wenig aufzufrischen.

„Welche Farbe ist denn jetzt gerade in? Früher kriegte man ja nur hautfarben und weiß. Na, und dann später auch schwarz.“ Frau Hünerfus sah mich einen Augenblick abschätzend an, als würde sie darüber nachdenken, ob ich nur ein bisschen dämlich war, oder ob ich sie verarschen wollte.

„Bordeaux ist der Renner. Und silbermetallic. Der Herr trägt Boxershorts mit originellen Motiven oder schwarze Satinstrings“, erklärte sie zögernd.

„Silbermetallic…“, wiederholte ich nachdenklich. Gern hätte ich auch die Umsatzzahlen für Strapsgürtel und Strassstrümpfe gewusst, aber das hätte wohl zu weit geführt und meine Glaubwürdigkeit in Bezug auf polizeiliche Zeugenbefragungen in Frage gestellt.

„Kennen Sie die Familie Honnef?“, fragte ich stattdessen.

Die Frau zwinkerte. Der Grund mochte in dem abrupten Themenwechsel oder dem ekligen, kalten Rauch liegen.

„Natürlich. Die Honnefs sind unsere Nachbarn. Jedes Jahr im Sommer grillen wir mit den anderen aus der Straße einmal zusammen.“ Sie fegte die Tageszeitung auf dem Tisch beiseite und fand darunter einen randvollen Aschenbecher und eine Schachtel Zigaretten. Sie zündete sich eine an und zog gierig daran.

„Wann haben Sie Frau Honnef das letzte Mal gesehen?“

Viola legte die Stirn in Falten, zog erneut an ihrer Zigarette, blähte die Nasenlöcher und beförderte den Rauch wieder hinaus.

„Manchmal sieht man sich zufällig, zum Beispiel beim Nachhausekommen. Dann wünscht man sich einen guten Tag und das war’s. Keine Ahnung, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe, vielleicht vor acht oder zehn Tagen. Vor ein paar Wochen saß ich allerdings zwei Stunden neben ihr. Elvira Meyer aus Nummer 13 hatte zur Weinparty geladen. Sie wissen schon, da kommt so ein Vertreter mit tausend verschiedenen Weinen und man probiert der Reihe nach und bestellt sich was für zu Hause, wenn man will.“

Ich nickte und wunderte mich, dass Viola Hünerfus sich noch immer nicht nach dem Verbrechen erkundigt hatte, das ich an der Haustür angedeutet hatte.

„Wenn Sie mich fragen, Charlotte ist ne blöde Zicke! Tut immer auf piekfein und hei-ti-tei-ti. Und am Ende bestellt sie Wein für ne ganze verdammte Kompanie.“

Ich vermutete, dass Viola Hünerfus’ Geldbeutel nicht die gleiche Menge Wein ermöglicht hatte und sie deshalb stinkig war.

„Ist Ihnen etwas bei den Honnefs aufgefallen? Vielleicht haben Sie gestern oder heute irgendwas gehört oder beobachtet?“

Viola drückte die Kippe aus, wobei ein paar alte Stummel auf die gläserne Tischplatte fielen.

„Nee, wieso?“ fragte sie gedehnt. Dann dämmerte es ihr. „Ist bei denen was nicht in Ordnung?“

„Charlotte Honnef ist heute Morgen erstochen worden.“

„Tatsächlich? Was Sie nicht sagen!“ Ihre Betroffenheit hielt sich in Grenzen. Stattdessen lächelte sie viel sagend in sich hinein und murmelte wie zu sich selbst: „Tja, wer mit dem Feuer spielt…“

„Was meinen Sie damit?“, hakte ich nach. Ich fand ihr Benehmen abstoßend.

„Nichts Bestimmtes. Gottes Wege sind unergründlich, oder etwa nicht?“ Sie verschränkte die Arme vor dem Busen, klapperte unschuldig mit den Lidern und schob die Unterlippe vor.

Verärgert sprang ich auf und fauchte: „Jetzt reden Sie, verdammt noch mal, oder soll ich Sie wegen Behinderung der Ermittlungen drankriegen?“ In diesem Moment war ich selbst überzeugt davon, über diese Möglichkeiten zu verfügen.

Beschwichtigend hob Viola Hünerfus die Hände und hielt sie mit den Handflächen nach außen wie ein Schutzschild vor ihren Leib.

„Schon gut, schon gut. Charlotte Honnef ist… oh, pardon, war ein nimmersattes Weib. Eine Nymphomanin, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine solche Lebensweise birgt Gefahren – ist Eifersucht nicht das Tatmotiv Nummer eins?“ Sie zündete sich genüsslich die nächste Zigarette an.

„Charlotte hatte also verschiedene Liebhaber. Namen?“

Viola zuckte die Schultern.

„Fragen Sie mal die Männer in der Nachbarschaft. Fast jeder hat sie flachgelegt.“

„Ihrer auch?“

„Nee, gewiss nicht! Dann wäre hier schon längst ein Mord passiert.“

Frau Hünerfus geleitete mich zur Tür und ich atmete dankbar die frische Luft ein.

Die beiden Polizeiautos waren immer noch vor Ort. Nun denn.

Ich drückte mich an der Hecke entlang und steuerte den nächsten Gartenweg an. Frau Hünerfus’ Nachbarin öffnete die Tür, noch bevor ich die Klingel entdeckt hatte.

„Hallo, Frau Millers!“ rief sie erfreut aus.

„Frau Jünger, ich wusste ja gar nicht, dass Sie umgezogen sind!“ Ich kannte Adele Jünger, eine fröhliche Mittfünfzigerin, seit vielen Jahren, allerdings nur oberflächlich, so wie ich viele Menschen in dieser Stadt kannte - schließlich hatte ich dreißig Jahre lang per Fahrrad die Post in Bremerhaven-Mitte ausgetragen. Vor drei Jahren, als ich aus dem Zustelldienst ausschied, wohnte Adele in der Fußgängerzone über einem Schreibwarengeschäft. Sie war eine bodenständige, einfache Frau, die ihr Geld als Bäckereifachverkäuferin in einem Supermarkt verdiente.