Kellerkind - Nicole Neubauer - E-Book
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Nicole Neubauer

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Beschreibung

Er sagt, er kann sich an nichts erinnern. Doch an seinen Händen klebt Blut ...

Die erfolgreiche Anwältin Rose Benninghoff liegt mit durchschnittener Kehle in ihrer Designerwohnung. Im Keller des Hauses kauert der vierzehnjährige Oliver Baptiste, sein Körper mit Blutergüssen übersät, seine Hände blutverschmiert. Er kann sich an nichts erinnern. In einem klirrend kalten Jahrhundertwinter nimmt der Münchner Hauptkommissar Waechter mit seinem Team die Jagd nach dem Mörder auf. Doch bald verschwimmen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern immer mehr, und die Ermittler stoßen auf ein altes Verbrechen, das nie gesühnt wurde, und das seine Schatten bis in die Gegenwart wirft ...

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NICOLE NEUBAUER

KELLERKIND

Kriminalroman

1. AuflageOriginalausgabe Februar 2015 bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch die LiterarischeAgentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.LH · Herstellung: samSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-14922-2www.blanvalet.de

Then I ran across a monster who was sleepingBy a tree.And I looked and frowned and the monster was me.

David Bowie, »The Width of a Circle«

Tag 1. Neuschnee

Er fror. Die Kälte hatte ihn aufgeweckt, sie war in seinen Körper gekrochen und hatte die Schmerzen betäubt. Sie verarschte ihn. Sobald er sich bewegte, würden die Schmerzen wieder über ihn herfallen. Wie lange hatte er geschlafen?

Du hättest erfrieren können.

Die Kartons hatten nicht gereicht, um die Kälte abzuhalten, sein Körper war steif wie eine Leiche. Er richtete sich auf und stützte sich an der Wand ab, Putz bröckelte unter seinen Fingern und rieselte auf den Boden. Sein Kopf pulsierte, und die Schmerzen schossen zurück in seinen Körper, oder sie waren die ganze Zeit da gewesen, keine Ahnung, sie waren etwas, das nicht zu ihm gehörte. In Zeitlupentempo setzte er sich auf. Durch das Fenster unter der Decke drang fast kein Licht mehr, das Kellergitter teilte die Welt in Streifen. Blitzlichter schossen durch seinen Kopf, Bilder von splitternden Fingerknöcheln, Treppenstufen, Stimmen. Das Reptil in seinem Hirn stopfte die Erinnerungen weg. Das Reptil saß ganz hinten, im Nacken, die Stelle wurde warm, wenn es erwachte. Es wusste, dass er sich nicht erinnern durfte. Steh auf!, sagte das Reptil. Sein Körper gehorchte. Das Kellerabteil drehte sich, Magensäure schoss ihm in die Kehle. Er konnte sein linkes Bein bewegen, sein rechtes, seine linke Hand … Nur nicht die rechte Hand anschauen, scheiß auf die rechte Hand. Er musste hier raus, so schnell wie möglich, das war wichtiger. Geh!, sagte das Reptil. Er stieß die Tür des Kellergitters auf, tastete sich zur Treppe und schleppte sich Stufe für Stufe hinauf, ein verwundetes Tier ohne Geschichte. Das Reptil hatte das Kommando übernommen, es wusste, was zu tun war. Und dass er nicht nach hinten schauen durfte, nicht jetzt.

Finn ignorierte den Löffel voll Pastinakenbrei, der auf seinen Mund zuschwebte. Er legte den Kopf in den Nacken und krähte: »Bäh bäh omen.«

»Komm, Finn, das schmeckt dir doch sonst immer. Mund aaaaauf!«

Er lehnte sich mit einem Juchzer zurück. Der Pastinakenbrei flog in hohem Bogen durchs Esszimmer. »Bäh bäh. Doosse bäh bäh. Omen.«

Finns Mutter seufzte. Wenn sie nur ein Wort dessen verstehen würde, was er den ganzen Tag vor sich hin brabbelte. Er warf sich in seinem Hochstuhl vor und zurück, den Blick starr zur Zimmerdecke gerichtet. Seine Ärmchen ruderten. »Mama omen! Mama omen! Bäh bäh!«

Ein Tropfen dunkelroter Flüssigkeit platschte zwischen Finns Augen und rann die Wange hinunter. Sein Mund verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen. Er quiekte.

Finns Mutter sah nach oben. Und dann quiekte auch sie, aber nicht vor Entzücken.

Hannes nahm zwei Stufen auf einmal. Die Treppe war mit einem fleckigen grünen Teppichläufer überzogen. Ein Spureninferno, an dem die Spurensicherung ihre Freude haben würde. Scheinwerfer warfen Schlaglichter ins Treppenhaus und ließen den Stuck lebendig werden. Im dritten Stock stand die Wohnungstür offen, drinnen war es taghell erleuchtet, weiß gekleidete Gestalten bewegten sich träge umher wie bei einer Mondlandung.

Auf dem Treppenabsatz kauerte Tumblinger von der Spurensicherung und puschelte am Türrahmen herum.

»Auch schon da?« Er drehte sich nach Hannes um, den Rußpulverpinsel in der Hand. »Waechter wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

»Ich war fast …« Gerade noch rechtzeitig, bevor er sich rechtfertigte, unterbrach sich Hannes. Er musste aufhören, sich für alles zu entschuldigen. Als wäre er immer am falschen Ort. Verdammt, er war Hauptkommissar.

Tumblinger musterte ihn. »Jedes Haar am Tatort kostet ein Tragl Bier.«

»Schon gut.« Hannes stopfte eine widerspenstige Strähne unter die Haube des Schutzanzugs. Seine Augen flimmerten immer noch von zwei Stunden Fahrt durch wirbelnden Neuschnee. Eine Wolke abgestandenen Zigarillorauchs verriet ihm, dass Waechter hier entlanggegangen sein musste. Der Geruch war Hannes vertraut, ein heimischer Hauch von Büro und die beruhigende Gewissheit, dass der Erste Hauptkommissar den Tatort schon im Griff hatte. Waechters Anruf hatte Hannes am Ende der Landstraße erreicht, kurz bevor er daheim angekommen war. Die Kinder hatten sich auf den Julmond gefreut, sie hatten mit den Fackeln in den Wald gehen wollen, Rasmus in seinen nagelneuen Moonboots, die kleine Lotta in der Kraxe auf dem Rücken, Punsch und Kakao im Gepäck. Jetzt waren sie ohne ihn unterwegs. Das Bild von Fackeln in der Abenddämmerung zerfloss vor Hannes’ innerem Auge und gab den Blick frei auf Waechter, der in seinem weißen Schutzanzug vor ihm stand wie ein großer, schlecht gelaunter Schneeball.

»Servus, Hannes.«

Hannes holte Luft, um sich zu entschuldigen. »Sorry, ich …«

Waechter hob die Hand. »Passt schon. Hauptsache, du bist da, der Rest ist mir wurscht.« Er drehte sich um und nickte in Richtung des Zimmers, aus dem der helle Lichtschein drang.

In der Tür blieb Hannes stehen und schlug sich die Hand vor den Mund. Der Blutgeruch war so durchdringend, dass es Tage dauern würde, um ihn wieder aus der Nase zu kriegen. Er ging neben Waechter in die Hocke, dessen Zigarillodunst war ein willkommener Segen. Sie knieten an einem Ufer. Am Ufer eines Sees.

Eines Sees aus Blut.

Von den Scheinwerfern ausgeleuchtet wie eine Theaterkulisse, lag der Körper vor ihnen auf dem Bauch. Nur eine Hälfte des Gesichts war zu erkennen. Ein Spurensicherer kauerte auf einem Stück Plane davor und klebte Zentimeter für Zentimeter Klebestreifen auf die beige Stoffhose der Toten. Auf seiner Stirn stand eine steile Falte. Rose Benninghoff oder das, was sie einmal gewesen war, trug Lidschatten und Lippenstift. Ihr Gesicht war von einem Netz feiner Fältchen überzogen, die im Licht scharf hervortraten. Ihr Haar glich auch im Tod noch einem perfekt geföhnten Helm. Unter ihrem Kinn klafften Kopf und Rumpf auseinander, nur noch vom Nacken zusammengehalten, dazwischen eine weit aufgerissene Wunde.

»Selbstmord können wir wohl ausschließen«, sagte Hannes.

»So weit sind wir schon seit einer halben Stunde, aber merci«, sagte Waechter, ohne den Blick von der Leiche zu heben.

Zwei Kollegen trugen Pappen herein, noch mehr Plane. Der Spurensicherer schaute zu ihnen auf. »Wir müssen sie jetzt umdrehen. Hilft ja eh nichts.«

Die Plane raschelte, und Hannes drehte sich weg. Sein Magen protestierte, er hatte kein Abendessen gekriegt. War auch besser so. Das würde sich auch nicht so schnell ändern. »Ist Die Chefin noch nicht da?« Hannes’ Blick scannte das Zimmer, aber von ihrem grauen Zopf keine Spur.

»Grippe.«

»Und wer vertritt sie?«

»Na, wer wohl. Der einzige Depp, der rechtzeitig zur Grippeimpfung gegangen ist.« Waechter klopfte sich auf die Brust. »Was kann ich dafür, wenn das halbe Kommissariat flachliegt? Blutskälte, verreckte.«

»Und Elli?«

»Geht nicht ans Telefon. Zum Tanzen wollte sie gehen.«

»Sauber.«

Als Hannes wieder hinschaute, lag die Leiche auf dem Rücken, den Kopf von ihnen weggedreht. Die Wunde leuchtete ihm entgegen. Er glaubte, die Ansätze der Schlagadern zu erkennen, den Kehlkopf, oder war das schon die Wirbelsäule? Welche Waffe verursachte eine derartige Wunde? Er blinzelte und versuchte, sich die Leiche als Menschen vorzustellen. Wenn die Toten fast unversehrt waren, wie schlafende Kinder, schaffte er es. Wenn aber ein Körper so zerstört war wie dieser hier, merkte er erst, wie weit weg der Mensch war. Fort. Da war keiner mehr.

Hoffentlich.

»Haben wir eine Tatwaffe?«, fragte er, um seine Gedanken vom Unsichtbaren auf das Handfeste zu lenken.

»Siehst du eine?«

Es war eine rhetorische Frage gewesen, trotzdem stand er auf und schaute sich in dem Zimmer um. Eine offene Wohnküche, die das Single-Apartment größer aussehen ließ, als es war. An der Decke kräuselte sich Stuck unter hundert Jahren Wandfarbe, das Scheinwerferlicht warf Schatten und Fratzen in die Vertiefungen. Zwischen den Dielen des Eichenparketts klafften Risse. Ein Altbau in der Münchner Prinzregentenstraße, unbezahlbar. Ein Spekulant würde töten für diese Wohnung, dachte Hannes und erschrak vor seinem eigenen Gedanken. Wenn die Bewohnerin keinen älteren Mietvertrag gehabt hatte, war Geld im Spiel. Sie würden der Spur des Geldes folgen müssen.

Er schritt über den von den Spurensicherern freigegebenen Pfad, der Holzboden gab bei jedem Schritt knarzend nach und ließ die Gläser in der Vitrine klirren. Auf der Theke zwischen Küche und Wohnbereich lag eine halb gelesene Süddeutsche, eine Lesebrille zusammengeklappt daneben. Rose Benninghoff hatte die Zeitung von vorn nach hinten gelesen, erst den Politikteil, dann das Feuilleton. Als Nächstes wäre der Wirtschaftsteil an die Reihe gekommen. Ein einzelnes Rotweinglas stand daneben, halb gefüllt, am Rand eingetrocknet. »Sie hat keinen Gast erwartet.«

»Trotzdem muss noch jemand hier gewesen sein«, sagte Waechter hinter ihm. »Wir wissen nur noch nicht, wer. Und warum.«

Ein Spurensicherer drehte sich um. »Hier drin gibt es Spuren wie am Hauptbahnhof.«

»Wie ist er reingekommen?« Hannes hatte sofort an einen Mann gedacht. Sich zu früh festgelegt, wie so oft. Sein innerer Zensor korrigierte: »Ich meine, er oder sie«, obwohl er das Schlachtfeld auf dem Boden nur schwer mit einer Täterin in Verbindung bringen konnte.

»Sie muss die zweite Person selber reingelassen haben. Es gibt keine Einbruchsspuren«, sagte Waechter.

»Wer hat sie gefunden?«

»Das Blut ist durch den Boden in die Wohnung darunter gesickert und in die Küche getropft, pünktlich zum Abendessen.« Waechter stand mit einem Ächzen auf und massierte sich die Knie.

Schritte schwerer Stiefel polterten durchs Treppenhaus, und ein Schutzpolizist erschien im Türrahmen, das Gesicht rot vom Treppensteigen. »Rocco hat angeschlagen.«

Waechter streckte seinen Rücken durch. »Wer?«

»Der neue Kollege, der Hund. Er hat eine Spur nach unten aufgenommen. Garage oder Keller.«

Hannes ging zur Wohnungstür, die Scheinwerfer schickten seine Schatten neben ihm her, dreifach, vierfach, riesenhaft, nur um sie dann wieder in seinem Körper zusammenstürzen zu lassen. Instinktiv griff er unter seine Jacke und ließ die Hand wieder sinken. Sein Herz schlug schneller.

»Hat jemand die Schlüssel zur Wohnung und zum Keller?«

»Ich. Von der Zeugin aus dem Untergeschoss.« Der Kollege hielt einen Schlüsselbund hoch.

Rocco legte sich mit einem Winseln ins Geschirr und folgte einer Spur, die nur er wahrnehmen konnte: winzigste Moleküle, Hautschuppen, Blutstropfen, der Atem eines Menschen, der noch in der Luftsäule des Hauses schwebte und nur langsam verflog. Roccos Fiepen hallte durchs Treppenhaus. Eine Frau spähte durch einen Türspalt, das Gesicht weiß unter einem Vorhang aus Haarsträhnen, ein Baby auf ihrer Hüfte. Sie verschwand wieder, die Tür knallte ins Schloss. Der Hund zog voran, die Leine straff gespannt, sein Hecheln und das Trampeln ihrer Schuhe hallten von den Wänden wider. Vor der Kellertür machten sie halt. Der Hund kratzte mit den Pfoten an der Schwelle, der Hundeführer musste ihn am Geschirr zurückhalten, damit sie die Tür aufschließen konnten. Hannes trat zur Seite, weg von der Öffnung in die Dunkelheit, und stieß gegen Waechters Schulter.

Waechter schaute ihn mit Bulldoggenaugen an. »Hannes, ich bin zu alt für so was.« Er presste sich an die Wand, die Waffe in der Hand, und fuhr sich mit einem Taschentuch übers Gesicht.

Hannes beugte sich zu seinem Ohr. »Du bist zu fett für so was.« Zur Strafe rammte Waechter ihm den Ellbogen in die Seite.

Hannes richtete seine Taschenlampe in die Schwärze. Der Kegel flackerte über fleckige Betonstufen und erzeugte mehr Schatten als Licht.

»Polizei! Ist da jemand?«

Die Treppe war leer. Sie schoben sich die Stufen hinab, die Wand im Rücken; Hannes vorweg, Waechter schnaufte hinterher. Die Treppe führte in ein Labyrinth aus Kellerabteilen. Ein Totenkopf prangte ihnen auf einem Warnschild entgegen. »Vorsicht, Rattengift!« Links und rechts leuchteten Holzgitter im huschenden Lichtkegel auf, dahinter Koffer, Schränke und Planen. Rocco zerrte an der Leine, winselte mit vorgestrecktem Kopf, den Schwanz eingezogen. Vor einem Abteil blieb er stehen. Seine Hinterläufe zitterten, er bellte ein einziges Mal. Der Hundeführer riss ihn am Geschirr zurück. Die Abteiltür stand einen Spalt offen.

»Ist da jemand?«

Nichts.

»Polizei! Hände hoch und rauskommen!«

Nur das Winseln des Hundes durchschnitt die Stille. Hannes atmete tief durch. »Zugriff!«

Die Abteiltür flog auf. Drei Waffen richteten sich in den Kellerverschlag. Die Taschenlampe leuchtete in die aufgerissenen Augen eines Kindes.

Wer bist du?

Das Kellerkind saß im Einsatzwagen und starrte aus dem Fenster, die zuckenden Blaulichter beleuchteten rhythmisch sein Gesicht, immer nur eine halbe Sekunde lang, zu kurz, um es genau anschauen zu können. Die verwaschenen Gesichtszüge eines Teenagers an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sein Blick war aus Glas. Hier sah er älter aus als unten im Keller, wo er mit großen Kinderaugen ins Licht geblinzelt hatte. Seit sie ihn aus dem Kellerabteil der Toten geholt hatten, hatte er kein Wort geredet.

Waechter saß ihm gegenüber und wartete. Das hatte er vom Hüter des Schweigens gelernt. Warten können. Die vielen großen Fragen wollte, durfte er ihm noch nicht stellen. Er brauchte nicht mehr als seine Personalien, die Telefonnummer der Eltern, vor allem aber wollte er ihn in Ruhe betrachten, frisch unter dem Eindruck der Festnahme. Er sah nichts. Wenn er die Augen zumachte, konnte er sich nicht mal für ein paar Sekunden merken, wie der Junge aussah. Der verharrte stumm in seinem persönlichen Unsichtbarkeitsfeld. Aber sie hatten Zeit. Er war bei ihnen.

Bist du ein Mörder?

Seine Augen waren wie dünnes Eis, durch das man in die Tiefe blicken konnte. Da unten versteckten sich die Antworten.

Was hast du gesehen?

Sag es mir nicht. Noch nicht. Die Zeit ist noch nicht gekommen.

Mit einem Ruck ging die Tür auf. Hannes quetschte sich herein und schüttelte Schneeflocken aus den Haaren. »Wo sind die Eltern?«

»Wir wissen es noch nicht.« Waechter wandte sich wieder dem Jungen zu, hätte gern gewusst, was aus der Stille gewachsen wäre, aber nun war sie zerstört. Genauso gut konnte er jetzt anfangen, Fragen zu stellen. »Wir müssen deine Eltern verständigen. Wie erreichen wir sie? Wem gehörst du?«

Waechter bildete sich ein, dass die Augen des Jungen bei der letzten Frage schmal geworden waren, aber es konnte auch das Flackern des Blaulichts gewesen sein. »Wer bist du?«

»Das dauert mir zu lange.« Hannes beugte sich vor, zog dem Jungen mit einer schnellen Bewegung die Geldbörse aus der Jackentasche und machte sie auf, noch ehe Waechter ihn daran hindern konnte. »Carte nationale d’identité«, las er vor. »Ein französischer Pass. Oliver Pascal Baptiste. 14 Jahre alt. Pienzenauerstraße.« Er schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen an. »Das ist doch im Herzogpark, oder?«

Herzogpark, das Villenviertel an der Isar, wo die Reichen sicher hinter meterhohen Hecken schliefen, wenn sie nicht gerade die Stadt verklagten, weil die Straßenbahn zu laut rumpelte. Der Teenager sah nicht nach Herzogpark aus. Um seine Schultern lag eine fleckige Daunenjacke, seine langen Locken waren eine verfilzte Matte. Er sah auch nicht aus wie ein Mörder, aber das taten die wenigsten. Ein Straßenjunge, ein Einbrecher, der nach ein paar Euro für den nächsten Schuss gesucht hatte und vom Opfer überrascht worden war, das war Waechters erster Gedanke gewesen. Aber sie hatten keine Einbruchsspuren an der Wohnungstür sichergestellt. Und die Meldeadresse im Münchner Nobelviertel stellte alle Gedankenspiele auf den Kopf. Er sollte keine Gedankenspiele machen. Das hier war kein Spiel.

»Kannst du mich verstehen? Est-ce que tu parles allemand?«, fragte Hannes und fixierte den Jungen mit den Augen, als würde er zum Sprung ansetzen.

Es war zu viel. Schon die Anwesenheit eines zweiten Polizisten war zu viel. Je länger Hannes auf ihn einredete, umso mehr würde sich der Junge in seine Muschelschale zurückziehen.

»Jetzt lass ihn mal in Ruh«, sagte Waechter.

»Du lässt ihn doch schon die ganze Zeit in Ruhe. Das hat ja auch nichts gebracht.« Hannes wedelte mit der Hand vor dem Gesicht des Jungen hin und her, doch der schaute weiter hinaus in die blauen Lichter. Mit der linken Hand zog er eine Haarsträhne glatt und ließ sie zurückschnellen, immer wieder. Auf seinen Fingern und seiner Handfläche waren dunkelbraune Flecken. Blut? Den anderen Arm hielt er um seinen Körper geschlungen, die Hand unter der Jacke versteckt. 14 Jahre. Gerade so alt wie …

»Ich hab dich was gefragt«, sagte Hannes scharf.

Der Junge schien ihn nicht zu hören, riss an seiner Haarsträhne. Mit einem knisternden Geräusch blieb ein Büschel Haare in der Hand zurück. Er verzog keine Miene.

»Antworte gefälligst! Ich habe dich was gefragt!« Hannes schlug mit der Hand an die Innenseite der Tür.

Der Knall ließ den Jungen zusammenzucken, er verzog das Gesicht und brach in Tränen aus.

Waechter packte Hannes am Arm. »Wir wollen doch nur wissen, wo deine Eltern sind.«

Statt einer Antwort heulte Oliver noch lauter auf.

»Raus.«

Waechter zog die Tür auf und schob Hannes hinaus, die Kälte verschlug ihm für einen Moment den Atem. Erst als er die Wagentür hinter sich zugeschlagen hatte, sagte er: »Das wird nichts. Brechen wir das ab. Ich will ihn nicht ohne Bezugsperson befragen.«

Hannes riss sich los. »Ach, komm, dafür ist nicht die Zeit. Wir sind hier nicht bei der Bahnhofsmission!«

»Du siehst doch, dass der Bub durch den Wind ist.«

Hannes drehte den Kopf zum Einsatzwagen und senkte seine Stimme zu einem Zischen. »Ich lass mich ungern verarschen. In dem Alter sind das verdammt gute Schauspieler. Im Gegensatz zu dir kann ich das beurteilen.«

Waechter verschränkte die Arme. »Wir brechen ab und lassen ihn ärztlich untersuchen. Vor morgen früh will ich ihn nicht vernehmen. Und dann auch nur in Anwesenheit der Eltern. Und du, jag seine Personalien durch den Computer. Ordre du mufti.«

Ohne Hannes’ Antwort abzuwarten, kletterte er zurück in den Wagen und legte Oliver die Hand auf die Schulter. Der Junge zuckte unter der Berührung zusammen. »Ist gut. Ist gut. Ein Kollege bringt dich zu einem Doktor, der nimmt dir Blut ab.« Als ob das tröstend wäre. Waechter zog ihn am Ellbogen hoch und half ihm aus dem Auto. Der Junge schwankte und griff sich in die Magengrube, das Gesicht schmerzverzerrt.

»Oha. Geht’s dir nicht gut?«

Als Antwort sackte Oliver in seine Arme. Waechters Knie drohten nachzugeben. Wie konnte so ein Zigarettenbürscherl nur so schwer sein? Er versuchte, ihn auf den Boden gleiten zu lassen, ohne dass der Junge mit dem Gesicht voran aufs Eis knallte. Hannes kam ihm zu Hilfe und packte ihn unter den Armen. Vorsichtig ließen sie ihn runter. Die Jacke und das T-Shirt rutschten hoch und gaben einen Streifen nackter Haut frei.

»Ach du Scheiße!«

Hannes schob den Stoff noch ein Stück weiter hoch. Der Körper des Jungen war übersät mit dunklen Flecken. Sogar im Licht der Straßenlaternen waren die Prellungen und Blutergüsse zu erkennen. Die Hand des Jungen lag schlaff auf dem eisbedeckten Bürgersteig, die Finger waren verkrümmt, die Haut auf den Fingerknöcheln zerfetzt. Sofort nahmen die Schneeflocken von ihm Besitz, legten sich wie ein Film über seine Kleidung und schmolzen auf seiner nackten Haut.

Waechter löste sich als Erster aus der Schockstarre und griff nach seinem Telefon.

»Wir brauchen keinen Psychologen, sondern einen Sanka!«

»Schon wieder eine Rose, Herr Paulssen. Immer malen Sie Rosen.«

Paulssen beobachtete, wie die Pflegerin die Kissen aufschüttelte und das Fenster schloss. Ihr Haar war lackschwarz, ihr Rücken war so schmal wie der eines Kindes. Sie streifte seine Schulter, als sie das Wasserglas auf den Tisch stellte, und hinterließ den Duft von Frühling und noch von etwas anderem. Aber wovon? Die Erinnerung daran war weg. Nicht wie all die anderen Erinnerungen, die sich unscharf im Nebel verloren hatten. Diese hatte eine Lücke hinterlassen, als hätte jemand sie ausgeschnitten, um sie woanders einzukleben. Paulssen hob den Pinsel und setzte zwei Blütenblätter an den unteren Bildrand. Die Adern schienen durch seinen fleckigen Handrücken, aber die Hand zitterte nicht, wenn er malte. Nie, wenn er malte.

Die Pflegerin zog ihren weißen Kittel aus. »Fertig, Herr Paulssen. Malen Sie schön fertig. Und morgen will ich es sehen, gell?«

Er hob die Hand zum Gruß, doch die Zimmertür war schon ins Schloss gefallen. Mit einer unendlich langsamen Bewegung tauchte er den Pinsel wieder in die rote Farbe und malte eine Rose, immer eine Rose, wie seit vierzig Jahren.

Das Schild Neuer Hut Kebab leuchtete verheißungsvoll und lockte Waechter zu dem kleinen Dönerstand unter dem verwaisten Baugerüst. Er kaufte sich ein Fladenbrot, als einziger Gast. Ein kleiner Rest Dönerfleisch verbrutzelte am Spieß zu Kohle, es würde heute nicht mehr verkauft werden. Wer konnte, blieb daheim.

Den Rest des Heimwegs legte Waechter mit eingezogenem Kopf zurück, die Kälte biss in jeden Zentimeter nackter Haut, bohrte sich zwischen Schal und Genick und kroch durch den Jackenstoff. Vor dem Discopub Albatros flatterte ein einsamer Stofffetzen und versuchte, Gäste anzulocken, Bässe wummerten die Treppe herauf, der Vier-Viertel-Takt eines deutschen Schlagers und das Gemurmel von Menschen, bevor die Tür unten wieder zugezogen wurde. Keiner war so wahnsinnig, zum Rauchen auf den Bürgersteig zu gehen. Er ging schneller, der Harsch unter seinen Füßen knirschte nicht mehr, er war zu Stein gefroren. Die Straßen waren sinnlos beleuchtet, leer gefegt von diesem Wetter, das kein Wetter mehr war, sondern ein bösartiges Vieh.

In seiner Wohnung angekommen, drehte er erst einmal sämtliche Heizungen auf. Wenn er bei laufender Heizung aus der Wohnung ging, würde sein Vermieter ihm sofort kündigen. Wegen der Zeitungsstapel. Weil Waechter nicht dazu kam, sie zu lesen, stapelten sie sich im Flur in ordentlichen Türmen. Er legte den Kopf schräg und schaute sie an. Es waren wieder mehr geworden, trotz seines Systems. Heute würde er gleich zwei davon lesen, dann war er wieder eine Zeitung im Plus. Theoretisch müsste er mit dieser Methode in wenigen Monaten durch sein. Praktisch war er acht Zeitungen im Rückstand. Tatsächlich war er mit 267 Zeitungen im Rückstand, aber er fing jeden Monat neu zu zählen an, das motivierte ihn mehr.

Auf dem schmalen Trampelpfad ging er durch die Wohnung, den Blick stur auf die schmale Schneise aus meliertem Teppichboden gerichtet. Wenn er nur die Trampelpfade frei hielt, war es ordentlich genug. Manchmal fuhr er sogar mit dem Staubsauger hier durch, ohne nach links und rechts zu schauen. Nur nicht nach links und rechts schauen. Dort stapelten sich Dinge aus drei Generationen. Unten die Kartons aus seinem Elternhaus, obenauf seine eigenen Sachen. Ordner, Bücher, Pfandflaschen, Langspielplatten, die er ohne Plattenspieler nicht anhören konnte, CDs ohne Hülle, Papiere, die an den Rändern gelb wurden, und Gegenstände, die so sinnlos und rätselhaft waren, dass er sie immer nur kurz anschaute und nicht länger darüber nachdachte, weil das Nachdenken darüber jeden Muskel in seinem Körper müde machte. Was immer auf den Stapeln, Haufen und in den Regalen landete, verschwand aus seinem Blickfeld, wurde unbrauchbar, er war ein König Midas der unbrauchbaren Dinge. Wenn die Wohnung abbrennen würde, was würde er vermissen? Das Bier aus dem Kühlschrank, die freie Schneise zu einem seiner Sofas, die Lücke in Waechter-Hinternbreite, in die er sich mit Blick auf den Fernseher quetschen konnte.

Der Küchentisch quoll über von Geschirr, halb gelesenen Zeitungen und Sachen, die er am nächsten freien Wochenende reparieren wollte. Eine Einkaufstüte war noch nicht ausgepackt, wann sollte er das Zeug auch essen? Der Geruch von vergorenen Mandarinen strömte daraus hervor. Da müsste er sich mal drum kümmern. Müsste er mal.

Er musste seinen Teller auf der Ecke der Spüle balancieren, um sich Butter und ein Stück Touristenwurst aus dem Kühlschrank holen zu können. Mit Brotzeit und Lesestoff verzog er sich auf eins der Sofas und drückte auf die Fernbedienung. Der Röhrenfernseher knisterte, bevor er ansprang, aber immerhin sprang er an. Im Dritten lief eine Talkshow. Ein Volksschauspieler, den er nicht kannte, erzählte aus seinem Leben. Schön, wenn es was zu erzählen gab. Er schaltete weiter, bis er auf einem der hinteren Sender ein Fußballspiel fand, schnitt sich Stücke von der Wurst ab und biss in das Fladenbrot. Früher hatte er auch mal ein Leben gehabt, wie alle anderen auch. Irgendwann hatten sich ihre Wege getrennt. Jetzt hatten die anderen ein Leben. Er hatte Touristenwurst.

Die Heizung rauschte, aber es wollte nicht warm werden, es konnte gar nicht warm werden. Er schob die Süddeutsche ungelesen zur Seite, seine Augen brannten vor Müdigkeit. Ohne Vorwarnung schob sich das Bild des Jungen in seinen Kopf, den sie heute aus dem Keller geholt hatten. Sie hätten auf ihn aufpassen müssen. Es hatte sonst keiner auf ihn aufgepasst. Wie alt war er gewesen? Dreizehn? Vierzehn? Ungefähr so alt wie … Andere Erinnerungen schoben sich herauf, uneingeladen, aber er drehte den Fernseher lauter und weigerte sich, in die Richtung zu denken. Gedankengraffel war das, und er räumte es dahin, wo es hingehörte.

Ins Dritte Zimmer.

Tag 2. Pulverschnee

Warum tat ihm nichts mehr weh? Ohne die Schmerzen fühlte Oliver sich schwerelos, wenigstens hatten sie ihn spüren lassen, dass er da war. Sie waren echt gewesen. Er war sich schon lange nicht mehr sicher, was echt war und was nicht. Vorsichtig streckte er Füße und Hände, um keinen Höllensturm an Schmerzen auszulösen, spürte aber nicht mehr als ein Ziehen. Wenn er seinen Kopf bewegte, schwappte das Zimmer hin und her. Seine rechte Hand steckte in einer Schiene, die Finger waren taub und kribbelten, wenn er versuchte, sie zu bewegen. Klare Flüssigkeit sickerte durch einen Schlauch in seinen Handrücken. War das jetzt echt, oder…

Er hatte in der Nacht geträumt. Dass er nackt auf einer Liege lag und ein Mann in weißem Kittel ihn betastete, Fotos von seinem Körper machte und in ein Diktiergerät sprach. Nicht aufschneiden! Ich lebe noch!, hatte er rufen wollen, aber nur ein Flattern seiner Lider war nach außen gedrungen. Als ein Blitzlicht vor seinem Gesicht explodierte, hatte er gemerkt, dass es kein Traum gewesen war.

Keine Ahnung, wie er da rausgekommen war. Sein Schädel war noch nicht aufgesägt, er hatte eine Art Nachthemd an, es war hell in seinem Krankenzimmer und warm. Nur die Panik war geblieben. Sie lag auf seinen Rippen wie eine Bleikugel und wurde nur langsam schwächer. Alte und neue Erinnerungsfetzen verzogen sich in die Tiefe wie ein vergessener Traum, wenn er nach ihnen schnappte. Eine Hand, die in seine Haare griff und riss. Tritte, die in seinen Rücken krachten, Blut, das in Holzdielen sickerte. Alles für einen grellen kalten Augenblick Realität, bevor die Fetzen wieder verschwanden und er nicht mehr wusste, was davon wirklich passiert war. Hier war er sicher. Nicht fragen, nicht antworten, nicht denken, nur existieren, ein Körper in einer Nährlösung, sagte das Reptil zu ihm. Schon komisch, dass das Reptil jetzt das Denken übernahm. Es sollte umgekehrt sein, er sollte denken, und das Reptil sollte zucken, zittern, flüchten. Halt still, sagte das Reptil. Sonst kommen sie zurück, die Erinnerungen, und das überlebst du nicht, jetzt noch nicht.

Hannes sprang aus dem Landrover und landete bis zu den Knien im Schnee. »Oh !«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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