Kellers Gehirne - Lorna Johannsen - E-Book

Kellers Gehirne E-Book

Lorna Johannsen

4,8

Beschreibung

In der Reihe Telegrafenbergkrimi ermittelt Luzian Keller im Potsdamer Wissenschaftsmilieu. Spannende Unterhaltung, faktenreiche Vermittlung gesellschaftlich relevanter Forschung und ein Ermittler zwischen den Geschlechterrollen. Auf dem Gelände des Wissenschaftsparks „Albert Einstein“, Sitz des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), wird vor dem historischen Einsteinturm ein Hirn gefunden – nur ein böser Scherz? Als wenig später in der Kantine ein weiterer ekelerregender Fund auftaucht, nimmt der Held wider Willen, Luzian Keller, die Spur auf. Als Mathematiker am PIK erforscht er das „Daisyworld“-Modell und trägt zuweilen gerne ein Twinset, um seiner Inspiration auf die Sprünge zu helfen. Das von ihm vor der Entsorgung gerettete Gehirn führt ihn zunächst ins Naturkundemuseum und schließlich zu der Vermutung, dass jemand die Menschheit mit ungewöhnlichen Mitteln davor warnen will, welche Konsequenzen ihr Handeln für den Planeten haben wird. Währenddessen versucht der Soziologe und Physiker Lars Petershagen mit hochfliegenden Plänen den neuen Forschungsbereich „Langfristige Mensch-Natur-Koevolution“ aufzubauen, er fühlt sich dabei von Direktor Andersson blockiert. Als der Keller vorwirft, die Polizei vorschnell alarmiert zu haben, steht Petershagen Keller zur Seite. Dann verschwindet Petershagens Doktorvater, der berühmte Professor Julian Littlewood.

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Lorna Johannsen wurde in Hamburg geboren und lebt seit den neunziger Jahren in Berlin, sie arbeitet als Autorin, Dichterin, Filmemacherin, seit geraumer Zeit widmet sie sich auch der Collage, Frottage, Malerei und Installation.

Jobst Heitzig ist Mathematiker am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und forscht zur langfristigen Entwicklung von Natur und Gesellschaft, zu komplexen dynamischen Systemen und zu Möglichkeiten für kooperatives Handeln.

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1 Gehirne

2 In der Rivabar

3 Postkarten, Sütterlin und Blumenkohl

4 Ein gelungener Vortrag und seine Folgen

5 Nicht jede Entdeckung ist erwünscht

6 Ein verpatzter Vortrag und seine Ursachen

7 Vorhang auf und mehr Gehirne

8 Fledermäuse, Huotang und Stupor Mundi

Zweiter Teil

9 In die Tiefe

10 Eyjafjallajökull

11 Einstein und eine Toilettenschmiererei

12 Keine Panik

13 Aus der Schusslinie

14 Ein Faradayscher Käfig

Dritter Teil

15 Die Geschichte von M und G

16 Es fängt an zu stinken

17 In der Wetterküche

18 Große und kleine Bünde

19 Papierhäuschen

Vierter Teil

20 Lektüre

21 Auch in Wirklichkeit

Epilog

Glossar

Weiterführende Literatur

Danksagung

Ausblick auf Band 2

ERSTER TEIL

1 Gehirne

Nebel umhüllte den Einsteinturm mit ein paar weißen Fetzen, alles hatte sich in Dunst gehüllt. Montagmorgen, auf dem Telegrafenberg in Potsdam, sieben Uhr früh, kaum jemand unterwegs, der Betrieb fängt später an. Vom Hauptgebäude sind es nur 197 Schritte bis zum Turm, kurz vorher gabeln sich die Wege, der Sandweg hört auf, links und rechts Katzenköpfe, und bis zum Turm Asphalt, dazwischen das Gehirn aus Messing, eine Walnuss im Taubeneiformat, ein kleines, absurdes Geheimnis, das nicht jeder im Sand zwischen dem Pflaster entdeckt, obwohl das Kunstwerk schon vor Langem dort eingelassen wurde. Möglicherweise keine Katzenköpfe, weil zu eckig, aber es ist schön zu denken; das kleine Gehirn liegt glänzend zwischen den Katzenköpfen im Sonnenlicht.

In eben dieser Folge dachte Luzian Keller seit Jahren fast das Gleiche, an diesem Montagmorgen ebenso wie an allen vorangegangen, es war sein Morgenmantra, er liebte dieses Ritual.

Auf der roten Lache vor dem Unerwarteten rutsche er fast aus. Keller schaffte es gerade noch bis zum nächsten Gebüsch und übergab sich so lange, bis er sicher war, dass sich von seinem Frühstück nichts mehr in ihm befand, dann fischte er nach seinem Smartphone und wählte 110.

Zwanzig Minuten später wimmelten ein Dutzend Polizisten auf dem Gelände, der Fund eines menschlichen Gehirns, das sich, blutig auf vier japanische Essstäbchen gespießt, genau über dem Gehirn aus Messing befand, hatte die Potsdamer Polizei zügig in Bewegung gesetzt, und nun suchten alle nach der Leiche desjenigen, der noch bis vor Kurzem mit diesem Hirn gedacht hatte. Aber weder im Turm noch im Park war bisher eine brauchbare Spur gefunden worden, keine Schleifspuren, keine Textilfetzen, keine Leiche, nicht ein Fitzelchen. Dann kam endlich der Gerichtsmediziner, und die Suche nach dem Opfer wurde wenig später eingestellt.

„Schöne Sauerei, aber kein Mord, jedenfalls keiner, der sich in diesem Jahrhundert abgespielt hat. Das Blut ist frisch, aber das Hirn ist alt, das hat lange in Spiritus gelegen, bevor es jemand hier drapiert hat.“ Dr. Flebbe kam ächzend aus der Hocke und fummelte sich die Gummihandschuhe von den Fingern, Kommissar Bärlauch runzelte die Brauen, „Wie jetzt? Bitte noch mal zum Mitdenken.“

„Ganz einfach, da hat sich jemand einen Scherz erlaubt, sammeln sie ihre Leute wieder ein, das hier ist kein Mordfall, sondern grober Unfug. Dieses Hirn…“

„…gehört nicht zu einem Anzugträger…,“ von allen unbemerkt hatte sich eine der Doktorandinnen über den Fund gebeugt, „das hier ist das Gehirn eines Hominiden.“

„Eines was?“

„Eines Gorillas!“ Manon Duval lächelte, das Lächeln der Wissenden, und zuckte mit den Achseln, als sie gefragt wurde, ob es von hier sei.

„Nein, sicher nicht, wir haben keine Präparate hier, das ändert nichts an den Tatsachen.“

Mit weit ausholenden Schritten kam in diesem Moment Professor Andersson, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenfor­schung1, kurz PIK, das sich das Gelände seit der Wende mit ein paar weiteren naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen teilte, über den Rasen geeilt, er war nicht zu Scherzen aufgelegt, mit ihm eilte Wolke, der Hausmeister, mit flatternden Kittelschößen, um ihm militärisch knapp die Situation zu schildern. Die Tatsache, dass auf dem Telegrafenberg Beamte der Polizei gerade dabei waren, den Ablauf eines wohl geordneten Montagmorgens zu stören, hätte ausgereicht, die Laune von Professor Andersson drastisch zu verschlechtern, der Umstand, dass die ganze Aufregung durch ein Affenhirn verursacht war, ließ sie gefrieren, der Urheber der unnötigen Turbulenzen, Luzian Keller, wurde mit einem Blick gemessen, für zu leichtsinnig befunden, und sollte mit dem zweiten Blick vernichtet werden. Doch dazu kam es nicht, Professor Petershagen, der „Neue“, stellte sich schützend vor Keller, was bitte schön hatte Dr. Keller denn tun sollen, schließlich sei er weder Arzt noch Biologe, und dem ersten Anschein nach habe da das Hirn eines Menschen gelegen, und das sei ja wohl Grund genug, um die Polizei zu verständigen. Andersson gab mit leichtem Kopfnicken zu, dass er sich dieser Lesart anschließen könne, und verschwand nach Norden in Richtung PIK-Hauptgebäude, das majestätisch ausladend mit seinen drei Kuppeln das Zentrum des Geländes bildete. Die Polizei war dabei, sang- und klanglos das Gelände zu verlassen, nichts als eine Anzeige gegen Unbekannt wegen Belästigung der Allgemeinheit, besser bekannt als grober Unfug, war übrig geblieben. Keine Rede mehr von Mord und Totschlag, Keller ließ den Spott der Kollegen über sich ergehen, und erbot sich, das Corpus Delicti einstweilen in Obhut zu nehmen. Eine Art Bußübung, um die von ihm verursachten, völlig unnötigen Turbulenzen an diesem Morgen wieder wett zu machen. So konnte er es gerade noch vor Wolke und seiner Kehrschaufel retten. Professor Petershagen tätschelte ihm kurz den Arm, dann ging er seiner Wege, es gab Wichtigeres als vagabundierende Affenhirne, es galt, eine internationale Konferenz vorzubereiten.

Die eleganten italienischen Slipper aus geflochtenem Leder waren besudelt, und Keller, dessen Füße darin steckten, zog sie sich mit spitzen Fingern von den Fersen, er sah sofort, dass sowohl das frische Blut als auch der alte Spiritus irreparable Schäden auf dem beigen Leder hinterlassen hatte.

Dann sah er sich den Plastikbehälter, in den er das Präparat inzwischen gelegt hatte, und der nun auf seinem Schreibtisch stand, genauer an. Dieses in die Jahre gekommene Möbel stand in dem schräg bewandeten Raum des Süringhauses am anderen Ende des Telegrafenbergs, den Keller sein Raum-Zeit-Zelt nannte. Keller beugte sich über das Präparat. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um ein sach- und fachgerecht behandeltes Gehirn, welches in Spiritus eingelegt gewesen war, um der Wissenschaft unverwest den Weg zu weisen.

Wenn er sich die Sache vorhin genauer betrachtet hätte, dann, hätte, hätte, Fahrradkette. Hatte er nicht, und nun stand er da, ein Depp, ein Weichei, nur Petershagen, der Neue, hatte sich wie ein Kollege verhalten, die anderen nicht, die anderen konnte man in der Pfeife rauchen. Gedacht, getan, trotz Rauchverbot stopfte er sich seine lange Tonpfeife, öffnete das kleine Fenster, steckte den Kopf heraus und zündete die Pfeife an, er inhalierte tief. Manchmal hatte er das Gefühl, keiner außer ihm habe etwas für sein momentanes Forschungsobjekt, das Daisyworldmodell* übrig, er war von Ignoranten umgeben. Er aber liebte die weißen und auch die schwarzen Gänseblümchen dieser fiktiven Welt, die ohne Zweifel der wirklichen gegenüber manchen Vorteil, insbesondere den der Menschenleere hatte.

Das Rauchen half gegen den üblen Nachgeschmack, der nicht von der morgendlichen Kotzerei herrührte, etwas hatte Keller angerührt, etwas, das nicht direkt mit dem blutigen Gehirn zu tun hatte. Etwas, was ihm sagte, dass auf dem Gelände Dinge ins Blickfeld geraten waren, die überhaupt nicht dorthin gehörten, oder doch? Gerade hier und nirgends anders hin. Was denn nun? Nein, nein, nicht hier, ein schlechter Scherz? Nein, kein Scherz, da war sich Luzian Keller sicher, und auch, wenn er später bei den Diskussionen in der Kantine nicht mehr darauf beharrte, änderte er seine Meinung nicht, hier war etwas nach langer Lagerzeit aus seinem Behältnis genommen worden, um der Welt etwas zu sagen, war deshalb aus seinem Spiritusbad aufgetaucht, daran hegte Luzian Keller keinen Zweifel.

Wenn ich mich konzentrieren will, das klappt immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit, in jedem Dress, auch nackt, aber um diese Art von Intuition zu haben, muss ich das Twinset tragen, das lila Twinset, ein Duo aus kurzärmeligem Pulli und Jacke, das hat mal einer Freundin gehört, und nun gehört es mir. Ich bin keine Transe, nicht schwul, oder bi, auch nicht heterosexuell, ich bin ein Wesen, das seinen Schwanz nur zum Pullern braucht. Und zur Inspiration brauche ich mein lila Twinset, das sitzt wie angegossen, seit ich etwas zugenommen und ganz kleine Brüste bekommen habe, ein A-Körbchen, da brauche ich natürlich keinen BH drunter zu tragen. Das ist praktisch, macht es unauffällig, wenn zufällig ein Kollege reinkommt, hat noch nie jemand ’ne dumme Bemerkung gemacht, mich Frau Dr. Keller genannt oder so.

Heute wäre mir das egal, nachdem ich am Morgen fast auf das Hirn getreten bin, obwohl, so stimmt es nicht, ich habe es wahrgenommen, bevor ich es gesehen habe, wäre also keinesfalls draufgetreten. Dass ich gleich die 110 gerufen hab, ohne mir das Ding noch mal angesehen zu haben, war blöd, aber ich hab noch nie ein Gehirn im Park gefunden, und im ersten Moment hab ich gedacht, dass da irgendwo im Gebüsch der Kopf liegt, und dieser Kopf geknackt worden ist wie eine Nuss, das war einfach zu viel für mich. Langsam bekomme ich Ordnung in meine Gedanken.

Erstens:

Nichts ist an einem Montagmorgen in unserem Institut unwillkommener als eine Komplikation, erst recht vor einer internationalen Konferenz. Und das über unser geniales Hirnchen gesteckte Affenhirn eine Komplikation zu nennen, ist eine Untertreibung. Der Direktor hat zwar später in einer kurzen hausinternen Mail alles als Dummejungen-Streich abgetan, und Wolke wollte es gleich entsorgen, aber ich war da anderer Meinung und einfach schneller, habe ihn sogar überreden können, mir einen seiner geliebten Plastikbehälter zu leihen, mir eine Tüte aus dem Müllkorb geschnappt, über die Hand gestreift, und es gesichert, ohne gleich wieder zu kotzen, eine Meisterleistung. Applaus habe ich keinen bekommen, aber jetzt fange ich an zu ahnen, dass dies das Klügste war, was ich in letzter Zeit gemacht habe, obwohl auch mein Artikel in den Proceedings der National Academy of the Sciences nicht von schlechten Eltern ist und Andersson mich wohl nur deshalb als Referent auf der Konferenz zugelassen hat. You are drifting, Dr. Keller!

Zweitens:

Ich habe in der Kaffeepause ’rumtelefoniert und die Schwarzwälder Sahneschnitte sausen lassen. Und Bingo, im Berliner Museum für Naturkunde fehlt ein Hirn, genauer gesagt fehlen da schon lange welche, aber das Affenhirn erst seit Kurzem, ein Gorilla, 1916 gestorben, an einem Tumor, der noch immer da sitzt, wo er damals saß, mitten im Hirn, taubeneigroß und absolut tödlich. Die Leiterin der Abteilung, eine Frau Doktor Buschinski, hat sich überreden lassen, mir, einem unwissenden Mathematiker, Nachhilfe in Biologie zu erteilen. Dafür darf ich sie in die Rivabar ausführen. Ausgerechnet in diese Snobisnobbar in den S-Bahnbögen hinterm Hackeschen Markt. Aber ich bin zu allem bereit, oder zu fast allem, um mehr über diesen Gorilla zu erfahren, was ich anziehe, ist klar, drüber Trench und drunter Twinset.

Drittens:

Es ist total eklig, ein Hirn im TK-Bereich seines Kühlschranks aufzubewahren, aber unvermeidbar, sonst wird dieses unersetzliche Präparat schnell verwesen, da hat mich die Buschinski vor gewarnt, das will ja keiner, und ich schon gar nicht, ich mag Menschenaffen. Nun sitze ich vor dem aus seinem kühlen, gläsernen Grab geraubten Hirn und betrachte es, es ist steinhart gefroren und wird die paar Minuten an der frischen Luft unbeschadet überstehen. Wenn es im Museum in einem Schaukasten war, ist es das Betrachtetwerden gewohnt.

Pfui über ihn! Der unbekannte Hirndieb hat es beim Aufspießen böse verletzt, und auch wenn das dem Affen schon lange nicht mehr wehtut, frage ich mich, weshalb? Warum wurde nicht Hirn auf Hirn gelegt, was wollte derjenige, der es dort abgelegt hat, uns damit sagen? Wollte er überhaupt etwas Spezielles aussagen? Oder war es schlicht die Lust an der grausigen Doppelung, quasi eine Art 3D-Methode forte, um uns plastisch vor Augen zu führen – ja was denn? Sollte das eine Installation auf der Installation sein? Ich lese noch einmal laut die Gebrauchsanweisung zum Kunstwerk:

Das 3 sec Bronzehirn – Mahnmal des Jetzt

– Denkmal der unablässigen Gegenwart.

So hat es der Künstler genannt, nun meint jemand anderes, mahnen zu müssen. Meint der nur mahnen oder mehr?

Im Institut ist man zur Tagesordnung übergegangen, hat sich der Denkart des Direktors angeschlossen. Im ganzen Institut? Nein, oben unterm Dach gibt es unter einer behaarten Schädeldecke verborgen ein widerständiges Hirn, das sich nicht mit der Dummejungen-Streich-These abspeisen lassen will. Erst recht nicht, nachdem ich erfahren habe, dass unser über allen Wassern schwebender Direktor am Nachmittag bei der Vorstandssitzung nur körperlich anwesend war. Angeblich hat er seine Notizzettel mit Kohlköpfen vollgekritzelt. Kohlköpfe! Ich war leider nicht zugegen, muss mich für die Konferenz vorbereiten. In seiner großen Güte hat der Direktor mich zum Assistenten der besonderen Art gemacht, zumindest für die Dauer der Konferenz, ich habe die Ehre, auf Professor Emma Lindauer einzugehen, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, denn der Zahn der Zeit hat sich unerbittlich in den armen Leib der Frau Professor geschlagen und ihr die Gehfähigkeit geraubt. Dabei soll sie bei glasklarem Verstand sein, Fluch oder Segen? Ich weiß es nicht, nur, dass der ohnehin heikle Charakter der Koryphäe dadurch nicht einfacher geworden sein soll. Also Patzer vermeiden. Ich darf zur Einleitung ihres von allen ungeduldig erwarteten Vortrags ein paar freundliche Sätze sagen, die durchblicken lassen, wie viel ich von der Veröffentlichung der geschätzten Kollegin nicht nur gelesen, sondern geradezu inhaliert habe. You are drifting again, Dr. Keller.

Es tropft, leise taut das Hirn vor sich hin, er hat also einen Tumor gehabt, der arme Gorilla, ich erkenne ihn kaum, und die teigig aussehenden Hirnwindungen inspirieren mich zu gar nichts. Zeit, dass es wieder in seinem kalten Zwischenlager verschwindet und ich mich hinab begebe aus den schwindelnden Höhen meines luftigen Büros, Feierabend mache. Vorher werde ich noch ein Pfeifchen rauchen und zum Lüften meinen Kopf aus dem Fenster halten.

Es ist still geworden, und das Gelände menschenleer, nur die rund gewordenen Schultern unter Wolkes grauem Kittel lugen zwischen den gelben Müllbehältern im Hinterhof hervor, das bringt die Tristesse dieser abgeschabten Textilie besonders gut zur Geltung. Was wirft er denn gerade da hinein? Ist leider nicht zu erkennen. Ich werde das überprüfen. Weiß auch nicht, warum ich diesem Hausmeister mit so abgrundtiefem Misstrauen begegne. Weil er mir ebenso begegnet? Oder weil er schon vor der Wende hier gewesen ist? Beides. Bevor ich anfange, im Müll zu wühlen, vertiefe ich mich lieber noch mal in die Rede, die dieser Künstler gehalten hat, als er seine drei kleinen Hirne in die Erde gelassen hat, nur das vorm Einsteinturm hat überdauert, die anderen beiden sind verschwunden. Die lesenden Auge haken nirgends fest, doch jetzt…

Er schaut auf seinen Nächsten. Er schiebt ihn in eine Röhre, in einen Kernspintomographen. Mit Hilfe der Kernspintomographie macht er Aufnahmen von Querschnitten durch dessen Gehirn. Er betrachtet die aktiven und inaktiven Bereiche dieser Aufnahmen als unterschiedlich bunte Flecken.

Es entstehen Karten.

Er wendet den Blick von seinem Nächsten und richtet ihn nach oben in Richtung Sonne. Er baut einen Turm und spiegelt das Abbild der Sonne hindurch, durch diesen Turm, zu ihm nach unten, um ihr verkleinertes, abgedunkeltes Abbild auf ein Blatt Papier zu projizieren. Er betrachtet Protuberanzen, Sonnenflecken, Punkte.

Es entstehen Karten.

Er senkt den Blick zwischen seine Füße auf den Boden, auf die Erde, bohrt mit kilometerlangen Bohrern in sie hinein, wie ins Hirn, zieht Proben, vergleicht an Hand von Farbveränderungen aktive und inaktive Bereiche, bestimmt das Alter der verschiedenen Gesteinsarten.

Er legt Karten an. Es entstehen Tabellen. Es gibt Theorien. Mögliche Erdbeben, mögliche epileptische Anfälle, Neuronen, Neutronen, Nukleonen, Neutrinos, Synapsen, … alles scheint auf vertrackte Weise wie verflochten.

Die Körpertemperatur beginnt zu steigen, wir sind auf dem richtigen Weg.

Wenn Eier aus Nestern fallen, fliegen die Nester den Bäumen wie Vögel davon.

Der Baum ist unser Körper, der auf der Erde fußt. Wissen beschwert uns. Gleichzeitig hält es das Bewusstsein in der Krone unseres Körpers fest.

Geist ohne Wissen ist so flüchtig, wie ein davonfliegendes Nest, wie eine unnötige Handbewegung im Dunkeln.

Das Hirn als Planet Erde, die Erde als Hirn, von Innen und Außen zu bestaunen, von Wissen und Wunder grenzenlos durchdrungen, von der Sonne nicht nur einseitig gewärmt.

es bleibt zu wünschen

Lyrik ist nicht mein Ding, ich will immer noch wissen, was der olle Wolke da in den Müll getan hat, Walter Wolke, seine Mutter war bestimmt in Ulbricht verknallt. Der Hausmeister kann mich nicht leiden, würde mich so gern oben im verbotenen Turmzimmer über meinem Büro inflagranti erwischen, dabei mache ich da gar nichts, bin einfach nur gerne da, und das ist nicht verboten, es ist ja schließlich auch nicht der heilige Einsteinturm, sondern nur das Türmchen des Süringhauses, dafür aber mit 360°-Panorama über Potsdam. Na ja, strenggenommen darf man nur ein Viertelstündchen da bleiben, damit man nicht erstickt, wenn’s mal brennt, weil keine Feuertreppe das denkmalgeschützte Gesicht des ehemaligen Meteorologiegebäudes verunstalten soll.

Da sind ja auch die Gummihandschuh, hier in meinem kleinen Kabuff ist Unordnung ein Luxus, den ich mir im Gegensatz zu den Genies, die großflächig im mehrdimensionalen Chaos arbeiten, nicht erlauben darf. 14 m2, gut gerechnet, und dann der große Kühlschrank, mein Vorgänger hat sich streng vegan ernährt und die Kantine nie betreten, als er die Stelle im Umweltministerium bekam, hat er mir das riesige Kühltier einfach vererbt, ich wollte das nicht, heute ist es zum ersten Mal nützlich. Wo sonst sollte ich das Hirn aufheben, bevor ich es dem rechtmäßigen Besitzer zurückgebe?

Keine Spur vom Hausmeister, habe zur Tarnung meinen Grünepunktmüll dabei, schwupps weg damit, der Container ist fast leer, merde, da muss ich wohl oder übel hinein. Um eine Tüte mit Postkarten zu finden. Wo kommen die denn her? Unauffällig lasse ich einen Packen davon in meiner Tasche verschwinden, vor dem Container steht breit grinsend Wolke, bevor er fragt, gebe ich Antwort, ziehe meinen USB-Stick aus der Tasche und murmle was von versehentlich in den Müll geworfen. Sein „Aha“ ist ein richtiges Stasi-Aha, egal, er kann mir nichts nachweisen, gezählt hat er die Postkarten sicher nicht. Ich gehe zurück nach oben, diesmal ins Turmzimmer, brauche einen würdigen Rahmen, um meine Beute zu betrachten. Mein Smartphone klingelt, ich hatte das Projekttreffen völlig vergessen, das Beutebetrachten im letzten Licht der Dämmerung, das Potsdams Silhouette vergoldet und mich erleuchten sollte, muss vertagt werden. Ich sause die Treppen runter, kann es dann aber nicht lassen, noch mal in den Container zu jumpen, um nachzusehen, die Tüte ist verschwunden, nun ist der Boden voller geschredderter Papierschnipsel, ein Blick genügt, das waren bis vor Kurzem bunte Ansichtskarten. Im Laufschritt inspiziere ich die geretteten, kann die Schrift nicht lesen, ist wohl Sütterlin, aber die Motive und die Briefmarken lassen keinen Zweifel, sie kommen aus aller Welt und wurden ans Institut geschrieben, nicht an Walter Wolke, der, was auch immer er damals gewesen sein mag, auf jeden Fall schon hier war. Statt mit voller Aufmerksamkeit beim Meeting zu sein, fummle ich an den glatten Oberflächen der Postkarten in meinem Sakko herum, ich sehne mich nach meinem Twinset, nach Inspiration und der Stille meiner Wohnung.

Warum ist mir Walter Wolke so zuwider? Weil man mindestens einen wahren Feind braucht in dieser Welt voller Facebookfreunde? Zu einfach, ich weiß nicht einmal genau, ob Wolke mein Feind ist, ich meine, speziell meiner, er ist der Welt, ich glaube dem Dasein an sich, feindlich gesonnen. Zumindest solange ich ihn kenne, dass er bei der Stasi war, ist ein Gerücht, er war keiner, der auf Montagdemos ging, daraus macht er kein Hehl, hat aber auch mit der Ostalgie nichts am Hut, ist immer grantig, sieht nur den Wurm, nie die Rose, oder wenigstens das Gänseblümchen. Und mich mag er nicht, weil ich das Schöne liebe, und er nicht begreifen kann, an was ich arbeite, der olle Schnüffler denkt wahrscheinlich, wenn er „Daisy“ liest, an Comics und dass diese Ente Amerikanerin sei, und das ist für jemanden wie Wolke unverzeihlich. Das ist meine Erklärung, die aber eher auf das Unbewusste zielt. Bewusst ist dem lediglich, dass ich zu oft an Orten bin, an denen ich seiner Meinung nach nichts verloren habe, aber für mich ist das Gelände auf dem Telegrafenberg mein Zuhause, und ein Zuhause mit verbotenen Räumen gibt es nicht. Ich bin Wissenschaftler, ich will wissen, was dahinter steckt, auch wenn es nur die Tür zum Fledermaussommerquartier neben meinem Büro ist. Der Text von Volker März ist leider eine verschlossene Tür ohne Schlüssel, wenn ich an ihn denke, schiebt sich ein Hirn vors andere und in meinem Hirn wird daraus ein Türklopfer aus Messing, keine Hand, sondern ein pulsierendes Hirn.

1 Wichtige Fachbegriffe sind in der Folge mit * markiert und werden im Glossar am Ende des Textes erklärt.

2 In der Rivabar

Dass es nicht der Innenraum eines Raumschiff ist, alles sicher im Jetzt verankert, wird spätestens klar, wenn sich die Tür öffnet und ein Mann mit einem zerknittertem Trench von der Stange den Raum betritt, sich suchend umsieht und am ovalen Tresen Platz nimmt.

Er war allein. Die Rivabar völlig leer.

Luzian Keller nutzte die Gelegenheit, sich seines Trenchcoats zu entledigen und die Jacke seines Twinsets aufzuknöpfen, dann verfiel er in eine Art Trance und bemerkte nicht, wie sich ihm einer der beiden Barkeeper beflissen näherte. Keller mochte keine Drinks, hielt überhaupt nicht viel von Alkohol und bestellte ein kleines Radler, das Gesicht des Barkeepers verzog sich, doch er brachte das Gewünschte kommentarlos. Diese Bar war absolut nicht für Besuche um 19 Uhr 30 gemacht, nicht für Menschen, die, wenn sie tranken, selbst Bier für zu stark hielten und es mit Limonade mischten, Keller spürte das, und es war ihm egal. Er wartete auf Frau Doktor Buschinski, die Leiterin der Abteilung für Hominidae im Naturkundemuseum. „Buschinski“ stellte sie sich vor, als sie unvermittelt vor ihm stand, und fragend „Herr Keller?“ hinterherschickte. Sie war ebenso unpassend gekleidet wie er, in einem hellem Ding, das ebenso gut Kittel wie Kleid sein konnte, ihre junoischen Formen bis zu den Waden verhüllte und sie genau so aussehen ließ, wie man sich die Leiterin der Abteilung für Menschenaffen eines Naturkundemuseums vorstellte. Haarknoten, Brille aus schwarzem Horn, mindestens einen Meter achtzig groß, und trotzdem war Dr. Buschinski eine Frau, die gefiel, und das wusste sie. Keller kam sich klein vor, regelrecht mickrig, klar, dass diese Frau Whiskey trank, pur, ohne Schnörkel, wie sie dem Barkeeper mitteilte, der ihr das Gewünschte nicht brachte sondern zelebrierte, hier war eine Kennerin, die galt es zu überzeugen, von dem Drink und dem, der ihn ihr brachte. Keine Sekunde zweifelte Keller daran, dass diese Frau, wenn er sie nur ließe, ihn verschlingen würde. Ihn schauderte, und er vermied es peinlich, mit seinen Knien auch nur in die Nähe der ihren zu kommen. Ein anstrengender Abend begann, Keller musste haarklein berichten, wie er das Gehirn gefunden hatte, Annette Buschinski schien sich zu amüsieren, und obwohl ihre Augen grau und kühl hinter der Brille im Raum umherwanderten, hörte sie ihm konzentriert zu. Sprach dann von dem Tumor, es sei selten, dass solche Erkrankungen bei Gorillas vorkamen, und schon damals, als dieser gefunden worden war, hatte es Stimmen gegeben, die behauptet hatten, dass solche Tumore im Hirn der Preis dafür seien, den auch die Menschheit für ihre Fortentwicklung zu zahlen hätte. „Alles Quatsch,“ war Annettes kurze und bündige Meinung, „denn dieser Tumor war ja nur die Spätfolge der unmenschlichen Experimente, die man mit dem armen Tier angestellt hatte,“ dann verließ sie die Bar, um eine Zigarette zu rauchen, und Keller hatte Zeit zum Nachdenken. Warum waren im Laufe der Jahre immer wieder Exponate verschwunden, auch Hirne von Kleintieren: Hatte ihn das überhaupt zu interessieren? Soweit er verstanden hatte, waren alle diese Tiere gesund gewesen, und es war lange her, dass sie abhanden gekommen waren. Dieses ganz besonders wertvolle Hirn aber war erst vor vierzehn Tagen aus der Sammlung verschwunden. Er hatte bisher nicht herausbekommen, ob es irgendeinen Verdacht gab, und fragte danach, nachdem sich Annette, ohne sein Knie berührt zu haben, wieder auf ihrem Barhocker niedergelassen hatte. Sie antwortete ihm ausweichend, hatte plötzlich Durst. Auch Keller bestellte noch etwas, die Bar hatte sich gefüllt, doch der Barkeeper war gleich zur Stelle, als Annette die Brauen hob und auf ihr leeres Glas wies, auch das zweite kleine Radler kam, ebenso prompt wie kommentarlos. Nein, es gab keinen Verdacht, oder um ehrlich zu sein, einen sehr vagen, den sie nicht äußern wolle, bevor sie nicht sicher sei. Ein Dutzend Mitarbeiter hatte Zugang zu dem Raum, in dem die Gehirne der Säugetiere aufbewahrt wurden. Es sei unfair, jetzt einen Namen zu nennen, zumal einem Außenstehenden gegenüber. Aber eins sei doch wohl klar, es sei gewiss kein Zufall, dass es das Gehirn eines kranken Gorillas war, das verschwunden und dort oben auf dem Telegrafenberg zwei Wochen später wieder aufgetaucht war. Der Täter hatte eine Botschaft, doch leider hatte bisher niemand begriffen, worin sie bestand. Sie persönlich tippe auf eine Art Mahnung, das darunter gelegene kleine menschliche 3sec-Hirn sollte von dem großen kranken Affenhirn überschattet werden, und die um den Einsteinturm herum arbeitenden Superhirne sollten sich anstrengen. Dann kamen das vierte und das fünfte kleine Radler, Keller trank, leider ohne dadurch neue Gedankenblitze freizusetzen. Doch er erfuhr, dass der Gorilla Hauptdarsteller in einer makabren Vorführung gewesen war, in der ein schottischer Hirnforscher 1881 auf einer internationalen Konferenz bewiesen hatte, dass einzelne Hirnregionen für einzelne Fähigkeiten verantwortlich waren. Er hatte dem Tier unter lokaler Betäubung einen bestimmten Hirnstrang durchschnitten, woraufhin das kaum noch laufen konnte, sonst aber unverändert schien. Gnädigerweise ließ man den Affen leben, und nach einigen Jahren hatte er das Laufen wieder erlernt. Erst bei der Obduktion nach seinem Tod fand man dann die vergrößerte Hirnregion, die die Funktion der beschädigten Region übernommen hatte, und darin den Tumor, den sie im überschwänglichen Wachsen gebildet hatte. Keller vergaß, sich vor Annette zu fürchten, trank sogar einen Whiskey mit ihr, und als sie sich voneinander verabschiedeten, hatte er beschlossen, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Feierlich versprach er, das abhanden gekommene Gehirn gleich morgen früh ins Naturkundemuseum zurückzuschicken. Zum Abschied küsste Keller Dr. Annette Buschinski galant die Hand, dabei lächelte er ironisch.

Petershagens Blick fiel wie so oft auf die Baustelle vor dem gut isolierten Fenster seines Büros. Seit er vor fast sechs Monaten aus Helsinki ans PIK geholt worden war, um den neuen Forschungsbereich „Langfristige Koevolution* von Natur und Zivilisation“ aufzubauen, waren seine eigenen Arbeiten ebenso langsam vorangekommen, wie die Arbeiten an dem kleeblattförmigen Büroneubau. Der Zustand des Neubaus hatte PIK-Direktor Albert Andersson nicht daran gehindert, Petershagen und seine paar Leute als erste Bewohner im bereits fertiggestellten Erdgeschoss des Kleeblatts unterzubringen, „als Kondensationskern des neuen Bereichs“, wie Andersson in Anspielung auf das Thema von Petershagens zwanzig Jahre zurückliegender Doktorarbeit bemerkt hatte.

Das war im letzten Herbst gewesen, noch bevor er bei der Institutsversammlung im Dezember ausgebremst worden war, Petershagen hatte die Raumfrage zunächst mit Humor genommen, aufgrund der allgemeinen Überbevölkerung in den vorhandenen Gebäuden auf dem Telegrafenberg konnte er kaum erwarten, ein Büro im erhabenen PIK-Hauptgebäude zu bekommen. Andersson hatte ihm erst eine Etage des weitab am anderen Ende von Potsdam gelegenen Ausweichgebäudes angeboten, doch das hatte Petershagen mit dem Argument abwenden können, dass dies die Integration seines neuen Forschungsansatzes in die vorhandene Kultur des PIK unnötig erschweren würde. „Da haben Sie natürlich vollkommen Recht, mein lieber Lars, integrieren Sie sich ruhig, aber vom Rande her, genauer gesagt, vom Waldrande“ – und dann der Spruch mit dem Kondensationskern.

Nun saß er in seinem Büro im Kleeblatt am Waldrand und dachte wieder einmal, dass dessen drei- und nicht vierblättrige Form ein Omen war, denn er hatte bisher nicht viel Glück damit gehabt, die etablierten Klimafolgenforscher von seinen neuen Ideen zu überzeugen. Petershagen hatte im vergangenen Oktober hoch motiviert auf der Wiese vor dem benachbarten Einsteinturm gesessen, mit Gruppenleitern, Post-Docs und Doktoranden der vier anderen Forschungsbereiche gesprochen. Die meisten waren anfänglich sehr aufgeschlossen gewesen und hatten bereitwillig über ihre Forschung und, was Petershagen ebenso sehr interessierte, das Sozial- und Machtgefüge am PIK geplaudert, doch er selbst hatte lediglich Gemeinplätze darüber abgesondert, wie wichtig es sei, die verschiedenen Aspekte des Klimawandels* und seiner Wechselwirkung mit der menschlichen Entwicklung als ein großes Ganzes zu sehen.

Tatsächlich hatte Petershagen sich bei diesen Gesprächen schnell in die Metapher verliebt, dass die am PIK betriebene Forschung in vielerlei Hinsicht einem fraktalen Objekt wie einem Baum, einer Galaxie oder einem Blumenkohl ähnele. Er war sich sicher gewesen, dass dieses Bild auch Andersson, der wie er Physiker war, gefallen würde. Aus Petershagens Sicht gab es im PIK-Blumenkohl einen mächtigen Strunk, der durch eine Reihe von aufwändigen Klimamodellen gebildet wurde – Computerprogrammen zur Simulation der vergangenen und zukünftig möglichen Entwicklung des globalen Klimas*, entwickelt von den „Modellierern“ im Forschungsbereich „Erdsystemanalyse*“. Die übrigen drei Forschungsbereiche bildeten demnach die Hauptäste des Kohls, die sich immer feiner verzweigten, entsprechend der Unterteilung in immer speziellere Forschungsfragen zu allen naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten des Klimawandels. Da waren z.B. die „Anpasser“ im zahlenmäßig größten und wohl interdisziplinärsten Bereich „Klimawirkung und Vulnerabilität*“, wo sich Natur- und Gesellschaftswissenschaftler aller Richtungen auf Basis von meteorologischen Messdaten und Simulationsergebnissen die Auswirkungen des Klimawandels auf Natur und Gesellschaft in verschiedenen Weltregionen studierten und nach Möglichkeiten suchten, sich an diese anzupassen. Noch interessanter schien Petershagen der Forschungsbereich „Nachhaltige Lösungsstrategien“, dessen Internetauftritt ein Schiffssteuerrad zeigte und dessen Mitglieder, hauptsächlich Ökonomen und Physiker, daher nur die „Steuermänner“ genannt wurden, obwohl diese Forscher die eigentlichen Steuerleute in der Politik ja bestenfalls beraten und die Gesellschaft über mögliche Maßnahmen und deren Konsequenzen aufklären konnten. Und schließlich war da noch der leicht ominöse Forschungsbereich „Transdisziplinäre Konzepte und Methoden“, in welchem sich die „Transis“ genannten Forscher in zuweilen sehr hohem Abstraktionsgrad Gedanken darüber machten, wie überhaupt Modelle entwickelt und Daten analysiert werden könnten, und diese neu entwickelten Methoden dann an Praxisbeispielen testeten.

Anders als bei einem Baum sah man diesen logischen inneren Aufbau allerdings nicht leicht, wenn man wie die Öffentlichkeit lediglich von außen auf die blickdichte Oberfläche aus zahllosen großen und kleinen Blütenständen des Blumenkohls schaute, die den wichtigeren und weniger wichtigeren Einzelerkenntnissen der Klimafolgenforschung entsprachen. Obwohl Petershagen nicht so genau wusste, wo er seinen eigenen neuen Bereich einordnen sollte, fand er das Bild vom Blumenkohl so schön, dass er es immer häufiger verwendet hatte, sogar wenn er an seinen Ideen zur grundlegenden Restrukturierung des PIK gearbeitet hatte.

Jetzt, fast ein halbes Jahr später, wurde er immer noch wütend, wenn er daran dachte, wie er nach jenen ersten zwei Monaten im Dezember auf der jährlichen Institutsversammlung vor den rund vierhundert Mitarbeitern gefordert hatte, das PIK müsse vom gewöhnlichen Blumenkohl zum Romanesco-Blumenkohl werden. „Wie soll ich das verstehen,“ hatte Direktor Andersson in seinen Vortrag hineingefragt. „Nun, zunächst einmal ist der Romanesco gewissermaßen eine Weiterentwicklung des Blumenkohls, er ist auch grüner,“ – hier gab es ein kurzes Auflachen aus den hinteren Reihen, wo einige Doktoranden saßen – „aber vor Allem hat er trotz seiner fraktalen Verästelung ein viel höheres Maß an Selbstähnlichkeit als der Blumenkohl.“ Nicht erwähnt hatte er, dass der Romanesco in der Stadt gezüchtet worden war, mit der er sich besonders verbunden fühlte, seit er erstmals von der Geschichte der kapitolinischen Gänse gehört hatte. „Selbstähnlichkeit ist eine Struktur, die sich vom großen Ganzen bis zum kleinsten Detail immer wiederholt,“ hatte er unvorsichtigerweise nachgeschoben – doch Andersson hatte nur erwidert: „Wir alle wissen, was Selbstähnlichkeit ist. Ich bin mir selbst ähnlich genug.“

„k ist doch die Boltzmann-Konstante,“ war da von hinten gekommen, und eine andere hatte gerufen „Und h ist Plancks Konstante,“ was Andersson jedoch ignoriert hatte: „… wenig Sinn ergibt. Wieso bleiben Sie nicht einfach bei dem Namen, den ich Ihrem Forschungsbereich gegeben habe: Langfristige Koevolution von Natur und Zivilisation. Sie wollen mir doch wohl nicht die Langfristigkeit unterschlagen, lieber Lars, oder? Und hochfliegende Pläne zur Neuausrichtung unseres Instituts überlassen Sie im Übrigen besser mir. Die Rolle des Alphatiers ist hier schon doppelt besetzt – beide Male mit mir, qua nomine.“

Den Rest der Fragen nach seinem Vortrag hatte Petershagen dann nur noch auf Autopilot beantwortet. Die mögliche Replik auf Doppel-Alpha, wie er den Direktor fortan nannte, – dass langfristig Natur und Zivilisation nur den Roten Riesen* Helios treffen und damit nicht nur auf H beginnen sondern auch auf H enden würden – diese Antwort hatte er heruntergeschluckt. Er hatte sich sogar überwinden können, bei der nächsten Sitzung der Forschungsbereichsleiter den bescheidenen Teamplayer zu geben.

Teamplayer war das Stichwort, Petershagen erinnerte sich daran, dass er in einer halben Stunde mit seiner französischen Doktorandin in der Kantine verabredet war, in dieser Konstellation war es einfacher, ein gutes Spiel zu machen. Sein Blick löste sich vom Fenster und fiel auf den Schreibtisch, auf dem sich außer seinem Laptop und dem Telefon nur der Füllfederhalter befand, den hatte Littlewood ihm anlässlich seiner Promotion über Kondensationskerne geschenkt. Zwanzig Jahre war es her, der ehemalige Doktorand war nun in dem Alter, in dem Littlewood damals gewesen war. Petershagen schreckte aus seinen Gedanken hoch, als Manon Duval lachend den Raum betrat und ihn an ihre Verabredung erinnerte.

3 Postkarten, Sütterlin und Blumenkohl

Die Zunge ist kein Pelztier, blöde Erkenntnis und momentan nicht beweisbar, ich hasse Alkohol, warum habe ich diese Unmengen Radler in mich reingegossen? Das will keiner wissen. Am Nebentisch wird lauthals referiert; über den Baubeginn des Wissenschaftsparks 1874, bla, bla, bla Sonnenobservatorium Einsteinturm, Betonbauweise nicht ausgereift, Mischbauweise, Schäden … mir dröhnt der Schädel, der Mann ist eindeutig nicht auf Zimmerlautstärke programmiert, ich will an diesem Morgen in meiner Kantine sitzen und in Ruhe Kaffee trinken! Wer schleppt denn so früh schon Touristen aufs Gelände.

Besonders mitteilsam war diese Annette nicht gewesen. Hat zwar viel erzählt, aber als es um den möglichen Täter ging, war sie plötzlich ganz schön zugeknöpft, vielleicht sollte ich ihr das Hirn doch noch nicht schicken, Ware gegen Infos, so läuft das. Petershagen ist ja auch hier, hat sich wieder hinter Papier verschanzt, den sieht man nie nur Sitzen, ich wage nicht, mich bei ihm zu bedanken. Hätte nicht gedacht, dass der sich für mich einsetzen würde, hat den Chef gerade noch gestoppt, sonst wäre ich in der Luft zerrissen worden. Zu Recht, ja sicher! Obwohl, nicht so hastig, nicht zu Recht. Nicht ganz, ich hätte ihn anrufen können, vorher fragen OK, OK, OK, aber was, wenn es wirklich das Hirn eines Menschen gewesen wäre? Was, wenn das Opfer frisch hirnamputiert und folglich tot bei uns im Gebüsch gelegen hätte? Dann wären alle über den armen Keller hergefallen, dann hätte es geheißen, der Luzian ist noch nicht einmal in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, wenn er über blutige Hirne stolpert. Ich brauch mehr Kaffee, um aus dieser Konjunktivfalle rauszukommen. Immerhin, das Hirn ist mein, ich habe den Fund gesichert, seltsam genug, dass die Polizei das nicht gemacht hat. Manchmal ist es von Vorteil, dass wir als spleenige Wissenschaftler gelten, hier oben auf unsrem 96-Meter-Berg, da wird die Luft manchmal dünn für Normalsterbliche. Endlich, die Trampeltiere verlassen samt ihrem Leithammel unsere Kantine. Zeit, sich meinem zweiten Fund zu widmen, siebenundzwanzig bunte Postkarten, nach Poststempel sortiert, das habe ich gestern Nacht gerade noch hinbekommen. Trotz der Orgie in der Rivabar, alle in der Zeit zwischen neunzehnhunderteinundsechzig und neunzehnhundertachtundsechzig geschrieben, alle mit „G“ unterschrieben, Sütterlin, ich kann kaum was entziffern, es sind viele Karten aus Italien dabei, besonders aus Rom, der Mann mochte Latein, da hat er sogar deutlich mit Druckbuchstaben geschrieben, aber ich weiß nicht, was die Sprüche bedeuten sollen.

Berlin, 14.8.1961, umseitig ein Bild der chinesischen Mauer: „Liebes M, … [Sütterlin] … Nullus contra fortunam inexpugnabilis murus est! Dein G“

Rom, 18.10.1963, mit Delaunays Gemälde „die Pest in Rom“: „Liebes M, … Exitus acta non approbat. Quia pestem seminabunt, turbinem metent. Mox fuge, longe recede, tarde redi. Dein G“

Boston, 25.4.1965, umseitig Porträtphoto Einsteins: „Liebes M, … Deus alea non ludit! … Dein G“

New York, 1.1.1967, mit Freiheitsstatue: „Liebes M, … Si disseminas, cautus sis. Non obliterabant petri castrum sanctum. Dein G“

Rom, 7.4.1968, mit Reiterstandbild Marc Aurels: „Liebes M, … Ut non custodes solum fallerent, sed ne canes quidem excitarent. Anseres non fefellerunt … Dein G“

Rom, 9.4.1968, mit Constantinsbogen: „Liebes M, alea iacta est … Dein G“

Kann ich nur raten, mein Lateinisch ist lausig und Sütterlin hab ich nie gelernt, so komme ich zu keinem Ergebnis, soweit ich es beurteilen kann, alles lakonisch, deshalb denke ich, dass es ein Mann geschrieben hat, aber das ist nur eine Vermutung, „G“ muss nicht Günther oder Gabriel heißen, kann auch Gisela oder Greta sein. Ich werde mal rumhorchen, wer sich hier mit Graphologie auskennt. Hier findet man immer jemanden, der einem weiterhilft. Und Wolke? Wie kam der Hausmeister zu diesen Karten? Und warum entsorgt er die Dinger ausgerechnet gestern Abend? Wenn man vom Teufel spricht, ist der Graukittel schon zur Stelle, diesmal bewaffnet mit Bohrmaschine und Werkzeugkasten. Nichts wie weg hier. Immerhin gibt es ja auch noch eine Frau in meinem Leben, Emma Lindauer, diese gelehrte Dame heischt meine Aufmerksamkeit.

Erst kurz vor der Mittagspause kam Keller dazu, sich um die Nobelpreisträgerin Emma Lindauer und ihre umfangreichen Publikationen zur Evolution durch Symbiose zu kümmern, in der sie nachwies, dass unsere Zellen sich ursprünglich aus dem Zusammenschluss von Bakterien bildeten, unbeeindruckt von dem damaligen Paradigma, dass Bakterien „Bäh“ seien. Sie nannte das die serielle Endosymbionten-Theorie.

Am Ausgang der Kantine holte ihn Petershagen ein und fragte nach dem Verbleib des Gehirns. Von Kellers Antwort sichtlich erfreut, fasste er ihn am Arm, „Sie gestatten, dass ich einen Blick darauf werfe, bevor es zurückgeht? Es lässt mich einfach nicht los, seit gestern grüble ich darüber nach, was das Ganze soll.“ Keller wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte, er wollte Petershagen vertrösten, hatte nicht mit dessen Hartnäckigkeit gerechnet, spürte nur die Hand auf seinem Arm.

„Kommen sie schon, ich möchte einen kurzen Blick darauf werfen, es dauert nicht lange, bis sie ihr Separee wieder für sich haben.

„Nur keinen Neid, ich arbeite viel beengter als sie in ihrem Neubau. Sie haben das bessere Los gezogen, ich würde liebend gern mit ihnen tauschen.“ Keller hatte geschmeidig gelogen, doch Petershagen hatte offensichtlich wenig Lust, das ewige Thema Platzmangel auf dem Telegrafenberg mit ihm zu erörtern. Keller merkte, dass sie sich auf Umwegen von seinem Arbeitsplatz im benachbarten Süringhaus entfernten und sich stattdessen nach Süden in Richtung Einsteinturm bewegten.

„Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Schleife,“ setzte Petershagen die Unterhaltung fort.

„Ist einen Gedanken wert, sollte überprüft werden.“

„Hat ein Freund von mir entwickelt, der hat sich immer verfahren, weil er so viel gekifft hat. Ich habe festgestellt, dass an dieser absurden Behauptung was Wahres dran ist.“

Keller hielt kaum Schritt, Petershagen hatte einen energischen Gang, er war etwas größer als Keller, und man sah ihm die Mitte Fünfzig nicht an, obwohl in seinem dunklen Haar schon viele weiße Fäden waren.

„Sie haben mich gestern elegant aus der Schusslinie genommen. Danke.“ Keller ärgerte sich über die Militärfloskel und bückte sich erneut zu dem Hirn aus Messing hinunter.

„Nichts zu danken. Ich habe lediglich meine Meinung geäußert.“ Auch Petershagen hatte sich hingehockt, die beiden Männer stießen fast mit den Köpfen zusammen, als sie sich über das blankgeputzte Hirn beugten.

„Da hat Wolke sich aber ins Zeug gelegt, ich rieche Silberputzmittel.“ Keller kräuselte die Nase.

„Erstaunlich, solche hausfraulichen Kenntnisse besitze ich gar nicht, hat das denn einen besonderen Geruch?“

„Es riecht jedenfalls anders als Blut, und davon gab es hier gestern reichlich. Hat sich eigentlich jemand die Mühe gemacht, zu analysieren, von wem das Blut stammte?“ hakte Keller nach.

„Meines Wissens nach nicht, aber das können wir ja nachholen, meine Doktorandin Manon Duval studiert im Nebenfach Biologie, die wird sich gern darum kümmern.“

„Das wäre gut! Ist praktisch, eine kleine Horde Doktoranden um sich zu haben, oder nicht?“ Keller wusste, dass der Neid ihn bewogen hatte, so zu fragen.

„Eher selten, ich bin als Doktorvater nur bedingt geeignet, komme mir dabei immer irgendwie zwittrig vor.“ Petershagen zuckte mit den Schultern.

Keller wechselte das Thema. Er schlug vor, noch einmal das Gebüsch abzusuchen, vielleicht hatte die Polizei ja etwas übersehen, sie hatte schließlich nach einer Leiche gesucht. Aber ihre Suche verlief ergebnislos, und die beiden Wissenschaftler begaben sich schließlich über den Waldweg am meteorologischen Messfeld vorbei zu Kellers Büro im Süringhaus, dort beugten sie sich wieder gemeinsam über ein Hirn, diesmal hielt Keller Abstand. Er war verstimmt und wusste nicht weshalb, fand dann kein passendes Behältnis für eine Probe, und ärgerte sich über den Zeitverlust.

„So wird das nichts, ich bring ihnen die Blutprobe später vorbei. Es eilt ja nicht.“

„Dann will ich sie nicht länger aufhalten, sie wissen ja, wo sie mich finden. Wir hatten übrigens noch mehr hohen Besuch erwartet, Julian Littlewood, leider hat er abgesagt.“

„Der Julian Littlewood, der vor ein paar Jahren den großen Vulkanausbruch auf Island als Resultat von Geo-Engineering* bezeichnete? Das hat die Fachwelt ja sehr geteilt aufgenommen, bin da auch skeptisch.“

„Littlewoods Ansätze sind nicht Jedermanns Sache, oft provokant, aber unbestritten ist er einer der konsequentesten Denker auf seinem Gebiet. Er war mein Doktorvater, hat mir viel beigebracht.“

„Ich kenne ihn und seine Arbeit kaum, fällt nicht in mein Fachgebiet, ich maße mir da keine Meinung an.“ Keller sah, dass sein Einlenken zur Kenntnis genommen wurde, er hatte Petershagen verstimmt und war nicht sicher, ob gewollt oder ungewollt.

Als Petershagen weg war, widmete sich Keller wieder Emma Lindauer, aber ihre Serielle Endosymbionten-Theorie vermochte es nicht, ihn zu fesseln. Immer wieder schob sich das Gehirn vor sein inneres Auge, und er sah deutlich, dass da etwas fehlte. Schon lange, oder erst seit Kurzem, um das herauszubekommen, musste er mit Annette Buschinski telefonieren, das wollte er nicht. Der Bereich vor der linken Zentralfurche war beschädigt, es fehlte ein Stück, ungefähr daumengroß, wie er beim Vergleich mit der rechten festgestellt hatte. War dort nicht das motorische Zentrum, das man angeblich durchschnitten hatte? Aber für ein bloßes „Durchschneiden“ war das fehlende Stück zu groß, vielleicht war dort noch etwas anderes gewesen, außerdem sahen die Ränder der Lücke gar nicht nach Skalpell aus, eher nach Schnabel… Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken, er erkannte ihre Stimme sofort, der Gedanke an Telepathie hastete durch sein Hirn, er hasste sich dafür, so stotternd durch die Sprache zu stolpern. Annette Buschinski kündigte ihren Besuch an, sie würde in der nächsten Woche nach Potsdam kommen, hielt einen Vortrag im Einsteinforum am Alten Markt. Bei der Gelegenheit würde sie dann auch das Gehirn abholen, es eile nicht. Keller atmete auf, das gab ihm Zeit, er konnte jetzt gefahrlos seine Frage stellen. Ja, das Experiment sei vor der linken Zentralfurche ausgeführt worden, ein sauberer kleiner Schnitt, aber ein regelrechtes Loch? Nein, lautete die Antwort, ein Loch sei nicht drin gewesen, als sie sich das Hirn das letzte Mal angesehen hatte, aber, so ihr Einwand, es könnten Ratten daran genagt haben, dass die nicht ganze Arbeit geleistet hatten, wundere sie sowieso, ein Glück, dass die Viecher Spiritus offensichtlich nicht lecker fänden. Keller blieb skeptisch, Spuren von Rattenzähnen stellte er sich anders vor, er glaubte weiter an seine Idee von dem fehlenden Teil in dieser Inszenierung, das vieles, wenn nicht alles erklären würde. Er nahm Annette Buschinskis Einladung, zu ihrem Vortrag zu kommen, an und ärgerte sich darüber. Er hatte wirklich keine Zeit für so etwas, ließ sogar seine Mittagspause ausfallen, um sich ganz seiner Emma widmen zu können. Die spät berühmt gewordene Mikrobiologin war am 3.8.1935 in Königsberg geboren, hatte ihr Studium an der Humboldt-Uni absolviert, aber schon bald in Potsdam geforscht. Ihren ganzheitlichen Blick vom Kleinsten, ihren geliebten Mikroorganismen, bis hin zum Größten in Gestalt ganzer Himmelskörper hatte sie vermutlich während ihrer kurzen Ehe mit dem Astrophysiker Geza Casimir von 1957 bis 1963 entwickelt. War sie deshalb ab Mitte der 1960er-Jahre zur Unterstützerin der aufkommenden Gaia-Theorie geworden, die ihre amerikanische Kollegin Lynn Margulis und der Chemiker James Lovelock damals gerade entwickelten? Wie klein die Daisyworld doch ist, dachte Keller, denn dieser Lovelock war es auch gewesen, der sein geliebtes Daisyworldmodell veröffentlicht hatte, und zwar zur Illustration eben jener Gaia-Hypothese*, die ja besagte, dass das Gesamtsystem Erde seinen Stoffwechsel wie ein einziger großer Superorganismus selbst reguliert. Keller würde Lindauer unbedingt darauf ansprechen. 1968 war ihr eine Konferenzreise in die USA erlaubt worden, also musste sie wohl als linientreu gegolten haben, aber, einmal dort, setzte sie sich doch bald ab und blieb in Amerika, statt in die DDR zurückzukehren. Waren die Karriereoptionen für Wissenschaftlerinnen damals so viel besser in den USA als in der DDR, die ja als besonders frauenfreundlich galt? Oder wollte sie Geza wiedersehen, der schon beim Mauerbau bei einem Seminar in Westberlin auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs geblieben war? Wenn ja, war das wiedergefundene Glück von kurzer Dauer, erneut geheiratet hatten sie nicht. Vielleicht blieb Emma keine Zeit für ein Eheleben, denn sie forschte so eifrig weiter, dass sie bereits mit 35 Jahren eine Professur für Mikrobiologie bekam, die sie für Forschung im Zusammenhang mit der Gaia-Theorie verwendete, genauer gesagt, um den beträchtlichen Einfluss von Mikroorganismen auf das Erdsystem nachzuweisen. 1999 bekam sie dann ihren Nobelpreis, für Chemie, für Biologie hatte der Dynamitbaron keinen gestiftet, aber sie bekam ihn nicht für die Gaia-Sachen sondern für die frühere Arbeit als Doktorandin in Potsdam. Da hatte sie die Evolution von Plastiden erforscht, Zellorganellen, die für die Photosynthese benötigt werden.

Keller brauchte eine Rauchpause, entdeckte dabei den Stapel Postkarten, den er unter seinen Tabak in die Schreibtischschublade gelegt hatte. Er ignorierte ihn und beschloss, sein Pfeifchen unten zu rauchen. Dass sich zufällig eine der Karten an den Tabaksbeutel geschmiegt hatte und er sie mit ihm aus dem Sakko zog, dafür konnte er wirklich nichts. Er las: „Liebes M, Rom ist so schön wie eh und je, aber diesmal macht mich der Anblick der Ruinen nicht froh, die Gründung des Club of Rome sollte mich freuen, doch mir erscheint es, als sei alles schon zu spät. Nichts wünsche ich mehr, als mich hierin zu täuschen. Es grüßt dich G.“ Wieso schrieb der geheimnisvolle G diesmal in Druckbuchstaben? Wieso hatte sich ausgerechnet diese Postkarte an seinen Tabaksbeutel geklebt? War G durch den Umstand, das sich der Club of Rome gegründet hatte, so aus der Bahn geworfen worden, dass er in der altmodische Sütterlinschrift nicht mehr schreiben wollte, oder sollte das hier im Unterschied zu den anderen Karten auch von Dritten ohne Weiteres gelesen werden können, war diese altertümliche Schrift weniger Ausdruck einer konservativen Geisteshaltung als vielmehr eine Vorsichtsmaßnahme?

Der Poststempel war verwischt, auch so wusste Keller, dass diese Karte 1968 geschrieben worden war und G ein Pessimist, wie er selbst. Wieder hatten ihn seine Schritte zum Einsteinturm gelenkt, er schlug sich ins Gebüsch und suchte überall dort, wo er am Vormittag mit Petershagen nicht gesucht hatte, den Boden ab. Und diesmal wurde er fündig, unter Brennnesseln verborgen lag eine gelbe Tüte mit der Aufschrift: Huotang Asia to go, Potsdam, darin ein paar Latexhandschuhe, zwei zerrissene Chopstickhüllen und drei „kleine Feiglinge“, leer. Hatte der Täter solchen Fusel getrunken? War das ein Fund? Oder alles Zufall? Wo war dieser Imbiss, er musste das herausfinden. Sollte er das mit Petershagen besprechen, oder nicht? Keller hatte seinen Fund vorsichtig mit einem Stöckchen inspiziert und trug ihn jetzt wie an einer Angel vor sich her, sehr froh, dass ihm keiner entgegenkam, als er am Hauptgebäude vorbei zurück zum Süringhaus ging. Unbeobachtet war er nicht, aus seinem Kellerkabuff neben dem historischen Michelson-Schauexperiment, das dem Haus seinen jetzigen Namen „Michelsonhaus“ gab, hatte Wolke ihn im Visier gehabt, kam heraus und stellt sich ihm in den Weg. „Was soll das denn werden? Sind sie unter die Messis gegangen? Wir haben Müll genug hier…“

„Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck, ich möchte hier durch, und meine kleine gelbe Tüte will das auch. Also bitte…“