Das Bahnwärterhaus - Lorna Johannsen - E-Book

Das Bahnwärterhaus E-Book

Lorna Johannsen

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Beschreibung

"Das Bahnwärterhaus" spielt im Gestern oder Vorgestern. Erzählt wird die Geschichte der Metamorphose einer Frau in eine Minotaurin. Der Roman, im Stil des magischen Realismus geschrieben, erzählt aus der Perspektive dreier Figuren - der Protagonistin, ihres Ex-Freundes, dem Besitzer des Bahnwärterhauses und dessen Mieter, einem alten Eisenbahner. Brandenburg, ein Haus nahe den Gleisen, am Rand eines Dorfes. Der Besitzer vermisst seine verschwundene Geliebte nicht und fährt in die Ferien. Sein Mieter, ein alter Eisenbahner, bleibt allein zurück, er trinkt schon lange zu viel.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

1

Ihr seid, was wir nie sein wollten,

die Viecher, die Monstren.

Nun sind wir wieder da, das alte Zeug,

das was nicht gesehen werden will.

Lebt da und da, so zwischen euch,

fremd, gemieden,

weder arm noch reich, einfach da.

Wisst ihr noch? Auerochsenort……

Wir waren hier, bevor ihr jene kleine Urkunde mit unsrem Konterfei bekommen hattet, wir waren da, ohne Schrei und Lachen. Jetzt sind wir zurück, um eine zu schützen, um mit einer Trauer zu tragen, Minos, unseliger Minos, wieder nichts als Leid und Weh! Niemand sah uns je Menschen fressen, niemand sah uns auf Knochen malmen. Niemand sah den großen Helden im Labyrinth allein mit unserem Ahnen. Gott, Gott, Gott, dort ist gestorben worden, auch geboren, zu spät, zu spät. Wehe, wehe, der da starb, war Vater schon und vielfach, der der nie gemordet hatte, gemeuchelt von einem feigen Helden, der keine Fragen stellte! Minotaurus, Alter, Ahne, kein Mensch konnte deinen Anblick ertragen, wagte jemals dir ins Gesicht zu sehen: Wir tragen es nun alle, wandern zwischen den Bäumen, dem Meer zu, zum Allerlei aus schönem Kraut, Gischt und Hauch.

Fremd, dickköpfig nur Zeugen einer Welt, die wir zu unseren Gunsten nie umstimmen konnten. Liebt uns denn keiner? Ist niemand da? Um zwischen Horn und Horn den Stierschädel zu kosen? Nein, niemand, Helden folgend wisst ihr nur tötend zu gewinnen, nichts mit uns anzufangen. Ist Krieg nun wie immer, und wir werden untergehen, das Volk der Minotauren, waren viele gewesen, und ist noch einmal, für einen Leib, für einen neuen zotteligen Schädel da, denn bald werden alle Hufe haben, nie wieder Füße, aus der Welt zu stampfen, nicht zu gehen. Das Zwittrige wird verschwunden sein, um wieder zu entstehen, an einem anderen Ort, geändert durch Raum und Zeit. Keinem bleibt seine Gestalt, das Echo hallt unzählbar oft zurück, keinem bleibt seine Gestalt, Gestalt, Gestalt……

Ovid, erzähle einmal noch von Metamorphosen und hilf uns bei unserer letzten Wandelung in dieser Welt.

Er weiß heute nicht mehr viel von gestern, war es gestern gewesen? Kein gut verkleidetes Morgen?

In diesem Priel, dessen sandiger Untergrund ihn wie ein Strudel nach unten zieht, hier nah Afrikas Küste, in Tarifa, vis à vis Tanger. Hier wo sekundenschnell der Körper bis zum Hals im schmuddeligen Wasser verschwunden, mit aller Kraft aus dem Sand gezogen und wieder ans Ufer gekommen ist, hier wurde der gestrige Tag, gezackt zwar, voller Riffe und Riefen, wieder erinnerbar. Vollendete sich in ihm, in triefenden Kleidern an den Strand gegossen, nun deutlicher als im erlebten Augenblick, die Einsicht:

Sie war gegangen, auf Strümpfen aus dem Fenster gestiegen, in den Wald gegangen und nicht wiedergekommen. Hatte ihre Schuhe stehen lassen. Die Nylonstrumpfhose noch angezogen, alles andere auch, nicht aber die Schuhe. Zwei schwarze Lacklederstiefeletten standen am Bett, stehen immer noch, ganz sicher, unverrückt am selben Ort.

Und er war geflogen, trotzdem geflogen, als ob niemand gegangen wäre, niemand fehlte. Und es fehlt ja auch keiner, nur trockene Sachen hätte er gern. Er steht auf, bemerkt es erst jetzt, die Kamera steckt in seiner linken Jackentasche, und es ist bald klar, er hat den Priel überlebt, das Gerät nicht. Es wird keine Fotos geben, zwei Wochen Kiten wird er undokumentiert lassen müssen.

Im Hotel wird der Schaden genau besehen, die Kamera ist hinüber, Akku und Chip sind intakt geblieben, auf dem Display werden die letzten Bilder sichtbar, Thyrow im Winter, sein Haus, das Bahnwärterhaus ganz weiß und tief verschneit, dann die ersten Spuren von Grün, auf dem allerletzten Bild ein Liegestuhl mit einer verrutschten Decke, sie war schnell aufgesprungen, wollte kein Bild, ließ sich nie fotografieren.

Morgen wird es Wind geben, 4–5 Stärken, genau den richtigen, auflandig und weder zu böig noch zu lasch, hoffentlich.

Oben auf der Dachterrasse kann man heute bis nach Afrika sehen, er sieht es nicht, bleibt im Zimmer, hat Gliederschmerzen, nur jetzt nicht krank werden, kein Risiko eingehen. Morgen wird der perfekte Wind wehen, und er wird auf dem Brett stehen, unterm Kite in die Luft springen, ganz sicher.

Am Morgen weht er wie vorausgesagt, Wolken hängen tief über Tarifas Küste, hohe Regenwahrscheinlichkeit macht den Aufbruch hektisch, Frühstück im Stehen, die paar Stunden muss er mitnehmen. Hat bis zum Mittag dreimal den Schirm gewechselt und nun ist Flaute.

*

Hüte dich vor haushohen Hecken, vor’m Zecken Erschrecken und Zuversicht. Das Blaue Flämmchen wandert den Hang hoch, hüpft vor der Wildschweinsuhle auf und ab und verschwindet im Unterholz. Süffel hatte es vor ein paar Tagen schon einmal gesehen und war ihm nachgegangen. Nichts, es ist verschwunden, er reibt sich die eingesunkenen kleinen Augen, noch röter als sie schon sind, Verdammt, er hat es gesehen, er hat es zweimal ganz sicher gesehen! Pech, dass der neue Hausherr nicht da ist, ihn hätte er fragen können, der hätte es bestätigt. Ihm diesen Zweifel erspart, er stolpert den Hang bis zum Kamm hoch, ist nicht in Form, hat sich den dritten Tag nicht im Griff, tastet nach Kleingeld, findet noch 4,10 Euro, also lohnt der Gang zum Lidl, jetzt wo er schon einmal hier oben ist, wird er zu Fuß gehen, das Rad zu holen bringt nichts mehr, er nimmt den Weg durch die Waldsiedlung, nun kommt das Holzhaus mit dem spitzen Dach, er muss gleich daran vorbei sein. Es bleibt unsichtbar, ist verschwunden, er ist vorbeigegangen. Oder doch nicht… eine Gedankenspirale netzt Schweißtropfen in sein Gesicht, unsicher dreht er sich um, hat nicht viel getrunken, fast nichts, am Vormittag ein Glas, später ein zweites, nicht mehr. Es ist genug, er kehrt um, wird nicht zum Lidl gehen, nichts zu Trinken kaufen. Scharf schrammt es durch sein frisch rasiertes Gesicht, eine Dornenranke, er hat eine Hecke gestreift, ein hohe Hecke, so eine dornige Deckung.

Wenn ich manchmal in den ungewissen Stunden der Dämmerung den Windhauch seiner Schwingen spüre, erfasst mich das Verlangen, von ihm gesucht zu werden, diejenige zu sein, die von den schwarzen Schwingen geborgen, davongetragen wird. Er aber fliegt an meinem Haus vorbei, hat noch kein Interesse an mir, in einem anderen, benachbarten, endet in diesem Augenblick das Sterben, der schwarze Engel des Todes ist eingetreten.

Keine Sorge mein Lieb, sie endet schon, wandelt sich wie die Sonne, die erst zu einem roten Stern, dann zum weißen Zwerg und schließlich zu kosmischen Staub wird, mitunter ist ihr Verschwinden mit bloßem Auge zu erkennen, jede Liebe hat ihre Lebenszeit, wie alles andere auch, ist von Ewigkeit weit entfernt.

Es wird keine Wenn- und Abers mehr geben, und wenn würde ich in ihnen ersaufen. Nie fiel mir das Gehen so schwer, dieses Gehen ohne sich umzudrehen, wie in dieser Stunde, in der die Möglichkeiten sich zu einer einzigen Gewissheit verdichten, zusammenschmelzen zu dem Klumpen: es ist. Ich ändere mich, dies ist die Änderung, die unangekündigt vor Augenblicken beginnend, lange erwartet, stets negiert, jetzt eingetreten ist und alles bisherige zunichte macht.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit, seit ich mich hier verberge sind die Symptome sichtbarer und sichtbarer geworden. Ich fühle das Fremde meines Schädels, die geänderte Physiognomie, ohne dass es anderen schon auffallen würde.

Und ich fühle wie sich meine Zunge verdickt, wie schwerfällig sie geworden ist. Dass ich die Sprache wohl nicht verliere beruhigt mich kaum, auch dass das Denken mir bisher nicht schwerer fällt, ist ein schwacher Trost. Unerträglich ist die unabwendbare Unbeweglichkeit, das an den Ort gekettet zu sein, von nun an, für immer, führt zu nichts, daran zu denken wird dennoch nicht unterlassen, noch und noch, die ganze Nacht.

Am Morgen danach allein in diesem nach Moder riechendem Haus aufzuwachen, mein albernes Erschrecken, als ich ihn das erste mal zu Gesicht bekomme.

Statt dankbar zu sein, der Clan, es gibt ihn also wirklich, ich habe es gewusst aber nicht geglaubt, so wie ich immer wusste wer ich bin, woher ich stamme, und was das bedeutet, bedeuten wird, später, viel später.

Später ist jetzt, so plötzlich jetzt, dass ich schreien möchte, mit dem Kopf gegen die Wand stoßen, mit diesem fremder und fremder auf meinem Hals sitzenden Schädel die Wand zum Einstürzen bringen.

Nichts bewegt sich, die lallende Stimme des Clanchefs regt mich auf, doch ich muss freundlich bleiben.

Der Clan ist von nun an mein einziger Schutz, ohne ihn habe ich keinerlei Chance zu überleben. Will ich denn überhaupt überleben? So wie ich bin, so wie ich von nun an sein werde, unabänderlich, ein Scheusal.

Er beruhigt mich, es wird alles Nötige getan werden, ich brauche mich um nichts zu kümmern, der Ort den ich gewählt habe, wie er glaubt, zufällig gewählt habe, ist für gut befunden worden. Die Gemeinde stimmt dem Verkauf des baufälligen Hauses zu. Ist froh die seit Jahren verrottende Villa zu so einem hohen Preis loszuwerden.

Die Bürgermeisterin strahlt, das tiefe Braun ihrer Gesichtshaut verfältelt sich besonders um die mit Kajal geschminkten Augen zu einem Strahlenkranz der Zufriedenheit. Die übrigen Bedingungen benickt sie ohne genaue Nachfragen. Dem mit diesen Aufgaben seit Langem betrauten Anwalt des Clans ist diese Reaktion, diese Wurschtigkeit in der Verhandlungsführung seitens der Verkäufer vertraut, die Verdoppelung des geschätzten Preises anzubieten wäre zu viel gewesen, würde Misstrauen geweckt haben, aber 35% mehr als den Mindestpreis, dazu die Spende an Heimat-, Sportvereine und die freiwillige Feuerwehr, das ist durch und durch Biedermanngehabe, sich so einzukaufen weckt Vertrauen, er versteht sich darauf wie kein Zweiter.

Seine Maske fällt zu Boden, ächzend hat er sie vom Schädel gezogen, so ist es besser, oder schlechter, auf jeden Fall bequemer. Ich frage mich ob ich auch so eine Maske tragen werde, wage aber nicht sie laut zu stellen. Mir kommt alles übertrieben vor, die Art und Weise des Hauskaufs, die Maskerade, das hat etwas Mafiöses, würde mich sofort misstrauisch machen, kann auch der Bürgermeisterin nicht verborgen geblieben sein, ich kenne sie gut genug um das zu wissen.

Aber ich schweige, wozu Zweifel laut werden lassen?

Es ist noch viel zu tun, ich habe bis zur Vollendung meiner Metamorphose noch lange Wochen Zeit, nein kurze. Noch kann ich mit wenigen Hilfsmitteln verdecken was andere heute schon vor mir erschrecken ließe.

Dennoch wage ich mich nicht heraus, soll es auch nicht. Die rasch gepflanzten hohen Hecken verbergen nun das ganze Anwesen. Zweimeterundfünfzig hoch, sind sie schnell auf Lkws herangeschafft worden, immer noch werden neue heran gekarrt, ich wusste nicht, dass man so hohe Hecken verpflanzen kann. Und mir scheint sie gewinnen, kaum gepflanzt, täglich noch ein paar Zentimeter hinzu. Zwei englische Doggen laufen frei auf dem Gelände herum, ich fürchte mich vor ihnen, obwohl sie mir aufs Wort gehorchen.

Den beiden Finsterlingen, die von nun an meine ungeheure Leiblichkeit bewachen, gehe ich ebenso wie den Hunden aus dem Weg. Stehe dafür Anderen im Weg herum, die Handwerker scheuchen mich von einem Ort zum anderen. Überall wird gleichzeitig gehämmert, gesägt, auseinander gekloppt und wieder zusammengefügt.

Mein Haus, mein Garten, mein Anwesen, ein Labyrinth. Oben im spitzen Giebel verberge ich mich vor diesem Chaos, das zu Ordnung werden soll, mir zu einem Ort werden, an dem ich wie für meinesgleichen üblich leben kann.

Ich würde so gern zurück gehen, Nachts wird das Verlangen nach dem anderen Ort und seinem Bewohner dort hinter der Anhöhe im Kiefernwald so groß, dass mein Kiefer knackt, ich malme meine Sehnsucht zwischen den Zähnen klein und verhindere ihr Wachsen doch nicht. Lenke mich mühsam mit Gedächtnisübungen ab.

Wie war das damals, damals, das erste Mal? Ein Geburtstag… der elfte oder zwölfte für einen Moment war es zu spüren, zwischen den Haaren, wie Blitzeis, kahl und fremd.

Dann ist es wieder vergangen. Aber nun wird es nie mehr vergehen, auch nicht mehr kalt sein. Der Schädel brennt, es verschiebt sich alles zu unsinnigen Seiten hin. Angst ist ein schlechter Ratgeber und ich fliehe nun doch, zwischen den Hecken hindurch, wie ein durchgegangenes Vieh.

Nach unten zu dem anderen Haus, Witterung aufnehmen. Wage es bis zum Fenster, nicht weiter, schön daran die Nase platt zu drücken, dann schreckt mich ein Nachtvogel auf, ich trete den Rückzug an. Wieder ins Eigene hinein zu gelangen ist schwerer als gedacht, noch langt mein Geruch als Visitenkarte nicht aus.

Gott, Gott, Gott, wie sollte ich dich nennen, könnte ich beten?

Ich will dich nicht nennen, weder so noch so, lieber ein krummer Schatten sein, auch den noch nichten, nur noch in lichtlosen Winkeln liegen. Macht nichts, flüstere ich mir ein, noch und noch, macht nichts. Der Schädel ändert sich unablässig, gibt keine Ruhe, selbst zwischen die Knie geklemmt rumort er. Meine Zähne wachsen, ich will das alles nicht und schlafe ein.

Von Baum zu Baum hangelt sich Süffel den Abhang hinunter, federt im modrigen Waldboden mehr als ihm lieb ist. Zu wenig Bodenhaftung, haltlos kugelt er den Hang hinab, bleibt unten angekommen liegen, kauert in der Hasenhocke, wiegt sich nun leise hin und her. Zerschunden wie damals, als er seine Schlüssel bei einem Besuch seines ehemaligen Nachbarn vergaß, vom Fahrrad stürzte und morgens um zwei, blutig geschürft an der Tür des neuen Nachbarn, dem Mann dem nun das Haus gehörte, klingelte und um Hilfe bat.

Aber heute hat er nichts getrunken, oder doch kaum etwas, und es ist helllichter Nachmittag.

Er hatte oben am Hang Kleinholz gesammelt, die Lkws auf dem Waldweg an der Rückseite des Hauses Von-Achenbach-Straße 36, das so lange leer stand, mindestens zehn Jahre ohne Bewohner war, hatten ihn neugierig gemacht. Riesige Hecken wurden abgeladen, also hatte seine Wahrnehmung ihn nicht getrogen, sein Redefluss ist nicht mehr im Zaum zu halten, der Mann im Fahrerhäuschen des ersten Lkws hat nichts gegen ein Schwätzchen einzuwenden, den anderen, der ganz in schwarz an einem Baum gelehnt hatte, bemerkte er erst, als er von ihm an der Schulter berührt wurde, gehen Sie weiter, hier gibt es nichts für Sie zu sehen. Süffel will erwidern, will sich äußern, jetzt rede ich, ah bah, macht der Andere, den anzusehen schwer fällt. Zu groß und mächtig sitzt der Kopf auf dem dicken Hals, wächst aus wuchtigem Leib hervor, ungeheuer. Schon gut, schon gut, Süffel trollt sich zu seinem Fahrrad, macht sich an seinem Hänger zu schaffen, will nicht gehen, will stehen und sehen, dabei sein und etwas mitbekommen.

Lautlos löst sich der Schwarze aus dem Baumschatten, kommt mit leicht gesenktem Kopf langsam auf ihn zu, Süffels Kehle ist plötzlich ausgetrocknet, er schwingt sich aufs Rad, schwankt, fällt um, und rennt durch die Büsche auf den Abhang zu.

Nun wiegt er sich, wie lange schon? hin und her. Hat den Durst nicht vergessen, hadert mit sich, Feigling!

Will sein schönes Rad nicht verloren geben, muss aufstehen, zurückgehen, darf sich nicht einschüchtern lassen, was war denn schon passiert? Nichts war passiert, keiner hatte ihm gedroht, oder in die Flucht getrieben, er war völlig grundlos gerannt wie ein Hase, hatte sich kopflos machen lassen, von niemandem als sich selbst!

Zurück geht er den Umweg über die Waldsiedlung, nähert sich von unten, äugt die Straße hinauf, lange bevor er das Haus Nummer 36 erreicht späht er schon nach dem Schwarzen aus. Aber das Grundstück liegt verlassen, nur zwei große gefleckte Doggen schlagen an, ganz kurz, als wäre er nicht wert verbellt zu werden.

Scham kriecht ihm rot aus dem Hemdkragen, er hastet zu seinem Rad, es lehnt an einem Baum, jemand hat auch das Kleinholz aufgesammelt und zurück in den Hänger gelegt. Doch nicht etwa der Schwarze? Niemals!

Nicht der, der nicht! Der nicht? Und wenn doch, er will fragen, sich vergewissern, endlich reden, ein paar Worte wechseln, der Tag darf nicht wieder vergehen ohne dass er mit jemandem gesprochen hat. Stillschweigen, er hasst diese Ruhe, wortlos streichen seine kleinen weichen Hände über die riesigen Hecken, hinterlassen Feuchtigkeit auf den trockenen harthäutigen Blättern, morgen werden wohl Gärtner kommen, sie einpflanzen.

Morgen wird er auch wieder da sein, sich nicht vertreiben lassen, von diesem Menschen, diesem Unmenschen, das ist gar kein Mensch, getan hat er ihm aber auch nichts, oder doch, oder doch, gar kein Mensch, oder doch……

Er findet sich im Schein der Lampe auf seinem Stuhl, vor ihm auf seinem Tisch die Flasche, halbvoll, bevor es dämmert wird sie leer sein, er wird sie, sobald er wieder nüchtern ist, wie alle anderen aus dem Haus schmuggeln, in eine fremde Mülltonne werfen, als ob es irgendjemanden interessiert wie viel er trinkt, dass er trinkt interessiert ja nicht einmal mehr ihn selbst. Nur merken soll es keiner.

Keine schlechte Idee, mit einem Mädchen auf Tinder zu chatten, hatte er gedacht und dem regnerischen Abend sofort etwas abgewinnen können. Dann hockten sie in einem Café am Strand, dem Mädchen hingen die dunklen Haare triefend vor Nässe ins Gesicht, ihre Nase lief, die nackten Beine steckten in aufgeweichten Sandalen, er sprach kaum Englisch, sie zu schnell, war nicht blond, trug keine Strumpfhosen, hatte so gar nichts was ihm gefiel, ihr ging es offenbar genau so, schnell war der Kaffee ausgetrunken, das Date ein Reinfall, er trabte zurück in seine Unterkunft und holte sich nicht mal einen runter. Niemand fehlt, er vermisst nichts, hätte es schneller haben können, mit sich allein.

Schaltet den Computer an, besser ein paar Strumpfhosengirls aus dem Netz betrachten, als mit vor Regen triefenden Spanierinnen auf der Treppe zu ficken. Erst bekommt er ihn nur halb steif, muss lange suchen, bis eine Neue ihm gut genug gefällt und er zum zweiten Mal kommen kann. Er hätte den Glaskolben mitnehmen sollen, etwas für die Schwanzgröße tun, zwanzig Zentimeter wären schön, hat er fast, aber eben nur fast.

Warum er die Bilder von seinem Haus schon wieder anschaut, weiß er selbst nicht, wäre jetzt aber gerne dort, findet an diesen Ferien keinen Gefallen, zu wenig Wind, zu wenig Sonne, zu viel widriges Wetter, acht Tage noch dann wird er zurückfliegen, endlich. Es ist so viel zu tun an dem Haus, er hätte besser dort bleiben sollen, kann im Sommer noch oft genug auf der Ostsee kiten. Das Dach, die Rinnen, der Zaun, und der Innenausbau wollen in Angriff genommen werden. Wenn nur der alte Süffel bald den anderen folgen und endlich wie versprochen ausziehen würde, aber der klebt am Ort, will nicht weichen, der olle Suffkopp. Bevor er einschläft hat er die schwarzen Stiefel vor Augen, ob sie noch da sind, wenn ja, wird er sie fortwerfen, oder noch aufbewahren, eine Weile kann er sie ruhig aufbewahren, sie wird schon einmal vorbeikommen und sie abholen.

In der Nacht wacht er auf, es ist ihm als ob das Windspiel in seinem Garten leise geklingelt hätte, nichts dergleichen, eine lose Wäscheleine schlägt gegen das Fenster, der Wind hat gedreht, die Nacht ist Sternenklar, morgen wird es gut werden, er lächelt im Schlaf.

Das also ist, hier bin ich, werde sein, muss ich sein, und soll bleiben. Ich sollte Dankbarkeit empfinden, dem Clanchef und auch den andren gegenüber meine Zurückhaltung aufgeben. Stattdessen hocke ich in Winkeln, mache mich so schattenhaft wie möglich. Streife erst durch das Haus wenn alle fort sind, nur die beiden gewaltigen Beschützer noch irgendwo im Garten verborgen nach möglichen Eindringlingen spähen. Was für ein Haus, ein Zwischending, ein zwittriges Wesen, wir passen zusammen, so spitzgiebelig kann es kein Schwarzwaldhaus sein, für ein japanisches Haus ist es zu hoch, also etwas dazwischen, es soll einem bekannten Regisseur gehört haben, in den zwanziger Jahren ein wilder Ort gewesen sein, ich werde mehr darüber herausfinden, Später.

Für’s Erste macht mich die Idee gewesener Orgie weder neugierig noch an, ich würde sehr gern den alten Pool benutzen, doch da gibt es nach all den Jahren eine Menge zu tun, also sitze ich auf dem Trockenen, so oder so betrachtet, ich bin kein Wesen mit Futur, vollendete Vergangenheit ist Morgenlos, wie war es damals gewesen? Will ich die Geschichte meines Urahnen wirklich wissen, ihn genauer kennen lernen?

Wenigstens werde ich in Ruhe gelassen, kann mit den Beinen im leeren Pool baumeln, mich in den baufälligen Nebengebäuden verbergen. Nur wenn wieder eine Entscheidung in und um das Haus gefällt werden soll, werde ich aus meinem starren Sinnen aufgestört.

Dabei will ich nichts wissen, nichts gefragt werden, ob es um eingerissene Wände, ihre Farbe, das Interieur, die Gartengestaltung geht, ganz egal, ist das einmal wichtig gewesen? Hat das wirklich so große Bedeutung für mich gehabt? Ja, durchaus, dort unten in dem Haus, das nicht mir gehört hat, in dem ich nicht einmal immer ein gern gesehen Gast gewesen bin, dort habe ich Stunde um Stunde damit verbracht, über das Für und Wider all dieser möglichen Veränderungen im Innen und Außen zu debattieren. Da dachte ich bis ins kitschige Heimat-Haben über Behaustsein nach und wünschte so mancherlei. Der Ort, die Wiederkehr, das Morgen, und Übermorgen in einem fort, und wenn sie nicht gestorben sind dann leben sie noch heute, glücklich und zufrieden, kaum geändert, an eben demselben Ort.

Die anderen, der andere, die zu denen ich nicht gezählt werde, nicht mehr gezählt werde, nav narat, unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Ah bah, nicht einmal das, verborgen und unsichtbar sollst du bleiben, das für dich ersonnene Vielerlei aus Mauern, Zäunen und Hecken nicht verlassen. Es ziemt sich, sich nicht zu zeigen, dem Blick entzogen, das Auge nicht zu kränken, so war es damals, so ist es bis heute und was dazu gedichtet wurde an ungeheuren Grausamkeiten, oder ob es dazu gedichtet wurde, ist ganz gleichgültig, für mich, für alle, die entzogen, zur Unsichtbarkeit verurteilt, zu dem werden was sie sein sollen, Monstren, Menschen nichtende Viecher, die es auszurotten galt, gilt und gelten wird.

Der Clanchef lässt mich rufen, hat einen Einfall, wie wäre es, das Wappen des Ortes übers Eingangstor zu hängen? Er hat herausgefunden, was Thyrow im Altslawischen bedeutet; Auerochsenort, das wird von ihm belacht, mit weit aufgerissenen wulstigen Lippen belacht, bis Tränen aus seinen runden Augen tropfen. Ich kann dem Einfall nichts abgewinnen, würge am eigenen Lachen, das so unecht klingt wie es ist. Will ihn aber nicht kränken, stimme zu, soll doch das elende Wappen über dem Eingang hängen, ein Auerochsenkopf, aus Holz geschnitzt, stört mich nicht, einer mehr oder weniger, was soll’s. Es ist gut zu sehen wie sich der Clanchef vergnügt die Hände reibt, über seinen Einfall selbst am meisten amüsiert ist, ich werde ihm diese Freude nicht verderben.

Das kann nicht wahr sein, wird von mir keinesfalls geduldet werden, wer hat diesen Einfall gehabt, das will ich auf der Stelle wissen, ich stoppe die beiden Kerle, die gerade dabei sind einen der zwei riesigen Spiegel ins Haus zu tragen, in diesem Haus wird es keine Spiegel geben, keine kleinen und schon gar keine großen! Veto, nein, nein und nochmals nein, doch der Clanchef bleibt unerbittlich, auch alle anderen schauen düster und entschlossen, das ist so Sitte, sei immer so gewesen, der Blick in den Spiegel muss sein, das vor allen Verborgene darf dem eigenen Blick nicht ausweichen. Das ist Sadismus, oder Masochismus, das will von mir nicht verstanden werden. Wird auch nicht erwartet, in den Weg stellen darf ich mich den mannshohen Dingern nicht, alles andere wird sich finden. Ja, wird sich finden, so groß die Spiegel sind, die Tücher sie zu verhängen, werden größer sein, wer will mir verbieten, sie zu verhängen? Wer wird noch in dieses Haus eingelassen werden wenn alles fertig ist? Keiner, wenige, am besten keiner, wohlweislich wenige, anders kann ich es mir nicht denken.

Am Abend bittet der Chef mich in sein improvisiertes Büro im Keller. Er hat den Schreibtisch zur Tafel gemacht, allerlei leckeres Zeug auftischen lassen, ich bin sein einziger Gast, schon schwelgt mein Gastgeber malmend, vertieft sich ins Verschlingen, kann nicht genug von den Speisen in seinem breiten Mundwerk verschwinden lassen, trinkt keinen Wein, spült mit Wasser hinterher, bei mir ist es umgekehrt, ich bekomme kaum einen Bissen hinunter, fülle dafür mein Glas wieder und wieder, tröstlich dieses herbe Geriesel im Maul, sizilianischer Weißwein.

Am Ende der schweigsamen Mahlzeit langt der Clanchef hinter sich, klappt einen dicken Kunstband vor sich auf, Picasso, er hat uns gemalt, nicht übel getroffen und gar nicht hässlich, oder? Er klappt das Buch zu, ohne mir das Bild gezeigt zu haben, daher weht der Wind, aber warum zeigt er mir das verdammte Bild nicht, hält er mich für so versiert oder so ignorant?

Weder noch, aber es ist der falsche Zeitpunkt, noch wirst du nicht sehen was auf dem Bild zu sehen ist, sondern das, was du zu sehen fürchtest. Elende Gedankenleserei, auch so ein Zeitvertreib der Clanmitglieder, ich werde mich hüten sie zu erlernen. Will jetzt nicht Reden, keine Belehrungen, von dieser Altersweisheit wird mir speiübel, ich bin auch nicht mehr jung, habe die Lebensmitte fast erreicht, das heißt, hätte sie fast erreicht wenn nicht diese verfluchte Metamorphose meine Verweildauer auf Erden erheblich verlängert hätte, insofern hat der Kerl auf der anderen Seite des Tischtuchs durchaus recht, in seinen Augen bin ich ein junges Ding. Wer hat davon gesprochen und wo, das Tischtuch zu zerschneiden? Ich würde es gern tun, nicht nur das Tuch, alles, die ganze Verwandtschaft, die Angewiesenheit, das Verkettet sein mit ihm und den anderen, Gestalten die ich vorher nie gesehen, die nun plötzlich meine Mischpoke und einzige Gesellschaft sind. Das liegt ganz bei dir, schon wieder dieses impertinente Eindringen in meine Gedanken, wahrscheinlich sind sie deshalb so still, weil sie sich ständig gegenseitig in den Gedanken herumpolken, brauchen das Maul nicht mehr auftun und wissen trotzdem Bescheid, großartig. Und wie soll das funktionieren? Frage ich um der Laut werdenden Sprache willen. Indem du lernst dich zu zeigen ohne sichtbar zu werden, ganz einfach. Ganz einfach ist das sicher nicht, braucht doch wohl jahrelange Übung. Nein, braucht es nicht, vier bis acht Wochen Training, allerdings hartes Training reichen meist. So, so, hartes Training, hat man das früher auch so genannt? Wozu soll es gut sein. Was nützt es, dass mein Körper von Tag zu Tag mehr denen gleicht, die auf alten griechischen Vasen zu sehen sind und die zweifelsohne schön sind. Auf denen thront kein zotteliger Schädel, sie haben Köpfe mit feinen Gesichtern. Ge-sicht- ern, die Betonung liegt auf Sicht für sehen und gesehen werden, der Blick, das Fenster, das in der Welt sein, so und nicht anders. Nicht als das Andere, das Unerhörte, als ein Es-darf-nicht-wahr-sein.

Was hat der Name Asterios für eine Bedeutung, wer weiß noch, dass der erste von uns ihn trug bevor Minotaurus aus ihm wurde. Asterios, der Name den die Mutter ihm gab, der Name den ihr Vater getragen hatte, ein Zeichen ihrer Zuneigung.

Letztmögliche Liebesbezeugung für ihren Sohn, der später vom Helden Theseus mit einem Faustschlag getöteten Missgeburt. Wer war dabei? Versteckte sich die liebeshungrige Ariadne im Labyrinth, sahen seine eigenen Kinder verängstigt im Verborgenen zu. Oder deren Mütter? Wer lebte noch dort unten, als der Faden sich entrollte, bis das tödliche Wollknäuel zu seinem Ende gekommen war.

Pasiphae die Mutter, war Tochter des Sonnengottes Asterios, Aster und Taurus, Stern und Stier, Gerechtigkeit des Himmels, Fruchtbarkeit des Landes, Herr der verschlungenen Wege. Ein göttliches Wesen also. Ein göttliches Wesen? Also, gut oder schlecht? Sternenstier oder Schlächtertier?

Der Schweiß lässt mich am Stuhl festkleben, was will das alte Vieh am anderen Ende der Tafel mir damit sagen, was versüßen, verschleiern, verschwiemeln?

Starr richten sich meine Augen auf einen Punkt zwischen seinen Hörnern, mir ist schwindelig, der Wein, das Wachstum, ich wanke stumm an dem Redseligen vorbei, soll er in seinen Geschichten schwelgen, kokett den Kopf vor dem Spiegel drehen, sich Goldlitzen um die Hörner winden, mich kriegt er nicht. Nachtluft lässt mich klarer sehen, der Himmel über Thyrow ist bewölkt, dunkle Fetzen verdecken die Sterne, fegen vorbei, ändern ihre Gestalt, ihnen ist das gleich, mir nicht.

Und mein Wächter ist ein glimmender Punkt in der Dunkelheit, der brennende Kippen hängt lose in seinem dicken Maul, ich will auch rauchen aber fragen will ich nicht, die Gedankenleserei an diesem banalen Wunsch zu testen scheint mir nicht unbillig. Es klappt, er öffnet träge die halbgeschlossenen Lider, fischt in seinem Anzug nach der Schachtel, gibt mir Feuer und versinkt wieder in sein stoisches Stehen oder eher Lehnen, da an dieser Fichte könnte er auch schon Jahrzehnte lang stehen, unbewegt, stumm, ohne Interesse an der Landschaft, ein lebender Wurmfortsatz des Baumes, Flora und Fauna zusammengewachsen zu etwas Zwittrigem, das so nicht sein darf. Und auch nicht ist, denn binnen weniger Sekunden hat er sich von der Rinde gelöst und ist mit einem Sprung an der Hecke, hat jemanden erspäht, den ich übersah, in wenigen Augenblicken ist es vorbei. Der Alte liegt am Boden, es ist derselbe, der schon vor Tagen hier herumgelungert hat, klärt mich meine Wächter auf, aber das weiß ich selbst, es ist Süffel. Ich halte den leblos wirkenden Leib für tot, aber das ist er nicht. Er schnauft, ein dünner rosa Speichelfaden läuft aus seinem halboffenen Mund, die schütteren Haare hängen wirr über die schlaffen Wangen, mit einem Ruck hat mein Wächter das mickrige Mannsbild geschultert wie einen Pappkameraden, ich folge ihnen in einigem Abstand, der Wächter winkt unwillig ab. Will mich abschütteln, hat recht, was soll ich unten auf der anderen Seite des Hügels, in dem Haus zwischen Gleisen und Waldrand ist kein Platz mehr für mich, gesetzt der Fall es war einmal anders, ist es heute nur noch sentimentales Betrachten gestriger Gegebenheiten. Ich bleibe auf der Lichtung vor Zaun und Komposthaufen zurück. Mein Wächter legt den schlaffen Körper neben dem billigen Schwimmbecken ab, stabile Seitenlage, nun noch schnell einen Zweig quer in den Mund geschoben, nur nicht unnötig verweilen, er lässt den Alten mit Speichelblasen am Mund röchelnd zurück. Ohne sich noch einmal umzudrehen verschwindet der Dunkle zwischen den Baumschatten, lautlos und tierhaft. Ich mache ein paar Schritte auf die Lichtung zu, bewege ich mich auch schon so lautlos, sind meine Schrittfolgen schon ins Animalische gerutscht? Es raschelt, aus den Augenwinkeln sehe ich wie der Alte sich aufgerappelt hat und in meine Richtung stiert. Nicht stieren, alter Säufer, glotzen ja, aber nicht stieren, der Stier bin ich und das Stieren überlasse gefälligst mir! Entsetzen ist mit groben Strichen in sein Gesicht gezeichnet, er versucht torkelnd sich ins Haus zu retten, ohne mich aus den Augen zu lassen. Fällt dabei hin, liegt kurz auf dem Rücken, kriecht dann schließlich wimmernd um die Ecke.

Dabei habe ich gar keine Bewegung in seine Richtung gemacht, mich überhaupt nicht gerührt, was ist so schrecklich an mir? Er kennt mich doch vom Sehen, und so sehr haben sich meine Züge doch noch nicht verwandelt.

Keinen Tropfen mehr, das Mineralwasser sickert durch den ausgedörrten Schlund, rinnt an den Mundwinkeln herab, er verschluckt sich, muss husten, will weiter trinken, am besten unter der alten Pumpe, aber da ist das Wasser abgestellt, überall stellt der neue Besitzer das Wasser ab, als ob er eine Wüste aus diesem Grundstück machen wollte, es war schön hier, früher war es schön hier, und ruhig. Alles war, wie es immer gewesen ist, und blieb wie es war, manches ist langsam zerfallen, ja sicher, er zerfiel auch langsam. In letzter Zeit schneller, war nicht mehr der Alte, nur noch ein Rest. Das Haus hinter dem Hügel mit seinen neuen Bewohnern, dieses verdammte Haus hinter dem beschissenen Hügel, rumort es in seinem Kopf, er bekommt es nicht zu fassen.

Wann kommt der neue Besitzer wieder? Er muss es ihm erzählen, auch von dieser Freundin, dass die hier aufgetaucht, aber gar kein Mensch mehr ist, nie einer gewesen war. Anders als die andere, die jüngere, die nett ist und plaudert, ein ganz normaler Mensch eben. Er wischt sich über die schweißige Stirn, was hat er mit diesem Kerl zu schaffen, diesem Hausbesitzer, der einfach hier reinspaziert ist, sich eingemischt hat, das Haus gehört der Bahn! Der Bahn, hat immer der Reichsbahn gehört, oder fast immer, schon lange, ganz lange, eben immer, seit Jahrzehnten hatten sie hier zusammen gewohnt, der Birkwälder mit seinem Sohn, die Familie Maus mit ihren drei Kindern, und er. Es hatte keinen Grund gegeben daran etwas zu ändern, und nun sind alle fort, einfach einer nach dem anderen ausgezogen. Haben sich aus dem Staub gemacht, ihn allein gelassen mit diesem Kerl, der ihn nicht haben will, auch nicht ernst nimmt, nicht einmal zu einem Glas eingeladen hat. Ausgerechnet bei dem musste er sturztrunken und Blut überströmt morgens um zwei vor der Tür stehen, ohne Schlüssel, ohne Fahrrad, um ein Nachtasyl bitten.

Das darf nicht wieder passieren, nie wieder, und er wird den Mund halten, oder doch lieber berichten, dass sich da hinter dem Hügel etwas zusammen gerottet hat. Ein Unglücksort ist sein Zuhause geworden, überall ändert sich alles. Er trottet zu seinem Plumpsklo, schiebt den Riegel vor, das hat er früher nie gemacht. Nichts ist mehr wie es war, warum nicht?

Seine Verdauung funktioniert nicht, sein Kot fließt wasserdünn aus ihm heraus, der eigene Gestank ist zum übel Werden. Wieder zurück ins Bett, die Vorhänge zu ziehen, noch einen Schluck trinken vorher, es muss noch irgendwo ein Rest in einer Flasche sein, ist aber nicht und ohne verschwindet das trockene Würgen nicht, er zieht sich an, muss zum Supermarkt radeln, etwas zu trinken kaufen, ganz ohne geht es heute nicht, nicht gleich am Anfang. Ab morgen wird er nichts mehr trinken, schwört er wie so oft und schlingert in Richtung Dorf.

2

Aus acht sind vier Tage geworden, im Kriechstrom, verlangsamte Zeit. Afrika wäre in einer Stunde unter seinen Füßen, aber was soll er in Tanger, Tunis, Togo, oder Timbukto, eine Fährfahrt wäre nur öde, so öde wie diese Landschaft, in der in diesem Jahr der zu dieser Jahreszeit garantiert stets wehende Wind eben nicht weht, oder aus falscher Richtung, fette regenschwangere Wolken auf die Küste zu treibt. Er hat Schmerzen in der Schulter, wieder auf der linken Hand liegend geschlafen, alles Murks. Schon seit Stunden liegt er auf dem Bett mit der zu weichen Matratze, hat keinen Plan was er mit dem Tag machen soll, denkt über einen früheren Rückflug nach, aber die Kosten schrecken ihn ab, er will nicht noch mehr Geld für diesen verpfuschten Urlaub berappen. Rafft sich zu ein paar Liegestützen und ein paar Sit Ups auf, schluckt die 1/8 Tablette gegen Haarausfall und brät sich Eier mit Speck. Könnte die mitgenommene Arbeit angehen, kann sich nicht aufraffen auch nicht zu der SMS an den Bruder oder die Freundin, die eine, die nun übrig ist und im eigentlichen Sinne zumindest keine feste Freundin. Was auch die Verschwundene nicht von sich sagen konnte, deshalb vielleicht verschwunden ist. Was wiederum gut ist, alles wird einfacher so, auf zu neuen Ufern. Solange wollte er sich schon aus diesen Umarmungen befreien, ach was Umarmungen, Umklammerungen. Warum konnten die Frauen nur nie lange den nötigen Abstand waren. Abstand halten, das war doch nicht so schwer, er hatte das noch nicht für einen Moment aus den Augen verloren, war immer distanziert geblieben und hatte nie vergessen, alles ist nur vorübergehend. Nun würde er Zeit haben sich auf die Suche nach einer Neuen zu begeben, jung sollte sie sein, so jung wie möglich, achtzehn wäre schön, er hatte noch nie etwas mit einer Achtzehnjährigen gehabt, weder als er selbst so alt war noch später, schade. Das muss geändert werden, schleunigst, schließlich steht sein fünfunddreißigster Geburtstag dieses Jahr ins Haus, er ist noch jung, noch, aber nicht mehr lange. Drei Jahre war er mit der Verschwunden zusammen gewesen, hatte es sich hingezogen, viel länger als ihm lieb gewesen ist. Zu viel von allem, soviel Zuneigung ist reine Zeitverschwendung, nennt sich Liebe, ist aber nichts als Gefühlsduselei. Er hatte, als er sie traf, nach schnellem Sex der harten Art gesucht, ihn auch gefunden, aber nicht ohne die lästigen Beigaben.