Kerberos' Gier - Sylvia Grünberger - E-Book

Kerberos' Gier E-Book

Sylvia Grünberger

4,9

Beschreibung

Während der Entwicklung von Kerberos’ Gier - einem als Computerspiel getarntem Programm mit künstlicher Intelligenz und fatalen Folgen für seine Nutzer– kommt es immer wieder zum Verschwinden von Beteiligten. Auf der Suche nach ihrem vermissten Freund stößt die Informatikstudentin Kathrin auf ein Netz aus Intrigen, Brutalität und Skrupellosigkeit. Denn die im Hintergrund agierende Organisation schreckt nicht vor Entführung, Erpressung und Mord zurück, um Kerberos’ Gier schnellstmöglich auf den Markt zu bringen.

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Sylvia Grünberger

Kerberos’ Gier

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © stockchairatgfx - fotolia.com, © Syda Productions - fotolia.com

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

ISBN 978-3-7349-9450-0

1 Austesten

Mit fahrigen Bewegungen wühlte der Mann in seinem dichten, hellblonden Haar, als ob er seine Gedanken zu verscheuchen versuchte. Sein Blick streifte skeptisch den jungen Kollegen, der sich – die Arme selbstgefällig verschränkt und verschlagen grinsend – in seinem Bürosessel zurücklehnte. Unwillkürlich stöhnte er leise, presste dann die Lippen leicht grotesk aufeinander und fixierte mit angehaltenem Atem den Monitor am Schreibtisch.

Um die dunkelrote, fast schwarze Schrift am Bildschirm breiteten sich grün schimmernde Schatten aus, verdichteten sich, rannen wie eine zähe Flüssigkeit über die schnörkeligen Buchstaben und versiegten in langsam aufsteigenden grünen Nebelschwaden. Mit der Untermalung eines heulenden Windes löste sich der grüne Nebel in vereinzelte Rauchfäden auf.

»Es läuft!«, stieß der Blonde heiser hervor. Er stand direkt hinter der Rückenlehne des gepolsterten Rollsessels, seine Finger krallten sich in die raue Stoffbespannung. »Es ist dir tatsächlich gelungen, die Fallen auszumerzen!« Seine Stimme schwankte zwischen Bewunderung und Abscheu.

»Definitiv!« Sein junger, dunkelhaariger Partner hob den Kopf und warf ihm einen schrägen, abfälligen Blick zu.

Der Hintergrund am Bildschirm verdunkelte sich und verschluckte die Farbreste wie ein gieriger Schlund, bis nur noch tiefe Schwärze herrschte. Begleitet von einem schrillen Knall, erschien explosionsartig ein blutroter Fleck, als ob jemand Farbe draufgeschleudert hätte. Die Ränder breiteten sich strahlenförmig aus und krochen wie züngelnde Schlangen über den Monitor. Geräusche von metallischem Kratzen und berstendem Glas erweckten den Eindruck, als ob sie versuchten, den Bildschirm zu zerstören. Grell sirrend verformten sich die roten Schlangen zu einer Spirale, drehten sich in rasendem Wirbel um den Mittelpunkt und wechselten abrupt die Farbe zu schrillem Grün. Das Grün ballte sich zusammen, die spiralförmigen Ausläufer verblassten allmählich.

Dumpfe Musik setzte verhalten ein und schwoll, sich kontinuierlich zu einem aufpeitschenden Rhythmus verdichtend, zur vollen Lautstärke an. Erst nebelhaft verschwommen, dann langsam deutlicher, zeigte sich eine Grafik. Wurde größer und schärfer. Überzog den gesamten Bildschirm. Höhnisch grinste ihnen die Abbildung eines Ungeheuers entgegen. Träge begann es sich zu bewegen, um sein abscheuliches Äußeres zur Schau zu stellen.

»Du hast ihn losgelassen! Der Höllenhund geht zum Angriff über!« Der Blonde zog pfeifend Luft ein, als ob er sich an heißem Metall verbrannt hätte. »Aufspüren, zubeißen, verschlingen, die Reste auskotzen!« Seine verkrampften Finger ließen die Stoffbespannung los und rieben hektisch über sein glattes Kinn. Er rasierte sich immer noch täglich. Eines der Rituale, die er zwanghaft beibehalten hatte. Es war ihm peinlich und insgeheim schämte er sich, weil es ihm peinlich war. Seinem jüngeren Kollegen schien dies gleichgültig zu sein, obwohl sein spärlicher Bartwuchs zu sprießen begonnen hatte und ihm ein ungepflegtes Äußeres verlieh. Für ihn gab es weit Wichtigeres.

»Ich hasse diese Bestie! Anfangs übt sie eine derartige Faszination aus, die dir keine Chance lässt, ihr zu widerstehen, doch sobald du erkennst, dass du dich mit dem Bösen schlechthin auseinandersetzt, ist es für einen Rückzug bereits zu spät!« Der Blonde kreuzte die Arme über der Brust, als ob er sein Innerstes zu schützen versuchte. Einer der drei Köpfe des widerwärtigen Monsters am Bildschirm drängte sich in den Vordergrund. Begleitet vom dröhnenden Stakkato der Musik, riss es gierig sein Maul auf, als wolle es alles außerhalb des Monitors verschlingen. Doch es war nicht die Grafik, die dem Blonden Angst und Abscheu einflößte!

»Es ist ein Computerprogramm«, knurrte der Dunkelhaarige unwirsch, »folglich kann das Ding weder gut noch böse sein. Es führt lediglich programmierte Befehle aus. Die hinterhältigen Funktionen hat ein geniales Gehirn ausgebrütet. Nur wer diese Software tatsächlich einsetzen will, ist die abartige Kreatur!« Er streckte die Arme hoch und rief pathetisch zur Decke: »Das personifizierte Böse! Die dunklen Schwingungen der Macht! – Man reiche mir ein Laserschwert, damit ich das Monster vernichte!« Mit den nach oben gestreckten Armen drehte er sich auf dem Rollsessel wie ein Kreisel.

»Hört mich denn keiner?«, brüllte er und brach anschließend in hämisches Gelächter aus.

»Sie hören dich«, murmelte der Blonde, ohne auf den makabren Zynismus einzugehen. »Verlass dich drauf, sie hören und sie sehen alles!«

»Das sollen sie auch! Ich warte ja darauf, dass zumindest die schwachsinnigen Knechte reagieren. Obwohl es wenig bringt, weil man ihnen das Sprachmodul entfernt hat, damit ihr geistloses Gehirn keine wirren Worte ausspuckt!«

»Du solltest sie besser nicht schon wieder reizen«, flüsterte der Blonde verzagt.

»Ach ja?«, höhnte der junge Mann mit den dunklen, strähnigen Haaren. »Warum? Die beiden weiß vermummten Lakaien dürfen doch eigenmächtig sowieso nichts unternehmen. Die handeln streng nach Anweisung. Eine davon lautet: Maul halten! Dafür werden sie bezahlt. Wahrscheinlich knallt man ihnen Geld als Scheuklappen auf die Augen und sie sind so dämlich, zu glauben, es wäre ein großzügiger Lohn. An ihrer Stelle würde ich mir Gedanken darüber machen, wie leicht bezahlte gehirnamputierte Mundhalter ersetzbar sind. Wie veraltete Computer landen sie beim Müll. Ausrangiert, zur Verschrottung freigegeben! Jeder normale Mensch würde es merken, wenn seine Zeitschaltuhr zu ticken begonnen hat. Ticktack, ticktack … bis zur Ablauffrist. Diese Zombies begreifen überhaupt nicht, wie nahe sie ihrem Entsorgungszeitpunkt sind! Vielleicht warten die Idioten ja auf eine formelle Ankündigung ihrer Vernichtung.«

Er hob seinen Kopf, lehnte sich zurück und schrie höhnisch zur Decke des Raumes, in der die Videokameras und Mikrofone eingebaut waren: »Hey, ihr weiß verkleideten Trottel: Euer Verfallsdatum nähert sich! Das verdammte Programm läuft nämlich bereits! Das war es doch, was eure Großmeister wollten, oder? Ihre verfluchte, beschissene Schöpfung soll funktionieren. Und das tut sie! Ansatzweise zumindest. Gottverfluchte Scheiße!«

Er merkte, wie sein Kollege zusammenzuckte, und fragte verdutzt: »Was ist los? Fluchst du nie?«

»Ich habe Kinder!«, brummte der Blonde. Und als er begriff, dass die Andeutung nicht ausreichte, fügte er rasch hinzu: »Da fasst man den Vorsatz, streng auf seine Wortwahl zu achten. Damit sie nicht bereits mit Schimpfworten um sich werfen, bevor sie in der Lage sind, einen korrekten Satz vollständig auszusprechen!«

»Aha, damit sie später in der Schule von den anderen blöd angegafft werden, weil sie keine Ahnung haben, wovon die Rede ist?«

Der Blonde ignorierte die ätzende Bemerkung. Er schlug mit der Faust auf seine Stirn und stierte verzweifelt ins Leere. »Ich werde meine Kinder nicht aufwachsen sehen«, murmelte er. »Ihren ersten Schultag nicht miterleben …«

»Hör endlich mit dem jämmerlichen Gesülze auf! Das bringt nichts!«, fauchte sein junger Gefährte. »Überleg dir lieber was Brauchbares für die Zukunft!«

»Zukunft!«, höhnte der Blonde und hob den Kopf. »Zukunft? Was ist das? Meinst du das hier?« Er streckte seinen rechten Zeigefinger aus und wies mit abgehackten Bewegungen auf jede Einzelheit des tristen Raums.

Weiße, fensterlose Wände. Weiße, matte Bodenfliesen. Zwei rechtwinkelig zueinanderstehende, lang gestreckte Schreibtische in hellem Grau, auf denen sich jeweils zwei Monitore befanden. Davor Rollsessel mit schwarzer Stoffbespannung. Computertower unterhalb der Tische. Entlang einer Wand aufgestellte große Serverracks, angefüllt mit riesigen Datenressourcen. Zwei Feldbetten aus schwarz lackiertem Holz mit hellgrauen Decken darauf. Daneben zwei weiße Metallspinde. Die weiße Tür zu den Sanitärräumen, in denen ebenfalls alles weiß gefliest war. Die weißen Regale mit Ordnern und Fachlektüre. Sein groteskes Hinweisen auf die jeweiligen Details endete bei einer Kaffeemaschine, die sich auf einem weißen Kästchen befand.

Zwar sorgte die Klimaanlage durchaus für eine angenehme Temperatur, doch das vorherrschende Weiß in dem Raum strahlte frostige Sterilität aus und verbreitete eine kalte Atmosphäre. Monotone Abgeschiedenheit, selbst wenn sie nicht eingeschlossen gewesen wären.

Der Blonde drehte sich zu der versperrten Stahltür und zog den ausgestreckten Finger zurück. Seine Hände begannen heftig zu zittern. Er ballte sie zu Fäusten. Unmittelbar darauf sackte er in sich zusammen. »Oder meinst du mit Zukunft das Ende unserer Gefangenschaft? Was glaubst du, wie dieses Ende aussieht? Ich bin katholisch. Wenn ich schon auf Erden in der Hölle in Weiß war, herrscht dann für mich im Himmel Dunkelheit?«

»Hey! Es ist bekanntlich immer ein Licht am Ende des Tunnels! Halt gefälligst deine Augen offen, damit du das Fünkchen erkennst, wenn es sich zeigt!«, zischte der Dunkelhaarige und hämmerte wütend auf die Tastatur des Computers ein. Die Resignation seines Kollegen ärgerte ihn. Verständnisvolles Zureden verstärkte nur das öde Selbstmitleid, aus dessen Fluten der Mann nur noch sporadisch auftauchte. Leider verebbten die fallweise entfachten Aggressionen meist bereits im Ansatz. Er musste es bald schaffen, diesen Kerl mit schärferem Biss zu provozieren, um ihn aus seiner Lethargie herauszureißen. Ein dermaßen verängstigter Verbündeter war keine große Hilfe. Sie mussten gemeinsam kämpfen. Seite an Seite. Als Einheit. Und die Zeit drängte.

»Du weißt, was es bedeutet, wenn das Programm funktioniert?«, fragte der Blonde verbittert.

»Aber sicher doch«, lachte sein Partner arglistig, »sie werden dadurch beginnen, meine genialen Fähigkeiten zu würdigen!« Er schob die runden Gläser seiner nostalgischen Brille zur Nasenspitze. Sofort beugte sich der Blonde zu ihm hinunter. Ihre Köpfe drängten sich aneinander, als ob sie gemeinsam das Schauspiel am Monitor genau verfolgen wollten.

»Bleib cool! Es lässt sich nicht sehr weit ausführen«, flüsterte der Dunkelhaarige. Es ärgerte ihn, dass die blankliegenden Nerven seines Schicksalsgenossen ein geistiges Nachvollziehen seiner eigenen Absichten verhinderten. Der Blonde besaß sehr wohl die fachlichen Fähigkeiten, das Vorhaben zu durchschauen. Aber leider war er in den letzten Wochen zu einem Häufchen erbärmlicher Resignation mutiert. Es war zermürbend, ihm ständig Hinweise geben zu müssen. Ein exaktes Konzept ließ sich nicht gezielt umsetzen; man musste improvisieren, sich bietende Chancen unverzüglich nutzen. Ein wortloses Verstehen, eine Übereinstimmung der Gedanken, wäre dabei optimal. Doch das ließ sich bedauerlicherweise nicht herstellen; nicht solange den Kerl diese entsetzlichen Depressionen quälten und er sich in Apathie flüchtete.

Systemabsturz! Na endlich! Seinen Berechnungen nach hätte dieses heimtückische Programm bereits früher abstürzen müssen. Doch es durfte keinesfalls so aussehen, als ob er es absichtlich abgewürgt hätte.

Mit einem hyänenartigen Lachen lehnte er sich zurück. Sein Blick glitt wieder zur Decke. »Hey, hirnlose Mutanten!«, schrie er eine der Videokameras an. »Sagt euren Meistern von der dunklen Seite der Macht, dass sich die Testversion aufhängt, wenn sie alle Zugänge nach außen sperren! Funktionsfehler lassen sich nicht beheben, wenn man sie nicht austesten kann. Falls sie unfähig sind, entsprechende Arbeitsbedingungen herzustellen, lässt sich der Scheißdreck nicht fertig programmieren!«

Er hoffte, die weiß gekleideten Wärter würden mittlerweile bereits vor Wut schäumen. Es war ihnen nur das Sprechen verboten, nicht das Hören! Und was sie sich anhören mussten, war hauptsächlich ein ständiges Verhöhnen ihrer eigenen Person. Nicht besonders angenehm! Vor allem für einen, der nicht antworten oder reagieren, sondern nur stillschweigend hinnehmen durfte.

Kurz darauf wurde die Stahltür von außen geöffnet. Zwei Männer in dunkelgrauen Anzügen betraten den Raum. Anstatt der schweigsamen, vermummten Bewacher kamen die großen Meister tatsächlich höchstpersönlich. Zumindest der erste Teil des Planes schien zu funktionieren!

Die beiden Männer in den grauen Maßanzügen ignorierten den blassen Blonden und blieben dicht neben dessen jüngerem Kollegen stehen. »Probleme?«

Aktion und Reaktion. Wie im Lehrbuch. Gezielte Provokationen führten meistens zur berechneten Verhaltensweise. Jetzt galt es, planmäßig den nächsten Schritt umzusetzen, ohne dabei durchschaut zu werden. Ein diabolisches Lächeln umspielte die Mundwinkel des jungen Dunkelhaarigen.

2 Auf der Suche nach Georg

Fest entschlossen, endlich herauszufinden, wo Georg steckte, fuhr ich Mittwochnachmittag nochmals zu seiner Wohnung. Sein Wagen parkte immer noch am gleichen Platz vor dem Haus. Argwöhnisch betrachtete ich die Fragmente verdorrter rosa und violetter Blütenblätter, die sich in den Scheibenwischern verfangen hatten. Letztens hatte ich bereits festgestellt, dass an der gegenüberliegenden Hausfront an einem der Erkerfenster ein üppig gefüllter Blumenkasten angebracht war, aus dem es rosa und violett leuchtete. Die verwelkten Blumenreste auf der Windschutzscheibe waren mittlerweile zahlreicher geworden und den schwarzen Wagen überzog nun eine dünne, gleichmäßige Staubschicht.

Die Technische Universität konnte Georg zwar bequem zu Fuß erreichen, doch an der TU war er ja in der letzten Woche nicht aufgetaucht. Beunruhigt blickte ich zu den Fenstern seiner Wohnung hoch. Keines war geöffnet, obwohl es sonnig und angenehm warm war.

Georg wohnte in einem der inneren Bezirke von Wien, in einem großen, herrschaftlichen Altbau, der vor etwa hundert Jahren errichtet und erst vor Kurzem nochmals stilvoll restauriert worden war. Leicht beunruhigt betrat ich den Hausflur. Ein eigenwilliges Geruchsgemisch aus gerösteten Zwiebeln und Maiglöckchen schlug mir im Erdgeschoss penetrant entgegen.

Die Maiglöckchenwolke hing in süßer Schwere vor dem monströsen Prachtwerk von Lift. Die äußeren Türen des Aufzugs bestanden aus einem verschnörkelten schmiedeeisernen Gitter und innen aus dunklem Mahagoniholz mit voluminösen Messingknöpfen. Die Glasscheiben waren verziert mit eingeätzten Jugendstilornamenten und ein Kristallleuchter hing an der Decke. Vor sieben oder acht Jahren waren wir zu fünft darin stecken geblieben und es verging fast eine Stunde, bis uns der Hausmeister herausholte. Inzwischen war die Liftanlage zwar renoviert und die Technik erneuert worden, trotzdem bevorzugte ich das Stufensteigen, nicht nur wegen der intensiven Duftspur der letzten Benutzerin.

Obwohl ich die drei Stockwerke nach oben forsch in Angriff nahm, wurden meine Schritte zusehends langsamer, je höher ich die Treppe hinaufstieg. Ich schrieb es der mangelnden Kondition zu, nicht der wachsenden Unruhe.

Dienstag, letzte Woche, hatte ich mittags mit Georg gemeinsam in der Nähe der Universität Gulaschsuppe gegessen und ein Bier geteilt. Wir diskutierten dabei über Prolog und logikorientierte Programmierung und was aus dem umfangreichen Stoff voraussichtlich zur Prüfung kommen könnte, die wir in Kürze ablegen sollten.

»Dieser Professor ist ein selbstgefälliger Knilch! Es bringt Prüfungsvorteile, wenn er glaubt, ausschließlich er hätte das Wissen vermittelt. Deshalb ist es wichtig, dass er ein Gesicht nicht nur aus den Vorlesungen kennt, sondern sich obendrein an die emsige Mitarbeit erinnert«, meinte Georg lapidar.

»Hey, soll ich ihn vielleicht verklärt anlächeln und mit den Augen klimpern?«, lästerte ich. »Blödmann! So schäbige Methoden hat eine Klasse-Studentin wie ich nicht nötig!« Auf dem Gebiet Selbstorganisierende Systeme waren wir beide weit mehr als nur sattelfest.

»Weißt du, was ihn richtig glücklich machen würde? Wenn jemand seine geschwollene Ausdrucksweise bei der Prüfung wortwörtlich wiederholt! Damit lässt sich Eindruck schinden! Wir sollten seine dämlichen Redewendungen mitschreiben!«

Sofort überboten wir uns gegenseitig mit abstrus konstruierten, albernen Phrasen. Tatsache war, dass wir beide in dieses Fachgebiet geradezu verliebt waren und nur den arroganten Professor nicht sonderlich schätzten. Zur Vorlesung am Mittwoch erschien Georg nicht. Auf meine SMS und die E-Mail, ob er eine Kopie meiner Mitschrift haben wolle, reagierte er nicht. Donnerstag meldeten sich nur die Mailbox am Handy und sein Anrufbeantworter am Festnetztelefon.

Nachdem ich alle Studienkollegen und Freunde befragt hatte und niemand etwas über Georgs Verbleib wusste, fuhr ich letzten Freitag gleich nach dem Volleyballtraining zu seiner Wohnung. Er war anscheinend nicht zu Hause, jedenfalls öffnete er nicht auf mein Klingeln und ich bemerkte weder in seinem Arbeitszimmer noch in den anderen Fenstern Licht.

Am Wochenende rief ich Georgs Vater an. Er wohnt in einer ländlichen Gegend in der Steiermark und meinte bloß, er würde oft wochenlang nichts von seinem Sohn hören. Wozu die Aufregung?

Ich hatte ja gleich geahnt, dass ich nicht auf ihn zählen konnte. Ein Mathematikprofessor in der Provinz!

Beunruhigt suchte ich nach der Telefonnummer der Höllinger. Georg leistete sich nämlich den Luxus, eine Putzfrau zu beschäftigen. Eine lebhafte, rundliche Person, die im gleichen Haus wohnte. Sie bemühte sich seit Jahren, strategisch Ordnung in seinem Heim zu schaffen. Obwohl Georg die Höllinger insgeheim als »Feldwebel« bezeichnete, hatte sie bereits den Status der Wohnungszugehörigkeit erreicht. Wie ein robustes, praktisches Möbelstück.

»Mein Name ist Kathrin Geringer. Ich bin eine Studienkollegin von Georg. Er ist zu den Vorlesungen nicht aufgetaucht und seit Mittwoch nicht zu erreichen. Jetzt mache ich mir Sorgen, ob mit ihm alles in Ordnung ist«, erklärte ich ihr am Telefon, vielleicht eine Spur zu hektisch.

»Ich hab den Georg auch schon ein paar Tage nicht gesehen«, brummte sie unwirsch. »Gesagt hat er mir jedenfalls nicht, dass er wegfährt. Aber vielleicht ist ja der Herr Kantner oder die Evelyne krank und der Georg ist überstürzt zu seiner Familie nach Graz gefahren?«

»Ist er nicht! Ich habe vorhin mit seinem Vater telefoniert!«

»Hm … Eigentlich sagt es mir der Georg immer, wenn er wegfährt, oder legt mir zumindest einen Zettel hin, wenn er es eilig hat. Hat er aber nicht!«

Die Höllinger wirkte auf mich eher grantig und nicht sonderlich hilfsbereit. Vielleicht störte ich sie ja gerade beim Kuchenbacken, ihrer Lieblingsbeschäftigung? Ich gab ihr meine Telefonnummer und sie versprach, mich anzurufen, falls sie etwas von Georg hören sollte.

Laut ICQ, einem Programm zur sofortigen Nachrichtenübermittlung, lief Georgs Computer pausenlos online. Aber er benutzte ihn nicht. Das sah man im ICQ. Dafür installiert man es ja schließlich. Um zu wissen, wann wer von den Freunden online und zu erreichen ist. Georg hätte es umgestellt, falls er vorübergehend nicht gestört werden wollte. Doch dass Georg seinen Computer tagelang nicht benutzte, überstieg mein Vorstellungsvermögen. Er besaß nur den einen superaufgerüsteten Rechner und eine Abneigung gegen Laptops. Ich hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass er den PC online laufen ließ, um von außerhalb zuzugreifen. Sobald er die Wohnung verließ, schaltete er seinen Rechner ab. Immer! Weniger weil er infame Angriffe von Hackern, sondern das direkte, putzwütige Angreifen der Höllinger befürchtete. Außerdem konnte ich mich nicht erinnern, ihn jemals ohne Handy gesehen zu haben.

Wenn Georg tatsächlich vorübergehend unerreichbar war, informierten die Sprachbox, automatische Mailantworten und eine entsprechende Nachricht auf dem Anrufbeantworter seines Festnetztelefons darüber. Ohne Vorankündigung tagelang nicht erreichbar zu sein, passte nicht zu ihm. Das passte ganz und gar nicht! Ich kannte das für ihn typische Verhalten zu gut, um nicht all die Unstimmigkeiten wie Alarmmeldungen zu registrieren. Georg war immerhin mein bester Freund. Was nicht gleichbedeutend mit festerFreund ist! Obwohl Georg eindeutig nicht schwul war, bewegte sich unsere langjährige Beziehung ausschließlich auf einer freundschaftlichen Ebene. Was uns eng verband, waren die gleich gelagerten Interessengebiete. Das kristallisierte sich bereits heraus, als wir beide vierzehn waren und damit begonnen hatten, an einer Höheren Technischen Lehranstalt fünf Jahre Elektronik- und Nachrichtentechnik zu büffeln. Er hatte wie ich zu den Jahrgangsbesten gehört. Jetzt studierten wir beide Informatik und standen kurz vor dem Abschluss.

Als er Montag wieder nicht zur Vorlesung erschienen war, fragte ich in allen Krankenhäusern nach. Offen gestanden erkundigte ich mich sogar auf der Psychiatrie nach ihm. Hätte ja sein können, dass er nach einem Unfall oder Überfall desorientiert, mit Amnesie eingeliefert worden war.

Da mein telefonisches Nachfragen letztlich erfolglos blieb, marschierte ich am Dienstag aufs nächste Polizeikommissariat, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Für den Fall, dass irgendwo ein Namenloser – in welcher Form auch immer – aufgetaucht war, auf den Georgs Personenbeschreibung zutraf.

»Georg Kantner? Fünfundzwanzig? Student?«, wiederholte der Beamte meine Angaben und warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Wäre es möglich, dass der junge Mann eine neue Freundin hat und nur für Sie nicht erreichbar ist?«

Meine Beherrschung, ihm nicht quer über den Tisch an die Gurgel zu springen, grenzte an Selbstaufopferung. »Georg und ich beenden demnächst unser Informatikstudium. Einige der wichtigsten Prüfungen sind bald fällig. Schon deshalb hatte er auch ständig mit anderen Studienkollegen Kontakt. Seit einer Woche jedoch nicht mehr. Er tauchte bei keiner Vorlesung auf. Niemand hörte etwas von ihm.«

»Prüfungsängste?« Der Beamte sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Zähneknirschend schüttelte ich den Kopf und klammerte mich sicherheitshalber am Sessel fest. Falls mir dieser Kerl noch weitere seiner blödsinnigen Ansichten servierte, könnte ich meinen Drang, ihn wachzurütteln, womöglich nicht mehr bezähmen.

Das Wort »Prüfungsängste« kannte Georg höchstens vom Hörensagen. Sein umfangreiches Wissen im Bereich Informatik ließ sogar die meisten der Professoren vor Neid erblassen. Jeder, der Georg kannte, hielt ihn für ein Genie auf seinem Gebiet.

Dass meine Besorgnis um Georg nicht ernst genommen wurde, machte mich ganz kribbelig. Ja, wenn ich sein Vater gewesen wäre, Arzt, Rechtsanwalt, Minister oder Bürgermeister …! Jedenfalls etwas in dieser Größenordnung. Vielleicht hätte ja auch ein Designeroutfit statt meiner alten Jeans bewirkt, dass der Beamte sofort dienstbeflissen reagierte? Als befreundete Studienkollegin glich ich in seinen Augen vermutlich einer sitzen gelassenen Möchtegern-Braut. Aber ich ließ mich nicht abwimmeln. Hartnäckig pochte ich darauf, dass er verpflichtet wäre, meine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Resignierend füllte er dann doch ein entsprechendes Formular aus.

Na schön, Georg könnte natürlich ganz plötzlich seiner großen Liebe begegnet sein. Eine Art Blitzschlag, der sein Gehirn ausgeschaltet hatte? Der I-love-you-Virus in Reinkultur? Möglicherweise rekelte er sich ja seit einer Woche im Bettchen von Supergirl! Aber eine ganze Woche? Ununterbrochen? Nicht Georg! Selbst einer Frau aus seinen kühnsten Wunschträumen würde es nicht gelingen, ihn tagelang von einem Computer fernzuhalten.

Die letzten Stufen vor Georgs Wohnung schlich ich fast hinauf. Was erwartete mich hinter der Wohnungstür? Ein Georg, krank und nur noch der Schatten seiner selbst? Oder einer, der mich auslachte und meine Besorgnis als verrückt bezeichnete? Ich presste den Finger auf die Klingel, trommelte mit den Fäusten gegen die Wohnungstür und brüllte: »Georg!! Ich bin’s, Kathrin!« Nichts regte sich. Kapitulierend stapfte ich ein Stockwerk tiefer, um nochmals die Höllinger zu befragen.

Zumindest sie war zu Hause, öffnete auf mein Klingeln und beäugte mich sichtbar misstrauisch. Was eigentlich nicht wirklich angebracht war, weil wir uns im Laufe der Jahre oft genug bei Georg begegnet waren.

»Ich bin’s wieder, Kathrin Geringer. Wir haben unlängst miteinander wegen Georg telefoniert«, flötete ich mit gewinnendem Lächeln.

Die Höllinger musterte mich weiterhin wortlos von oben bis unten. Gut, da gab es nicht viel zu sehen. Ich war 162 Zentimeter groß und wog knapp 55 Kilogramm. Schmales, ovales Gesicht. Das Kinn war etwas zu spitz geraten und die ausgeprägten Backenknochen lagen zu hoch. Meine Augen waren blaugrau. Na ja, nicht jeder konnte vergissmeinnichtblaue Porzellanpuppenaugen haben. Vielleicht irritierten sie die sündhaft teuren hellen Strähnchen in meinen dunkelblonden Haaren, die mir der Friseur aufgeschwatzt hatte? Dennoch schien die Begutachtung ihrem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. Jedenfalls nickte sie.

»Haben Sie vielleicht inzwischen eine Ahnung, wo er sein könnte?«, versuchte ich es hoffnungsvoll.

»Nein!« Sie runzelte die Stirn und schüttelte nachdrücklich den Kopf. Mein leicht verzweifelter Gesichtsausdruck erweckte anscheinend doch noch ihr Entgegenkommen.

»Also, letzten Freitag hab ich ihm einen Stapel gebügelter Hemden raufgelegt und eine Biskuitroulade mit einer Füllung aus frischen Erdbeeren und Sahne. Die hat er nicht einmal gekostet! Am Montag war sie natürlich schon schlecht. Ich hab sie wegwerfen müssen! Und die Bodenpolitur und den Glasreiniger hat er auch nicht besorgt. Das hab ich dann selbst gekauft und ihm die Rechnung hingelegt.« Aufmerksam blickte sie eine Weile auf ihre Fußspitzen, klopfte dabei mit dem Zeigefinger auf ihren linken Nasenflügel und brummte: »Montags und freitags räume ich am Vormittag bei ihm auf, meistens ist er da ja nicht zu Hause, sondern in der Universität, aber vorgestern …« Sie warf mir einen verlegenen Blick zu. »… hätte ich das Geld fürs Putzen kriegen sollen, aber er hat es mir nicht hingelegt … und für die Putzmittel, die ich gekauft hab, auch nicht. Ich hab gedacht, er geniert sich halt, weil er gerade knapp bei Kasse ist. So was kann ja vorkommen. Aber das ist noch lange kein Grund, mir aus dem Weg zu gehen. So dringend brauch ich das Geld wirklich nicht. Ich kümmere mich ja gern um ihn. Das sollte er eigentlich wissen! Ich versteh gar nicht, warum er darüber nicht mit mir geredet hat.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf, rieb wieder an der Nase und murmelte verwundert: »Vielleicht war Georg schon in der vorigen Woche gar nicht …?« An ihren Fingern begann sie, die Gründe für ihre Vermutung als Beweise abzuzählen. »Am Freitag waren in der Wäschetruhe nur ein Hemd und fast keine Schmutzwäsche. Von den frisch gebügelten Hemden, die ich ihm raufgelegt hab, hat er keines angezogen. Und meine Biskuitroulade mag er doch so gern, die hätte er sicher aufgegessen. Ich hab mich noch gewundert, weil die Küche so sauber war!« Sie wackelte bedeutungsvoll mit dem Zeigefinger. »Der ist schon eine ganze Weile nicht mehr daheim gewesen!« Verdutzt starrte ich sie an. Eigentlich hatte ich eher damit gerechnet, Georg würde krank im Bett liegen. Mit Lebensmittelvergiftung, vereiterten Zähnen, gebrochener Nase, Finger oder Zehen. Jedenfalls mit irgendetwas, das ihn am Sprechen, Schreiben oder Aufstehen hinderte oder ihm so peinlich war, dass er es niemandem sagen wollte. Doch was mir die Höllinger gerade erzählte, bewegte sich in eine gänzlich andere Richtung.

Im Gegensatz zu mir litt Georg nicht permanent unter finanziellem Notstand. Er hatte mir einmal anvertraut, durch die Lebensversicherung seiner Mutter könnte er bis in alle Ewigkeit sorgenfrei studieren. Abgesehen davon übernahm er laufend gut bezahlte Nebenjobs, wenn ihn die programmiertechnischen Anforderungen reizten. Außerdem unterstützte ihn sein Vater auch noch großzügig. Also, dass Georg aufgrund von Geldmangel der Höllinger auswich, schloss ich als völlig absurd aus.

»Wir sollten in Georgs Wohnung nachsehen, ob wir einen Hinweis finden, wo er sein könnte!«

»Ich hab doch gesagt, er hat mir keinen Zettel hingelegt!« Da sich die Höllinger anscheinend eher beleidigt als besorgt fühlte, steckte ich sie mit meinen Befürchtungen einfach an. In knapp drei Minuten hatte ich sie so weit, mit mir Georgs Wohnung zu inspizieren. Mürrisch schnappte sie sich die Schlüssel, schlurfte ein Stockwerk nach oben und übernahm das Kommando.

Nachdem sie Georgs Wohnung aufgesperrt hatte, brüllte sie: »Grüß Gott!«, obwohl der Tonfall eindeutig nach Habt Acht!!! klang. Der Vergleich mit einem Feldwebel war wirklich nicht weit hergeholt. Sicherheitshalber rief ich mehrmals: »Georg … Georg?« Niemand antwortete. Nun, die abgeschlossene Tür wies ja auch eher auf die Abwesenheit des Wohnungsinhabers hin. Aber man wusste ja nie.

Wir gingen als Erstes in das riesige Wohnzimmer, in dem Georg seinen Arbeitsbereich eingerichtet hatte. Die abgestandene Luft war angereichert mit dem Geruch einer Möbelpolitur mit Pinienextrakt, vermischt mit Zitrusfrische. Es roch nach einer ausgiebigen Putzattacke der Höllinger und ungelüftet, nicht danach, dass jemand diesen Raum behaglich bewohnen würde.

Über den beachtlichen Monitor, der Georgs gewaltigen Eckschreibtisch beherrschte, schwirrten kreuz und quer Ritter und verschiedenartige Drachen. Sobald zwei aufeinandertrafen, kämpften sie miteinander. Ritter gegen Drachen. Ritter gegen Ritter. Drachen gegen Drachen. Anschließend schlossen sich alle aus der Gattung des Siegers zusammen und tanzten gemeinsam Cancan. Besiegte ein Ritter einen anderen, dann tanzten die Drachen.

Den witzigen Bildschirmschoner hatte Georg selbst programmiert und dabei seiner Schwäche für Detailverliebtheit großzügig nachgegeben. Die Höllinger und ich beobachteten schmunzelnd das Schauspiel. Für einen Augenblick vergaßen wir völlig, weshalb wir hier herumstanden. Daran erinnerte ich mich pflichtgemäß und stupste die Maus an. Der Bildschirmschoner verschwand. Auf dem Monitor erschien Georgs vorbildlich geordneter Desktop. Außer seinem Mailprogramm und dem ICQ war kein anderes Programm geöffnet.

Flüchtig suchte ich den Schreibtisch ab. Keine handgeschriebenen Notizen, keine CDs, keine Disketten, nur Georgs Handy lag mit leerem Akku neben der Tastatur. Sonst konnten wir in diesem Raum nichts Bemerkenswertes feststellen. Es herrschte eine fast peinliche Ordnung.

»Schaut nicht so aus, als ob er seit vorgestern hier auch nur irgendwas angerührt hätte«, erklärte die Höllinger. »Na los, sehen wir uns in den anderen Zimmern um!« Ich folgte ihr zögernd.

Von der großen Altbauwohnung mit den Stuckdecken in den hohen Räumen mit Parkettböden und stilvollen Erkern bewohnte Georg tatsächlich nur einen Teilbereich, den er zweckmäßig eingerichtet hatte. Doch auch in den unbenutzten Räumlichkeiten gab es keinerlei Hinweise auf seinen Verbleib.

Irgendwie war ich zuerst froh darüber. Es hätte ja sein können, dass er doch krank, halb verhungert oder verletzt herumgelegen hätte.

Auf dem Anrufbeantworter seines Festnetztelefons gab es haufenweise Nachrichten, wen er endlich zurückrufen sollte. Aber mich beunruhigte vor allem das verwaiste Handy und dass Georgs Rechner online lief.

Obwohl er die Höllinger angefleht hatte, weder seinen Computer noch das Equipment zu putzen, ließ sich das mit ihrem peniblen Ordnungssinn einfach nicht vereinbaren. Nachdem sie es einmal geschafft hatte, alles – also verstreute Brösel und einen Teil des Programms, an dem Georg arbeitete – zu entfernen, erklärte er ihr, rund um seinen Schreibtisch wäre ein Bannkreis gezogen, in den sie keinesfalls eindringen dürfte. Trotzdem vertraute er nicht darauf, sie würde sein Heiligtum tatsächlich von ihrem Putzfimmel verschonen, und schaltete den Rechner immer ab, wenn er wegging.

Sonst war die Höllinger recht nett. Sie mochte Georg und er sie im Grunde genommen auch. Sie kümmerte sich ja praktisch schon sein halbes Leben um ihn. Als seine Mutter ins Krankenhaus gekommen war, hatte die Höllinger bei den Kantners ausgeholfen, gekocht, geputzt und gebügelt. Das war dann auch so geblieben, nachdem Georgs Mutter gestorben und er mit seinem Vater allein zurückgeblieben war. Jedenfalls bis Georg zu studieren begann und Papa Kantner dem verlockenden Ruf der Provinz nicht mehr widerstehen konnte.

Jetzt putzte, wusch und bügelte die Höllinger für Georg. Auf ihre Kochkünste hatte er mittlerweile verzichtet. Aber sie beglückte ihn fallweise immer noch mit selbst gebackenen Kuchen. Dagegen ließ sich nichts einwenden. Ihre Mehlspeisen waren köstlich!

Nach dem erfolglosen Durchsuchen der gesamten Wohnung landeten wir wieder in Georgs Arbeitszimmer. Die Höllinger verschränkte die Arme zwischen Bauch und Busen und betrachtete kopfschüttelnd den Monitor. Mittlerweile hatte sich der Bildschirmschoner wieder aktiviert und die Ritter und Drachen tanzten darauf herum.

Sicherheitshalber blickte ich noch in die beiden Rollcontainer unter dem Schreibtisch. Es könnte ja sein, dass sich in einer der Laden ein Hinweis befand. Nichts! CD-Rohlinge, Hüllen, Beschriftungsstifte, alle möglichen Kabel, Druckerpapier … Aber als ich den rechten Rollcontainer etwas weiter vorzog, durchzuckte mich ein heißer Stich wie eine lange, glühende Nadel. Das schwarze Ding aus Leder, das verwaist darauf lag, war Georgs Portemonnaie. Meine Finger zitterten ein wenig, als ich es öffnete. Bankomat- und Visakarte, 70 Euro, Führerschein, Wagenpapiere, Blutspenderausweis, Sozialversicherungskarte … Mit entsetzt aufgerissenen Augen starrte ich die Höllinger sprachlos an.

Ihr Mund verzog sich verkniffen. »Ich darf ja seinen Schreibtisch nicht anrühren!«, maulte sie, um die Annahme zu verhindern, sie hätte womöglich nicht gründlich geputzt. Gleichzeitig sickerte die Bedeutung meines Fundes in ihr Begriffsvermögen. »Seine Wohnungsschlüssel liegen aber nicht in der Porzellanschale im Vorzimmer«, erklärte sie mir bestürzt, »die hat er schon mitgenommen.« Doch dass er sich eine Woche lang ohne Geld, Papiere und Kreditkarten herumtreiben könnte, erschien mir unlogisch. Gerade Georg war ja ein Mensch, der sich ausschließlich von seinem Verstand leiten ließ.

»Wenn es irgendwo einen Hinweis gibt, wo Georg sein könnte, dann befindet er sich garantiert in seinem PC!«

»Ich darf das Ding nicht anfassen!«, informierte mich die Höllinger nochmals.

»Na ja, aber ich könnte doch …?« Sie hatte mich oft genug mit Georg daran arbeiten gesehen.

»Also, ich weiß nicht … ob ihm das recht ist? Was ist, wenn Sie was kaputt machen? Dann bin womöglich ich schuld, weil ich es Ihnen erlaubt habe!«

»Frau Höllinger, bitte! Wir müssen doch herausfinden, ob Georg etwas passiert ist. Wo sollen wir denn sonst noch suchen?«, flehte ich sie an. »Wenn ich in seinem Rechner keinen Anhaltspunkt finde, wo er sein könnte, dann brauchen wir uns wenigstens nicht vorzuwerfen, nicht alles Mögliche getan zu haben!«

Ihre Blicke pendelten unschlüssig zwischen dem Computer und mir hin und her. Mit eindrucksvollen Beschwörungsformeln bemühte ich mich, ihre Bedenken zu verscheuchen, indem ich Worte wie »Besorgnis«, »vermisst« und »um Georg kümmern« wie ein Mantra wiederholte.

»Na schön, versuchen Sie’s halt!«, seufzte sie. »Ich hoffe, Sie kennen sich mit diesem Ding gut aus! Der Georg regt sich nämlich fürchterlich auf, wenn irgendwas von seinen Arbeiten verschwunden oder verstümmelt ist!«

Ich beruhigte sie. Es dauerte allerdings einige Zeit, bis sie begriff, wie sinnlos es war, neben mir auszuharren. Sobald ich am Computer arbeitete, verschwanden die witzigen Ritter und Drachen. Und was sie dann am Bildschirm zu sehen bekam, entlockte ihr ein verhaltenes Gähnen. Im Zwiespalt zwischen pflichtgemäßer Überwachung und Langeweile entschloss sie sich letztlich doch, mich allein arbeiten zu lassen. Das Durchforsten eines Computers fiel schließlich nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. »Also, ich geh jetzt! Sie übernehmen aber die volle Verantwortung!«, belehrte sie mich. »Ich hoffe, Sie finden wirklich raus, wo er sein könnte!«

Etwa zwei Stunden später überzeugte sie sich, dass ich nichts geklaut oder ruiniert hatte und ob ich mich immer noch verbissen durch die Daten am Rechner wühlte. Dass ich so ernsthaft bemüht war, herauszufinden, wo Georg stecken könnte, erzeugte bei ihr eine Art Solidarität.

Großzügig versorgte sie mich sogar mit Kaffee in einer Thermoskanne und einem Teller mit beachtlichen Stücken ihres leckeren mürben Apfelkuchens. Zumal ich ihr klar gemacht hatte, dass ich vermutlich den restlichen Nachmittag, vielleicht sogar bis in die Abendstunden brauchen würde. Tatsächlich war ich dann jedoch die ganze Nacht beschäftigt.

An die Möglichkeit, ausgerechnet Georg könnte völlig spurlos verschwunden sein, glaubte ich einfach nicht. Irgendwelche Spuren gab es immer und nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung mussten sie sich – bei einem Typen wie Georg – irgendwo im Rechner finden lassen.

Zuerst sah ich mir Georgs ungeöffnete E-Mails an. Zwölf kamen von Studienkollegen, fünf davon von mir. Zwei weitere von Vera, dem Ableger seiner großen Schwester. Von seiner talentierten Nichte, einem vierzehnjährigen Computerfreak, hatte mir Georg schon öfter stolz erzählt. Programmieren hatte er ihr beigebracht, als sie acht war. Jetzt sollte sie angeblich schon ziemlich gut sein. Na ja, bei dem Lehrmeister!

Zwei noch ungeöffnete Antworten ließen sich den Anfragen an Buchhandlungen, ob sie ein bestimmtes Buch lagernd hätten, zuordnen. Eigentlich gab es nur eine einzige E-Mail, die mich beunruhigte. Die Nachricht war mit sj unterzeichnet und lautete schlicht: »Nicht bei Tag! Es lässt sich zurückverfolgen! Alles löschen, Internetverbindung unterbrechen, PC abschalten! SOFORT!« Natürlich regte sich mein schlechtes Gewissen beim Lesen der fremden Post. Aber irgendwo musste ich schließlich mit der Suche nach Georg anfangen. Und der Hinweis von dem Unbekannten, der mit sj signiert hatte, vertrieb das flaue Gefühl in meinem Magen nicht gerade. Ich kennzeichnete auch diese E-Mail wie die anderen, die Georg noch nicht geöffnet hatte, wieder als ungelesen. Er würde es mir schon verzeihen.

Danach wühlte ich mich durch die Dateien in seinem Rechner. Georgs Diplomarbeit war praktisch fertig. Das überraschte mich. Ich dachte, er wäre noch nicht so weit.

Georg entwickelte ein neuronales System zur Gestaltung der Flugtarife für eine Billigfluglinie. Das System bestimmte den Preis in Abhängigkeit von der Flugstrecke und der Zeitdauer zwischen Reservierung und Flug. Grundlage der Entscheidung bildeten die ständig aktualisierten Daten über Auslastung und Tarife der letzten Flüge. Das Netz lernte beständig und passte sich damit veränderten Marktsituationen an.

Eine interessante Aufgabenstellung. Wir hatten nächtelang darüber diskutiert. Georg war wirklich gut. Ich war auch gut. Aber er war der bessere Softwareentwickler. Dafür besaß ich mehr Fantasie und es gelang mir, diese kreativ umzusetzen. Wir ergänzten uns.

Mit Georg verband mich gewissermaßen eine gleichgeschaltete Wellenlänge. Unsere Gehirne wurden völlig von informatikverseuchten Datenströmen beherrscht. Wir nannten es zwar logisches Denken, doch die Abläufe glichen bedenklich oft denen eines Computers. Nach Abschluss der technischen Matura war klar gewesen, dass für uns beide nur ein Informatikstudium infrage kam. Unabhängig voneinander hatten wir fast gleichzeitig den Entschluss gefasst, uns schwerpunktmäßig auf neuronale Netze zu spezialisieren.

Mit künstlichen neuronalen Netzwerken werden biologische Netze als informationsverarbeitende Systeme nachgeahmt. Eine überaus beeindruckende Technik, die dem Schlagwort »Künstliche Intelligenz« zugeordnet wird. Neuronale Netze sind selbstorganisierend und lernfähig. Die Prozesse, mit denen biologische Nervenzellen Signale erzeugen und empfangen, werden technisch nachvollzogen. Genau wie die Modifikation und Weiterverarbeitung innerhalb des Nervensystems. Und dieses Wissen wird in Netzen von künstlichen Berechnungselementen zusammengefasst.

Na ja, die Biologen versuchen herauszufinden, wie es funktioniert, und die Mathematiker und Informatiker versuchen, es nachzubilden. Nachdem sich kein Mensch rühmen kann, diesen gigantischen biologischen Bauplan höchstpersönlich erfunden zu haben, protzen halt alle mit ihren Erkenntnissen. Und dieses Wissen brüten Gehirne aus, die aus Eizellen entstanden sind, die vom Gewinner des jeweiligen Sperma-Marathons befruchtet worden waren. Man muss sich das einmal vorstellen! Aber wenn man es nicht philosophisch betrachtet, lässt sich rein technisch alles logisch erklären.

Bei einem meiner Ferienjobs hatte ich mit Georg gemeinsam für eine Softwarefirma an einem Projekt in dieser Richtung gearbeitet. Dem anschließenden Angebot, noch ein paar weitere Monate für das Unternehmen zu programmieren, konnte ich nicht widerstehen. Gleichzeitig bemühte ich mich dabei, mein Studium nicht allzu sehr zu vernachlässigen. Es entpuppte sich als verdammt harte Zeit, aber ich musste eben Prioritäten setzen. Einerseits reizte mich diese Softwareentwicklung und zwangsläufig verlockte mich auch die gute Bezahlung des Fulltime-Jobs. Im Gegensatz zu Georg musste ich mir nämlich mein Studium selbst finanzieren. Vorwiegend mit meist kleineren Programmierjobs, die sich nebenbei bewältigen ließen. Meine Mutter zahlte die Miete für die winzige Bude, in der ich wohnte. Von meinem Vater konnte ich nicht viel erwarten. Jedenfalls nicht mehr als das, wozu er sich verpflichtet fühlte. Er hatte jetzt eine neue Familie und zwei kleine Jungs. Weihnachten und Geburtstag regte sich sein schlechtes Gewissen. Da war er etwas großzügiger. Jedenfalls für seine Begriffe.

Georg war keine Scheidungswaise so wie ich. Seine Mutter starb, als er, glaube ich, zehn gewesen war. Als Georg zu studieren begann, hatte ihm sein Vater die Wohnung in Wien überlassen und war aufs Land gezogen. Die väterlichen Wurzeln waren eben in der Steiermark immer noch tief verhaftet. Evelyne, Georgs weit ältere Schwester, lebte ebenfalls in dieser Gegend. Das bedeutete, Georgs Verwandte waren einfach zu weit entfernt, um in Wien nach ihm zu suchen. Sein Vater vermisste ihn ja nicht mal. Folglich blieb es mir nicht erspart, die Sache vorerst selbst in die Hand zu nehmen.

Wie ein Spürhund suchte ich nach einer Fährte, die ich aufnehmen und zielstrebig verfolgen konnte. Ich war mir einfach sicher, irgendeinen Hinweis in Georgs Computer finden zu können. Es gab ja Leute, die schreiben alles auf Papier auf so wie ich. Mein Schreibtisch und die Wände waren mit selbstklebenden gelben Post-its vollgepflastert. Georg gehörte nicht dazu. Seine To-do-Listen waren im Rechner gespeichert. Was aber nicht bedeutete, dass er deshalb ordentlicher war als ich! In seinem Onlinekalender waren Termine für Prüfungen und Vorlesungen eingetragen. Notizen und Erinnerungen an fertigzustellende Arbeiten. Eine Einkaufsliste, auf der auch die Bodenpolitur und der Glasreiniger für die Höllinger angeführt waren. Automatische Vermerke zu Terminüberschreitungen. In der letzten Woche hatte er nichts davon als erledigt abgehakt.

Es gab nicht die geringste Andeutung, aus der sich ein Grund für seine Abwesenheit rekonstruieren ließ. Doch die mysteriöse E-Mail von sj, die Georg offensichtlich nicht gelesen hatte, schürte meine Hoffnung, vielleicht doch noch einen Anhaltspunkt finden zu können. Durch die Mails, die Georg verschickt hatte, war klargestellt, wann er seinen Computer sicher noch benutzt hatte. Danach gab es keinerlei aussagekräftigen Anzeichen mehr dafür.

Ich war gerade dabei, mir alle Dateien genauer anzusehen, an denen er zuletzt gearbeitet hatte, als die Türglocke schrillte. In einem kreischenden Dauerton, dessen Lautstärke rekordverdächtig war. Jedenfalls für eine Türklingel. Ich erstarrte wie schockgefrorenes Gemüse. Die Höllinger besaß ja einen Schlüssel. Ich schlich zur Eingangstür. Eine Faust trommelte ungehalten dagegen. Vielleicht die Polizei, die sich nach meiner Vermisstenanzeige nun endlich in Bewegung setzte?

Vor der Tür stand Chris Föhrer, ein Studienkollege von uns. Chris war fast eins neunzig groß, blond, sonnengebräunt, muskelbepackt. Dazu hatte er noch aquamarinblaue Augen, in maßloser Verschwendung von langen, dichten Wimpern umrahmt, und meist ein schelmisches Lächeln in seinem jungenhaft attraktiven Gesicht. Er wirkte wie einer jener Sonnyboys aus der Werbung. Bei seinem Anblick dachte man an Bodybuilding und nicht an Informatik; das vermutlich deshalb, weil er in seiner Freizeit als Trainer in einem Fitnessklub arbeitete. Manchmal verteilte er Gutscheine für gratis Schnupperbesuche an Studienkollegen.

Als ich die Tür einen winzigen Spalt öffnete, stürmte Mister Superman wutschnaubend herein. Er brüllte: »Wie stellst du dir unsere Zusammenarbeit vor, wenn …«, dann brach er verdutzt ab und starrte mich an. »’tschuldigung, ich wusste ja nicht, dass ihr beide …«

Ich versuchte, ihm die Sachlage in zwei Sätzen zu erklären. Er begriff es bereits beim ersten.

»Eigenartig! Georg ist die personifizierte Verlässlichkeit. Wir hatten ein Abkommen für die nächste Prüfungsarbeit.« Er blickte flüchtig zum Monitor. »Hab mich schon gewundert, dass er nicht antwortet, obwohl er ständig online ist!« Danach ruhten seine blauen Augen forschend auf mir. »Hast du festgestellt, wann er seinen Rechner zuletzt benutzt hat?«

Ich nickte: »Dienstagnacht. Vor einer Woche!«

»Merkwürdig!« Chris musterte nachdenklich den Schreibtisch. In einer Ecke lag ein offensichtlich lässig hingeschleudertes Headset, ein Kopfhörer mit Mikrofon, das man am Rechner anschließen konnte. Bei meinen bisherigen Nachforschungen hatte ich allerdings nicht feststellen können, dass Georg in letzter Zeit ein Sprachprogramm aktiviert hatte. Und über Online-Computerspiele gegen Partner im Internet fühlte er sich seit Jahren erhaben. Unter dem Headset befand sich eine einfache 3D-Brille aus Karton und Plastik. Vielleicht hatte er sich ja einen Film am Computer angesehen?

Chris ergriff grübelnd Georgs Handy.

»Seine Geldbörse liegt hier auch herum«, sagte ich leise, »und sein Wagen steht vor dem Haus.«

»Also das gefällt mir alles gar nicht«, murmelte Chris. »Wir müssen unbedingt rausfinden, wo er steckt!«

Na ja, das hatte ich ohnehin vor. Jetzt gab es wenigstens einen Verbündeten. Ich kannte Chris nicht sonderlich gut, praktisch nur von Vorlesungen und vom Volleyballspielen. Aber ich vertraute ihm. Seine Besorgnis schien echt. Es ging ihm nicht nur um den Teil, den Georg für die Prüfung ausarbeiten sollte.

Chris studierte die E-Mails der Buchhandlungen. »Kennst du das Buch?«

Ich zuckte die Schultern: »Eine Spezialabhandlung über neuronale Netzwerke. – Vermutlich braucht er es für seine Diplomarbeit, obwohl die eigentlich so gut wie fertig ist.«

»Möglich. Es schien für ihn wichtig zu sein. Etwas, das diese Thematik betrifft und er noch nicht weiß, ist beachtenswert. Vielleicht wollte er es sich von einem Freund ausborgen? Und ist dann dort hängen geblieben?«

»Eine ganze Woche?«

»Was ist mit dieser Vera? Könnte er bei ihr sein?«

Ich schüttelte den Kopf: »Vera ist Georgs Nichte und wohnt in Graz. Aber bei seinen Verwandten ist er nicht aufgetaucht!«

»Eines seiner letzten E-Mails ging an sie. Vielleicht weiß sie etwas?«

»Er hat ihr ein Programm geschickt; mit der Aufforderung, es zu ergänzen. Scheint eine Art Herausforderung gewesen zu sein.«

Wir sahen uns an, was Georg dem Mädchen geschickt hatte. Das Programm eines Computerspieles, das durch ein Labyrinth führte. Es war jedoch unvollständig. Vera hatte es offenbar geschafft, den unvollkommenen Teilabschnitt fertigzustellen. Jedenfalls teilte sie das Georg vor ein paar Tagen per E-Mail mit.

Chris fand heraus, dass Vera online war, und wir kontaktierten sie über ICQ. Sie antwortete sofort in hellster Aufregung, weil sie von Georg so lange nichts gehört hatte. Aber unmittelbar vor seinem Verschwinden hatte sie sich mit ihm im ICQ unterhalten. Sie kramte in ihrer History und schickte uns buchstäblich Georgs letzte Mitteilung:

»Bin zufällig auf etwas verdammt Eigenartiges gestoßen. Eine echt skurrile Software! Bizarre Sache! Muss ich mir näher ansehen. Scheint irgendwie seltsam zu sein. Aber verflucht interessant. Melde mich später!«

Das war in der Nacht vor Georgs Verschwinden. Kurz vor Mitternacht. Erst danach erkundigte er sich bezüglich des Buches. Bei Vera meldete er sich nicht mehr. Doch dass er auf ihre späteren Onlinekontaktversuche nicht reagierte, beunruhigte sie. Zumal sie es geschafft hatte, die Programmierung des Labyrinth-Spiels zu ergänzen, und entsprechenden Beifall erwartete.

Wir tauschten die spärlichen Angaben über das Wenige, das ich bereits herausgefunden hatte, gegen ihre vagen Vermutungen. Danach versorgte ich sie mit meinen ICQ- und E-Mail-Adressen und meiner Handynummer, damit sie mir Bescheid geben konnte, falls sie etwas von Georg hören sollte. Ihre Daten holte ich mir aus seinem Computer. Ich versprach, mich bei ihr auf alle Fälle später wieder zu melden. Egal ob ich etwas herausfand oder nicht. Mit einer Vierzehnjährigen mit derartigen Programmierkenntnissen fühlte ich mich sowieso sofort solidarisch.

»Bringt uns das weiter?«, fragte Chris nachdenklich.

Ich teilte den letzten Rest Kaffee von der Höllinger mit ihm. Vom Apfelkuchen war nur noch ein Hauch von Zimt übrig. Hoffentlich kam sie nicht nachschauen. Wo doch jetzt noch ein Fremder in Georgs Wohnung herumstöberte. Aber wahrscheinlich schlief sie ohnehin bereits.

»Na ja, es grenzt wenigstens den Zeitpunkt ein. Schätze, wir brauchen uns nicht mit Dingen zu befassen, die länger zurückliegen. Trotzdem bleibt immer noch die Frage, wonach wir eigentlich suchen müssen!«

»Nach etwas Seltsamem! Skurrilem und Interessantem!«, stellte Chris trocken fest. »Wo findet man das?«

»Internet!«, antwortete ich lakonisch. »Sehen wir uns den Verlauf im Internetexplorer an. Hat schon was für sich, wenn alles fein säuberlich aufgelistet ist, worauf in den letzten Wochen zugegriffen wurde.«

Während ich den Kaffee eingoss, hatte sich Chris in Georgs Rollsessel vor dem PC breitgemacht und begann nun eifrig zu tippen. Es überraschte mich, wie flott er war. Eigentlich schien er ein netter Kerl zu sein. Dabei fand ich diese Supermen-Typen wie ihn bisher immer ein wenig suspekt. Man durfte wirklich nicht nach dem Äußeren urteilen. Abgesehen davon, dass Georg in der letzten Woche keine Webadresse abgerufen hatte, fand Chris nichts Bemerkenswertes. Und das überraschte uns ja auch nicht wirklich.

»Warte!«, sagte ich und legte ihm die Hand auf den ausgeprägten Schultermuskel. Er bedachte mich mit einem überraschten Blick. Ich zog augenblicklich meine Hand zurück. Auf Muskeln stand ich sowieso nicht. »In Georgs Mailbox liegt eine eigenartige Nachricht von jemandem, der sich sj nennt. Der Absender hat sie vor einer Woche aus einem Internetcafé abgeschickt, folglich kann man ihn nicht kontaktieren. Aber er scheint auf etwas Bezug zu nehmen. Bisher hab ich leider nicht rausgefunden, worauf.« Während Chris sich noch durchklickte, ertönte das vertraute »Oh-oh« vom ICQ als akustische Ankündigung. Vera schickte uns eine Mitteilung.

»Mir ist was eingefallen. Vielleicht ist es ja auch unwichtig. Dieses unfertige Spiel, das Onkel G. mir geschickt hat, das hat er von einem Jungen, der sich Schattenjäger nennt. Ich kenne ihn auch aus einem Chatroom, aber Onkel G. ist mit ihm öfter online in Verbindung. Der Schattenjäger ist sechzehn und ein brillanter Hacker. Selbst programmiert hat der das nicht. Das hat er sich garantiert irgendwo runtergeladen und Onkel G. geschickt. Seht mal nach, ob da nicht noch was dabei war! Wäre ja möglich, dass dieses skurrile Zeug auch vom Schattenjäger stammt!«

Aber es gab keine entsprechend eingegangenen Mails mehr. Alle gelöscht. Wir versuchten es im Papierkorb. Nichts. Im ICQ und Mailadressbuch. Nicht der winzigste Hinweis auf den ominösen Schattenjäger.

»Vielleicht hat er eine Homepage?«, meinte ich hoffnungsvoll. Er hatte keine. Jedenfalls nicht unter der Bezeichnung »Schattenjäger«.

Enttäuscht schickte ich meine diesbezügliche Feststellung an Vera. Womöglich wusste sie doch noch mehr. Prompt kam ihre Antwort: »Kann ich mir kaum vorstellen! Aber nehmt’s mir nicht übel, Leute. Es ist schon nach Mitternacht und ich hab morgen Schule. Gähn!«

Chris und ich schauten uns schuldbewusst an. Wie doch die Zeit verflog. »Bist du müde?«, erkundigte sich Chris fürsorglich.

»Dazu bin ich viel zu aufgewühlt!«, bemerkte ich trocken. »Außerdem bin ich daran gewöhnt, die Nächte durchzuarbeiten.« Das war Chris vermutlich auch. Wir beschlossen, den ominösen Schattenjäger vorerst im Schatten zu belassen, und listeten die Punkte auf, die wir bereits herausgefunden hatten. Also so gut wie keine.

Dafür fand Chris die Datei mit der Prüfungsarbeit, die er sich mit Georg aufteilte. Zufrieden verkündete er, Georg hätte seinen Teil ebenfalls bereits fertiggestellt, kramte einen Autoschlüssel aus der Jeanstasche und legte ihn auf den Schreibtisch. Am Schlüsselanhänger war ein USB-Stick befestigt, den er grinsend am PC ansteckte. Misstrauisch verfolgte ich, wie er die Datei auf seinen USB-Stick kopierte. War die Sache für ihn nun erledigt? Was er wollte, hatte er schließlich gefunden. Dass ich Georg finden wollte, war ein anderes Kapitel.

Ein »Oh-oh« kündigte eine neue Nachricht von Vera an. Das Mädchen sollte doch längst schlafen!

»Konnte nicht schlafen! Hab in alten Mails gestöbert und rausgefunden, dass der Schattenjäger Joe Schattner heißt«, berichtete sie. Danach folgten die Zahlen seiner ICQ-Adresse.

»Na, das ist doch schon was!«, sagte Chris. »Versuchen wir’s?«

Während ich argwöhnisch feststellte, dass es mittlerweile fast ein Uhr morgens war, sandte Chris eine Nachricht und jubelte: »Er ist tatsächlich online!«

Die Antwort erfolgte so prompt, als ob der Schattenjäger darauf gewartet hätte. Doch das hatte er nicht. Seine Mitteilung war kurz, prägnant und erschreckend: »Bist du wahnsinnig, den eigenen Rechner zu benutzen?«

»Nein, ich bin Kathrin«, tippte ich, »ich will dich etwas wegen Georg fragen. Ruf mich an, wenn dir das lieber ist!« Ich fügte meine Handynummer hinzu.

»Und du glaubst, er wird es tun?«, meinte Chris skeptisch.

»Klar«, nickte ich zuversichtlich, »er will doch vermeiden, dass wir ihn von diesem Computer aus kontaktieren. Selbst wenn er sofort offline geht, kann er nicht sicher sein, ob wir es nicht wieder versuchen.«

Mein Handy meldete sich unverzüglich. Chris hielt mir grinsend seine Handfläche hin. Ich schlug dagegen und schaltete mein Handy auf Lautsprecher.

»Lösch die Onlineverbindung auf der Stelle!«, brüllte mich der Schattenjäger an, bevor ich noch irgendetwas sagen konnte. Ich nickte Chris zu, der gerade die Daten auf unserem Zettel notierte. Die Liste begann sich nun endlich zu entwickeln.

»Bin schon dabei!«, beruhigte ich den Schattenjäger. »Hör zu, ich bin eine Freundin von Georg. Und ich mache mir Sorgen, weil er verschwunden ist. Was weißt du darüber?«

»Nichts!«, fauchte der Junge. »Ich weiß nicht, wo Georg ist. Und ich weiß nicht, wer du bist!«

»Frag mich was Persönliches. Georg und ich studieren gemeinsam.«

»Bist du die kleine Blonde, die mit ihm auf der HTL war?«

»Ich bin mittelgroß!«, korrigierte ich ihn.

»Meinetwegen!«, blaffte er mich an. »Wie hieß der Klassenvorstand? Und wie sieht er aus?«

»Dr. Pauler. Er sieht wie ein Truthahn aus. Aber er ist nett. – Du besuchst also die HTL-Donaustadtstraße? Hast du ihn auch in GET oder in Nachrichtentechnik?«

»Nein!«, wehrte er ab. »Aber ich glaube dir! Was willst du wissen?«

Ich begann damit, ihm von meinen Befürchtungen bezüglich Georgs plötzlichem Verschwinden zu erzählen, wie ich seine Putzfrau beschwatzt und vergeblich den PC durchwühlt hatte, bis ich schließlich durch das halbfertige Labyrinth-Spiel auf Vera und letztlich auf ihn gestoßen war. Damit hatte ich eine gewisse Vertrauensbasis geschaffen. Ich spürte förmlich, wie sich die Barriere zwischen uns langsam auflöste. Von Chris sagte ich nichts. Es hätte ihn womöglich misstrauisch werden lassen. Joe war ohnehin noch nicht bereit, mir völlig zu vertrauen.

»In Georgs Briefkasten liegt eine eigenartige Nachricht, die von Jacks-Cyber-Café.com gesendet wurde. Hast du eine Ahnung, von wem sie stammen könnte?«

Joe lachte. Es war ein trockenes, hartes Lachen. »Klar, von mir! Heißt das, Georg hat sie nicht gelesen? Verdammt! Dabei bin ich extra noch in aller Früh ins Internetcafé gerast! Das ist so, als ob man von einer Telefonzelle aus anruft. Meine Warnung, mit diesem Teufelszeug auf keinen Fall tagsüber rumzuspielen, ist also zu spät gekommen …?« Er schwieg eine Weile.

»Erzählst du mir, was passiert ist?«, fragte ich.

»Hm …«, er stöhnte leise. »Dann hängst du auch noch mit drin. Es ist alles meine Schuld! Verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt!«

»Hey! Bleib cool!«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Georg ist schließlich kein Trottel! Aber wenn er in Schwierigkeiten steckt, dann werde ich ihm helfen. Egal ob du jetzt so gnädig bist, mir zu sagen, worum’s eigentlich geht, oder nicht. Ich werd’s rausfinden! Mit oder ohne deine Hilfe. Georg ist mein Freund!« Das saß. Der geheimnisvolle Schattenjäger war jetzt nur noch ein verängstigter Junge. Froh, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Die Schleusen öffneten sich. Sein Redeschwall prasselte durchs Handy, als ob ihn jemand auf Vorspulen gestellt hätte.

Es hatte damit begonnen, dass Joe dieses halbfertige Labyrinth-Spiel entdeckte und beim Herunterladen scheinbar irrtümlich noch ein zweites Programm erwischte. Laut Joe war es ungeheuer umfangreich gewesen. Er beachtete es vorerst gar nicht und dachte bereits daran, es zu löschen. Erst nachdem Georg sich für das Spiel interessierte, kam Joe die Idee, ihm auch dieses andere Programm zu schicken. Der Junge hatte nicht die geringste Ahnung, worum es sich handelte. Für ihn war es viel zu kompliziert. Aber er ging davon aus, dass Georg, dieses Genie, herausfinden würde, ob es sich ebenfalls um ein Spiel handelte. Eines, das Joe als Raubkopie verwerten könnte. Er selbst hatte nur festgestellt, dass es sich im derzeitigen Stadium nicht starten ließ.

Obwohl Joe erst sechzehn war, so war er doch ein alter Hase beim Hacken und geübt im Verwischen seiner Spuren. Ihm war glasklar, welche Schwierigkeiten er bekommen konnte, wenn er fremde Software klaute. Trotzdem verschwendete er keinen Gedanken daran, Georg darauf aufmerksam zu machen, welche Quellen er illegal angezapft hatte. Er gab einfach damit an, dass dieses Programm zufällig in seinen Besitz gelangt wäre, und war stolz darauf, jemandem wie Georg damit imponieren zu können.

Dann kam der Aufschrei. »Wo hast du es her, Schattenjäger?«, und Joe gestand kleinlaut.

Man darf nicht behaupten, dass Georg naiv gewesen wäre, doch in seiner überschwänglichen Begeisterung schien ihn die Faszination überwältigt zu haben. Die Software war als eigenwilliges Spiel konzipiert. Und zwar als eines, das während des Spielverlaufs selbstständig dazulernte und sich weiterentwickelte. Es fiel damit genau in Georgs Spezialgebiet! Zwar war es unfertig und ließ sich nicht ausführen, doch Georg hatte bereits festgestellt, wie viele Fehler und Barrieren es darin gab. Er brauchte sie nur zu bereinigen und etwas zu modifizieren. »Ein Wahnsinn!«, kreischte er verzückt. »Das Ding nimmt eigenständig Kontakte auf, verbindet sich mit Datenbanken, Servern und anderen Programmen. Es ist sogar fähig, im Rechner zu schnüffeln!«

»Lösch es! Sofort! Versuch ja nicht, es zur Ausführung zu bringen! Es könnte womöglich eine Verbindung zu seinem Urheber herstellen! Das kannst du mir nicht antun! Und für dich ist es auch ein Risiko! Es ist schließlich eine geklaute Software, die eindeutig erst in der Entwicklungsphase ist. Darauf darfst du dich nicht einlassen!«, riet Joe. Zu spät. Georg war in seinem Überschwang nicht mehr zu bremsen. Aber er versprach hoch und heilig, äußerst vorsichtig zu sein.

Was danach geschehen war, wusste Joe nicht. Nur, dass Georg jegliche Verbindung zu ihm spurlos bereinigt hatte.

»Ich hab mir dann seine Telefonnummer rausgesucht, weil es mir online zu riskant war, … aber in den nächsten Tagen war er telefonisch nicht zu erreichen. Jetzt steckt er wahrscheinlich voll in der Scheiße … und mich hat er rausgehalten!«, jammerte Joe zum Abschluss seines Berichts.

»Du bist sicher, dass Georg etwas daran geändert und es danach zur Ausführung gebracht hat?«, unterbrach ich sein Jammern.

»Ja, klar. Zuerst ist es nicht gelaufen. Er hat ein paar Stunden dran herumgetüftelt. Danach ist er total ausgeflippt und hat mir mitgeteilt, mit seinen Modifikationen müsste es demnächst funktionieren!«

»Wie hieß die Firma, bei der du dich reingehackt hast?«

»Weiß ich nicht …«

Das klang fies. Hacker wussten genau, wo sie rumschnüffelten und welche Codes sie knackten. Sicher, er konnte rein zufällig irgendwo reingerutscht sein, doch danach achtete ein Junge wie er garantiert darauf, in wessen System er sich befand, um keine Spuren zu hinterlassen.

»Rück schon raus damit! Ich will Georg finden. Und das ist ein Ansatzpunkt!«

»ToyaGame«, flüsterte er zaghaft.

Der Name war mir bekannt. Eine große Softwarefirma, von der es etliche Spiele im Handel gab. Ein naheliegender Grund, weshalb der Schattenjäger versucht hatte, in ihr System zu gelangen.

»Hat das Zeug, das du ihm angedreht hast, auch einen Namen?«

»Ja, hat es«, schmollte er. »Kerberos’ Gier – KG irgendwas, … warte!« Er schien in seinem Kopf rumzukramen. Jedenfalls klang sein Brummen nach angestrengtem Nachdenken. »KG051167-KG051105«, sagte er dann ganz langsam, Zeichen für Zeichen. »Genau! Das war es! Buchstaben und ein Datum. Geburtstag wahrscheinlich. Wählen die meisten. – Na? Habe ich nicht ein Supergedächtnis? – Die Zeichen waren übrigens auch gleich der Code, um irgendwelche Module aneinanderzufügen. Jedenfalls hat Georg so was Ähnliches behauptet. Ausgesprochen schwierig, den zu knacken«, kicherte er. Danach wurde er jedoch sofort wieder ernst. »Ich hoffe ja stark, Georg hat das Teufelszeug eliminiert. Aber falls du es doch noch finden solltest, dann sei ja nicht so bescheuert, diesen gierigen Kerberos laufen zu lassen!«

»Keine Sorge! Ich bin nicht scharf auf Computerspiele. Mich interessiert höchstens die Programmierung!«

Wir tauschten unsere Mailadressen aus und ich versprach, es ihn wissen zu lassen, sobald ich Georg gefunden hatte. Ohne dabei Georgs Computer zu benutzen, versteht sich.

Chris und ich durchsuchten Georgs Rechner, doch von der erwähnten Software fanden wir nicht die geringste Spur.

»Würde Georg ein derartiges Programm löschen, ohne vorher eine Sicherheitskopie anzufertigen?«, fragte Chris.

»Niemals!«, behauptete ich entschieden.

»Und wo, meinst du, würde er sie verstecken?« Wir sahen uns im Raum um. Mein Blick blieb an den Regalen mit den Musik- und Computer-CDs hängen. Es waren Hunderte.

»Tja, wo man einen Baum am besten versteckt, im Wald!« Wir stöhnten gleichzeitig. Wir mussten eine CD finden, die bei oberflächlicher Betrachtung keinerlei Andeutung lieferte. Die Beschriftung würde nichtssagend sein. Jedenfalls war nicht anzunehmen, Georg hätte »geklaut bei ToyaGame« draufgeschrieben oder sie unbeschriftet herumliegen lassen. Jeder hatte so seine eigenen Methoden. Die sicherste war, eine CD in eine Serie von anderen einzuordnen. Damit fügte sie sich am unauffälligsten ein und war am schwersten zu finden.

Wir begannen damit, alle auszusortieren, die eindeutig waren oder nicht in das Schema passten. Damit blieben bloß noch etwa hundert übrig. Georg hatte im Laufe der Zeit verschiedene Marken zum Brennen benutzt, das brachte mich auf eine Idee. Wir fanden ein angefangenes Päckchen von Rohlingen im Rollcontainer und konzentrierten uns auf diese Marke. Falls Georg nicht irgendwo noch eine vereinzelte Übriggebliebene verwendet hatte, war es naheliegend, dass er die Nächstbeste aus der Packung genommen hatte. Dadurch gelang es uns, nochmals einen Teil der CDs auszuscheiden. Wir durchforsteten den Rest.

»Bingo!«, sagte Chris und hielt mir eine CD aus einem Stapel vor die Nase, die mit den verschiedenen Vorlesungen vom Vorjahr beschriftet war. »Embedded Systems hatten wir im letzten Semester nicht!«

Chris legte die CD ins Laufwerk. Mit angehaltenem Atem starrten wir auf den Monitor. Das Programm trug die Bezeichnung Kerberos’ Gier – KG051167-KG051105, wie der Schattenjäger behauptet hatte. Es war also eindeutig die richtige CD. Bereits beim ersten Anblick war mir klar, weshalb Georg nicht hatte widerstehen können, sich entzückt auf diese Software zu stürzen.

3 Spurensuche

Die Software war in vier Module gegliedert. Das erste beinhaltete die Grafik. Der Code zum Anfügen des zweiten Moduls lautete ebenfalls KG051167-KG051105. Beim dritten und vierten Modul änderten sich die letzten sechs Zahlen, aber auch diese Codes waren auf der CD aufgelistet. Das letzte Modul war ausschließlich auf die Auswertung der gesammelten Informationen ausgerichtet. Doch die Arbeit war nur begonnen worden und die Programmierung hörte mitten im Anfangsstadium auf. Das ließ darauf schließen, dass alle Codes zum Aneinanderfügen der Module praktisch mitgeliefert wurden. Georg hätte sich kaum die Mühe gemacht, den Code für das Fragment des letzten Abschnittes selbst zu entschlüsseln. Um das Programm zur Ausführung zu bringen, hätte er auf die begonnenen Auswertungen getrost verzichten können.

Kerberos’ Gier lag uns im Quellcode vor. Das heißt, es war für uns lesbar. Damit es der Computer lesen und ausführen konnte, musste es der Programmierer in eine kompilierte Form, also in Maschinensprache, übersetzen. Und selbst dieser Code war ganz offen auf der CD angeführt!

Man kann sagen, der Quellcode stellt das eigentliche Kapital einer entwickelten Software dar. Bei führenden Office-Anwenderprogrammen wie Word, Excel, PowerPoint zum Beispiel sitzt Bill Gates auf den Quellcodes. Na ja, vielleicht nicht gerade er persönlich. Aber Microsoft umgibt ihn wie eine Festung. Deshalb lassen sich die Programme nur ausführen. In die eigentliche Programmierung kommt man nicht rein, um etwas zu verändern, zu verpfuschen oder Teile davon zu klauen und irgendwo anders einzusetzen.

Im Gegensatz zu dem halbfertigen, von Joe angeblich gleichzeitig heruntergeladenen Labyrinth-Spiel war Kerberos’ Gier kein einfaches Computerspiel, sondern eine hoch komplizierte, brisante Softwareentwicklung. Und so etwas ließ sich doch niemand samt dem angeführten Quellcode klauen! Natürlich war das Dekompilieren nicht unmöglich, aber eine äußerst aufwendige Angelegenheit. So ein Quellcode war ein Riesending mit Millionen Zeilen. Joe hatte mir gesagt, er hätte das Programm heruntergeladen und, nachdem es sich nicht ausführen ließ, genauso an Georg weitergeleitet. Die einzige Möglichkeit, die ich mir vorstellen konnte, war, dass mehrere Leute gleichzeitig programmierten und, um sich gegenseitig nicht zu behindern, die Codes zum Zusammenfügen der Module offen anführten. Aber dass ein Programmierer es nicht merken würde, wenn ein Eindringling im System vor seiner Nase eine Kopie seiner Arbeit schamlos runterlud, konnte ich mir nicht vorstellen! Gerade bei Kerberos’ Gier handelte es sich offensichtlich um eine Software, mit der garantiert niemand sorglos umgehen würde.

Etwas an Joes angeblich wahrheitsgemäßem Geständnis stimmte nicht. Ich fragte mich, was er mir verheimlicht hatte. Und vor allem, warum?

Bei Chris schien das keinen Argwohn zu wecken. War ich einfach nur zu misstrauisch? Anscheinend hatte sich ja auch Georg kaum Gedanken darüber gemacht, sondern die Codes verwendet, um das Programm starten zu können.

Chris und ich hegten nicht die geringste Absicht, Kerberos’ Gier auszuführen. Wir wollten uns bloß die Programmierung ansehen und begannen, die Befehle vom Anfang des zweiten Moduls an durchzugehen. Es dauerte allerdings einige Zeit, bis wir dahinterkamen, worauf Kerberos’ Gier gezielt ausgerichtet war, und das lag nicht etwa daran, dass wir Schwierigkeiten mit der Programmiersprache gehabt hätten. Was uns vorlag, war tatsächlich sehr eigenartig.

»Es scheint ein Spiel zu sein«, Chris lehnte sich zurück und knetete seine Nackenmuskeln. »Aber die programmierten Anweisungen sind dermaßen eigenwillig … ich kapier einfach nicht, worauf sie abzielen!«