Kernschatten - Nils Westerboer - E-Book
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Kernschatten E-Book

Nils Westerboer

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Beschreibung

»...fantastisch, beklemmend ... Kernschatten nimmt dem Leser den Atem.« Lydia Herms, rbb radioeins Im Kernforschungszentrum CERN entsteht eine fremde Substanz. Die Entdeckung ist bahnbrechend, denn so winzig die Probe des unbekannten Materials auch ist – viele der uns bekannten Naturgesetze scheinen darin nicht zu gelten. Die Forscher stellen fest: Es breitet sich aus. Langsam, aber unaufhaltsam. Wohin mit der gefährlichsten Entdeckung aller Zeiten? Militärische Sperrzonen, schweigsame Menschen und eine Nacht, die 23 Stunden dauert. Murmansk, 270 Kilometer nördlich des Polarkreises, könnte der perfekte Ort sein, um ungestört an einer gefährlichen Substanz zu forschen. Doch als der frisch beförderte Kommissar Kolja Blok mit dem Fall eines seltsam entstellten Toten in einem Murmansker Park betraut wird und feststellt, dass es sich um einen verschwundenen CERN-Wissenschaftler handelt, kommt er dem Geheimnis auf die Spur – ohne seine Tragweite ahnen zu können. Gleichzeitig stößt der junge Hochzeitsfotograf Mika Mikkelsen auf ein Schwarzweißbild des vermissten Forschers, auf dem dieser noch lebend zu sehen ist. Wie Kolja Blok beginnt auch er, Nachforschungen anzustellen. Ohne voneinander zu wissen, legen sich die beiden mit einem unbekannten Feind an – und lösen eine Kettenreaktion von Ereignissen aus, an deren Ende nicht weniger auf dem Spiel steht als die Welt... »Wissenschaftsthriller gibt's viele. Dunkler und rasanter als Kernschatten ist kaum einer.« - Michael Schleicher, Münchner Merkur

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Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Dies ist der Umschlag des Buches »Kernschatten« von Nils Westerboer

Nils Westerboer

KERNSCHATTEN

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte inklusive der Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

ISBN 978-3-608-98690-7

E-Book ISBN 978-3-608-12028-8

הרואכ הכישחכFinsternis ist wie das Licht.

ATLAS

Da endlich sah er es.

Eingeschlossen in einem tiefgekühlten Zylinder hinter Plexiglas und Metall, auf Augenhöhe aufgebockt, von Neon beschienen. Er kam näher, durchsuchte den Nebel hinter der kleinen Scheibe, Millimeter für Millimeter, ruhig und ohne Ungeduld.

Aber da war nichts zu sehen.

Dennoch war es da. Er wusste, dass es da war.

Das Neugeborene.

Von Zahlen bezeugt, auf zahlreichen Bildschirmen neben ihm, hinter ihm, im Raum dahinter und so weiter. Es war da, weil Zahlen sagten, dass es da war. Diese Zahlen, gruppiert, gefügt, in Formeln gepresst, waren unmissverständlich.

Eine Fehlgeburt.

Gebettet in flüssigem Helium, eingehüllt in 271 Grad minus. Keiner wusste, ob das richtig war. Es schrie nicht.

Jemand hatte ein Pappschild auf die Anlage gestellt.

Руками не трогать!

Ne pas toucher!

Nicht anfassen!

Er verließ das Labor, spazierte hinaus auf die röhrende Route de Meyrin. Die Herbstsonne brannte, so gut sie konnte. Er blieb stehen, sah in Richtung der Grenze zu Frankreich. In der Ferne flirrten die Berge.

Nichts deutete darauf hin, dass etwas passiert war.

Er überschlug die Zahl der Leute, die davon wussten. Dann zählte er die, die zu informieren ihm unumgänglich erschien, drehte und wendete das Ergebnis, kombinierte es mit den Wissenden, bis eine Handvoll übrig blieb.

Minimierung von Wahrscheinlichkeiten.

Das, was jetzt vom Traum einer exakten Wissenschaft übrig war, der Albtraum eines jeden Pedanten, aber für ihn eine Selbstverständlichkeit, schon seit der Zeit, als er noch in Tel Aviv und Lyon Professoren hinterhergerannt war, Papierstapel unter dem Arm und dicke Taschenrechner im Turnbeutel.

Der Preis würde hoch sein. Höher noch als die anstehende Reparatur irgendwelcher Leiterstrecken und Kühltanks, für die schon jetzt mit achtstelligen Ziffern gerechnet wurde. Die Finanzierung würde ihr Hauptproblem werden.

Grundlagenforschung, das klang gut.

Rettung von Grundlagenforschung klang noch besser.

Aber Grundlagenvernichtung. Wer bezahlte so etwas?

Er ging weiter, bewegte sich auf Frankreich zu.

Sie hätten nach dem Zwischenfall nicht weitermachen dürfen. Keine Sekunde, keinen Bruchteil einer Sekunde. Er würde daran zu tragen haben, wahrscheinlich für den Rest seines Lebens. Dabei ging es nicht um Schuld. Eine Maschine, die über dreitausend Leute beschäftigte, produzierte keine Alleinschuldigen.

Er blinzelte, jemand kam ihm entgegen. Es war Jegor. Einer von denen, die alles wussten. Er spürte, wie ihm ein wenig leichter wurde.

An den Masten mit den Nationalfahnen, die den Parkplatz der Anlage in einer langen und klirrenden Reihe begrenzten, genau zwischen Finnland und Bulgarien, trafen sie aufeinander.

Jegor hatte den kümmerlichen Rest einer Eistüte in der Hand. »Wenn du dich beeilst, kriegst du noch was«, sagte er im Vorbeigehen. Er schien nicht mit ihm reden zu wollen, wahrscheinlich hatte er ihm seine pessimistischen Gedanken schon von weitem angesehen.

»Dann bis unten.«

Er blieb stehen und sah Jegor nach, wie er in einer der Türen verschwand, die nach unten führten.

Unten? Wieso eigentlich immer unten?

Er setzte seinen Spaziergang fort und näherte sich der Grenze. Die Straße wurde an dieser Stelle breiter. Eine Reihe weißer Lieferwagen rollte an ihm vorbei. Er hoffte, dass noch mehr kommen würden, denn bei Krach konnte er gut denken. Zu seiner Rechten entdeckte er hinter einem leeren Parkplatz einen leeren Pool, der ihm bisher nie aufgefallen war.

Ebenso leer hatte der kleine tiefgekühlte Zylinder im Labor ausgesehen, leer und irgendwie unerheblich. Jeder normale Mensch hätte ihn, wäre er nicht wie in einer Intensivstation an zischende Tanks und Drähte gekettet, in die nächste Mülltonne werfen können. Aber die Zahlen auf den Bildschirmen am anderen Ende der Drähte erlaubten das nicht.

Er nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche.

Bisher wussten sie nur zwei Dinge.

Erstens, es strahlte nicht. Nicht mal ein bisschen. Eher schien es sogar Strahlung zu absorbieren. Das hatte sein Gutes. Niemand würde damit eines Tages unbemerkt Frauen sterilisieren, Dissidenten markieren oder Journalisten verkrebsen. Die Kehrseite war, dass damit ein spendables und schweigsames Fördererklientel für die nötige Forschung wegfiel.

Zweitens, es interagierte auf unerklärliche Weise mit seiner Umgebung. Der Zylinder verlor kontinuierlich an Gewicht, ohne dass das jemand verstand. Seit der Konservierung nach dem Zwischenfall, seit alle möglichen Detektoren daran hingen, waren nur wenige Zahlen auf den Bildschirmen nicht konstant geblieben, unter anderem die des Gewichts. Es wurde leichter.

Erst hatten sie vermutet, dass es irgendwann einfach verschwinden, sich selbst abschaffen würde. Doch dagegen sprachen andere, unverändert feststehende Zahlen.

Er betrat den Parkplatz der Grenze und grüßte mit einem Wink die Wachposten, denen die Hitze glitzernde Perlen über die Gesichter trieb. Einer wies mit einem einladenden Lächeln auf die kleine Eismaschine im Inneren seiner Hütte.

»Monsieur?«

Er war nicht in der Verfassung.

»Merci, pas aujourd’hui.«

Er senkte die Hand, wandte sich um und bewegte sich wieder auf die grauen Komplexe zu. Die Idee, die ihn seit heute Morgen umhertrieb, hatte ihm schon das Frühstück vergrault.

Was, wenn nicht der Inhalt des Zylinders an Gewicht verlor, sondern bereits der Zylinder selbst? Das tiefgekühlte Gas vielleicht oder die Elektronik der Detektoren?

Wahrscheinlich war es nicht, aber was war schon wahrscheinlich?

Wahrscheinlichkeit bedeutete nichts anderes, als dass alles möglich war, das eine nur mehr als das andere, das eine früher, das andere später. Auszuschließen war gar nichts. Er hatte seine Idee während der Mittagsbesprechung geäußert, aber niemand hatte sich interessiert gezeigt, auch Jegor nicht.

Wahrscheinlich weil sie alle Angst hatten, er könnte Recht haben.

Denn wenn er Recht hatte, war sofort Schluss mit kostenlosem Grenzbeamten-Eis und netten Gesprächen mit Händen und Füßen.

Wenn er Recht hatte, dann war Zeit von nun an eine harte Währung. Er würde sich sofort daranmachen müssen, einer Handvoll Leuten behutsam klarzumachen, was ihnen bevorstand. Außerdem war die Zahl der Mitwisser zu verringern, wie auch immer er das anstellen sollte.

In jedem Fall würden sie nicht hierbleiben können. Sie würden die Fehlgeburt fortschaffen müssen, am besten noch heute und am besten an irgendein Ende der Welt, wo sie ungestört daran arbeiten konnten, Wahrscheinlichkeiten zu minimieren.

Er erreichte eine Tür und beschloss, noch einmal ins Labor zu gehen, um einen Blick auf die Zahlen zu werfen.

Er fragte sich, wohin sie gehen würden, wenn er Recht hatte. Doch ganz gleich, was sie tun würden, gleich, wo und wie gut sie sich verbargen.

Irgendwann würde irgendjemand kommen.

Es war wahrscheinlich.

FERNWÄRME

1

Die ersten Tage konnte man sich schenken. Sie dauerten kaum länger als eine Stunde und waren nicht mehr als eine kurze schäbige Dämmerung, die zu nichts anderem nütze war, als dass man den Smog etwas besser sehen konnte als sonst.

Kolja Blok ließ den Motor laufen.

Er zog sich eine Mütze über die Glatze und stieg aus. Der Neuschnee, der den Dronow-Park unter sich begraben hatte, war kniehoch und hatte die Farbe eines Umzugskartons. Blok fluchte, als er die frisch getrampelten Spuren entdeckte, die von den anderen Streifenwagen aus in den Park führten.

Er war zu spät dran.

Seine Beförderung war so alt wie dieser kurze Tag und schon riskierte er sie.

Hastig fischte er eine Tüte aus dem Kofferraum, prüfte ihren Inhalt und folgte den Spuren.

Wachruschews Anruf vom Vormittag klingelte immer noch in seinen Ohren. »Machst du das, Kolja? Ich muss es gleich wissen.« Der Morgen hatte gerade zu dämmern begonnen und Blok hatte, ohne nachzudenken, »Ja« gesagt. Niemand war so dumm und würde, nach fünfzehn Jahren Streife, einen Posten bei der Kriminalpolizei ausschlagen. Niemand außer vielleicht Kolja Blok. Aber er hatte »Ja« gesagt und sich ein Fischbrötchen gekauft. Dann hatte Wachruschew erneut angerufen, und jetzt hatte Blok, keine Stunde später, die Prüfung eines möglichen Mordfalls am Hals.

Er hatte sich noch die Zeit genommen, über seinem restlichen Brötchen in einem Lehrbuch zu blättern, bevor er zum Dronow-Park gefahren war. Sein erster Fehler, denn es wurde schon wieder dunkel.

Blok sah auf die Uhr, es war erst kurz nach zwei Uhr mittags. Aber die Polarnacht wartete nicht, bis jemand sein Fischbrötchen aufaß. Sie kam, würde 22 Stunden bleiben und sich keinesfalls um so etwas wie eine Spurensicherung scheren.

Blok hörte die anderen, bevor er sie sah. Es waren vier Mann, sie standen in der Nähe einer verkrüppelten Birke. Blok kannte keinen von ihnen. Er wusste nur, dass sich nahezu jeder im Bezirk auf seine Stelle beworben hatte, im Unterschied zu ihm. Feierlaune war also keine zu erwarten.

Blok umklammerte die Plastiktüte. Als er sich den Männern näherte, drückte er seinen Rücken durch. Doch es war aussichtslos, er würde ihnen allen bestenfalls bis zur Brust reichen. Bloks Körpergröße hatte für die Aufnahmeprüfung der Polizei gerade so ausgereicht.

Er quetschte sich durch eine Lücke und grüßte in die Runde. Das Gerede erstarb, ohne dass ihn jemand ansah.

»Guten Abend, Sir«, murmelte ein junger Rothaariger. Blok zuckte zusammen. Es ging also gleich los. Sir. Jemand musste seine Schwäche für amerikanische Polizeifilme weitergetratscht haben.

Der Tote, der quer zu seinen Füßen lag, war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Er lag auf dem Rücken und hatte die Arme und Beine von sich gestreckt, als ob er einen Engel machen wollte. Es sah nach einem kräftigen Rückstoß aus, von was auch immer.

Blok ging in die Hocke, strich dem Toten nach und nach den Schnee vom Kopf und versuchte, sich nicht um das Getuschel von hinten zu kümmern. Als er über das Gesicht der Leiche wischte, erschrak er. So etwas hatte er noch nie gesehen, in seinen fünfzehn Dienstjahren nicht und auch in keinem Polizeifilm.

»Wer von Ihnen hat das gemacht?«, fragte er sauer in die Runde, als er sich gefasst hatte.

»So was geht noch nicht, Sir. Dazu ist er noch nicht steif genug. Warten Sie, ich zeig’s Ihnen …«

Der Rothaarige beugte sich vor und wollte sich am Gesicht des Toten zu schaffen machen. Blok schoss Blut in den Kopf. Das ging nicht nur gegen die Totenruhe und alle Regeln einer Tatort-Ermittlung, das ging vor allem gegen ihn und seine ungetestete Autorität. Der Angriff überraschte ihn nicht, wohl aber, dass er so schnell kam und dass keiner der anderen Anstalten machte, ihm zur Seite zu stehen. Sie mussten ihn noch weniger leiden können, als er erwartet hatte. Er stieg hastig über die Leiche und stellte sich dicht vor dem Rothaarigen auf.

»Wer ist für die Spurensicherung verantwortlich?«

Der Rothaarige hob kraftlos die Hand. »Ich, Sir.«

»Wurden schon Fingerabdrücke genommen?«

»Wir wussten nicht, ob wir die Handschuhe entfernen dürfen.«

Blok warf einen prüfenden Blick auf die Leiche, deren Hände tatsächlich in dicken Fäustlingen steckten. Er seufzte und hielt dem Rothaarigen die Plastiktüte hin.

»Die Umgebung ist nicht gesichert. Fangen Sie damit an.«

Der Mann sah auf die Rolle Absperrband in der Tüte, schien aber nicht einmal daran zu denken, sie herauszufischen.

»Hier ist doch kein Schwein, Sir.«

Jetzt hatte Blok genug.

»Da bin ich mir nicht sicher, mein Lieber.« Er hielt ihm die Tüte vors Gesicht. »Soll ich Sie wegen Befehlsverweigerung oder wegen Dilettantismus in Schwierigkeiten bringen?«

Der Rothaarige griff nach der Tüte und machte sich mit ihr davon. Blok fuhr sich erleichtert über das Genick. Einer weniger, dachte er. Mochte Wachruschew ihn unter die Wölfe geschickt haben, ein Schaf war er nicht.

»Also, was haben wir hier?«

»Das ist ein Penner, Sir! Hat die Kälte nicht vertragen«, sagte ein älterer Beamter, der den aufgeschreckten Blick eines Huhns hatte.

»Hat er Ihnen das gesagt?«, erkundigte er sich, ohne aufzusehen. Keiner lachte. Blok begann, den restlichen Körper des Toten vom Schnee zu befreien.

Er konnte nicht leugnen, dass an der Idee etwas dran war. Der Tote hatte einen ganzen Kleiderschrank am Leib. Nicht nur, dass er zwei Jacken und noch einen Mantel trug, auch die Pullover und Hemden darunter bildeten einige Schichten.

Er kramte Latexhandschuhe aus seiner Jackentasche, ließ sie über die Hände schnalzen und konnte die Blicke der anderen in seinem Genick spüren. Sie würden nun jeden seiner Handgriffe genau beobachten und nur darauf warten, dass er Fehler machte. Die Beförderung stand auf keinem Papier, Wachruschew hatte die Bürokratie auf später verschoben. Wenn Blok die Sache verpatzte, war er den Posten so schnell wieder los, wie er ihn bekommen hatte.

Er blätterte die Hosenbeine des Toten durch und zählte vier Lagen Stoff. Es waren gute Hosen, nicht das, was normalerweise an Bedürftige ausgeteilt wurde. Das galt auch für die Schuhe aus braunem Leder, die sich wegen der vielen Socken, die aus ihnen hervorquollen, steinhart anfühlten. Blok sah auf. Auch das Gesicht des Toten schien, abgesehen von diesem seltsamen Anblick, den er noch nicht einordnen konnte, einigermaßen gepflegt.

Blok stutzte. Hätte man beim Tod eines Obdachlosen, was in dieser Jahreszeit durchaus vorkommen konnte, ganze fünf Leute von der Kriminalpolizei herbeordert? Es musste einen Grund dafür geben, dass sie hier waren. Es ärgerte ihn, dass Wachruschew es nicht für nötig erachtet hatte, ihm irgendetwas davon mitzuteilen.

Er begann, die Manteltaschen des Toten zu durchsuchen. Währenddessen kam der Rothaarige wieder zurück und ließ die Tüte mit der Rolle neben Blok ins Gras fallen.

»Da ist ein Journalist«, meldete er.

Blok blickte über die Schulter nach hinten. Tatsächlich stand ein mit Kameras behängter Mittdreißiger hinter dem Absperrband. Er hatte ein abartig großes Objektiv auf seine Spiegelreflex geschraubt und schien auf einen freien Blick auf die Leiche zu warten. Der wurde ihm gewährt, bevor Blok irgendetwas ausrichten konnte. Blok ließ die Kaskade von Auslöserklicks mit geschlossenen Augen über sich ergehen. Dann stand er auf, stapfte durch den Schnee und hielt dem Journalisten die offene Hand hin.

»Den Film.«

Der Mann lächelte freundlich.

»Geht nicht. Ist digital.« Er machte ein paar Schritte zurück. Blok griff nach dem Absperrband, hielt aber inne. Wenn er jetzt diesem Typ nachlief, würde er sich endgültig zum Affen machen.

»Für wen arbeiten Sie?«, fragte er stattdessen.

»Vogue«, kam die Antwort aus sicherer Entfernung. Die Polizisten brachen in schallendes Gelächter aus. Der Mann machte, dass er davonkam.

Blok hätte am liebsten eine der Birken ausgerissen, die überall herumstanden. Aber er atmete tief durch, denn er war sich sicher, dass es schlimmer nicht mehr werden konnte.

Sein Telefon klingelte. Es war Wachruschew.

»Nun, wie läuft’s, Kolja?«

Blok tauchte unter dem Absperrband durch und stieg in die frischen Spuren des Journalisten.

»Scheint ein Obdachloser zu sein«, sagte er flüchtig.

»Gut möglich«, kam die Antwort. Etwas überhastet, wie Blok empfand. Er warf einen Blick zur Seite und überprüfte die Hörweite zu den anderen. Er musste jetzt wissen, was das Ganze sollte.

»Wieso sind hier vier Mann?«, flüsterte er.

»Was ist dein Problem? Jemand ist tot, ich schicke Leute, so geht das immer.«

»Wenn das hier ein Obdachloser ist, warum so viele?«

»Hast du es im Griff, Kolja?«

Blok seufzte.

»Klar.«

»Pass auf, ich muss Schluss machen. Bringt die Leiche zu Oleg in die Nekrasowa. Am besten, bevor es dunkel ist.« Dann riss die Verbindung ab.

Blok schüttelte den Kopf und steckte das Telefon ein. Er hatte kalte Füße. Die anbrechende Nacht schob einen eisigen Wind vor sich her und aus der Ferne hörte Blok das monotone Rumpeln eines Güterzugs. Er lief zur Gruppe zurück und platzte dort in gereiztes Getuschel.

»Wir packen ein«, verkündete er laut.

Das Gerede erstarb.

»Schon? Hier ist doch noch nichts gelaufen«, bemerkte der Rothaarige.

Blok ging nicht darauf ein.

»Holen Sie, was nötig ist, alle zusammen. Veranlassen Sie den Transport in die Nekrasowa!«

Die Männer sahen ihn für einen Moment dankbar an. Wahrscheinlich hatten sie auch kalte Füße. Das Knirschen ihrer Schritte im Schnee verschmolz mit dem leisen Rumpeln des Zuges.

Endlich hatte Blok die Leiche für sich alleine.

Er fuhr mit der Durchsuchung der Manteltaschen fort. Sie waren alle leer. Doch in den Taschen der darunter liegenden Jacke wurde Blok fündig. Er zog einen Schlüsselbund hervor, an dem mehr als zehn Schlüssel hingen. Das war es dann mit der Obdachlosen-These, dachte er.

An dem Bund hing auch ein kleiner Anhänger aus durchsichtigem Plastik, nicht größer als ein Daumen. Darin war so etwas wie ein Computerchip eingelassen. Sein Besitzer musste ihn gerne und lange getragen haben, denn die Oberfläche des Plastiks war stumpf und voller Kratzer. Am linken Rand waren gerade noch Buchstaben zu erkennen, »LHC«, dahinter eine Jahreszahl, die mit 20 begann, dann aber unleserlich wurde. Am rechten Rand waren die Überreste eines Firmenlogos zu erkennen, das aus ein paar roten Strichen und Kurven bestand.

Blok tütete den Schlüsselbund ein und durchsuchte die restlichen Taschen. Bis auf einen abgewetzten Geldschein und einige Münzen waren sie alle leer. Keine Papiere, keine Kreditkarten, nichts.

Er richtete sich auf. Der Wind war stärker geworden, Eiskristalle rieselten von der Birke neben ihm. In der näheren Umgebung standen einige Büsche, die sich zu einem dunklen Dickicht verhedderten. Nicht allzu weit hinter dem flatternden Absperrband führte ein schlecht geräumter Weg vorbei, der von Laternen in großem Abstand beleuchtet wurde. Hinter dem Weg verlief ein Strang grauer Fernwärmerohre. In der anderen Richtung, am Ende des Parks, glaubte Blok einen Bahndamm zu erkennen.

Er umrundete den Toten ein paarmal mit zunehmendem Abstand, um den Schnee nach Spuren und Gegenständen zu durchsuchen. Doch die Dunkelheit machte ihm einen Strich durch die Rechnung und er gestand sich ein, dass er das früher hätte machen müssen.

Nach einer Weile hörte er Stimmen.

Blok seufzte. Er musste sich für den Bericht noch schnell einen Gesamteindruck der Leiche verschaffen, bevor sie weggebracht wurde. Er trat zurück und schoss ein paar Fotos. Das war zwar die Aufgabe seiner Leute gewesen, aber Blok ging lieber auf Nummer sicher.

Taghell leuchtete der Körper in den Blitzen seiner Kamera auf. Blok machte auch eine Nahaufnahme des Kopfes. Wenn er es sich recht überlegte, setzte ihm dieser Anblick mehr zu als alles andere, einschließlich seiner Beförderung und der Versuche der anderen, sie zu sabotieren.

Der Kopf des Toten war unverletzt. Das war es auch nicht. Blok hatte schon so gut wie alles gesehen, was mit Köpfen passieren konnte.

Es war die Freude in seinem Gesicht.

So glücklich hatte Blok seit Jahren keinen Lebenden mehr gesehen. Der Tote strahlte, als ob man ihn mitten in einem Lachanfall schockgefroren hätte. Seine Mundwinkel drückten sich weit in die Wangen, seine Augen waren umgeben von Lachfältchen und mehr als nur glücklich blickten sie in den dunklen Himmel hinauf.

Fröstelnd machte Blok noch eine Aufnahme und trat zurück. Mit seinen ausgestreckten Gliedern lag der Tote da, als ob das Sterben die wunderbarste Sache der Welt wäre. Blok war beinahe froh, als die anderen kamen und der Anblick kurz darauf hinter dem Reißverschluss des Transportsacks verschwand.

2

Mika Mikkelsen untersuchte mit einer Lupe den Oberarm der Braut. Ihre Haut war glatt und rein, da gab es nichts auszusetzen. Sie hatte auch eine schöne Farbe, irgendwo zwischen Schlagsahne und Karamell. Ein Problem war jedoch die viel zu enge Stulpe aus weißer Spitze, die bis kurz über das Armgelenk gezogen war und über der sich, so musste man das leider sagen, Speck staute. Mika reichte die Lupe dem Praktikanten.

»Was meinst du?«

Der Praktikant beugte sich vor und hielt die Lupe vor das Bild.

»Beeindruckend.«

»Du sollst auf den Oberarm gucken.«

Der Kopf des Praktikanten wanderte ein Stück nach rechts.

»Also, was würdest du machen?«, fragte Mika.

Der Praktikant tat so, als würde er überlegen.

»Liebe. Hochzeitsnacht. Keine Ahnung, Herr Mikkelsen.« Er legte die Lupe weg und lehnte sich zufrieden zurück.

Mika war unentschlossen, wessen Stirn er gleich auf die Tischplatte knallen sollte, seine eigene oder die des Praktikanten. Seine Geduld mit den Zehntklässlern, die er regelmäßig zu betreuen hatte, war in den letzten Jahren auf ein Minimum zusammengeschrumpft.

»Also pass auf. Die Oberarme sind eindeutig zu – viel.«

Er wandte sich dem Computer zu, auf dem das Bild als Datei geöffnet war, und fuhr mit dem Mauszeiger über der betreffenden Stelle hin und her. »Aber das ist für das Programm hier kein Problem.« Er markierte einen der beiden Arme, stellte ein paar Parameter ein und verdünnte ihn schließlich in winzigen Schritten. »Man darf es nur nicht übertreiben, das geht bei den Kunden nach hinten los, wenn sie sich nicht mehr wiedererkennen.«

Der Praktikant nickte und schob den Unterkiefer vor.

»Willst du den anderen Arm machen?«, fragte Mika, als er fertig war.

»Aber dann muss ich wirklich los, Herr Mikkelsen.«

Mika schob ihm die Maus zu und stützte den Kopf in die Hände. Der Praktikant würde seine Sache gut machen. Mika beobachtete den Mauszeiger, wie er hin und her glitt, durch Menüs und Untermenüs streifte, alle möglichen Kästchen, Kurven und Gitter erscheinen und verschwinden ließ, hier und da Kreuzchen machte und Kreuzchen löschte. Irgendwann verlor Mika ihn aus den Augen und starrte nur noch in die untere Ecke des Bildschirms. Der Praktikant machte die Sache gut.

Mikas Kinn drückte sich immer schwerer in die Handflächen, er wurde schläfrig. Das Schrubben der Maus auf dem Tisch schien sich zu entfernen, während das monotone Säuseln des Lüfters unter dem Tisch anschwoll, bis es ein Sausen war, das seinen Körper wie eine Bettdecke einhüllte. Klötze aus Eisen, die sich seltsam vermehrten, hängten sich an seine Augenlider, auf denen schon die ersten Filme liefen. Mikas Handflächen waren kurz davor, auseinanderzudriften und seinen Kopf ins Bodenlose stürzen zu lassen, als ihn ein fernes Klirren aufschreckte.

Er öffnete die Augen und war mit der Braut alleine. Auf dem Bildschirm klebte ein Blatt Papier.

»Schönes Wochenende, Herr Mikkelsen.«

Mika rupfte die Nachricht ab und warf sie in den Papierkorb unter dem Tisch. Als sein Blick wieder auf den Bildschirm fiel, fragte er sich, wie lange er weg gewesen war.

Der Praktikant hatte nicht nur den Oberarm der Braut sorgfältig bearbeitet, sondern auch das übrige Bild. Statt Rosen hielt sie nun ein Bügeleisen in der linken Hand. Überall befanden sich dunkle Abdrücke, die zur Form des Bügeleisens passten, auf dem Boden, auf ihrem Kleid und im Gesicht ihres lächelnden Bräutigams. »Ich bügle alles«, stand in einer Sprechblase über der Braut. »Ich liebe bügeln«, sagte der Bräutigam.

Mika atmete tief durch, bevor er begann, die Rückgängig-Funktion im Sperrfeuer zu bearbeiten. Während er das tat, dachte er darüber nach, warum er sich eigentlich immer wieder dazu breitschlagen ließ, Betriebspraktikanten anzunehmen, kam aber auf keinen brauchbaren Gedanken. Die Sprechblasen und Bügeleisenabdrücke verschwanden nach und nach im Nichts, zuletzt pflanzte sich der Rosenstrauß blitzartig zurück in die Hand der Braut. Mika speicherte das Bild, stand auf und ging in den Verkaufsbereich.

Dort stand die gläserne Ladentür offen und kalte Luft strömte in den langgezogenen Raum, dessen Wände mit Hochzeitsfotografien in Goldrahmen zugepflastert waren. Sein Praktikant war, mehr oder weniger, geflohen.

Mika blieb hinter der Theke stehen und sah durchs Schaufenster auf die Straße hinaus. Allzu weit war der Junge noch nicht weg. Er stand auf der beleuchteten Verkehrsinsel, ein kleines Stück die Straße hinunter, und wartete zusammen mit einigen anderen Passanten auf grünes Licht. Kabel hingen aus seinen Ohren und er trat hektisch von einem Fuß auf den anderen. Mika wartete auf so etwas wie einen verstohlenen Blick zurück, aber der kam nicht.

Kälte drückte sich in den Laden. Mika verschränkte die Arme vor der Brust und stierte weiter nach draußen. Im Verkehr tat sich eine Lücke auf, die der Junge sofort nutzte. Er huschte als Einziger über die Straße und drängelte sich durch die wartenden Leute auf der anderen Seite. Mika sah ihn noch einige Male zwischen den parkenden Autos am Straßenrand auftauchen, bis er schließlich hinter einem Büroblock verschwand.

Mika wusste nicht, was er von ihm halten sollte. Er blieb dabei, dass er ihn nicht leiden konnte. Aber das hatte nichts mit Geringschätzung zu tun und auch nichts mit den Scherzen, die er machte. Die waren nicht der Rede wert und denen der früheren Praktikanten oft erschreckend ähnlich, aber sie hatten immerhin den Alltag in Järvet’s Super Studio aufgelockert. Es musste etwas anderes sein, etwas, das ihn seltsam kratzte.

Draußen sprang die Fußgängerampel auf Grün.

Die Leute trotteten los wie Schafe, denen man ein Gatter geöffnet hatte. Mika schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Der Hochglanz der Bilder und die Reflexe auf den schimmernden Rahmen tränkten den Raum in ein sprödes Zwielicht. Inzwischen war es drinnen genauso kalt wie draußen.

Doch nicht die Kälte ließ Mika frösteln, sondern ein unangenehmer Gedanke, der sich in ihm breitmachte. Er wusste nun, warum er dem Jungen so lange nachgeschaut hatte.

Aus Neid.

Nicht auf sein Alter, davon war er selbst keine zehn Jahre entfernt. Auch nicht auf sein durchaus vorhandenes Talent, das er ihm in keiner Weise missgönnte. Er war nur auf eine bestimmte Sache neidisch.

Dass er gehen konnte.

Einfach verschwinden, solange der Abend noch zu etwas zu gebrauchen war.

»Schönes Wochenende, Herr Mikkelsen«, einfach so.

Sein Blick fiel auf ein Bild an der Thekenwand. Wadim Järvet hatte es persönlich bearbeitet und dort aufgehängt.

Es war in breites Gold gerahmt. Braut und Bräutigam saßen auf einer Betonmauer. Der Bräutigam trug einen violetten Anzug, lag im Schoß der Braut und versuchte zu lächeln. Die Braut, eine Ansammlung weißer Schleifen, hielt seinen Kopf wie einen Säugling. Järvet hatte die Betonmauer mit allen Farben des Regenbogens eingefärbt und einen blauen Himmel darüber gezaubert.

Der Rahmen des benachbarten Bildes hatte Herzform. Die Braut stand, der Bräutigam sprang. Sein Gesicht war sonnengebräunt. Mika konnte sich erinnern, wie es durch die vielen Sprünge krebsrot gewesen war. Järvet hatte außerdem den ein oder anderen Schweißflecken entfernen müssen. Den Hintergrund schmückte das 35 Meter hohe Aljoscha-Monument, das Gewehr am Rücken und den Blick nach Westen gerichtet.

Mika wusste bis heute nicht, ob Wadim Järvet vielleicht einfach nur einen seltsamen Humor hatte. Er wandte sich ab und sah durch die offene Tür nach draußen.

Einfach gehen.

Järvet’s Super Studio den Rücken kehren.

Einem Ort, an dem selbst Zehntklässler merkten, dass sie nach einer Woche alles gesehen hatten. Einem Ort, an dem man nicht fotografierte, sondern mit Farbverläufen und dicken Rahmen zauberte. Wo man sich darauf spezialisiert hatte, mit dem schlechten Geschmack, den die meisten Leute nun einmal hatten, Geld zu verdienen. Und, das war der Trick, mit ihrer Unvollkommenheit. Am schönsten Tag ihres Lebens waren sie auf seltsame Weise schlanker, kräftiger, farbiger oder irgendetwas anderes. Trickserei, von der man nicht redete und die es gut zu dosieren galt – indem man es nicht übertrieb. Jeder halbwegs wache Praktikant konnte das nach ein paar Tagen. Und hatte, wenn er wirklich halbwegs wach war, Besseres vor.

Zum Beispiel: »Schönes Wochenende, Herr Mikkelsen.«

Mika hatte auch einmal Besseres vorgehabt, zumindest bis er Wadim Järvet getroffen hatte.

Zuerst hatte Järvet ihm den Wegzug ausgeredet. »Diese Stadt wird wieder groß werden«, hatte er damals gesagt. »Wenn sie endlich das Gasfeld anstechen, dann kommen die Reichen. Und mit denen kommen die Galerien. Und wenn die kommen, bist du schon hier.«

Das Gehalt war in Ordnung. So hatte Mika sich entschieden, in einer Stadt zu bleiben, in der es nur zwei Möglichkeiten gab: Man ging weg oder man wartete.

Wadim Järvet betrieb inzwischen drei Super Studios, träumte von einer Kette und Mika wartete. Er wusste schon gar nicht mehr worauf. Er hatte schon seit Jahren keine Frau mehr fotografiert, ohne dass ein Bräutigam in der Nähe war. Er nahm einen tiefen Atemzug. »Schönes Wochenende, Herr …«

»Soll ich auflassen?«

Der Mann mit der Einweg-Atemschutzmaske, der in der Ladentür stand, füllte ihren Rahmen fast vollständig aus. Er starrte Mika für einen kurzen Moment über die Länge des Raums an, nahm mit einer höflichen Geste seinen schwarzen Hut ab, dann schloss er, ohne Mikas Antwort abzuwarten, die Tür.

»Besser so!«, murmelte er durch grünen Zellstoff.

Dann schlenderte er in den Laden, blieb stehen und strich sich etwas Schnee von seinem schwarzen Regenmantel. Dabei wanderte sein Blick die Wände entlang, blieb irgendwann an einem Bild hängen, das etwas Haut und weiße Spitze mit roten Rosen kontrastierte. Er kippte den Kopf und krauste die Stirn unter seinem dunklen Haar. Dann machte er einen Schritt zurück und wandte sich dem Regal auf der gegenüberliegenden Seite zu.

Nicht hinsehen, dachte Mika. Dort standen einige der Bilder, die ihm am peinlichsten waren, Perlen auf tätowierter Bauchhaut, Brautsträuße auf Mauern und so weiter. Der Mann betrachtete sie sorgfältig, während sich die Maske wie eine Pumpe über seinen ruhigen Atemzügen aufblähte und zusammenzog.

»Kann ich helfen?«, fragte Mika irgendwann vorsichtig.

Es hatte etwas von anstehender Operation, als sich ihm die Augen über der Maske plötzlich zuwandten, und Mika lehnte sich unwillkürlich zurück. Das bisschen Smog, dachte er.

Der Mann schien sich für einen Moment besinnen zu müssen. Dann nahm er die Maske ab, stopfte sie in die Manteltasche und setzte seinen Hut wieder auf. Er räusperte sich vornehm und mit vorgehaltener Hand, und nach einigen wenigen schwebenden Schritten war er an Mikas Theke angelangt. Er stellte eine Filmdose auf die Ablage neben der Kasse.

»Abzüge bräuchte ich hiervon. Große und heute.«

Mika stellte fest, dass ihm der heisere Tonfall des Mannes nicht gefiel. Demonstrativ sah er auf die Uhr, die über der Ladentür hing. Es war vier durch.

»Sie sind spät …«

»Ihr habt bis zwanzig Uhr auf, so steht es draußen.«

»Tut mir leid. Das Labor nimmt trotzdem für heute keine Aufträge mehr an.«

Mika war das Labor. Doch in seiner augenblicklichen Verfassung würde er sich hüten, das zuzugeben. Der Mann fingerte mit seinen dicken Lederhandschuhen hektisch nach der Filmdose auf der Theke, öffnete sie und ließ einen 400er TX herausrutschen.

»Ist schwarz-weiß. So was geht nicht in ein Labor raus. Ihre Dunkelkammer müsste dahinten ums Eck sein.«

Er wies mit seinem kräftigen, etwas lieblos rasierten Kinn auf die offen stehende Tür hinter der Theke. Mika seufzte. Der Kerl hatte Recht.

»Jeder Fotograf, der was auf sich hält, hat eine gescheite Dunkelkammer.«

»Wenn Sie das sagen.«

»Sie sind ein Guter, das habe ich gleich gesehen. Sie helfen mir bestimmt.«

Bevor Mika irgendetwas erwidern konnte, landeten einige Geldscheine auf der Theke. Es waren mehrere tausend Rubel.

»So was gibt’s gleich noch mal, wenn Sie fertig sind. Sagen wir, um sieben.«

Mika schnappte nach Luft. Das ging über jedes Maß. Hatten sie das Gasfeld doch schon angestochen, und er hatte es nicht mitbekommen? Seine Laune stieg schlagartig. Da er den Laden alleine zu hüten hatte, beschloss er, es als Privatauftrag zu verbuchen. Er zog einen Abholzettel unter der Theke hervor und griff nach einem Kugelschreiber.

»Ihr Name?«

Der Mann sah Mika prüfend an.

»R…«, er stockte. »Rosenbusch.«

Mika ließ sich das buchstabieren und hielt ihm den Durchschlag des Abholzettels hin.

»Na, bis um sieben dann.«

»Nun denn.«

Er nahm den Zettel und lief zur Tür. Auf halber Strecke drehte er sich noch einmal um.

»Was ich noch sagen wollte …«

Mika, der schon dabei war, die Scheine in seine Hosentasche zu stopfen, hielt inne.

»Ich brauche den ganzen Film. Alle Bilder. Ziehen Sie auch die ab, die so aussehen, als wären sie missraten oder so.«

»Selbstverständlich.«

Der Mann nickte zufrieden.

»Ich habe gleich gesehen, dass Sie ein Guter sind.«

Die Tür fiel ins Schloss. Mika steckte das restliche Geld ein und nahm den Film von der Ablage. Er war nur eingeschränkt neugierig auf die Bilder, es konnte sich eigentlich nur um ein eiliges Geburtstagsgeschenk oder um irgendeine Büroferkelei handeln. Aber die Bezahlung stimmte und er hatte Lust auf die Dunkelkammer, in der er ohnehin viel zu selten zu tun hatte und die er jederzeit gegen den Computer eintauschen würde. Während er den Film in der Hand wog, entdeckte er, dass ein Name darauf gekritzelt war.

Irina.

Mika lächelte. »Ich würde sagen, wir gehen zu mir«, sagte er, stellte eine Glocke auf die Theke und verschwand mit dem Film in der Dunkelkammer.

3

Hypothermien werden in drei Stärkegrade unterteilt«, erklärte Oleg Jakowlew mit finsterem Blick auf die Leiche, die vor ihm auf der silbernen Platte lag. »Der erste Grad ist im Grunde ungefährlich und reversibel. Die Unterkühlung färbt die anfangs bleiche Haut mit der Zeit braun und es entstehen Blasen, die bald wieder verschwinden, vorausgesetzt, man lebt noch.« Jakowlew räusperte sich.

»Beim zweiten Grad kommen Schwellungen hinzu und die Blasen kriegen Farbe. Sind sie hell, kann man die Unterkühlung immer noch als harmlos bezeichnen. Schlecht wird es, wenn die Blasen sich mit Blut füllen und sich dadurch verdunkeln. Man kann das vorzugsweise an Füßen und Händen beobachten. Darf ich?«

Jakowlew griff nach einem der Fäustlinge, die die Hände des Toten verbargen, und warf Blok einen fragenden Blick zu. Blok schüttelte heftig den Kopf.

»Oleg, du weißt, dass du hier drin eigentlich nichts zu suchen hast.«

Jakowlew zog die Hand zurück. »Wirklich unappetitlich wird es erst beim dritten Grad. Das Gewebe stirbt ab und wird trocken und schwarz. Doch diese Symptome sind erst nach Wochen zu beobachten und setzen voraus, dass der Betroffene noch lebt.«

»Warum bist du eigentlich nicht Arzt geworden?«, unterbrach ihn Blok.

Oleg Jakowlew überhörte die Frage.

»Im Übrigen tippe ich auf Kälteidiotie«, sagte er.

»Auf was?«

»Kälteidiotie. Wenn die Körpertemperatur auf unter 32 Grad sinkt, kriegt man Wahnvorstellungen, fängt an, irgendwelchen Blödsinn zu machen.«

Jakowlews faltiger Finger zeigte auf das Gesicht der Leiche.

»Genauso sieht er aus. Als hätte sich ihm der Himmel geöffnet.«

Blok hatte immer noch Probleme mit dem Anblick, auf den Jakowlews Worte ziemlich genau zutrafen. Gleichzeitig war es ihm vor den anderen, die wie eine Rouletterunde um den Obduktionstisch standen, peinlich, dass er von dieser Kälteidiotie noch nie etwas gehört hatte.

»Wie lange bist du jetzt schon hier, Oleg?«, fragte er.

»Fast zehn Jahre«, antwortete Jakowlew.

Blok zwang sich, in das vergnügte Gesicht des Toten zu schauen.

»Der sieht nicht aus, als wäre er erfroren, oder?«

»Um das ausschließen zu können, müsste man ihn ausziehen. Dazu muss ein Mediziner hier sein«, sagte Jakowlew und runzelte die Stirn. »Wenn du mich fragst, ich verstehe nicht, warum Wachruschew euch hierhergeschickt hat. Das andere Institut, drüben in der Klinik, ist die ganze Nacht besetzt.«

Mit diesem Gedanken rannte Jakowlew bei Blok offene Türen ein. Er hatte sich schon die ganze Fahrt darüber den Kopf zermartert.

»Ich glaub das nicht mit der Kälteidiotie«, sagte der Rothaarige unvermittelt und steckte die Hände in die Taschen. »Soweit ich weiß, ziehen sich die Betroffenen aus, wenn sie das kriegen. Sie halluzinieren, ihnen sei zu heiß, und sie machen sich deshalb nackig. Dann sterben sie irgendwo im Gemüse und die Leute glauben, sie wären vergewaltigt worden.«

Oleg Jakowlew nickte anerkennend.

»Richtig, das hatte ich vergessen.« Er zupfte an den Jacken des Toten herum. »Der ist so ziemlich das Gegenteil von nackig.«

»Könntest du bitte die Finger weglassen!«, schaltete sich Blok ein. Er hatte den alten Jakowlew gern, aber manchmal schien ihm jegliches Gefühl für die Grenzen seiner Kompetenz abzugehen. Mochte er der ambitionierteste Nachtwächter der Gerichtsmedizin sein, er war trotzdem nur der Nachtwächter.

»Ist wirklich kein Arzt mehr im Haus?«

Jakowlew schüttelte den Kopf.

»Es ist Freitag nach sechs. Wegen so etwas bleibt keiner freiwillig hier, vor allem nicht nach den letzten Kürzungen. Ich kann natürlich jemanden rufen lassen, aber solange du keine Anhaltspunkte dafür hast, dass es sich hier nicht einfach um den dritten erfrorenen Obdachlosen in dieser Skisaison handelt, machst du dir damit keine Freunde.«

Blok biss auf seinen Lippen herum. Wieder klebten sämtliche Blicke auf ihm. Er griff in seine Jackentasche und nestelte die Tüte mit dem Schlüsselbund hervor.

»Der Kerl hatte mehr als nur ein Obdach«, sagte er und reichte die Tüte weiter. Ein leises Raunen machte die Runde.

»Ich schlage vor, du bestellst einen Arzt, Oleg.«

BELICHTUNGSZEIT

1

Die Frau, die Mika aus der schwappenden Tunke des Fixierbades heraus ansah, war keine Braut.

Das Wenige, das sie trug, bestand aus einem Bündel glitzernder Armreifen und einem langen, fast ärmellosen Pullover, dessen Ausschnitt über ihren rechten Oberarm gespannt war und so den Blick auf eine makellose Schulter freigab. Aus dieser ging ein gerader und schlanker Hals hervor, dessen andere Seite von schwarzem Haar begrenzt war. Sie trug es offen, dennoch war es wie ein einziger glatt gestrichener Bund hingelegt und endete in wenigen, penibel geschnittenen Spitzen auf ihrem Schlüsselbein.

Ihr Mund war schön. Über ihm lagen kräftige Wangenknochen, die durch ihre gekonnte Ausleuchtung sanfte Schatten auf die Wangen warfen. Mika fischte das Bild mit einer Zange aus der Flüssigkeit und ließ es in das danebenstehende Wasserbad gleiten.

Jetzt schien sie ihn direkt anzusehen.

Der Pigmentierung nach waren ihre Augen grün, vielleicht aber auch blau. In jedem Fall waren sie hell und standen in einem schönen Kontrast zum schmal, aber kräftig gezogenen Lidstrich, der alles, was er umzeichnete, wie geschliffenes Glas aufblitzen ließ.

Mika nahm das Bild aus dem Wasser und hängte es mit einer Klammer an die Trockenleine. Als das zweite Bild im Entwickler Konturen annahm, beschleunigte sich Mikas Puls. Schon beim Entwickeln des Filmstreifens hatte er festgestellt, dass er nichts anderes als Portraitaufnahmen derselben Frau zu enthalten schien. Doch nun konnte er auf Details achten.

Irina, wie Mika sie der Kritzelei auf der Filmdose nach getauft hatte, stand nun im Profil und blickte lächelnd über ihre freie rechte Schulter, die sie mit gespielter Arroganz hochhielt. Dazu stemmte sie ihre Hände in die Hüften und zog die Ellenbogen zurück.

Als das Bild den richtigen Kontrast erreicht hatte, zog Mika es aus der Flüssigkeit und versenkte es vorsichtig in der Wanne daneben, die den Entwicklungsprozess stoppte.

Mit diesem Moment stand und fiel das endgültige Ergebnis. Die Tatsache, dass er, im Unterschied zur Arbeit am Computer, keinen weiteren Einfluss auf die Bilder hatte, also weder Falten glätten, Leberflecken entfernen oder Farbe auftragen konnte, berührte ihn auf eigenartige Weise. Dazu kam, dass diese Bilder ohnehin nicht den geringsten Anlass boten, irgendetwas an ihnen zu ändern. Mika blieb also nur die Aufgabe, ihre Makellosigkeit nicht zu trüben.