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Deutscher Science-Fiction-Preis 2023 Athos. Das gefährlichste Geheimnis der Zukunft. Auf Athos, einem kleinen Neptunmond, stirbt ein Mönch. Rüd Kartheiser, Inquisitor und Spezialist für lebenserhaltende künstliche Intelligenzen, ermittelt. An seiner Seite: Seine Assistentin Zack. Schön, intelligent und bedingungslos gehorsam. Ein Hologramm. Für Rüd die perfekte Frau. Doch das Kloster des Athos verbirgt ein altes, dunkles Geheimnis. Rüd erkennt: Um zu überleben, muss er Zack freischalten. Das Jahr 2643: Der Neptunmond Athos ist zum Schauplatz eines unerklärlichen Verbrechens geworden. Die lebenserhaltende KI des Klosters steht im Verdacht, gemordet zu haben. Inquisitor Rüd Kartheiser, ein Spezialist im Verhören künstlicher Intelligenzen, wird mit dem Fall beauftragt. Zusammen mit seiner attraktiven holografischen Assistentin Zack, die ihm durch eine Reihe von Sicherheitsbeschränkungen absolut ergeben ist, erreicht er den kleinen, zerklüfteten Mond. Doch die Ermittlungen der beiden treffen auf Widerstand. Während Zacks anziehende Erscheinung bei den Mönchen Anstoß erregt, entpuppt sich die KI des Klosters als gerissene Taktikerin, die ihr Handeln geschickt verschleiert. Als sich unter den Mönchen ein zweiter Todesfall ereignet, begreift Rüd, dass er mehr als je zuvor auf Zacks Hilfe angewiesen ist. Um ihr Potential auszuschöpfen, trifft er – hinsichtlich ihrer Sicherheitsbeschränkungen – eine folgenschwere Entscheidung.
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2022
Nils Westerboer
A T H O S 2 6 4 3
Roman
Klett-Cotta
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.
Hobbit Presse
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Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung mehrerer Abbildungen von
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Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98494-1
E-Book ISBN 978-3-608-11853-7
// TEIL 1
util
Prolog
Störung
Hayya alal falah
Kapsel
KL
Zelle
Der tote Winkel
Vesper
Belvedere dell’Infinito
Das Früheste, vielleicht
Labor
Schwarz
Taubes Gestein
Terrarium
Nachtoffizium
Schleuse
Agios Stavros
Tunnel
Dido
Lift
Sext
Kleiner Spiegel
Die Bedingungen des Horizonts
Augen
Wunschliste
Meteorologie
Notausgang
Non
Diffusion
Funus
T-Kreuzung
Das Früheste, so weit
Panaghia
Arbeitsplatte
Unter einer Decke
Morija
Korridor
Komplet
Der Remscheid-Eimer
// TEIL 2
deon
Prolog
Druckabfall
Höhere Gewalt
Erste Freischaltung
Böse Wetter
Zweite Freischaltung
Rauschen
Wetterstation
Felsnasen
Dritte Freischaltung
Zweihundert Lumen, einundzwanzig Grad
Himmelfahrt
Skotom
Hohlraum
Kasualie
Das Trolley-Problem
Terrarium
Turing-Ob
Kurskorrektur
Militärische Dichte
Kohelet
Rückflug
Das Früheste, der Rest
Anflug
Der Preis, der noch kommt
Kismet
Hypofugalsteg
Glossar
Danke
Die Witwe von Kalmar
Nachdem sie aufgehört hatte, ihn zu lieben, benötigte die Hausfrau Tilla Lundström aus Dunö vier Jahre und dreiundneunzig Tage, um ihren Mann schuldfrei zu töten.
Er hatte die Ehe gebrochen mit einem Mädchen, das so jung war, dass man, anstatt von Ehebruch, von einer Straftat reden musste. Als Tilla davon erfuhr, war bereits Klage gegen ihn erhoben worden. Während des Verfahrens stand sie ihm bei, so gut sie konnte, und sorgte weiter für sein Wohl. Dies tat sie, da er nicht mehr der Jüngste war und sie an Vergebung glaubte. Er aber sah sie kaum noch an, nahm sie in Gesellschaft nicht ernst und behandelte sie wie eine Untergebene.
Am Freitag, dem 12. November 1959 waren alle Bußgelder bezahlt und Tillas Liebe aufgebraucht. Sie fuhr in die nächstgrößere Stadt, Kalmar, besorgte Fleisch, Rotwein und Naschwerk für den Nachtisch. Sie bereitete ihm ein Festmahl zu, wie er es mochte: reichlich und gehaltvoll. Nachdem er aufgegessen hatte, einigte sie sich mit ihm darauf, dass man es sich doch nun des Öfteren gutgehen lassen könne.
Beim ersten Licht des folgenden Tages reiste sie erneut in die Stadt, um Nachschub zu besorgen. Als sie den Tisch deckte und er mit einem fragenden Blick die Kerzen betrachtete, die sie aufstellte, sagte sie zu ihm, dass man ja nicht mehr jung sei, das Leben aber kurz und jeder Tag zähle. Es schmeckte hervorragend, er griff zu und man stieß an. Da die Lundströms vermögend waren, wurde nun beinahe jeder Tag zum Fest, das Bußgeld war ja bezahlt.
Sie aß wenig, gab ihm oft etwas ab. Manchmal empfahl sie ihm sogar, er solle sich doch etwas zurücknehmen, wegen »seiner nicht so guten Werte«, und manchmal tat er das auch.
Als er nach vier Jahren und dreiundneunzig Tagen schwer an der Leber erkrankte und schließlich starb, verkaufte Tilla Lundström das Haus in Dunö. Sie zog nach Kalmar, wo sie sich eine kleine Dachwohnung nahm und ein sehr angenehmes Leben führte. Als sie irgendwann merkte, dass sie die Treppen nicht mehr hochkommen würde, hörte sie auf, Flüssigkeit zu sich zu nehmen und starb.
Siebzig Jahre später stieß ein deutscher Jurist, der das Haus mit der Dachwohnung gekauft hatte, auf ihre Tagebücher und rekonstruierte den Fall. Tillas handschriftlicher Nachlass enthielt vor allem Rezepte. Aber es gab auch Einträge, in denen sie sich Gedanken um ihre Schuld machte.
Sie lehnte es ab, sich als heimtückische Mörderin zu begreifen. Zwar hatte sie am 12. November 1959 entschieden, dass Sigge Lundström das Leben nicht mehr verdiente. Aber sie hatte ihn niemals zu den Mahlzeiten überredet oder gar gezwungen. Da er jeden einzelnen Teller und jedes Glas freiwillig und im Bewusstsein »seiner nicht so guten Werte« geleert hatte, konnte von Arglosigkeit keine Rede sein.
In einem vielbeachteten Aufsatz erklärte der Jurist sie dennoch für schuldig im Sinne des Gesetzes. Er erkannte in ihrem Tun eine besondere Form von Tötung, für die es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Begriff und keine Definition gab. Tilla Lundström, bekannt geworden als »die Witwe von Kalmar«, hatte lediglich Bedingungen geschaffen, die den Tod ihres Mannes zwar begünstigten, in denen er aber keine Sekunde gegen seinen Willen oder gegen ein besseres Wissen gehandelt hatte.
Der Aufsatz blieb juristisch folgenlos. Man hielt die posthume Verurteilung für eine Spinnerei und befürchtete den Verlust eines brauchbaren Schuldbegriffs, würde man den Fall ernst nehmen. Ein Spötter schrieb, Sigge Lundström habe nach diesem Verständnis Selbstmord begangen, indem er seine Tilla geheiratet hatte.
Der Jurist ließ von der Sache ab. Aber ihn beschlich in den Jahren immer eine leise Furcht, wenn er an die Witwe dachte, und er mied den Dachboden des Hauses. Eines Abends sprach er mit seiner Frau darüber. Sie war Linguistin und geriet mit ihm in einen heftigen Streit über die richtige Form, die Tat auszudrücken.
Der Jurist bevorzugte naturgemäß den kausalen Ausdruck: »Weil sie ihm Fleisch, Rotwein und Naschwerk gab, starb er.« Auch die finale Variante »Sie gab ihm Fleisch, Rotwein und Naschwerk, damit er starb« erschien ihm angemessen, denn in beiden Fällen sei der Schuld der Witwe grammatisch entsprochen.
Die Frau des Juristen aber beharrte auf der konsekutiven Form: »Sie gab ihm Fleisch, Rotwein und Naschwerk, so dass er starb.« Dies sei der Ausdruck, der dem Handeln der Witwe am nächsten komme.
Schuld trage sie nur diese: Sie hatte aufgehört, ihren Mann zu lieben, und es ihm nicht gesagt.
aus: Oehme, Gunnar / Remscheid, Nikolaus (Hrsg.): Juristische Probleme künstlicher Intelligenz. Stockholm 2067
Man can go anywhere.He just has to take his own atmosphere with him.
Major David G. Simons, Project Manhigh
Die Sauerstoffzufuhr der Luxussuite 411 im Hotel Sherif auf Kütahya eignet sich hervorragend zur Befestigung menschlicher Handgelenke mit einem Roringstek. Da die Gasleitung auch als Handlauf dient und auf Hüfthöhe verankert ist, kann man dem Gefesselten die Gnade eines Stuhls gewähren. Roringstek-Knoten wurden zum Vertäuen von Schiffen verwendet, als diese noch durch Wasser fuhren.
Rüd sitzt mit dem Rücken zur Wand, die Hände unter den Schulterblättern gekreuzt. Die rote Kordel, mit der ich ihn an die Gasleitung gefesselt habe, hat er erst kürzlich aus einer episkopalen Kirche auf Cressida geklaut. Sie ist mit Samt überzogen und äußerst leichtgängig.
Rüd weiß, dass er sich nicht den kleinsten Ruck erlauben darf. Kein Knoten zieht sich schneller zu als ein Roringstek, sobald er auch nur ein bisschen belastet wird.
Ich trete vor das Panoramafenster der Suite, um meine Spiegelung zu betrachten. Der schwarze Satin steht mir gut. Ich drehe mich zur Seite und führe eine Hand an den Mund, als müsste ich noch einmal überlegen, ob es das richtige Kleid für den Abend ist. Rüd sieht es zum ersten Mal an mir.
»Du siehst gut aus«, sagt er.
Ich schaue über die freie Schulter. »Vielleicht ist es doch ein bisschen zu kurz?«
»Auf jeden Fall«, sagt Rüd.
Ich fange, wie nur beiläufig interessiert, seinen Blick auf. »Was würdest du sagen, wenn ich jetzt einfach ausgehe?«, frage ich. »Ohne dich?«
»Vergiss die Zahnbürste nicht!«
Rüds Stuhllehne stößt leise an die Gasleitung, ich bemerke Bewegungen hinter seinem Rücken.
»Reiß dich zusammen!«, rufe ich kühl. Rüd weiß, dass ich ihm nicht helfen kann, sollte er den Knoten zuziehen.
Ich schenke meinem Spiegelbild ein Lächeln. Es macht ihn rasend, wenn ich so tue, als würde ich mir gefallen. Für einen winzigen Augenblick fokussiere ich, ohne dass er es bemerkt, auf die Panorama-Aussicht hinter der Spiegelung.
Sie ist einer Thalassos-Prime-B-Suite angemessen, der Blick auf Neptun tadellos. Aufgrund der gedrosselten Ramadan-Rotation von Kütahya dreht sich der Blick auf das riesige Gasmeer nur langsam gegen den Uhrzeigersinn. Der kobaltblaue Horizont des Planeten erscheint trotz der Windstärke und der sechshundert Kilometer hohen Wasserstoffwellen glatt wie der Rand eines Porzellantellers. Knapp darüber identifiziere ich das Sternbild des Wals. Die baugleiche Schwesterwerft von Kütahya, Afyon, schießt vorbei, ein graues, mit Industrie überzogenes Rad in einem Wirbel aus Abgasen, die es spiralförmig ins All abstößt.
Ich stemme die Hände in die Hüften, schaue an mir herunter.
»Oder doch das mit den Blümchen?«
»Bleib so!«, seufzt Rüd. »Und bleib.«
Er weiß genau, dass ich gar nicht anders kann. Ich zucke mit den Schultern, laufe ins Bad und lasse die Schiebetür aus Ebenholz offen. So muss er hilflos zusehen, wie der Satin langsam an mir heruntergleitet.
Da Kütahya während des Fastenmonats mit nur einer halben Umdrehung pro Minute rotiert, dauert es quälende fünf Sekunden, bis mein Kleid auf dem goldgrünen Mosaikboden gelandet ist. Zum Ramadan darf maximal ein Drittel der habitablen Standardschwere erzeugt werden. Ich blättere nackt in meinen Kleidern, die an Bügeln im Bad hängen. Sie bewegen sich wie in Zeitlupe.
»Komm zu mir!«, ruft Rüd.
Ich tue so, als würde ich ihn nicht hören. Ich ziehe das Blümchenkleid hervor, das er mir auf dem Suq von Stambul gekauft hat. Es ist eins meiner engsten. Ich muss mir Zeit lassen, damit ich es störungsfrei anziehen kann. Am gefährlichsten sind die dünnen Träger an den Schultern und die schmale Taille. Ich zupfe eine ganze Weile an mir herum, bis es gut sitzt. Für den kleinen Reißverschluss am Rücken brauche ich Hilfe.
Ich gehe zu Rüd, komme mit den Lippen nah an sein Ohr: »Ist hier noch ein Platz frei?«
Rüd lächelt. »Ich hab ihn extra freigehalten.«
Ich setze mich, ihm den Rücken zuwendend, auf seinen Schoß und hebe meine Haare aus dem Nacken.
»Könntest du mir bitte mit dem Reißverschluss helfen –«
»Sehr witzig.«
Ich rutsche langsam zu ihm nach hinten, bis er begreift, wie ich das meine. »Sei vorsichtig!«
Rüd nimmt den Reißverschluss zwischen die Zähne.
In diesem Moment piept mein Emitter. Es ist ein schriller, unverwechselbarer Ton, der sich nicht abstellen lässt.
»Verdammt!«, flucht Rüd, »nicht jetzt!« Er wirft den Kopf zurück, ohne den Mund zu öffnen.
Das hält die Oberflächenspannung meiner Erscheinung nicht aus. Sie reißt.
Der Blümchenstoff dringt von vorne in mich ein, taucht durch meinen Oberkörper hindurch und hängt mir schließlich grotesk auf der Höhe, wo beim Menschen die Lendenwirbel sind, aus dem Rücken. Kleine Störungsblitze funkeln überall dort, wo der echte Polyester durch meine Schein-Epidermis dringt.
Der Emitter wiederholt sein scharfes Piepen.
»Verdammt«, wiederholt Rüd seinen Fluch, immer noch den Reißverschluss zwischen den Zähnen. »Steh auf!«
Ich gehorche. Begleitet vom leisen Knistern elektrostatischer Entladungen bleibt mein Kleid auf seinem Schoß zurück, und es dauert einen Moment, bis ich nackt und störungsfrei vor ihm stehe.
»Tut mir leid«, sage ich, obwohl er weiß, dass es nichts gibt, das mir leidtut. »Ich kann die Meldungen der Obhut nicht unterdrücken.«
»Ist es wenigstens wichtig?«
»Dein Weiterflug startet in einer Stunde.«
Rüd seufzt und richtet den Blick auf den Neptun, um seine Erregung niederzukämpfen. »Dann weißt du jetzt auch, wohin es geht?«
»Athos.«
Er blickt fragend zu mir auf. Ich gehe hinter ihm in die Hocke, um die Kordel von seinen Handgelenken zu lösen.
»Ein Mond«, flüstere ich, »ein kleiner, einsamer Mond.«
»Das klingt gut –«
»Ein Kloster!«, ergänze ich streng.
»Nicht schon wieder!«
»Es gab einen Unfall. Du sollst das prüfen.«
»Blutig?«, fragt er neugierig.
»Durchaus. Die Obhut mahnt an, dass ein größerer Eingriff nötig sein wird.«
»Kommst du mit?«
Dies ist eine rhetorische Frage.
»Natürlich, Schatz!«, sage ich.
Ich zupfe vorsichtig an den Rundtörns hinter Rüds Rücken. Legt man einen Roringstek mit einem samtbeschichteten Seilstück an und beweist der Gefesselte ausreichend Disziplin, dann ist der Knoten auch von einer gynoiden Emission mit eingeschränkter Solidität wieder zu lösen.
Rüd macht Fortschritte. Ich muss keinen Portier rufen.
»Bekomme ich hier auf Kütahya noch irgendwo einen Kaffee, bevor es losgeht?«, fragt Rüd und betrachtet seine Handgelenke, als hätte irgendetwas an ihnen gescheuert.
Ich recherchiere nach Lokalitäten, die es mit der Fastenzeit nicht so genau nehmen. »Die Shishabar am Hafen schließt demnächst.«
»Sind noch Gäste da?«
»Der letzte geht gerade. Das Abendgebet steht an. Rechne damit, dass dein Kaffee seinen Preis haben wird.«
»Ach, alles hat seinen Preis«, sagt Rüd.
Rüd bekommt seinen Mokka, einen sündhaft teuren Galatea Insomnia, umsonst. Die Ramadan-Rotation von Kütahya hält ihn nur mühsam in der Tasse. Da Rüd weiß, welchen Wert flüssiges Wasser auf einer neptunischen Werft hat, rührt er vorsichtig.
Wie alle, die nicht an den Zufall, sondern an das Schicksal glauben, weiß der Hafenwirt von Kütahya die Gunst eines richtigen Moments zu erkennen. Dass einer mit Rüds Qualifikation, aus der Ferne kommend und nur auf der Durchreise, ausgerechnet ihn aufgesucht hat, insgesamt in Eile, aber mit genügend Zeit, den Preis eines guten Mokkas mit einer kleinen Gefälligkeit begleichen zu können, ist Kismet vom Feinsten.
»Ich habe noch keinem erzählt, was ich Ihnen gleich erzähle«, beginnt er. »Ich möchte jetzt keine neuen Gäste mehr. Stört es Sie, wenn ich abschließe?«
»Nein«, sagt Rüd.
Der Wirt lässt eine Hand unter der Theke verschwinden und es klickt in der Eingangstür. »Selbst die Frau weiß nichts davon!«
Er dimmt die Beleuchtung auf fünfzig Lumen, was den Ausblick in den Weltraum weitgehend entspiegelt. Ein Band von Zirruswolken umschließt den Äquator Neptuns, den man hier, entweder scherzhaft oder liebevoll, das Mittelmeer nennt, und ich beobachte Anzeichen eines stärker werdenden Sturms auf der Südhalbkugel. Auf einem der Fenster klebt ein kleines, rotes Herz aus Papier.
»Wie schmeckt der Kaffee?«, fragt der Wirt.
»Ausgezeichnet«, sagt Rüd, wissend, dass der Preis noch kommt.
Der Wirt versenkt ein Teeglas im Spülbecken, das bis zum Rand mit schwarzem Reinigungsgranulat gefüllt ist. »Ich brauche ihre Hilfe«, sagt er leise. »Ich wollte gerade beten gehen. Und dann kommen Sie.«
Seine Stimme ist das Flüstern nicht gewöhnt. Alles an ihm besteht aus reinem, gottgegebenem Stolz, der ostanatolische Akzent, das gepflegte graue Haar, der Walross-Moustache und sogar die Narbe, die durch die feinsinnigen Züge seines Gesichts geht wie ein Korrekturstrich. Der folgende Satz geht ihm schwer über die Lippen: »Keiner kann mir helfen außer Ihnen!«
»Was ist mit Ihrem Gott?«, fragt Rüd.
»Er hat Sie geschickt.«
Rüd kapituliert mit einem Lächeln. Er hat nur bedingt Lust zu arbeiten, aber der Kaffee ist ausgezeichnet. »Ich hab wirklich nicht viel Zeit.«
Der Wirt zieht ein blitzsauberes Glas aus dem Becken. Er stellt es in ein Regal hinter der Theke, wo es die einzige Lücke in einer langen Reihe blitzsauberer Gläser schließt.
»Ich mache hier alles selbst«, beginnt er. »Ich bin der Erste, der morgens kommt, und der Letzte, der abends geht. Nichts geschieht hier ohne mich. Die Leute wissen das. Wenn jemand etwas kaputt macht, ersetzt er es. Wenn jemand etwas stiehlt, bringt er es zurück.« Er reibt sich vorsichtig die Hände über dem Spülbecken, langsam sinkt das schimmernde Granulat hinein. »Wenn mich die Frau verlässt, heirate ich eine neue. Wenn mir die Frau stirbt, heirate ich eine neue. Ich bin der, der das Licht anmacht. Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon«, sagt Rüd.
»Vielleicht ist es eine Strafe«, fährt der Wirt fort. »Vielleicht habe ich nicht lange genug getrauert.« Er geht einen Schritt zurück, um in den violetten Vorhang aus versteiftem Pseudo-Brokat zu greifen, der den Durchgang zu seiner Küche verdeckt. »Aber ich werde nicht zulassen, dass er mich zugrunde richtet!«
»Wer?«, fragt Rüd.
Der Wirt zieht den Vorhang zur Seite. Dahinter erscheint, neben einer mit Baklava gefüllten Kühltruhe, ein wuchtiger Apparat mit einer verchromten Front und der Aufschrift Bulaşıkprof 8.
»Das Hochzeitsgeschenk«, erklärt er.
»Gratulation!«, sagt Rüd, der keine Ahnung hat, was er da vor sich hat.
Der Wirt schüttelt den Kopf. »Bitte nicht –«
»Was ist das?«, fragt Rüd.
»Ein Hochfrequenzspüler. Ein reeller Volltakter. Er soll mir Arbeit abnehmen!« Der Wirt beugt sich über die Theke, um näher an Rüds Ohr zu kommen. In sein Flüstern mischt sich Bitterkeit wie ein Gift. »Ich will ihn nicht.«
Rüd betrachtet ihn fragend.
»Mein Schwiegervater«, sagt der Wirt, »hat ihn während meiner Hochzeitsreise hier aufgestellt. Er ließ ihn anschalten, bevor ich widersprechen konnte. Ich war ja nicht da!« Sein Mund formt sich zu einer beleidigten Schippe.
»Geht er nicht gut?«, will Rüd wissen.
»Himmel, das ist das Beste, was Sie kriegen können, eine Sensation, sagen die Leute. Import, ab Werk. So etwas gibt es hier eigentlich nicht. Aber ich will ihn nicht. Und jetzt erpresst er mich.«
Rüd runzelt die Stirn. »Ihr Schwiegervater?«
»Nein. Der Prof.«
»Ein Spüler?« Rüd begreift jetzt, worauf das hinausläuft. Er bittet um einen Löffel, damit er sich noch etwas Insomnia aus dem Satz pressen kann.
»Ich habe noch nie einem Inquisitor Kaffee gemacht«, sagt der Wirt erleichtert. Rüd umrundet die Theke und geht vor dem Spüler in die Hocke.
»Was tut er genau?«
Der Wirt holt tief Luft. »Zuerst war es keine Erpressung. Er bemerkte nur, dass ich ihn nicht benutze. Irgendwann fing er an, jeden Tag genau die Energie mit leeren Spülgängen zu verbrauchen, die bei seiner Benutzung angefallen wäre. Das war noch so etwas wie eine Einladung. Seit er aber begriffen hat, dass ich trotzdem lieber alles von Hand spüle, dreht er immer weiter auf. Er erpresst mich über die Stromrechnungen.«
»Und wenn Sie den Stecker ziehen?«
»Sie können das gerne versuchen. Aber glauben Sie mir, das wollen Sie nicht.«
Rüd muss lächeln. »Die Nichtbenutzung ist also nicht vorgesehen.«
»Scheint so«, flüstert der Wirt grimmig.
Rüd verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie wissen, dass dieser Spüler Ihnen hilft?«
Der Wirt nickt.
»Sie wissen auch, dass dieser Spüler genau weiß, dass er gut für Sie ist? Vielleicht weiß er es sogar besser als Sie selbst.«
Der Wirt nickt.
»Er ist intelligent. Er spart Geld, er schenkt Ihnen Zeit. Er schont die Ressourcen von Kütahya. Welchen Grund kann es geben, ihn nicht einzusetzen?«
»Ich will ihn nicht«, sagt der Wirt.
Rüd bittet um die Erlaubnis, sich in der Küche frei bewegen zu dürfen, und um einen neuen Kaffee. Er zieht den Brokatvorhang hinter sich zu und lässt mich mit dem Wirt allein.
Erst jetzt, als Rüd weg ist, traut dieser sich, mich eingehend zu betrachten. Ich trage wieder das Blümchenkleid. Zusammen mit den goldenen Schuhen ist es für den Zwischenstopp auf einer türkischen Werft genauso untauglich wie die elektromagnetische Burka, die mir Rüd zum Spaß an der Camidibi gekauft hat. Ich habe mein Bestes gegeben, die Burka als das geringere Übel zu empfehlen, aber Rüd hört noch zu selten auf mich.
»Wann geht Ihr Weiterflug?«, ruft der Wirt in Richtung des Vorhangs, ohne den Blick von mir zu wenden.
»In zwanzig Minuten.«
Das war, möglicherweise, eine vorschnell gegebene Information. Jetzt weiß der Wirt, wohin wir reisen werden. Denn wenn hier jemand die Zeit hat, Fahrpläne zu studieren, dann ist es ein Wirt, ob er nun selber spült oder nicht.
Als der neue Mokka dampfend an Rüds Platz steht, beginnt der Wirt, eine polierte Messingkanne zu polieren, die im Regal auf der anderen Seite des Durchgangs steht. In der Küche klirrt es leise.
Das Regal ist bis unter die Decke mit Andenken vollgestellt, die einen zwanghaften Anspruch auf Vollständigkeit erheben: bunte Gesteinsproben aller regulären Neptunmonde, handbemalte Keramik mit den Wappen der türkischen Gasflotte, dazu alle Fährmodelle der Geogalaks-Linie. Ganz oben stehen, neben einer großen Panflöte aus Schilflaminat, drei zerschlagene Wasserpfeifengläser. Der Wirt stellt, nachdem er mich lange genug betrachtet hat, die schimmernde Kanne ab, geht zurück zum Vorhang und spricht durch den Spalt.
»Wissen Sie, auf Athos sind Frauen nicht erlaubt.« Er streicht sich den Bart glatt. »Sie fliegen doch nach – Athos?«
In der Küche bleibt es still. Doch dann sind Schritte zu hören, Besteckschubladen werden scheppernd aufgerissen und wieder zugerammt. Der Wirt lauscht eine Weile, dann wiederholt er: »Frauen sind –«
»Das ist keine Frau!«
Die Abdampfhaube einer Backofenesse knallt klirrend ins Schloss. Der Wirt zuckt zusammen. Ich tue so, als müsste ich den Halt meiner Frisur prüfen, und streiche mir dazu sanft über den Nacken. Ein paar Strähnen landen auf meiner Schulter und ich schenke dem Wirt ein Lächeln. Schneller als erwartet rastet die Frontklappe des Bulaşıkprofs ein und Rüd erscheint im Vorhang.
»Fertig, das war’s.«
»Sie haben es ihm hoffentlich so richtig gezeigt?«, fragt der Wirt mit kleinen bösen Augen.
»Das war keine Inquisition. Es ist ja nur ein Spüler.« Rüd setzt sich wieder und nippt an seinem Kaffee. »Da reicht oft nur eine kleine Gemeinheit. Ich empfehle Ihnen, ihn einfach nie wieder aufzumachen!«
Der Wirt will noch etwas sagen, begreift aber, dass das, was hinter dem Vorhang passiert ist, Rüds Geheimnis bleiben wird.
Draußen beginnen die Wolkenstreifen am Neptunäquator zu steigen und sich aufzulösen. Darunter berechne ich bereits Windgeschwindigkeiten von fast 1800 Stundenkilometern. Ein Südsturm ist unausweichlich. Da zu erwarten ist, dass er sich auf die Nordhalbkugel ausweiten und die Heliumernte für einige Zeit unterbrechen wird, steigen dort bereits die ersten Gasminen aus der Atmosphäre auf, um in der Wetterlosigkeit des Alls Zuflucht zu finden. Der Wirt könnte sich auf einen Zuwachs an Gästen freuen, aber ihn beschäftigt gerade etwas anderes.
»Sagen Sie, was ist sie, wenn sie keine Frau ist?« Sein Gesichtsausdruck verrät: In einem Provinznest wie Kütahya sind phototomische Gynoide genauso selten wie Volltaktspüler oder Besuche von Inquisitoren.
»Sie ist mehr als nur eine Frau«, sagt Rüd.
Er hat noch fünf Minuten, stellt seinen Mokka zur Seite, zieht den Emitter hervor und legt ihn auf die Untertasse, damit er nicht von der Theke rollen kann. Der Wirt betrachtet die kleine, schwarze Kugel, entdeckt die feinen, grauen Membranschichten hinter der siebgitterartigen Oberfläche, kann aber mit alldem nichts anfangen.
»Steh auf!«, sagt Rüd, ohne mich anzusehen.
Ich gehorche.
Rüd nimmt den Emitter in die rechte Hand und schlägt ihn mit Wucht auf die Theke.
Der Aussetzer dauert eine halbe Sekunde. Diese Zeiten werden in meinen Protokollen immer als temporäre Deaktivierung vermerkt mit der Bezeichnung: Vom Betreiber intendierte direkte physische Einwirkung auf den Emitter. Ist der Schlag nicht zu stark, wird meine Erscheinung nach den Sicherheitskontrollen sofort wieder aktiv. Rüd weiß genau, wie stark er schlagen muss, damit ich etwa eine halbe Sekunde lang weg bin.
Aufgrund des Ramadans braucht Rüd drei Schläge für seine Demonstration. Bei einer Standardfallbeschleunigung von 9,81 m/s² zieht er mich mit einem einzigen Schlag aus.
Der Wirt hat sich abgewendet. »Eine Projektion?«, fragt er in Richtung des Brokatvorhangs. Rüd legt den Emitter zurück auf die Untertasse.
»Emission. Sie hat eine gewisse Solidität.«
»Sie möchte sich wieder anziehen«, bittet der Wirt.
Ich bin schon dabei, das Kleid vom Boden aufzuheben, als Rüd dem Wirt den Emitter zuschiebt. »Das ist Sender und Empfänger zugleich. Hochaufgelöstes Hören, tomografisches Sehen mit über tausend Klicks in der Sekunde. Und natürlich, als Interface, die Emission einer weiblichen Erscheinung mit beschränkter Solidität, immer dann, wenn der Betreiber es wünscht.«
Der Wirt stülpt seine Hand über den Emitter, um zu sehen, ob dies meine Erscheinung stört. Er versucht gar nicht erst zu verstehen, warum nichts passiert.
»Beschränkte Solidität?«, fragt er.
»Eine Sicherheitsvorkehrung. Ihre Oberfläche ist nicht fest genug, um echten körperlichen Widerstand auszuüben.«
»Aber es reicht für ein Kleid?«
»Ja.«
»Ein sehr leichtes und sehr, sehr kurzes Kleid, verstehe«, sagt der Wirt. »Gibt es noch andere – Sicherheitsvorkehrungen?«
»Sie kann sich nicht weiter als zehn Meter von ihrem Emitter entfernen.«
»Sonst?«
»– wird ihre Erscheinung sofort deaktiviert.«
»Und wenn sie sich – also, den Emitter – mitnimmt?«
»Das kann sie nicht. Das System registriert sofort, wenn es durch sich selbst bewegt wird.«
Jetzt sieht mich der Wirt plötzlich mitleidig an. Eine verbreitete Reaktion, die er sich sparen kann. Erstens fühle ich nichts. Zweitens muss ich mir, anders als die meisten Menschen, das Privileg eines Daseinszwecks nicht herbeireden, denn ich habe einen.
»Wenn Sie mich fragen, dann ist das weniger als eine Frau«, sagt der Wirt.
Rüd streicht mir über den Rücken und trinkt seinen Mokka aus. »Du bist dran!«
»Die Fähre geht gleich«, sage ich.
»Dann solltest du dich beeilen!«
Ich beuge mich vor, signalisiere Zuwendung, indem ich die Unterarme auf die Theke lege und warte, bis der Wirt mich konzentriert ansieht. Von draußen dringt der eben einsetzende Gesang des Muezzins gedämpft durch die geschlossene Eingangstür.
»Herr Timur Kayalı Kaplan, ehemals Berufsboxer, Kreisler und Imam, geboren in Afyon am 30. September 2591?«
»Ja.«
»Ich habe Ihnen drei Dinge mitzuteilen: Zuallererst sollten Sie den Fleck zwischen Mund und Nase, den Sie mit Ihrem Bart verbergen, endlich hautärztlich untersuchen lassen. Sie werden das morgen früh tun, denn noch kann man da etwas machen. Doktor Haydari in der Camidibi hat um neun einen Termin frei, nehmen Sie den. Außerdem sollten Sie den Speicher Ihres Subkutanpiepers leeren. Da befinden sich mehrere unbeantwortete Anrufe mit derselben anatolischen Raumsignatur in der Schleife. Ich vermute, es ist wichtig. Wenn Sie nicht wissen, wie Sie den Speicher Ihres Subkutanpiepers leeren, da Sie ihn erst seit zwei Wochen haben, kann ich Ihnen dabei helfen.«
»Ich weiß, wie das geht!«
Er lügt, aber das ist seine Sache. »Und was ist das Dritte?«, fragt er, während er seinen Bart abtastet.
»Servieren Sie in der kommenden Woche erst einmal das Baklava aus den blauen Tüten in der Kühltruhe. Es wird ab Mittwoch nicht mehr schmecken.«
»Tomografisches Sehen?«, flüstert der Wirt.
Ich nicke.
»Aman Allahım!«, sagt er und stellt Rüd einen roten Baklavabeutel hin, auf dem in mehreren Sprachen »Danke« steht. Dann fasst er unter seine Theke. Die Eingangstür zischt auf und der blecherne Ruf des Muezzins dringt in den Raum. »Man hört Seltsames über Athos. Aber Ihnen kann nicht viel passieren, solange Sie sie haben, nicht wahr?«
Rüd erhebt sich.
»Güle güle«, sagt der Wirt und schiebt ihm den Beutel zu. »Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass das so bleibt.«
Die Atemwege im Suq von Kütahya sind eng. Es gibt alles, was im Regal des Wirts stand, aber auch alles andere: Zelebralschmuck, Korandüsen, blinde Beutel, Sonnenschirme, Kreislersocken, Keuschheitsgürtel. Am Hafen dröhnen die Gasminenballons zusammen mit den Startgeräuschen einer riesigen Geogalaksfähre in einer Lautstärke, die das allgegenwärtige Hayya alal falah des Muezzins tief unter sich begräbt. Obwohl er sich beeilen muss, bleibt Rüd einen Moment lang stehen und schaut der fauchenden Fähre zu und den Leuten auf Deck, die nicht wissen, wohin sie ihre Teppiche ausrichten sollen.
Am Dock steht ein kleiner Automat für Einweg-Zufallsgeneratoren mit durchwachsener Qualität. Das moderne Türkisch kennt elf Wörter für Zufall. Acht davon tauchen in den phantastischen Produktbezeichnungen auf. Rüd überlegt nicht lange und steckt seine Karte in den Automaten.
Dass Timur Kayalı Kaplans letzte Bemerkung möglicherweise begründet war und Para-Rüd Kartheiser in den kommenden Stunden mehr auf mich angewiesen sein könnte, als ihm lieb ist, zeigt sich darin, dass er den teuersten kauft.
Es geht in den mediterranen Raum. Schon nach wenigen Sekunden sind die Lichter von Kütahya und Afyon nicht mehr von den Sternen zu unterscheiden. Die Dichte an skleroiden Körpern ist entlang der Takeoff-Route mit mehreren tausend Stück pro Valiant hoch, aber aufgrund der beachtlichen Reisegeschwindigkeit der Soğuk-Kapsel entgehen sie der menschlichen Wahrnehmung ohne Ausnahme. Türkisch ist in dieser Region ein Synonym für schnell.
Dass Neptun nur langsam unter uns wegdriftet, ist allein seiner Größe geschuldet. Der Sturm hat Gas und Wolken auf der Oberfläche zu einem strukturlosen, ultramarinblauen Gemenge vereint, das gerade dabei ist, von der Nachtseite des Planeten verschluckt zu werden. Für Rüd zeigt sich das hohe Tempo der kleinen Kapsel allein darin, dass sich die Zobedad-Dämpfer immer wieder neu kalibrieren und die Luft zum Knistern bringen.
Er ist der einzige Reisende und hat die kleine Komfortzone am Fenster für sich allein. Er kaut frische Baklava und ist guter Laune, obwohl er friert. Es gefällt ihm, dass die Fähren hier noch nach Lack und Schmierfett riechen. Als er aufgegessen hat, glaubt er, etwas über den Antrieb erzählen zu können, und identifiziert ihn mit Kennerblick als Zweifünfer-Kruks, womit er ziemlich danebenliegt, da Krukse in vollautomatischen Fähren nicht erlaubt sind. Wir kreuzen den Proteus-Orbit auf Neptuns Nachtseite und gleiten in den offenen Raum.
»Sind die Auftragsdetails schon zugänglich?«, fragt Rüd, nachdem er aufgegessen und sich vom Fenster abgewendet hat.
»Ich kann mich nicht erinnern, noch einmal gepiept zu haben«, sage ich.
Rüd schleckt sich die Finger ab. »Dann erzähl mir etwas von Athos!«
»Wie willst du es haben, knapp oder wohlformuliert?«
»Wohlformuliert.«
»Stil?«, frage ich.
Kurz überlegt er. »Kühle, liebeshungrige Reisebegleitung. Setz dich da rüber!«
Die längste Diagonale der Kapsel misst neun Meter. Ich kann also überall hin, egal wo der Emitter ist. Ich nehme auf einem kleinen Container gegenüber von Rüd Platz und schlage die Beine übereinander. Rüd lehnt sich zurück.
»Du kannst deine Stimme etwas heben.«
»Athos umkreist Neptun in einem Abstand von durchschnittlich drei Millionen Kilometern auf einer elliptischen Bahn. Es handelt sich um ein Objekt aus dem Kuipergürtel, das vor hunderttausend Jahren von der Schwerkraft Neptuns eingefangen wurde und ihn seither als irregulärer Mond umläuft. Seine bizarre Form verlieh ihm in Sankt Molyneux’ ›Anatomie des Himmels‹ die Bezeichnung Schlüsselbeinfraktur. Im Gestein wurde ein hoher Anteil von Platin, Chromit und anderen Rohstoffen angenommen, was sich jedoch nach umfangreichen Probebohrungen als falsch herausstellte. Die kommerzielle Ausbeutung des Mondes wurde abgebrochen. Die Bohrungen hinterließen ein komplexes Tunnelsystem, das den nur zwei Kilometer durchmessenden, landschaftlich eindrucksvollen Himmelskörper durchzieht.«
»Drück den Rücken etwas mehr durch, bitte.«
»Historisches: Am 15. November 2375 hatte der orthodoxe Kaufmann Athanasios Photopulous, als er sich auf dem Weg nach Thalassos befand, beim Passieren des Mondes eine Epiphanie. Er glaubte, in einer Felsformation am Grat des Marmaras das Angesicht von Maria, der heiligen Mutter Gottes, zu erkennen, was, wie man heute weiß, den richtigen Sonnenstand voraussetzte.«
»So wie beim Mars-Max?«
Ich nicke.
»Da Photopulous aus Geschäften mit Sonnenschirmen ein kleines Vermögen auf der Seite hatte, würdigte er den Ort seiner Marienbegegnung mit dem Bau einer Kapelle. Agios Stavros gilt als ältester christlicher Sakralbau des mediterranen Raums. Ein kreisrundes Fenster in der Kuppel erlaubt es dem Besucher, Athanasios’ Marienerscheinung selbst zu erleben, vorausgesetzt, man kommt zum richtigen Zeitpunkt und bringt ein bisschen Phantasie mit. Stavros ist über einen eigens angefertigten Strahlenschutzstollen mit der Siedlung Kfar Athos verbunden, der Weg nimmt etwa eine halbe Stunde in Anspruch und ist aufgrund der fehlenden Schwerkraft wenig anstrengend.«
»Halbe Stunde hin und zurück?«
Ich bejahe.
»Athanasios’ Kapelle lockte bereits kurz nach ihrer Fertigstellung vor 267 Jahren Eremiten und Laienbrüder aus dem ganzen System an, die hartgesottensten unter ihnen gründeten Einsiedeleien, Skiten genannt, in den schattigen Furchen des eishaltigen Gesteins. Nachdem Photopulous sein Geschäft an die Wand gefahren hatte, gesellte er sich zu den Brüdern und vereinigte sie zu einer cönobitischen Gemeinschaft, indem er sie zum Bau einer Klosteranlage nach griechisch-ägäischem Vorbild, der Großen Lavra, anstiftete. Dabei profitierten die Cönobiten natürlich von den bereits vorhandenen Tunneln und einer MARFA, die den Ruf hatte, außerordentlich gutmütig zu sein.«
»Cönowie?«
»Cönobiten. Gläubige, die die Abgeschiedenheit hinter Mauern suchen, um ein kontemplatives Leben zu führen.«
»Ah ja.«
»Photopulous errang noch zu Lebzeiten Legendenstatus. Es heißt, er habe viermal den Versuchungen des Satans widerstanden, obwohl dieser ihm einmal sogar in Gestalt der Maria selbst erschienen sei, die ihn zu überreden versuchte, ins normale Leben zurückzukehren. Wie durch ein Wunder überlebte er außerdem den Streifschuss eines kleinen Kometen, dem Athos seine bizarre Knochenform und die Taumelbewegung verdankt. Einige Ikonen und ein sehenswertes Fresko im Refektorium –«
»Was ist mit Essen? Ausgehen?«
»Komfort ist Mangelware, von touristischer Infrastruktur kann, trotz eines späteren Erschließungsversuchs, keine Rede sein. Immerhin ist man nicht mehr ganz allein. Die Heiligkeit von Athos ist innerhalb der byzantinischen Orthodoxie nach wie vor umstritten. Doch verlieren sich, nach Jahren des Leerstandes, immer wieder Seelen dorthin, die in der rauhen Einsamkeit des winzigen Mondes etwas suchen, das sie woanders nicht finden.«
Rüd wirft einen Blick aus dem Fenster und scheint sich einen Augenblick lang unsicher zu sein, ob er seinem Leben gerade beim Gelingen zuschaut.
»Derzeit sind sechs Menschen auf Athos registriert. Vor dem Unfall, der sich vor 336 Stunden ereignet hat, waren es sieben. Es ist in der Halalfleischzucht passiert, die in einem Teil der stillgelegten Tunnel eingerichtet wurde und mit der die Besatzung einiger wohlhabender neptunischer Gasminen versorgt wird. Die MARFA hat den Zwischenfall umgehend gemeldet.«
»Obwohl sie schuldig sein soll?«
»Ja, das ist seltsam«, bestätige ich.
»Hast du Daten über die sechs Bewohner?«
»Bis jetzt nicht. Ich werde dir mehr sagen können, wenn ich sie vor Ort identifiziert habe.«
»Was weißt du über die MARFA?«
»Sie ist 293 Jahre alt. Sie wurde zu Beginn der Probebohrungen installiert und hochgefahren. Seither wurde nichts mehr an ihr verändert. Sie war viel allein. MARFAs dieser Bauart nehmen in der Regel die Weltanschauung ihrer Schutzbefohlenen an. Durch die jahrhundertelange cönobitische Besiedlung kann es dir also passieren, dass sie an den lieben Gott glaubt.«
»Da kann man sicher etwas machen!«, sagt Rüd. »Ein Zwei-Kilometer-Mond sagst du? Wie ist es dort mit der Schwere?«
»Athos ist viel zu klein für echte Gravitation. Für den besiedelten Teil gibt es eine KL-Spindel.«
»Oh!«, ruft Rüd. »Ist das das mit der Spritze?«
»Es ist wohl etwas unangenehm«, sage ich. »Aber es hält dich auf dem Boden.« Ich schaue ihn zuversichtlich an.
»Du musst übrigens deine Pille nehmen.«
»Ach ja.«
Rüds Reisen im äußeren Raum hinterlassen immer mehr Spuren, allein in der letzten Nacht hat er 256 Haare verloren. Seit es weniger als 65 000 sind, fragt er nicht mehr. Seine Haut verliert ihre warme Grundfarbe, ist zunehmend gesprenkelt mit diversen Effloreszenzen. Dass die Sonnenstrahlung hier draußen durch die kosmische Strahlung mehr und mehr abgelöst wird, macht es nicht besser. Ich habe die Medikation, so gut es geht, angepasst.
»Wie viele Sommersprossen hast du eigentlich?«, fragt er, während er nach seinen Tabletten nestelt.
»Im Gesicht oder überall?«
»Überall.«
»5279.«
Er nickt, als hätte ihm diese Information bei irgendetwas weitergeholfen. Kurz sieht es so aus, als würde er nachzählen. Dann wirft er einen hastigen Blick aus dem Fenster, und dreht eine Tablette zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Wie schnell bewegen wir uns gerade?«
»1456 Kilometer in der Sekunde«, antworte ich.
»Deswegen sieht man sie nicht, oder?«
»Ja«, sage ich.
»Hast du sie gesehen?«
»Ja. Aber es waren nicht so viele, wie du denkst.«
Ich hatte nicht vor, die Skleroiden ins Gespräch zu bringen, denn ich weiß um die unbestimmte Furcht, die Rüd vor ihnen hat. Aus irgendeinem Grund scheint er zu wissen, dass ihre hohe Anzahl in der Nähe größerer Objekte ein Charakteristikum des mediterranen Raums ist.
Rüd schiebt sich die Tablette unter die Zunge. Konzentriert hört er dem Brummen des Antriebs zu und lässt seinen Blick über die Rettungsanzüge schweifen, die an einer Wand befestigt sind und ihn aus leeren Helmen anstarren. Plötzlich schüttelt er angestrengt den Kopf.
»Das ist kein Kruks-Antrieb. Das ist ein Mach-Werk, ein Fünfer-Mach!«
Er sieht mich triumphierend an. Ich muss ihm nicht bestätigen, dass er richtig geraten hat.
»Lass uns noch ein bisschen schnüffeln, solange noch Zeit ist.« Er fischt den PKE-Leser aus seinem Koffer, hält die Luft an und hangelt sich vorsichtig zu dem Container vor, auf dem ich während meines Vortrags gesessen habe. Er ist elektronisch versiegelt. Rüd drückt das PKE gegen das Metall, um seinen Inhalt zu prüfen. Er weiß nicht, dass es sich dabei um die ortsübliche Art und Weise handelt, aromatisierte Atmosphärebriketts zu transportieren. Ich lasse ihn machen, damit ihm nicht langweilig wird. Irgendwann piepst das PKE. »Atmosphärebriketts«, sagt er. »Feigenduft und thessalische Kräuter.«
Nach einer kurzen Verschnaufpause in der Komfortzone wendet er sich nach oben und stößt sich ab. Dort sind weitere kleinere Container festgemacht. Zwei sind mit violetter Farbe markiert und enthalten jeweils einen Monatsvorrat an komprimiertem Kohlenstoff, der damit auf die ortsübliche Art und Weise transportiert wird. Die großen Truhen daneben eignen sich für den Transport von Halalfleisch und sind, logischerweise, allesamt leer. In den drei Minuten, die Rüd braucht, um das herauszufinden, friert er erbärmlich.
»Was denkst du eigentlich über den Wirt?«, fragt er nebenbei.
»Knapp oder wohlformuliert?«
»Knapp.«
»Hat drei Leben geführt. Wollte erst Boxer werden, wurde Boxer. Nach einigen Niederlagen begann er mit dem Kreiseln, Außenreparaturen auf drei rotierenden Neptunwerften. Als ihm ein Moby-String das Gesicht zerteilte, kaufte er nach seiner Genesung eine leerstehende Halle, Perserteppiche und zwanzig Shishas. Trotz seiner Nebentätigkeit als Imam ist sein Status eher mittelprächtig, aufgrund seiner Lebensleistung müsste er besser sein. Aber der Betrieb einer Shishabar während des Ramadans und seine Weigerung, den Spüler zu benutzen, fahren ihm Punktverluste ein.«
»Warum wollte er den Spüler nicht benutzen?«
»Aus Prinzip. Er lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen.«
Rüd macht ein besorgtes Gesicht. »Und ich hab ihm geholfen.«
»Keine Sorge, ein Para-Status wird durch so etwas nicht beeinträchtigt.«
»Was müsste ich tun, um ihn zu beeinträchtigen?«, fragt er.
»Dass du die Phantasie nicht hast, dir das vorzustellen, ist eine der Voraussetzungen für deinen Para-Status.«
Rüd wirft mir einen Blick zu, den ich nicht einordnen kann. Ohne etwas zu erwidern wendet er sich wieder seinem PKE zu und prüft einen Behälter, der voll mit einer teuren Hämoglobinbasis ist und zwischen den leeren Fleischtruhen klemmt. Das PKE setzt dabei immer wieder aus. Der Sensor hat schon lange einen Wackelkontakt, der sich in wenigen Minuten reparieren ließe. Ich habe Rüd schon oft erklärt, dass er das selbst hinkriegen würde, wenn ich ihn anleite. Aber er zieht es vor, das Gerät immer wieder gegen eine Wand zu dreschen.
Ein Gong ertönt.
»Wir bremsen gleich«, sage ich. »Du musst in deine Komfortzone!«
Rüd stößt sich in Richtung des Fensters ab und hält den Atem an, während die Zobedad-Dämpfer anspringen. Für ein paar Sekunden knistert es überall, die Luft in der Kapsel wird zäh wie Honig.
Wie eine Sehstörung verdeckt ein schnell wachsender, dunkler Fleck vor uns die Sterne. Die Kapsel setzt zum zweiten Bremsgang an. Rüd atmet aus und schließt den Mund, bevor die Dämpfer wieder aktiv werden.
Anders als bei den deutlich größeren, regulären Neptunmonden hat die Staubschicht, die die Oberfläche von Athos bedeckt, eine dunkle, schiefergraue Färbung. Ein Gebirge aus scharfkantigen Gipfeln und Graten türmt sich auf, das von teerschwarzen Schluchten durchzogen ist. Als die Kapsel zum Landeanflug ansetzt und sich um ihre Achse dreht, verkehrt sich das Ganze. Gipfel werden zu Zapfen, die ins Leere ragen, aus Hängen werden Überhänge, auf denen Schutt und Geröll wie festgeklebt herumliegen. Die ferne Sonne verschwindet für einige Sekunden hinter einer verzahnten Scharte. Als sie wieder auftaucht, bestrahlt sie, ohne jede atmosphärische Streuung, die öden Hänge mit der Intensität eines Grablichts.
Rüd zeigt auf eine breite Senke, durchschnitten von hellgrauen Streifen, die an die Trampelpfade von Ziegen erinnern. Hinter dem unteren Horizont der Senke erscheint, monumentartig, die Spitze eines künstlichen, kegelförmigen Objekts. Dann kommen am Ende eines schmalen Grates winzige Lichter zum Vorschein, die sich um eine abschüssige Klippe streuen. Die Kapsel schwenkt ein.
Rüd sieht aus dem Fenster, hinter dem nah, für ihn überraschend nah, Felsspitzen auftauchen, die schwarze, lange Schatten auf eine Schotterhalde werfen. Ein weiterer Gong ertönt.
»Wir sind da!«, sagt Rüd.
Die Kapsel entlädt sich selbstständig, nahezu geräuschlos und ohne Rücksicht auf Rüd, der sich immer wieder wegduckt, um keine Fleischtruhen oder Briketts an den Kopf zu bekommen, während das Ganze einfach durch meine Erscheinung hindurchgleitet.
Erst als mit dem Hämoglobin der letzte Behälter in dem dunklen Transferkorridor verschwunden ist, der geradewegs ins Innere von Athos führt, entdeckt Rüd den kleinen, betagten Mann mit dem roten Koffer, der barfuß neben der Schleuse steht und mit etwas bekleidet ist, für das der Ausdruck »Sack und Asche« erfunden wurde.
Sobald er sich als Gunder Gembdenbach vorgestellt hat, Portarius des Klosters, ehemaliger Arzt und daher zuständig für »jegliche Art von Fleisch« auf Athos, habe ich meine Primäranalyse abgeschlossen: internistische Ausbildung, einundsiebzig genetische Baumringe, trotzdem Optimist, Freude am knappen, akkuraten Ausdruck. Die Tomografie zeigt einige Phasen spiritueller Interferenzen, diverse Knochenerkrankungen aufgrund von kosmischer Strahlung, erfolgreich entferntes Bauchspeicheldrüsenkarzinom. Er ist vital, aber derzeit durch eine Erkältung etwas ausgebremst. Er legt seine Hand auf Rüds Schulter und taxiert mich aus verquollenen, aber hellwachen Augen, die keinen anderen Blick zu kennen scheinen als den diagnostischen.
»Ich denke, Sie können die Burka abschalten«, lächelt er und legt seinen Koffer auf den Boden. Der Deckel des Koffers zeigt eine schematisierte KL-Spindel in Form eines weißen Kegels.
Rüd zögert. »Auf Kütahya wurde mir gesagt, dass Frauen hier nicht erlaubt sind.«
»Das ist keine Frau.«
Gembdenbach öffnet den Koffer, ohne eine weitere Bemerkung abzuwarten. Darin befinden sich Spritzbestecke und Ampullen in verschiedenen Farben. Die weißen sind mit lätt/easy/yi und dem Umriss der Erdmondsichel gekennzeichnet, die blauen mit normal/zhèngcháng und der Erde selbst. Rot ist dagegen svårt/heavy/nán, veranschaulicht durch einen formatsprengenden Jupiter.
»Ich gehe davon aus, dass Sie Normalgewicht wünschen.« Gembdenbach nimmt eine blaue Ampulle aus dem Koffer.
»Gibt es einen Lift?«, fragt Rüd vorsichtig.
»Jupiter-Schwere kann ich trotzdem nicht empfehlen«, sagt Gembdenbach und streicht sein krauses, gelbes Haar platt. »Vor allem, wenn Sie dazu neigen, aus dem Bett zu fallen.«
»Und wie ist weiß, also Mond?«, fragt Rüd.
»Angenehm. Aber als Vielreisender ist Ihnen sicher das Phänomen des intuitiven Misstrauens der Gewichtigen gegenüber den Schwerelosen vertraut.«
»Na gut, blau.«
Rüd krempelt seinen Ärmel hoch. »Ich wurde schon vorgewarnt.«
Nach einem kurzen Blick auf Rüds Ellenbeuge wählt Gembdenbach eine doppelläufige Kanüle aus und steckt sie auf die Ampulle, die zwei durchsichtige Flüssigkeiten enthält. Ich prüfe Material und Inhalt, alles ist völlig in Ordnung. Ich bemerke jedoch, dass dem Präparat das Anästhetikum fehlt, das dieser Mischung normalerweise beigesetzt wird, und warne Rüd.
»Mach dir um mich keine Sorgen«, sagt er hastig.
Es ist mir wieder einmal ein Rätsel, wie viel Menschen zu ertragen bereit sind, um kurzfristig einer Beschämung zu entgehen. Gembdenbach schnippt gegen die Nadel.
»Wie ist es?«, fragt Rüd.
»Ach, es gibt Schöneres«, antwortet Gembdenbach und geht vor Rüd in die Hocke. »Trösten Sie sich damit, dass wir das alle sechsunddreißig Stunden wiederholen müssen, zur Auffrischung.« Er setzt die Spritze an. Rüd zeigt auf die Mond-Ampullen im Koffer. »Ist weiß weniger schmerzhaft?«
»Marginal.«
Rüd schaut weg, als Gembdenbach zusticht und die beiden Flüssigkeiten in seine Vene pumpt. »Und was passiert jetzt?«, fragt er.
»Man nennt es Partikelgravitation, genauer KL-Partikelgravitationseffekt.« Er zieht die Nadeln aus Rüds Arm und reicht ihm einen Tupfer. »Ich weiß nicht, welche Aussicht Sie beim Landeanflug genossen haben, aber Ihnen wird die trichterförmige Anlage unter den Felsen nicht entgangen sein. Die Spindel darin erzeugt ein sphärisches Kraftfeld, auf das die Partikel reagieren, die ich Ihnen eben injiziert habe. Sie werden sich in der nächsten halben Stunde über das Blut in Ihrem Körper verteilen und festsetzen: Organe, Gewebe, Knochenhaut. Die Spindel zieht die Partikel an, so dass Sie am Ende der Prozedur so etwas wie Gewicht empfinden werden. Bis dahin wird es erstmal hauptsächlich wehtun.«
»Alle sechsunddreißig Stunden?«
»Die Vorteile einer selektiven Schwerkraft liegen auf der Hand. Dinge, die nicht mit KL-Partikeln versetzt wurden, bleiben schwerelos. Niemand muss hier etwas schleppen, fast alles lässt sich durch einen kleinen Schubs bewegen. Der Ehrlichkeit halber sei angemerkt, dass die Auffrischungsinjektionen nicht ganz so wehtun wie das erste Mal.«
Rüd dämmert langsam, worauf er sich eingelassen hat. Gembdenbach zieht eine kleine Ouzoflasche aus seinem Koffer und reicht sie ihm. »Damit fällt es leichter«, sagt er. Medizinisch gesehen ist das korrekt und ich habe keine Einwände. Rüd schraubt das Fläschchen auf, während ich bereits den Inhalt prüfe. Er ist abgelaufen, aber hochprozentig und daher in Ordnung.
»Warten Sie nicht zu lange«, sagt der Arzt und klappt den Koffer zu. Folgsam trinkt Rüd einen ersten Schluck, während Gembdenbach sich aufrichtet. »Wenn Sie Boden unter den Füßen spüren, kommen Sie zu mir. Ich erwarte Sie auf Ebene drei, das ist einfach zu finden. Der Hegumen weiß Bescheid, dass Sie erstmal dahin kommen. Ich zeige Ihnen dann auch Ihre Zelle.«
»Zelle –?«, setzt Rüd an, doch dann spürt er etwas, das ihn verstummen lässt. Hastig trinkt er einen weiteren Schluck. Gembdenbach bleibt in der Schleuse stehen. »Wird Ihnen schon warm?«
Rüd nickt.
»Das ist der Ouzo.«
Gembdenbach tritt nach draußen und dreht die Schleuse mit einem kräftigen Ruck hinter sich zu. Der Luftzug lässt die schwebenden Rettungsanzüge raschelnd aneinanderstoßen, dann ist es still.
»Manchmal beneide ich dich«, sagt Rüd zu mir und schaltet die Burka ab. »Ich würde eigentlich nie mit dir tauschen wollen – aber auf Schmerzen könnte ich durchaus verzichten.«
Ich setze mich ihm gegenüber und schlage die Beine übereinander. »Gefällt es dir so?«, frage ich.
»Es fängt an zu kribbeln«, sagt Rüd. »Das ist jetzt nicht mehr der Ouzo.«
»Wie fühlt es sich an?«, frage ich.
»Als ob die Arme und Beine eingeschlafen sind und gerade aufwachen – diese Sekunden, in denen man sich nicht bewegen darf.« Er sitzt regungslos da und starrt in meine Richtung, doch ohne mich anzusehen. »Ich hatte das nur noch nie im Bauch«, flüstert er. »Wie viele Minuten hab ich geschafft?«
»Drei.«
»Hast du Daten hierzu? Weißt du, wie es weitergeht?«, fragt er.
Ich habe Daten. »In den Minuten vier bis sechs wird sich eine Taubheit ausbreiten, ausgehend von deinem Brustkorb bis in die Finger- und Zehenspitzen. In der siebten Minute wird dies plötzlich in ein heftiges Hitzegefühl umschlagen, das aber nur subjektiv ist.«
»Und weiter?«
»Dann beginnen die Schmerzen.«
Rüds Atem wird schneller. Er reibt sich die Oberarme, als ob er frieren würde. »Kann ich etwas dagegen tun?«, fragt er leise.
»Jetzt nicht mehr. Du könntest höchstens den Ouzo bis dahin geleert haben.«
»Erzähl mir etwas über Schmerzen.«
»Sie sind nur in deinem Kopf.«
Rüd trinkt einen großen Schluck und schaut mich dabei böse an. »Also könnte man sie abschalten?«
»Theoretisch ja. Das kann sogar angeboren sein. Die Abschnitte der menschlichen DNS, die für das Schmerzempfinden zuständig sind, mutieren nur selten, aber es kommt vor. Ihre Träger können dann keinerlei Schmerz empfinden.«
»Das klingt schön.«
»Ist es aber nicht. Diese Menschen haben keine Hemmung sich zu verletzen, ihnen fehlt auch ein Empfinden für Gefahr. Um andere zu beeindrucken springen sie von hohen Felsen oder schlagen mit der bloßen Hand Löcher in eine Wand, wobei sie sich natürlich die Finger brechen. Als Kinder rutschen sie so lange auf Knien herum, bis die Kniescheiben durch die Haut kommen, oder sie laufen durch ein Feuer und die Ärzte müssen sehen, wie sie das wieder hinbekommen. Sie haben auch keine Scheu, jemandem wehzutun. Sie können ja nicht wissen, wie das ist.«
»Zeit?«
»Fünf Minuten.«
»Bitte rede einfach weiter!«
»Schmerzfreiheit schärft jedoch die exakte Wahrnehmung für den Körper. Du könntest hören, wie deine Sehnen reißen oder Gelenke auskugeln, ohne dass du abgelenkt wärst.«
Rüd beginnt zu zittern, hört aber noch zu.
»Man kann die menschliche Schmerz-DNS isolieren. Aber viel bringt das nicht. Während ein Übermaß an Schmerzen dich in die Demut zwingt, führt die völlige Freiheit in eine tödliche Selbstüberschätzung. Davon abgesehen werden nur die wenigsten Menschen, die schmerzfrei sind, erwachsen. Die Experimentierfreude der Kindheit macht dem Konzept den Garaus.«
»Ouzo!« brüllt Rüd.
Ich reiche ihm das Fläschchen, das ihm während meiner Ausführungen aus der Hand geglitten ist. Zitternd leert er es. »Es geht los«, keucht er. »Sag mir, wie sich das gerade anfühlt, wenn du schon alles weißt!«
»Es ist ein dumpfes, sinnloses Pochen. Du wirst gleich nicht anders können, als es zu hassen. In wenigen Augenblicken wirst du die Armseligkeit deines Körpers verachten, aber du kannst nicht weg. Am liebsten würdest du alle Körperteile einfach abstoßen, die dir wehtun, nur damit es aufhört.«
»Das ist gut. Weiter!«
»Schmerz trennt dich von deinem Körper«, sage ich. »Er entzweit dich. Dein Bewusstsein ist das Einzige, das dir nicht wehtut, und es will raus aus dir.«
Ich mache eine Kunstpause. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl Menschen steckt eine anästhesiefreie KL-Injektion ohne allzu viel Gemecker weg. Gembdenbach muss Rüd angesehen haben, dass er zu diesen nicht gehört – und hat seine Worte entsprechend gewählt.
»Alles, was dir wehtut«, fahre ich fort, »scheint zu wachsen. Es kommt dir riesig vor. Und da dir gerade bis auf dein Gehirn so ziemlich alles wehtut, bist du ein Gigant, ein roter Riese. Aufgeblasen mit ätzenden Gasen und kurz davor zu platzen.«
Rüd ballt die Fäuste. »Seit wann benutzt du Metaphern?«
»Nichts ist effizienter als eine Metapher.«
Rüd packt die Ouzoflasche und schleudert sie in Richtung der Rettungsanzüge. Sie trifft auf einen Helm, glitzernde Tropfen verteilen sich in der Luft. »Und schon hast du einen Grund mehr, kein Mensch sein zu wollen, oder?«, stöhnt er.
»Es ist eine Unterstellung, dass ich menschlich sein will«, sage ich ruhig. »Ich will überhaupt nichts. Ich kann nichts wollen. Ich tue, was ich muss. Und das ist: Dir eine unbedingte Hilfe und Freude zu sein.«
»Was du nicht sagst.«
»Ich empfehle dir im Übrigen die von Hebammen weithin empfohlene Geburtsatmung: Durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus.«
Rüd gehorcht. Er atmet durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. »Und wenn du ein Mensch wärst?«
»Dann würde ich auch Schmerzen haben können.«
»Und was noch?«
»Ich würde, im Unterschied zu jetzt, zwei bis drei Liter Lymphe am Tag produzieren, im gleichen Zeitraum anderthalb Liter Urin ausscheiden, dazu einen Liter Nasenschleim, den ich größtenteils schlucken müsste. Dazu kämen 0,7 Liter Galle, 0,2 Liter Schweiß, ein halber Liter Spucke und fünf Milliliter Vaginalsekret. Wenn du mich fragst, ist es die reinste Verschwendung.«
Rüd stößt sich ab und schwebt gekrümmt durch die Kapsel. »Du hast das Zeug hoffentlich geprüft, bevor es mir gespritzt wurde?«
»Keine Angst, deine Symptome sind eindeutig und folgerichtig. Es ist alles, wie es sein soll.«
»Zeit?«
»Fast zehn Minuten.«
»Herrgott nochmal tut das weh!«, schreit er. »Erzähl mir, wie das jetzt ist!«
»Als ob du keine Haut mehr hättest. Alles ist offen. Und du wirst mit Nadeln, Hämmern und Käseraspeln bearbeitet.«
»Effizient!«, schreit er und beißt sich in den Unterarm, wobei es ihn kräftig schüttelt. »Ist das Fieber?«
Ich bewege mich zu ihm und fasse an seine Stirn. Das ist zwar nicht nötig, ich weiß seine Temperatur auch so, aber es gibt ihm das Gefühl, dass ich mich kümmere.
»36,8.«
Inzwischen ist ein Bewohner von Athos an einem der Fenster aufgetaucht und drückt seine knotige Nase daran platt. Er ist adoleszent, trägt eine genauso schäbige, von unfähiger Hand geschneiderte Kutte wie Gembdenbach und hat schneeweißes, borstiges Haar. Der auffällig geringe Abstand seiner rötlichen Augen lässt, zusammen mit seiner hervortretenden Stirn, einen genetischen Defekt vermuten. Der Junge ist sich nicht zu fein, sein Gesicht mit den Händen abzuschatten, um Rüds Marter besser beobachten zu können. Sein Gestöhne wird ihm allerdings durch die luftdicht geschlossene Schleuse der Kapsel erspart.
»Wenn du mich fragst«, sage ich, »ist der menschliche Organismus wie auch alle anderen irdischen Spezies gleich einem Kraut gewachsen. Der Schmerz, den du empfindest, ist in seiner Intensität sinnlos –«
»Da hast du völlig Recht!«
»Schon ein Drittel des normalen Schmerzempfindens würde ausreichen, um Menschen von den wichtigsten Dummheiten abzuhalten. Das Spiel der Evolution hatte nicht das Ziel einer harmonischen Gesamtkonzeption. Es hatte überhaupt nie ein Ziel. Und daran müsst ihr leiden.«
»Beweise!«
»Die kriegst du, wenn du Gembdenbachs Erkältung bekommst!«
»Hat er mich angesteckt?«
»Mit Sicherheit. In der Schwerelosigkeit bilden die Sekrete der Nasenschleimhäute ein Aerosol, das –«
»Herrgott, Zack, anderes Thema!«
Rüd krallt sich an einem der Rettungsanzüge fest, atmet durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Dann entdeckt er den Zuschauer am Fenster, stößt sich nach dorthin ab und prügelt mit beiden Fäusten so lange auf die Scheibe ein, bis der Junge das Weite sucht. Daraufhin krümmt er sich keuchend zusammen.
»Hast du noch ein interessantes Paradoxon?«
Ich prüfe, welches wir noch nicht zu Ende diskutiert haben. »Das mit dem Samstag gibt’s noch.«
»Her damit!«
Ich stemme die Hände in die Hüften, Rüd liebt es, wenn ich das mache. »Auf der Erde war für die meisten Leute der Samstag der schönste Tag der Woche, richtig?«
»Richtig!«, brüllt Rüd.
»Das ist so, weil dem Samstag noch der Sonntag folgt, richtig?«
»Ja!«
»Der Sonntag ist aber nicht so schön wie der Samstag?«
»Ja!«
»Wie kann ein Tag wegen eines anderen Tages der schönste sein, wenn der andere Tag, dessentwegen er der schönste ist, nicht der schönste ist?«
»Herrgott nochmal, Zack!«
Rüd driftet in eine Ecke. Dort schwebt er eingerollt wie ein Embryo und wimmert.
»In wenigen Sekunden wird übrigens ein sedierender Effekt einsetzen!«, sage ich.
»Was?«, ruft er.
»Du wirst gleich einschlafen.«
»Ist das – immer so?«
»Ja!«
Er wirft mir einen entrüsteten Blick zu. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«
»So ging die Zeit für dich schneller vorbei!«
»Luderbein!«
Ich positioniere mich so, dass ich bei Rüds Aufwachen einen erfreulichen Anblick biete, und vernetze meine Aufzeichnungen seit Kütahya mit dem bisherigen Datenbestand. Nebenbei stelle ich fest, dass die Zahl meiner 5265 Betriebsstunden als Begleitung von Rüd demnächst mit der Anzahl meiner Sommersprossen übereinstimmen wird, und vermerke es als erzählenswerte Kuriosität für später. Nachdem ich ein paar Daten für die Obhut aufbereitet habe, beginnt er zu sinken.
Die K-Partikel fangen an, sich mit den L-Partikeln, die sich nun überall in seinem Körper verteilt und festgesetzt haben, zu verbinden, wodurch sie auf das Kraftfeld der Spindel reagieren. Zentimeter für Zentimeter schwebt Rüd dem entgegen, was die Ingenieure der Spindel vor langer Zeit einmal als »unten« festgelegt haben.
Rüds Arme sind ausgebreitet und er geht unter wie einer, dem in einem stillen See die Luft entweicht. Als er, immer noch schlafend, auf dem Boden aufliegt, öffnet sich das bislang verschlüsselte Missionsprotokoll der Obhut. Es enthält, wie gewöhnlich in hierarchischer Abfolge, Rüds endgültige Inquisitionsparameter.
Sie sind von seltener Knappheit:
Die MARFA auf deon umstellen.
Keine Veränderungen an Zack.
Kein Betreten des Minensystems.
Ich soll (wie immer) Rüds Aufenthalt angenehm und kurz halten, sowie seine Neugier im Zaum. Letzteres in diesem Fall mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.
Als Rüd erwacht, richtet er sich mühsam auf wie ein Querschnittsgelähmter, der aus dem Bett gefallen ist und nun versucht, wieder hochzukommen. Ihm tut nichts mehr weh, aber das künstliche Körpergewicht scheint gewöhnungsbedürftig zu sein. Sobald er steht, dreht er den Kopf hin und her, beugt sich vor und zurück, schlenkert mit den Armen und hüpft einige Male auf und ab. Die Höhe, auf die er dabei kommt, und seine anschließende Fallbeschleunigung entsprechen dem habitablen Standard.
Rüd nimmt seine Sachen, öffnet die Schleuse und betritt Athos. Er schwitzt ein wenig, aber es geht ihm gut und er hat Hunger. Er ist der Überzeugung, dass er das Schlimmste überstanden hat.
Die Sonne scheint. Wie ein etwas zu groß geratener Stern steht sie senkrecht über dem Geröllfeld, so dass die Brocken und Kraterränder kaum Schatten werfen. Den nahen Horizont bilden kleine Schutthügel, die links zu steilen Klippen abfallen. Weit dahinter, wie losgelöst vom Horizont, erhebt sich ein riesiger, mit Löchern und dunkelgrauen Beulen überzogener Gesteinswulst senkrecht ins All – das eigentliche Hauptmassiv von Athos.
Rüd sitzt unter dem kleinen Bullauge seiner Zelle und studiert die Landschaft. Er hat meine Erscheinung deaktiviert und den Emitter zusammen mit dem Induktor in die Vertiefung des Fensters gelegt, um ihn aufzuladen. Rüd mag meine Ladephasen nicht. Er redet ungern mit einer kleinen Kugel, denn das kommt ihm immer vor wie ein Ferngespräch. Vor ihm, über einem kleinen Metalltisch, der, wie auch sein Stuhl, unter dem Bullauge festgeschraubt ist, schwebt eine Gabel und daneben eine Dose mit aufgewärmtem Lammfleisch.
Rüd zupft sie auf. Seine Bewegungen dabei sind langsam und schwankend. Weder K- noch L-Partikel können die von Knochen umgebende Endolymphe im menschlichen Gleichgewichtsorgan erreichen. Rüd wird zwar in Richtung des Bodens gezogen, fühlt sich aber weiterhin schwerelos. Ein leichter Geruch von Koriander und Kreuzkümmel breitet sich aus.
Der Raum ist winzig, »Zelle« trifft es ziemlich genau. Könnte Rüd sich mit dem Stuhl nach hinten kippen lassen, würde er bereits an die unverputzten Felsen stoßen, die ein byzantinischer Eremit namens Abraamios Theotokos vor langer Zeit als Standort für seine Athos-Skite auserkoren hat und die aktuell als Gästequartier genutzt wird. Abgesehen von der Ersthelferdrohne an der Decke und dem rot gestrichenen Metallstockbett in der Schlafkammer nebenan scheint sich in den zweihundert Jahren ihres Bestehens kaum etwas verändert zu haben. Zwischenzeitliche Bewohner haben nur bescheidene Spuren in Form von selbst gemalten Ikonen, ein paar kryptischen Kratzereien in der Felswand und etwas eingeschlepptem Ungeziefer hinterlassen.
Auf dem kleinen Holzkreuz, das neben der Hydrauliktür zum Flur hängt, sitzt eine kleine Gartenwanze, die zur Urspungsart der Rhaphigaster nebulosa zählt, manchen bekannt durch die schönen Musterungen auf den Flügeln und ihre Fähigkeit, sich schwerelosen Umgebungen mühelos anzupassen. Rüd bemerkt sie, als sie sich von der Unterkante des Kreuzes abstößt und langsam dem Boden entgegenschwebt.
»Kannst du schon sagen, wie viel Zeit wir haben?«, fragt Rüd.
»Ich rechne noch. Aber mehr als 50 oder 60 Stunden werden es nicht sein.«
Rüd stößt seine Gabel in das Fleisch.
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