Ki-Phi und das Geheimnis des friedvollen Walds - Sabine Kneitz - E-Book

Ki-Phi und das Geheimnis des friedvollen Walds E-Book

Sabine Kneitz

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Beschreibung

Einen Cousin zu bekommen ist nicht so sensationell, wie einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester. Doch bei Kims Familie war das anders. Kim erzählt den Umgang mit der unheilbaren Erkrankung ihres Cousins Philipp. Die beiden Kinder trafen sich so oft es ging bei den Großeltern nahe der Berge. Dort gab es einen Wald, in dem die Kinder gerne spielten. Philipp fand eines Tages eine verletzte Eidechse und es begann eine ungewöhnliche Freundschaft. Die Eidechse namens Siga stammte vom friedvollen Wald, die der Welt der beiden Kinder sehr ähnlich war. Eines Tages wurde in der Welt des friedvollen Walds alles grau und Siga war spurlos verschwunden. Da machte sich Lilo, die Libelle auf den Weg ihm zu helfen. Ein ungewöhnliches Abenteuer begann und jede Welt hat ihre eigene Geschichte, die sich auf wundersame Weise miteinander verbinden. Nur gemeinsam können sie dem Geheimnis auf die Spur kommen. Eine spannende Fantasiegeschichte, die Mut macht auch in scheinbar ausweglosen Situationen an sich selbst zu glauben und Lösungen zu finden.

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Prolog

Kapitel: Eidechsenglück

Kapitel: Veränderungen

Kapitel: Herbstferien

Kapitel: Frederika Krokulus

Kapitel: Herbststürme

Kapitel: Tuatara

Kapitel: Eine extra Portion Schokoladeneis

Kapitel: Viel Neues in der anderen Welt

Kapitel: Der Elefant im Porzellanladen

Kapitel: Nächtliches Wiesenglühen

Kapitel: Vorfreude

Kapitel: Im Brombeergebüsch

Kapitel: O du fröhliche

Kapitel: Zufall

Kapitel: Blaue-Flecken-Schmerzen

Kapitel: Nebelgestalten

Kapitel: Die Sache mit dem Fantasieloch

Kapitel: Alarm

Kapitel: Lästige Dinge & unerfüllte Wünsche

Kapitel: Beim alten Fuchs

Kapitel: Silvesterknaller

Kapitel: Abschied und Neuanfang

Epilog

Prolog

Warum kratzt man sich eigentlich am Kopf oder zupft sich am Ohrläppchen, wenn man überlegt und nachdenkt? Ich bohrte manchmal sogar in der Nase, und das finde ich im Nachhinein auch wieder ekelig. Was mich aber brennend interessiert, ist an den Anfang meiner ersten Erinnerungen zu gelangen. Was war mein erster Gedanke? Wann habe ich angefangen, eigenständig zu denken? Warum vergisst man das, oder wieso kann ich es in meinem Gehirn nicht mehr finden? Manchmal mischen sich meine eigenen inneren Bilder mit Gedanken und Geschichten von anderen. Das sind die Erzählungen, in denen sie von mir berichten, die sich dann automatisch in meinem Kopf abspielen, als würde ich mir selbst dabei zusehen. Das macht Spaß, und ich höre besonders gerne meiner Oma Anni zu, wenn sie etwas von uns Kindern erzählt. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das erste Mal wusste, dass ich einen Cousin habe. Einen Cousin zu bekommen ist ja nicht so sensationell wie einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester. Doch in unserer Familie ist das anders.

An einem heißen Augusttag war das Baby von Tante Julia auf die Welt gekommen. Meine Mama lief damals mit dem Telefon am Ohr nervös in der Küche auf und ab. Schließlich jubelte sie und machte ein paar Luftsprünge. Es war ein Junge. Wir wollten so schnell wie möglich zu ihr fahren, doch wir wohnten leider viel zu viele Kilometer voneinander weg. Drei Jahre war ich damals alt. Da ahnte noch keiner etwas von der Krankheit meines Cousins.

Ich kann mich an die ersten Besuche auch nicht mehr wirklich erinnern, und es sollte noch viel schlimmer kommen. Es dauerte drei unendlich lange Jahre, bis ich mit Philipp das erste Mal spielen konnte. Das lag nicht nur an der Entfernung, sondern an der Mukoviszidose, auch cystische Fibrose genannt – eine Krankheit, die zuerst nicht sichtbar war und doch von Anfang an in ihm steckte. Diese Krankheit stellte das bisher normale Leben meiner ganzen Familie auf den Kopf. Wie war das Leben vor Philipps Geburt gewesen? Ich erinnere mich nicht mehr daran. Was habe ich gespielt, bevor ich mit ihm spielte? Wann besuchte ich Oma Anni ohne Philipp? Komisch, vielleicht war ich auch einfach nur zu jung und zu klein. Ich kann mich zum Beispiel gar nicht mehr an Tante Julia ohne Philipp erinnern. Ich wusste erst recht nichts mehr über Philipps Vater, der kurz nach seiner Geburt verschwunden war. Es gab aus dieser Zeit einige Bilder von Philipp, die ich immer wieder mal betrachte. Ich frage mich, wer er war, was er wohl gerade fühlte, ob er Angst hatte und wie es in seiner kleinen Welt wohl aussehen mochte. Wusste so ein kleiner Kerl, dass etwas mit ihm nicht stimmte? Ein Baby, das seine Welt erkundete, seine eigenen Ärmchen und Beinchen betrachtete und den Mund aufmachte, weil es Hunger hatte. Ich konnte den Namen seiner Krankheit lange Zeit nicht richtig aussprechen. Mama meinte, es ist eine Krankheit, die von beiden Eltern auf ihn übertragen worden ist, obwohl beide selbst nicht daran erkrankt sind. Das kapieren ja nicht mal die Erwachsenen und dennoch gibt es so etwas. Philipp hat sehr viel Schleim in seinem Körper und deswegen muss er oft husten und inhalieren, oder bekommt eine Lungenentzündung. Der Schleim ist auch in seinem Bauch und manchmal hat er Bauchweh und gar keinen Hunger. Er muss gut aufpassen, dass er sich bei anderen nicht ansteckt, denn Bakterien und Viren können für ihn sehr gefährlich werden. Deswegen bekommt er mehr Medikamente als gesunde Kinder, und dann ist er auch immer wieder mal in Kliniken und bei der Therapie.

Ich weiß noch genau, als ich meine Mama einmal in der Küche sitzen sah, zusammengekauert mit ihrer Lieblingskuscheldecke, die mit den mintfarbigen kleinen Bällen, die aussehen als würden sie gleich aus dem kuscheligen Weich herausspringen und quer durchs ganze Zimmer fliegen. Das habe ich mir zumindest immer so vorgestellt. Sie starrte damals auf das Foto mit dem kleinen Jungen im Krankenhaus, der an etliche Schläuche angeschlossen in einem kleinen Bettchen lag. Ich sah die Angst und Sorge in ihren Augen und drückte mich dicht an sie. Sie küsste mich auf die Stirn und da wusste ich, es würde alles gut werden, egal was war. Ich mochte diesen kleinen Cousin mit seiner lebensbedrohlichen Krankheit von Anfang an. „Da dürfen Kinder leider nicht mit rein“, bekam ich ständig zu hören, als Philipp wieder einmal in irgendeiner Klinik lag. Meine Mutter fuhr die erste Zeit oft allein zu Tante Julia nach München. Die beiden sind Schwestern und haben sich sehr gern. Philipp bekam viel Medizin und musste regelmäßig zu Kontrollen. Das Schlimmste für Tante Julia waren Entscheidungen, die sie allein treffen musste, und was hätte sie ohne meine Mama machen sollen? Zusammen mit Oma Anni sind sie das Dreamteam für Philipp! Ich durfte in dieser Zeit immer wieder meine Großeltern nahe den Bergen besuchen. Ich ging noch nicht zur Schule und konnte bleiben, so lange ich wollte. Meine Großeltern erfüllten sich mit einem alten Bauernhof einen Lebenstraum. Der Hof, den beide gekauft und umgebaut hatten, liegt auf einem kleinen Hügel mit weitem Blick auf die nahe Bergkette. Opa Günther zeichnet Häuser für andere Menschen. Er ist Architekt und muss hin und wieder nach München in die Firma, in der auch Tante Julia arbeitet. Meistens arbeitet er aber von seinem Büro aus. Oma Anni kümmert sich um ihre Feriengäste, macht die Betten und das leckerste Frühstück.

Eidechsen glück

KAPITEL 1

Die kleinen Steine knirschten unter den Reifen unseres Autos, als wir in den Hof einfuhren. Oma Anni winkte uns vom Balkon aus zu, und ich konnte es kaum erwarten auszusteigen. Es standen noch andere Fahrzeuge im Hof, und an den Kennzeichen konnte ich erkennen, dass Feriengäste da waren. Ich steuerte sogleich die steile Außentreppe zum Balkon an und zog meinen Reisekoffer polternd hinter mir her. Es war eine aufregende Zeit für mich. Ich war stolze sechs Jahre alt und würde bald in die Schule kommen. Oben angekommen, blieb ich wie angewurzelt an der Treppe stehen.

Am Eingang von Omas Tür stand ein kleiner Junge, der gerade dabei war, mit nackigen Füßchen die roten Gummistiefel anzuziehen. Ich kannte die roten Gummistiefel. Oma hielt diese und einige andere Exemplare in verschiedenen Größen für alle Kinder und Feriengäste bereit, die bei ihr zu Besuch waren und gerade welche brauchten. Mir passten die roten schon lange nicht mehr. Und dieser Junge, das ahnte ich gleich, war kein Kind von Pensionsgästen.

Er sah mich neugierig an und lächelte schüchtern. Einzelne blonde Haarsträhnen standen wild in verschiedene Richtungen von seinem Kopf ab. Mama kam keuchend hinter mir her. Als er sie erblickte, flogen seine dünnen Arme vor Freude in die Höhe. Sie kniete sich nieder, und dieser kleine Junge lief ihr lachend in die Arme. Ich sah staunend von einem zum anderen. Mein Mund ging gar nicht mehr zu, und irgendwie wurden meine Beine weich wie Butter. Es gibt ihn also wirklich, dachte ich damals völlig töricht. Oma Annis Augen glitzerten merkwürdig. Sie lachte Mama entgegen und wischte sich ein paar Tränen ab, die ihr über die Wangen kullerten. Philipp und ich standen uns einfach nur gegenüber und betrachteten uns. Er war klein, viel kleiner als ich dachte, und schmal. Seine blauen Augen blitzten schelmisch. Das passte zu seinen Haaren. Es war Mitte Juni, doch er steckte in einem langärmligen Shirt und einer kurzen Hose, die ihm viel zu groß war und bis über die Knie reichte. Das sah mit den roten Gummistiefeln einfach zu witzig aus. Der kleine Kerl zeigte mit seinem rechten Zeigefinger auf mich und rief laut und schallend: „Kimi!“.

Ich hatte wahrscheinlich ein sehr verdutztes Gesicht gemacht, so verdutzt, dass wir alle gleichzeitig losprusteten. Dabei war dieses Lachen das schönste Lachen überhaupt! Es sprengte in dieser einzigen Sekunde all die Zeit, die wir uns noch nicht begegnet waren und eigentlich schon voneinander wussten.

In Omas Stube roch es köstlich nach frisch gebackenem Apfelkuchen und Kaffee. Die Überraschung, endlich meinen Cousin nicht nur zu sehen, sondern auch mit ihm spielen zu können, war absolut gelungen. Besser, als immer nur hingehalten zu werden. Es dauerte auch nicht lange und wir wollten nach draußen gehen.

Opa Günther hatte kurz nach ihrem Einzug eine uralte Steinmauer direkt neben dem Haus entdeckt. Er legte sie fast vollständig frei und machte dort einen schönen eigenen Terrassenplatz. Die Steinmauer stammte wohl von dem früheren Bauernhaus, das vorher auf dem Hügel gestanden haben musste, und Opa schätzte sie auf über 500 Jahre. Auf dieser Steinmauer sonnen sich zuweilen auch Eidechsen, die man gut beobachten kann, wenn man vorsichtig genug ist und stillhält. Wir spielten mit kleinen Ästen, Kieselsteinen und Sandförmchen, gaben Prisen von Quarzsand hinein und zierten mit zarten rosaweißen Gänseblümchenblättern unsere Sandkuchen.

Da entdeckte Philipp eine Eidechse. „Schau mal!“ Ganz erstaunt und ehrfürchtig hielt er das kleine Tier in beiden Händen. Das konnte doch nicht sein! Regelmäßig schlüpften die scheuen Tiere zwischen die Ritzen der Steine oder flüchteten bei der geringsten Bewegung. Philipp blieb ganz gelassen in der Hocke und blickte auf das Tier in seinen Händen. Es lag ruhig da und bewegte sich nicht. Ich kam vorsichtig näher. Die Augen der Eidechse waren das Einzige, was sich unruhig zeigte. Das kleine Tier atmete schnell. Die Echsenarme waren dicht an den Körper herangezogen und eine Kralle war so lang, dass ich zuerst nur darauf starren konnte.

Das grün-grau gestreifte Muster fiel mir als Nächstes auf. An der Seite zeigten sich hellgrüne Streifen.

„Was habt ihr denn da?“, fragte Oma Anni und staunte ebenso wie wir über Philipps Fund.

„Vielleicht hat sie gerade geschlafen?“, überlegte ich.

Oma Anni und Mama schauten sich grübelnd an. „Das ist jedenfalls nicht normal. Seht nur, sie hat keinen Schwanz mehr“, meinte Mama.

Philipp lockerte seine Hände etwas. Die Eidechse hatte sich richtig bei ihm festgesogen.

„Darf ich auch mal halten?“, fragte ich.

Philipp legte seine Hände in meine, aber die Eidechse wollte nicht loslassen. Sie blieb wie angeklebt in seinen Händen. „Ist die Eidechse krank?“, fragte Philipp. „So wie ich?“ Philipps Frage hing in der Luft und keiner wusste darauf eine Antwort.

„Der Körper ist warm und weich“, stellte ich fest, als ich ihr sanft über den Rücken strich. „Wir könnten ein Eidechsenlager bauen? Was meinst du? Auf der anderen Seite der Mauer, da ist es schön sonnig und warm“, meinte ich.

Philipp sah sich um. „Das ist eine gute Idee!“ Er setzte sich gleich an den sonnigen Hang.

Ich streifte nach rechts in den Wald hinein und holte Moos und Tannenzapfen.

„Die Eidechse heißt Siga“, erzählte Philipp, als ich zurückkam.

Sorgfältig brachte ich das Moos an der Rückwand der Mauer an und grenzte es mit Tannenzapfen ab. „Ein schöner Name“, stellte ich zufrieden fest, und wir freuten uns über das schöne Lager, das ich für Siga gebaut hatte. Wir saßen noch eine ganze Weile da und betrachteten das Tier. „Darf ich noch mal versuchen ihn zu nehmen?“, fragte ich und Philipp nickte. Vorsichtig bohrte ich meinen Zeigefinger und Daumen um den Körper der Eidechse und siehe da, sie ließ los und ich hielt sie in meiner Hand.

Philipp ging noch mal los und holte Quarzsand, welchen er wie einen kleinen Weg um die Tannenzapfen legte. Er entdeckte kleine Walderdbeeren, die er abpflückte und auf das Moos setzte.

Oma Anni lugte irgendwann über den Steinmauerrand zu uns runter. „Na, ihr zwei? Wollt ihr kein Abendbrot? Es ist schon spät. Opa ist auch schon da.“

So mussten wir uns von Siga verabschieden und setzten die Eidechse in das grüne Bett aus Moos neben die kleinen Walderdbeeren.

Opa Günther hörte uns aufmerksam zu, als wir von Siga erzählten und meinte, es könnte eine Zauneidechse gewesen sein. Auch Waldeidechsen seien hier nahe der Berge zu Hause.

Die Eidechse war nicht mehr da, als wir sie ihm zeigen wollten. Es machte uns ein wenig traurig. Doch die Freude, dass Siga sich fortbewegt hatte, wie Eidechsen das eben tun, ließ uns hoffen, dass es ihr gut gehen würde und sie irgendwo da draußen überlebte.

Neben der Eckbank in der Pensionsküche stand ein kleiner Tisch, extra für uns Kinder. Da lagen allerlei Malsachen, Puzzles und Spiele. Ich schnappte mir Papier und Stifte und malte die Eidechse.

Philipp sah mir zu und reichte mir die passenden Farben.

„Wunderschön“, strahlte Oma, als sie das fertige Bild sah. Mit zwei Magneten schmückte das Bild zunächst den großen Kühlschrank.

Die nächsten Tage spielten wir oft miteinander auf der Terrasse und am Waldrand. Immer wieder suchten wir nach Siga. Einmal meinten wir die Eidechse zu entdecken. Doch sie war so schnell und flink wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Am vorletzten Tag sahen wir zusammen mit Opa eine große grünblaue Libelle am Waldrand. Wir sprangen ihr hinterher und staunten, als sie wie eine Königin auf einem großen Blatt saß und uns ansah. Dann hob sie ab, schwebte auf einer Stelle wie ein Hubschrauber in der Luft, bis sie schließlich tief in den Wald hinein verschwand.

„Sie fliegt jetzt bestimmt zu Siga“, meinte Philipp.

Ich staunte über diesen Gedanken und freute mich darüber, dass die beiden zusammen waren, genau wie wir.

Gegen Abend malte ich die Libelle auf einem Stück Architektenpapier, das gerade frei herumlag.

Oma hatte etwas Regenbogenglitzer aus ihrem Malatelier geholt und zeigte mir, wie ich damit die Flügel der Libelle deutlicher machen konnte.

„Das ist die Lilo!“, sagte Philipp. „Lilo, die Libelle und Siga, die Eidechse.“

Oma sah beide Zeichnungen an. „Darf ich mal was ausprobieren?“, fragte sie.

Ich nickte neugierig.

Sie legte beide Bilder übereinander. Dadurch sah Siga leicht verschwommen aus, und Lilo flog über ihm. Mit der Schere schnitt Oma das Transparentpapier passend zu, und Siga wurde wieder sichtbarer. Begeistert holte Oma einen goldfarbenen Bilderrahmen und platzierte die Bilder darin. Zwei Jahre lang hing dieses Bild über der Eckbank der Pensionsküche, bis eines Tages etwas Merkwürdiges passierte.

Veränderungen

KAPITEL 2

Lilo, die Libelle sah mit Schrecken über das weite Land. Sie flog von einem zum anderen Ende desWalds, doch überall das Gleiche: Alles war grau in grau. Der Löwenzahn war grau, das frische Grün der Blätter an Bäumen und Sträuchern war eine einzig graue Wand. Das zarte Blau der Veilchen und Krokusse, das Gelb des Schöllkrauts und der Waldschlüsselblume waren allesamt verschwunden. Der Himmel bestand nur aus einem einzig grauen Wolkenteppich. Gerade war sie noch eine Larve gewesen und dann das hier! Der zweite Schrecken war ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche des Sees. Entsetzt sah sie sich selbst von den Flügeln bis zur Schwanzspitze nur grau. Völlig erschöpft landete sie am Ufer und wischte sich mehrmals über ihre 30.000 Augen, doch die Farbe änderte sich nicht.

Da bewegte sich etwas zwischen den Steinen. Eine Eidechse krabbelte hervor, um bei den Steinen ihr tägliches Sonnenbad zu nehmen. Von Sonne war aber weit und breit nichts zu sehen. Die Eidechse sah sehr traurig aus, schnüffelte vor sich her und blieb dann reglos sitzen und glotzte vor sich hin.

Lilo steuerte auf die Eidechse zu. „Wir haben frühen Morgen, oder täusche ich mich?“, fragte Lilo.

Die Eidechse blickte sich langsam um und entdeckte die Libelle schließlich auf dem Grashalm sitzend. „Wird wohl so sein“ sagte sie resigniert.

Lilo flatterte aufgeregt hin und her, machte einige Loopings über dem See und landete wieder auf dem Grashalm. „Das kann doch nicht sein! Hier ist alles grau. Was ist passiert?“

Die Eidechse antwortete nicht.

Lilo hielt es nicht länger auf ihrem Grashalm. Sie flog im Zickzack kreuz und quer über See und die Lichtung, rückwärts um die hohen Tannen, und mehr und mehr packte sie die blanke Angst. Eine Angst, dass etwas Schreckliches passiert war. Es fühlte sich an, als ob etwas Unwiederbringliches zerstört worden wäre. „Weißt du etwas?“, schrie sie die Eidechse schließlich an, die immer noch reglos vor sich hinstarrte. Lilo schwebte direkt vor ihr, als sich der Stein unter der Eidechse plötzlich bewegte.

Eine Wasserschildkröte streckte ihren Kopf nach vorne. „Nun rede doch schon“, meinte sie. „Da werde selbst ich ungeduldig.“ Dabei wurde ihr Hals immer länger.

Zaghaft tapste die Eidechse vom vermeintlichen Stein, zog ihren Schwanz zur Seite und hob ihren Kopf leicht nach oben. „Mein Freund Siga hat es wohl nicht geschafft.“

In diesem Moment brach die Sonne verheißungsvoll durch die Wolkendecke, und alle blickten nach oben, als würde sie augenblicklich alles wieder in Farbe tauchen. Doch selbst die Sonne war grau.

„Wer ist Siga?“, fragte Lilo.

„Sein Freund“, wusste sogar die Wasserschildkröte.

„Okay, und was ist mit Siga geschehen?“, bohrte Lilo weiter.

„Siga hat sich auf die Suche nach einem Jungen namens Philipp in der anderen Welt gemacht, der ihm mal das Leben gerettet hat.“

„In eine andere Welt einzutauchen ist bestimmt ein riskantes Abenteuer“, fand Lilo. Von Menschen in einer anderen Welt wusste Lilo. Sie überlegte weiter und ihr fielen geheime Pfade und Bäume ein, die Welten miteinander verbinden können, doch sie hatte bisher noch nie etwas davon selbst gesehen. Die Eidechse wollte dort nach einem Jungen suchen. Das hörte sich sehr spannend an.

Die Wasserschildkröte stupste die Eidechse an. „Warum denkst du, dass er es nicht geschafft hat?“

Die Eidechse sah betreten drein. „Sieh dich doch um“, sagte sie müde. „Alles ist grau! Das ist kein gutes Zeichen.“

Lilo brauchte ein paar Loopings, um diese Nachricht zu verkraften. Vor allem musste sie darüber nachdenken, warum ausgerechnet eine Eidechse und ein Junge für das Grau in der Welt des friedvollen Walds verantwortlich sein sollten. „Was weißt du? Wo ist er hin? Was wollte er von dem Jungen?“, sprudelte es nur so aus ihr heraus.

Zu spät. Die Eidechse war verschwunden.

„Wo ist er hin?“

„Du stellst eindeutig zu viele Fragen auf einmal“, meinte die Wasserschildkröte und krabbelte Richtung See.

„Moment mal, wollt ihr euch jetzt alle aus dem Staub machen?“

„Staub? Nö, ich will ins Wasser“, meinte die Wasserschildkröte gleichgültig.

„So warte doch!“ Lilo schwirrte vor ihr her und bettelte sie sehnsüchtig an.

Die Schildkröte machte ihren Hals erneut ganz lang und starrte Lilo geradewegs in ihre 30.000 Augen. „Du hast wirklich noch nie etwas von Siga gehört? Wundert mich eigentlich. Als Libelle bist du doch überall.“

„Ach, ich bin doch erst heute früh geschlüpft.“

„Nun, ich dachte, es hat sich selbst bis ins letzte Ameisennest verbreitet.“

„Unsereins redet wenig mit Ameisen, besonders als Larve“, meinte Lilo. Schrecklich, der Gedanke, von einer Ameise abgeschleppt zu werden. Selbst als Larve strebte sie in Richtung der Lüfte dem Sonnenlicht entgegen. „Wäre schon schön zu wissen, welche Farben ich habe“, seufzte Lilo und blickte skeptisch an sich herunter. Insgeheim wünschte sie sich ein glänzendes Blau und Grün. In ihren Träumen als Larve sah sie jedenfalls so aus. Sie ließ sich majestätisch am Ufer nieder und lauschte andächtig der Geschichte, die die Wasserschildkröte dann bereitwillig erzählte.

„Siga lebte schon seit seiner Geburt im friedvollen Wald, als er eines Tages von einer fremden Waldeidechse angegriffen worden war. Wie du weißt, ist es nicht üblich, dass sich Tiere im friedvollen Wald gegenseitig angreifen, und deshalb hatte es ihn ohne Vorwarnung getroffen. Es wurde ein heftiger Kampf und er verlor dabei seinen Schwanz. Die Waldeidechse klebte förmlich an Siga und ineinander verkeilt kullerten sie über Wurzeln und Steine. Siga war der Ohnmacht nahe, als er sich endlich befreien konnte und eine Steinmauer entdeckte, in der er versuchte sich zu verstecken. Da lag er auch schon in den Händen eines kleinen Jungen. Die Waldeidechse war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war, und Siga blickte erschrocken in zwei blaue Menschenaugen. Ohne es zu wissen, war er durch die Steinmauer in eine andere Welt gelangt. Warm und angenehm wurde es in diesen kleinen Kinderhänden. Ihm schwindelte immer noch, doch ganz langsam spürte er wieder Kraft und Leben in sich. Da bedankte er sich bei dem Jungen und sagte ihm seinen Namen. Der Junge antwortete ihm, dass er Philipp heiße. Außerdem wusste der kleine Junge, was zu tun war. Er brachte ihm Walderdbeeren, deren süßer und zarter Duft ihn weiter beruhigte. Ein anderes Kind brachte Tannenzapfen und Moos, welches ihn an den nahen Wald erinnerte. Siga fragte, ob er ihm noch Sand holen könnte, und Philipp zog gleich los, um welchen zu besorgen. Er legte ihn wie einen schützenden Kranz um sein Lager als wüsste Philipp, dass er Siga damit beschützen konnte. Dann war er allein. Die Mauer zeigte Siga den Eingang in seine Welt, und im Schutz des verborgenen Pfades trat er den Rückweg an.“

Lilo brauchte ein paar weitere Loopings bei dieser Geschichte. „Wow!“, sagte sie und atmete erstaunt aus. „Das ist echt ein Ding! Und wie passt das jetzt zu all dem Grau hier?“

Es raschelte im Unterholz und die Eidechse zeigte sich wieder und erzählte weiter: „Mein Freund Siga hatte in all der Zeit immer wieder Kontakt zu Philipp, manchmal mehr, manchmal weniger. Eines Tages stellte Siga fest, dass die Tiere im friedvollen Wald immer weniger wurden. Da machte er sich auf den Weg zum Wind, um herauszufinden, woran das liegen könnte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Lilo brauchte diesmal einen sehr langen Flug, um all das irgendwie zu begreifen. Den Wind zu finden war mit Sicherheit nicht leicht, zumal gerade der Wind in alle Himmelsrichtungen unterwegs war. Dieser Siga musste ein schlaues Köpfchen sein – und mutig obendrein. Er brauchte bestimmt Hilfe. Sie spürte den unheimlichen Drang, nach ihm zu suchen und ihm dabei zu helfen, in alle Himmelsrichtungen zu schauen und den Wind und die dort wohnenden Tiere um Rat zu fragen. Bevor sich Lilo darüber klar werden konnte, welche Rolle sie dabei spielen würde, war sie schon mittendrin in diesem Abenteuer.

ZWEI JAHRE SPÄTER