Kid Got Shot - Simon Mason - E-Book

Kid Got Shot E-Book

Simon Mason

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Beschreibung

Die Abschlussklausuren stehen bevor, aber Five Mile steht unter Schock. Ein Schüler wurde auf dem Schulgelände erschossen aufgefunden und kein Motiv weit und breit. Garvie Smith - moralisch verkommen, stinkfaul, aber leider genial - wollte sich gerade dazu durchringen, ein bisschen für die Klausuren zu lernen. Aber es ist ja nicht mit anzusehen, wie dumm sich Kommissar Singh wieder mal anstellt. Garvie ist der Einzige, der weiß, wo man suchen muss - zum Beispiel bei der Exfreundin seines besten Freundes. Klausuren? Welche Klausuren?

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Simon Mason

Kid Got Shot

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Über dieses Buch

Die Abschlussklausuren stehen bevor, aber Five Mile steht unter Schock. Ein Schüler wurde auf dem Schulgelände erschossen aufgefunden und kein Motiv weit und breit. Garvie Smith – moralisch verkommen, stinkfaul, aber leider genial – wollte sich gerade dazu durchringen, ein bisschen für die Klausuren zu lernen. Aber es ist ja nicht mit anzusehen, wie dumm sich Kommissar Singh wieder mal anstellt. Garvie ist der Einzige, der weiß, wo man suchen muss – zum Beispiel bei der Exfreundin seines besten Freundes. Klausuren? Welche Klausuren?

Vita

Simon Mason, 1962 in Sheffield geboren, ist sowohl Autor als auch Verlagsleiter bei David Fickling Books in Oxford, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt. In Deutschland erschien seine Kinderbuchreihe «Die Quigleys» bei Carlsen. Sein Jugendbuch «Moon Pie» wurde 2011 für den Guardian Children’s Fiction Award nominiert.

Nur deine Taten werden dich begleiten.

Guru Granth

1

Die anderen warteten schon in der Dunkelheit. Garvie Smith trat durch das Tor und ging über den glitschigen Rasen auf sie zu. Smudge, Felix, Dani und Tiger, die sich auf den niedrigen Klettergerüsten und den winzigen Schaukeln des Spielplatzes an der Old Ditch Road fläzten, hoben die Hände und begrüßten ihn einer nach dem anderen mit der Ghetto-Faust. Er ließ sich in ihrer Mitte nieder und gähnte.

Smudge schaute ihn an. «Was hast du für uns, mein Großer?»

Garvie schüttelte den Kopf.

«Was, nicht mal Blättchen?»

«Nächstes Mal.»

«Nächstes Mal! Vielleicht gibt’s kein nächstes Mal, Kumpel. Die Welt ist ein seltsamer und unberechenbarer Ort. Wer weiß, was die Zukunft uns bringt?»

Garvie warf ihm einen Blick zu und gähnte noch mal. «Das wissen wir doch alle, Smudge: nichts. Und wenn es ganz dick kommt, noch weniger als nichts.»

Er holte seine Benson & Hedges aus der Tasche und bot ihnen eine Runde an. Smudge reichte ihm eine halbvolle Flasche mit billigem Whiskey und die Tüte mit den Zitronendrops, und dann saßen sie da, rauchten, tranken, lutschten Bonbons und murrten.

Freitagabend, zehn Uhr in Five Mile. Der Wind pfeift, es nieselt, man raucht ein paar Ziesen und quatscht ein bisschen, bis die Streife kommt.

Eine halbe Stunde verging.

Smudge versuchte es noch einmal. «Komm schon, Garv, du hast kaum was gesagt, seit du da bist. Man könnte ja fast glauben, du hast Schiss vor den Abschlussklausuren.»

Niemand, der Garvie auch nur flüchtig kannte, würde je auf die Idee kommen, er hätte Schiss vor einer Klausur. Er war nicht nur der gleichgültigste, sondern auch der faulste Schüler in der Geschichte der Marsh Academy, vielleicht sogar in der Geschichte der Stadt – oder in der Geschichte von Teenagern allgemein. Schwänzer Smith, ein Superhirn ohne jede Energie, die Geißel seiner Schule. Schlaksig und gut aussehend, in ausgebeulten Jeans, Hoodie und ausgelatschten High Tops saß er auf einem kleinen, bemalten Zirkuspferdchen, die Zigarette in seinem wohlgeformten Mundwinkel. Er schaukelte leicht auf dem Blechklepper, rauchte und schaute gelangweilt über den schwarzen Rasen zu den Lichtern der Stadt. Die Jahresabschlussklausuren machten ihm nicht im Geringsten zu schaffen. Was ihm zu schaffen machte, waren die Leute, die darüber redeten. Zum Beispiel seine Mutter. Onkel Len. Miss Perkins, die Oberaufseherin der Marsh Academy. Noch vor ein paar Wochen, als er – völlig schuldlos – mit der Polizei aneinandergeraten war und – ebenfalls schuldlos – einen Großteil des Unterrichtsstoffs verpasst hatte, hatte man ihm offiziell versichert, dass seine Klausuren verschoben würden. Doch ein paar Tage später überlegte es sich die Schule anders, und Miss Perkins verkündete, er müsse sie wie geplant ablegen. Jetzt endlich würde er sein Potenzial beweisen und der Welt zeigen, was ein Junge mit einem Rekord-IQ und einem fotografischen Gedächtnis zu leisten im Stande war.

Von wegen. Er konnte Miss Perkins nicht ausstehen. Er konnte auch die Welt nicht ausstehen, und er würde nichts, aber auch rein gar nichts für sie tun. Was hatte sie denn je für ihn getan?

«Also, was ist dein Problem?», fragte Smudge.

«Nichts», sagte Garvie. «Oder noch ein bisschen weniger.»

Auf der Old Ditch Road rührte sich etwas. Ein hämmernder Bass ließ den Asphalt vibrieren. Gleich darauf tauchte ein Wagen neben der Hecke auf, die den Spielplatz von der Straße abtrennte, und blieb wummernd und mit eingeschalteten Scheinwerfern am Tor stehen. Es war ein schwarzer Cadillac Escalade Platinum mit getönten Fensterscheiben und Lexani-Reifen in schreiendem Eidottergelb, Hi-Vision-Scheinwerfern und bunten Lichtbändern, die wie Laser am Wagendach pulsierten. Nach etwa zwanzig Beats wurde die Musik ausgeschaltet, und plötzlich war alles still. Wie gebannt starrten die Jungen auf das Seitenfenster, das mit einem leisen Surren nach unten glitt. Ein Gesicht tauchte auf, glänzend und grinsend. Smudge rülpste ängstlich.

Das Gesicht wandte sich Garvie zu.

«Hast du Feuer, Junge?» Die Stimme war rau und wispernd.

Garvie schaute das Gesicht an, stieß Zigarettenrauch aus und dachte über die Frage nach. «Nein», sagte er schließlich.

Smudge unterdrückte ein Stöhnen.

Die hintere Tür schwang auf, und ein kleiner, hagerer Mann stieg aus. Er trug eine schwarze Lederjacke über einem überdimensional großen, türkisfarbenen Retro-Jogginganzug, dazu eine Dirty-Rat-Basecap. Seine Brille blitzte im Licht der Straßenlaterne auf, als er bedächtig nickte. Dann blinzelte er langsam. Seine dümmlichen Augen blinkten. Das Grinsen war verschwunden.

«Du hast Feuer», sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Garvies Zigarette.

Garvie nahm einen tiefen Zug aus seiner Benson & Hedges, ließ sie fallen und trat sie mit dem Absatz aus.

«Nein, hab ich nicht», sagte er.

Mit fahrigen Bewegungen kramte Smudge in seinen Taschen nach Streichhölzern, wobei er leise wimmerte. Doch dann verstummte er, weil sich die restlichen Wagentüren öffneten und zwei weitere Männer in identischen Westen ausstiegen. Es waren große Männer mit leeren Gesichtern hinter Sonnenbrillen, und sie standen auf dem Gehsteig, als würden sie auf Befehle warten.

Blinkie grinste wieder. Er war ein Idiot. Alles an ihm war lächerlich: sein Gangster-Outfit, die grellen Farben, das breite Grinsen, die riesigen, unmenschlichen Augen. Seine Zähne waren zu groß für seinen Mund. Er war der einzige weiße Mann in Five Mile mit Rastalocken. Aber er war kein Idiot, über den man sich lustig machte. Die Leute waren vor Blinkie auf der Hut. Er galt allgemein als «leicht psycho».

Eine Weile sagte keiner etwas. Alles war still, bis auf die Geräusche eines Wagens auf der anderen Seite des Parks. Blinkie warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

«Solltest du nicht längst im Bett liegen, Junge?», fragte er Garvie.

«Solltest du nicht längst im Knast sitzen?», gab Garvie zurück.

Smudge zuckte so heftig zusammen, dass er beinahe von der Schaukel gekippt wäre, und Blinkie verging das Grinsen. Er machte einen Schritt auf Garvie zu, aber einer der Männer hinter ihm beugte sich vor und flüsterte ihm etwas zu. Blinkie zögerte und schaute die Straße entlang.

Dann wanderte sein Blick wieder zu Garvie. «Weißt du, worauf ich Lust hätte?», flüsterte er.

Garvie zuckte mit den Achseln. «Ich vermute, es handelt sich dabei nicht um normale Klamotten. Oder um einen Spiegel.»

«Sehr witzig», sagte Blinkie. «Man sieht sich.»

Er stieg wieder in den Wagen, die Tür schloss sich mit einem genüsslich gedämpften Rums, als Nächstes kam der Bass, und dann setzte sich das Auto wieder in Bewegung und fuhr blinkend und wummernd die Old Ditch Road entlang, wie eine Attraktion auf einem Rummelplatz.

Garvie stand auf und schlenderte zum Tor. Smudge und Felix tschilpten wie ängstliche Vögelchen.

«Was machst du denn? Hast du sie nicht mehr alle? Was, wenn er zurückkommt?»

«Keine Sorge. Er kommt nicht zurück.»

«Woher willst du das wissen?»

Garvie erreichte das Tor genau in dem Moment, als der Streifenwagen mit Standlicht angerollt kam. Er trat zur Beifahrertür und klopfte an das Seitenfenster.

Das Fenster wurde heruntergekurbelt, und ein Polizist mit einem kugelsicheren Turban schaute heraus. Garvie warf ihm einen überraschten Blick zu.

«Sie haben ihn gerade verpasst», sagte er. «Er ist da lang gefahren», setzte er hinzu.

Detective Inspector Singh verzog keine Miene. «Was macht ihr hier?», fragte er stattdessen.

«Was machen Sie hier?», fragte Garvie. «Noch dazu in der Nachtschicht. Normalerweise verscheucht uns Constable Jones vom Spielplatz.»

Jones, der am Steuer saß, runzelte verärgert die Stirn, aber Singh wiederholte ruhig seine Frage: «Was macht ihr hier im Park?»

«Wir schaukeln, jedenfalls meistens. Manchmal fahren wir auch mit dem Karussell.»

Singh wartete geduldig ab.

«Okay, Sie haben mich erwischt», sagte Garvie. «Wir rauchen, trinken, und hin und wieder nehmen wir Drogen.» Er breitete die Arme aus. «Wollen Sie mich filzen?»

Constable Jones machte Anstalten, die Fahrertür zu öffnen, aber Singh legte ihm die Hand auf den Arm.

Zu Garvie gewandt, sagte er: «Geh nach Hause, Garvie, und sag auch deinen Freunden, sie sollen heimgehen.»

Das Seitenfenster fuhr nach oben, und der Streifenwagen rollte davon. Garvie stand einen Augenblick lang gedankenverloren da, ehe er sich wieder zum Spielplatz umdrehte.

«Da hatten wir ja echt Glück», sagte Smudge, «dass die Cops genau im richtigen Moment aufgetaucht sind und Blinkie das Weite gesucht hat. Ich dachte schon, du hättest dich um Kopf und Kragen geredet.»

«Du musst einfach öfters mal auf die Uhr schauen, Smudge. Halb elf. Um die Zeit tauchen die Cops immer auf.»

«Nicht immer, Kumpel. Und auch nicht immer um diese Zeit.»

Garvie schüttelte den Kopf. «Ignoriere die Geräusche, Smudge. Hör auf das Signal.»

«Was für ’n Signal?»

«Die Cops lassen sich ungefähr viermal pro Woche blicken. An Wochentagen um halb elf, samstags um elf und sonntags gar nicht. Die Chancen, dass sie genau zur berechneten Zeit auftauchen, standen zwei zu drei.»

«Ja, aber …» Smudge verstummte.

«Das ist außerdem der Beweis, dass ich nicht stoned bin», sagte Garvie.

«Ach ja?»

«Ich weiß, dass wir heute Freitag haben. Wenn ich lediglich wüsste, dass es nicht Sonntag ist, hätten die Chancen nur eins zu zwei gestanden, richtig? Und wenn ich so daneben wäre, dass ich nicht mehr wüsste, welchen Tag wir haben – oder nicht haben –, dann wäre es drei zu sieben. Aber ich bin nicht stoned, und damit steigen meine Chancen.»

Smudge blickte skeptisch drein. «Also, wenn du das so siehst …»

«Außerdem», sagte Garvie, «habe ich den Streifenwagen schon auf der anderen Seite des Parks gesehen.»

Mit einem Nicken verabschiedete er sich und ging wieder zum Tor, dann in die Bulwarks Lane bis zum Pilkington Driftway. Er war auf dem Heimweg.

Der Wind hatte aufgefrischt. Wolken rissen sich gegenseitig in Stücke und warfen die Fetzen über den dunklen Himmel. Gitterzäune klapperten, und allerlei Müll wurde über die Straße geweht. Die Mietshäuser in Eastwick Gardens lagen im Dunkeln. Garvie trat durch die Haustür, holte das Buch, das er unter der Treppe versteckt hatte – Arbeitsbuch Moderne Weltgeschichte – und stieg hoch zur Wohnung Nr. 12, wo sich seine Mutter gerade für ihre Schicht im Krankenhaus fertig machte. Sie stammte aus Barbados, eine imposante Gestalt mit einem breiten Gesicht, kurzgeschnittenen Haaren, die von grauen Strähnen durchzogen waren, und einem kreolischen Zungenschlag, so dick wie ein Eintopf mit Schweinefleisch und Chilis. Als Garvie die Tür aufschloss und eintrat, betrachtete sie ihn misstrauisch.

«Du hast aber lange gebraucht, um das Buch zu holen», sagte sie.

Garvie zuckte mit den Schultern. «Felix war noch nicht fertig damit, deshalb musste ich warten.»

«Zwei Stunden? Hat er das Buch etwa neu geschrieben?»

«Und danach haben wir noch eine Weile über die Französische Revolution diskutiert.»

Ihr Blick wurde noch misstrauischer, aber dann sah sie auf die Uhr und griff nach ihrem Mantel, der neben der Tür hing.

«Okay. Wenigstens bist du jetzt da. Du kannst noch ein bisschen lernen und dann ausnahmsweise mal früh ins Bett gehen.» Aus schmalen Augen sah sie ihn an. «Du hast doch nicht etwa vor, auf den Spielplatz zu gehen, oder?»

Garvie erwiderte ihren Blick. «Warum sollte ich? Da ist doch sowieso nichts los.»

Sie musterte ihn noch einen Moment mit diesem ungläubigen Ausdruck in den Augen, dann zog sie die Tür hinter sich zu. Seufzend schlurfte Garvie in sein Zimmer, trat sich den Weg durch den Berg abgelegter Klamotten frei, legte sich auf sein Bett und starrte die Decke an. Die Sache mit Blinkie war nur eine kurze Ablenkung gewesen. Er hatte die Wahrheit gesagt: Es war nichts los, weder auf dem Spielplatz noch hier zu Hause.

Er seufzte noch einmal, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und fixierte die Zimmerdecke.

2

Nach der Begegnung mit Garvie drehten Singh und Jones weiter ihre Runden. Der Streifenwagen glitt leise unter den Lichtkegeln der Straßenlampen dahin, die Hügel von Brickfields und Limekilns hoch und wieder runter, durch die breiten Straßen der wohlhabenden Vororte im Norden und über die Umgehungsstraße wieder zurück. Die Stadt kam zur Ruhe, die Stunden vergingen langsam, elf Uhr, zwölf Uhr, ein Uhr, zwei Uhr, während sie den hell erleuchteten Fenstern folgten, die sich auf der Umgehungsstraße ausdünnten und sich rings um die Bürotürme im Geschäftsdistrikt zusammenballten. Schließlich ging ihre Schicht zu Ende, und sie fuhren zurück zur Polizeistation im Stadtzentrum.

Eine Stadt aus Licht und Dunkelheit, dachte Detective Inspector Raminder Singh und schaute aus dem Fenster, während er still und kerzengerade neben dem krumm hinter dem Steuer hockenden Jones saß. Seine Haltung und sein Auftreten waren wie üblich tadellos, von den Sohlen seiner Uniformstiefel bis zur Spitze des Polizeiturbans. Er war zweiunddreißig Jahre alt, ehrgeizig und steif. Eine bunt zusammengewürfelte Stadt, dachte er, eine sich ständig verändernde Stadt, wo Glück und Zufall einem Mann ein gutes Leben bescheren oder ihn ruinieren konnten.

Eine lange Schicht ging zu Ende. Jones grunzte und kratzte sich gereizt, während er langsamer fuhr und das Lenkrad einschlug, um auf den Parkplatz der Wache einzubiegen.

In dem Moment erwachte der Funk zum Leben.

Jones nahm den Ruf an und lauschte mit angewidertem Gesicht. Dann runzelte er die Stirn.

«Wo?», spuckte er bitter in das Mikro seines Headsets. «Himmel noch mal. Das kann doch die nächste Schicht übernehmen. Wir stehen sozusagen schon vor der Tür. Die Ablöse ist in wenigen Minuten da.»

Singh schaute Jones an, der ihn mit unverhohlen finsterer Miene musterte.

«Gerade ist eine Alarmanlage losgegangen», erklärte ihm Jones. «Im Gewerbegebiet von East Field. Wahrscheinlich der Wind. Ist ja ’ne stürmische Nacht.»

«Wir fahren hin», sagte Singh entschlossen. «McKendrick kann der Ablösung die Sache übergeben, wenn die Kollegen ankommen.»

Jones verzog das Gesicht, aber Singh starrte ihn nur schweigend an. Genervt riss Jones am Lenkrad und fuhr mit Karacho wieder auf die Straße. Auf dem Cornwallis Way gab er Gas und nahm die Umgehungsstraße Richtung Westen. Schweigend fuhren sie die Überführung über die Autobahn entlang und bogen dann nach Osten ab. Immer wieder wurde der Wagen von Windböen durchgerüttelt. Im Norden schob sich die gedrungene Dunkelheit von Brickfields an ihnen vorbei, dann die blassen, leeren Parkplätze der Einkaufszentren, schließlich das hellere Schimmern von The Wicker, der Vergnügungsmeile der Stadt. Vor ihnen lagen die Türme von Strawberry Hill im Schatten der jagenden Wolken und die dicht an dicht stehenden Häuser von Limekilns. Singh sah all das vorbeiziehen. Es kam ihm so vor, als ob die windgepeitschte Stadt sich unter den schwankenden Lichtern wölben würde wie in einer riesenhaften Schneekugel.

Als deutliches Zeichen seiner schlechten Laune schaltete Jones die Sirene ein.

«Das ist bestimmt bloß falscher Alarm», sagte er. «Das wissen Sie doch, oder?»

«Dann schauen wir uns die Sache an und kehren um.»

Er stellte das Funkgerät ein, und der Wagen wurde von statischem Knistern erfüllt.

An der Kläranlage bogen sie nach Süden ab, weg von der Stadt, hinein in die Dunkelheit des Brachlandes, und beschleunigten auf einer unbeleuchteten Landstraße in Richtung Gewerbegebiet. Aus dem Lautsprecher drang eine blecherne Stimme.

«He, Jungs. Der Bericht kam gerade rein.»

Singh griff nach dem Funkgerät. «Bitte versuchen Sie sich an die reguläre Funksprache zu halten, McKendrick.»

«Immer locker, Tango-Mann. Wollen Sie nun die Info oder nicht?»

Singh biss sich auf die Lippe. «Sprechen Sie, Zentrale.»

Am anderen Ende erklang ein Kichern. «Also schön. Ein Typ, der mit seinem Hund spazieren war, hat gerade angerufen. Er meinte, er hätte Schüsse gehört.»

«Wo?»

«Irgendwo in East Field. Vielleicht direkt im Gewerbegebiet. Aber Sie wissen ja, wie das mit den Notrufen ist. In der Nacht werden auch die vernünftigsten Leute paranoid. Die Chance, dass da was dran ist, ist gering bis nicht vorhanden. Ich sag’s euch bloß, ist ja schließlich mein Job. Okay, das war’s. Die Ablösung kommt. Viel Spaß auf eurem Ausflug. Tango, Tango.»

Sie erreichten das Ende der Straße, fuhren durch ein offenes Tor in der hohen Maschendrahtumzäunung auf das Gelände des Gewerbegebiets und rollten langsam über die holprige, unbeleuchtete Straße zwischen verfallenen Lagerhäusern und Containern. Jones schaltete die Sirene aus. Irgendwo vor ihnen quäkte eine Alarmanlage. Das Heulen wurde vom Wind verweht, wie ein Hilfeschrei in einer stürmischen See.

«Ich hab’s doch gesagt», brummte Jones.

Das Lagerhaus vor ihnen war dunkel und verlassen, als ob es seit Jahrhunderten nicht mehr betreten worden wäre. Von der Seite des Gebäudes hallte einsam der Alarm.

«Moment mal», sagte Singh und spähte durch das Fenster. «Da.» Er deutete in die andere Richtung, wo eine Zufahrtsstraße vor einem Gebäude mit Schließboxen mündete. Aus der weit offen stehenden Eingangstür strömte helles Licht in die Nacht.

Jones schürzte die Lippen, sagte aber nichts.

Singh legte die Hand auf den Türgriff. «Überprüfen Sie das Lagerhaus. Ich schaue mich hier mal um.»

Jones zögerte. «Sie haben doch gehört, was McKendrick gesagt hat. Sind Sie bewaffnet?»

«Ich trage nie eine Waffe.»

Jones zuckte mit den Schultern. Sie stiegen gemeinsam aus und gingen dann in entgegengesetzte Richtungen davon.

Wie die gesamte Umgebung war auch dieses Gebäude ein heruntergekommenes Relikt aus der frühen Steinzeit: zwei Stockwerke aus feuchten Backsteinen und Eisenträgern, einst eine Fabrik, dann ein Lagerhaus, jetzt ein Sammelsurium aus billigen Schließboxen. Das Erdgeschoss war in kleine Einheiten unterteilt, der erste Stock stand seit Jahren leer. Mörtel bröckelte aus den Wänden, und durch das Dach regnete es rein.

Singh warf einen Blick über die Schulter zu Jones, der auf der dunklen Seite des Lagerhauses an der Straße im Schatten verschwand. Niemand sah, wie Singh in eine vorschriftsmäßige Kauerstellung ging. Wie aus dem Lehrbuch – die Muskeln angespannt und alle Sinne hellwach – schob er sich seitwärts auf den Haupteingang des Gebäudes zu, wobei er den Kopf leicht schräg legte, wie ein Tier, das Witterung aufgenommen hatte. In der Lobby stand lediglich ein einsamer Empfangstisch, der offensichtlich als Abfalleimer diente. Von der Eingangshalle gingen drei Türen ab. Eine davon stand halb offen. Licht schimmerte hindurch, und Singh schlich geräuschlos zu der Wand neben der Türöffnung. Dort legte er wieder den Kopf schräg. Einen Moment lang hörte er nichts, dann ein schwaches, undefinierbares Geräusch, direkt von der anderen Seite der Tür. Das Scharren von Füßen? Zischende Worte? Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er spähte durch den Spalt zwischen Türblatt und Scharnieren, konnte jedoch nichts sehen. Er lehnte sich nach hinten, holte tief Luft und stürmte dann unvermittelt durch die Tür in einen quadratischen, hell erleuchteten Raum mit weiß getünchten Betonwänden. Er war leer, bis auf den Jungen. Er trug eine Schuluniform, lag auf dem Boden und starrte mit leerem Blick an die Decke. Er hatte immer noch seine Brille auf. Neben ihm lag seine Schultasche, daneben ein leerer Geigenkasten und daneben eine Pistole. Die sich ausbreitende Blutlache unter dem Jungen hatte mittlerweile die Tasche und den Kasten erreicht, nicht aber die Pistole.

Singh eilte zu ihm und sprach dabei in sein Funkgerät.

Der Junge bewegte die Lippen, blinzelte einmal und hörte auf zu atmen.

«Nein», sagte Singh. Er legte seine Finger auf die Brust des Jungen, wo dessen Hemd völlig durchgeweicht war, und fühlte die glitschigen Schusswunden. Er schaute sich um, während er immer noch in das Funkgerät sprach und Anweisungen und Wegbeschreibungen durchgab. Auf der anderen Seite des Raums führte ein kurzer Gang zu den Schließboxen, und dahinter befand sich eine offene Tür. Von oben kam ein Geräusch, als ob etwas umgefallen wäre, ein Klappern, das sogleich verstummte. Nur der Wind, würde Jones vermutlich sagen.

Mit hämmernden Stiefelabsätzen kam Jones hereingerannt und fluchte.

«Drücken Sie die Wunde ab», sagte Singh.

Käsebleich starrte Jones ihn an. «Es ist zu spät.»

«Machen Sie’s trotzdem. Und helfen Sie den Sanitätern, wenn sie eintreffen.»

Während sich Jones unschlüssig über den Jungen beugte, rannte Singh durch den Gang und die Tür am anderen Ende bis zum Fuß einer Metalltreppe, wo kein Licht mehr brannte. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er ins obere Stockwerk, das aus einem einzigen, riesigen Raum bestand. Im Dämmerlicht sah Singh die niedrige Decke, die auf Eisenträgern lag. Offensichtlich hatte man auch hier angefangen, den Raum in kleine Kammern zu unterteilen, denn an einigen Stellen zogen sich unvollständige Mauern aus Leichtbetonsteinen in die Höhe. Dazwischen türmten sich Haufen mit Baumaterial und Schutt. Über allem lag ein scharfer Geruch nach nassem Putz und Rost. Ein schwacher Schein von der Treppe aus war die einzige Lichtquelle. Alles war still. Nichts rührte sich, als Singh den Strahl seiner Taschenlampe über rissigen Beton und glänzende Regenpfützen gleiten ließ.

Er wartete.

Nichts. Kein Laut. Keine Bewegung.

In gebückter Haltung suchte er leise das Stockwerk ab, wobei er immer wieder den Kopf schräg legte. Jeden Schutthaufen nahm er unter die Lupe, bis er eine Ecke des Gebäudes erreicht hatte, wo er sich postierte und von dort aus das Innenleben des alten Lagerhauses langsam und gründlich beleuchtete. Plötzlich sprang eine Gestalt hoch, die sich hinter einem Stapel mit Dachziegeln geduckt hatte, und stürzte sich auf ihn. Singh fiel zur Seite, und seine Taschenlampe landete klappernd auf dem Boden. Dann war er wieder auf den Beinen und rannte dem Flüchtenden nach, duckte sich unter Eisenträgern und umrundete Säcke mit Mörtel und aufgestapelte Betonsteine, die unvermittelt in der Dunkelheit vor ihm auftauchten. Er hetzte eine bullige Gestalt mit hochgezogener Kapuze durch Licht-und-Schatten-Flecken. An einem Stützbalken bog der Mann ab, verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und fiel hin, Singh auf ihn drauf. Doch sein Griff ging ins Leere. Beide rappelten sich hoch und rannten in die entgegengesetzte Richtung. Der Mann vor ihm keuchte und stöhnte, während Singh ihn stumm und mit pumpenden Ellbogen verfolgte. An einem Haufen mit Planen holte er ihn ein und bekam einen Faustschlag ins Gesicht. Nach einem kurzen Handgemenge traten beide Männer zurück und standen in einem staubbefleckten Streifen Mondlicht keuchend und schwankend voreinander.

Sein Gegenüber war einen Kopf größer als Singh und auch breiter gebaut. In seiner Hand glitzerte es metallisch. Er schwang den Arm in einem breiten Bogen, und Singh machte einen Satz rückwärts. Eine Erinnerung stieg in ihm auf, eine Lektion, die er nicht auf der Polizeischule gelernt hatte, sondern aus dem Viraha Yudhan, aus dem Martial Arts-Kurs in Lucknow, als er noch ein Junge war. Es war eine Vision von unerwarteter Klarheit: Er konnte den orangefarbenen Staub auf dem Boden sehen, den makellos blauen Himmel. Etwas in ihm löste sich, er entspannte seinen Körper, und als der Mann sich aufrichtete und vorpreschte, trat Singh mit federleichten Schritten zur Seite und stieß ihm zweimal die Fingerspitzen in die Achselhöhle. Dann riss er den Kopf des Mannes an dessen Kapuze herum und rammte ihm den Ellbogen seitlich in den Hals.

Der Mann kippte um und blieb reglos liegen.

Singh schloss kurz die Augen, sah wieder den orangefarbenen Staub, den blauen Himmel, hörte die Stille seines Lehrers. Seine Lippen bewegten sich, er murmelte den vorgeschriebenen Satz – Waheguru ji ki fateh, der Sieg gebührt Gott – und drehte sich dann schnell zur Treppe um, als er draußen den Krankenwagen vorfahren hörte: noch rechtzeitig für den Mann vor seinen Füßen, aber zu spät für den Jungen in dem leeren, weißen Raum.

3

Es war die Nachricht des Tages: der Mord an einem sechzehnjährigen Schüler, der in East Field erschossen worden war. In allen Morgensendungen wurde darüber berichtet. Aus ermittlungstechnischen Gründen wurde die Identität des Opfers vorläufig noch nicht preisgegeben. Ein Mann namens Martin Magee war in Polizeigewahrsam genommen worden, weil er von Streifenbeamten am Tatort angetroffen worden war. Der Polizeichef – ein Mann, für den Effizienz bei der Arbeit das oberste Gebot war – stellte sich mit unbewegter Miene unter seinem mit Goldlitze großzügig verzierten Hut den Kameras und drückte seine Abscheu über die Tat aus. Detective Inspector Dowell, der die Ermittlungen leitete, rühmte die Gewissenhaftigkeit der beiden Beamten, die für die Festnahme verantwortlich waren, und sicherte der Öffentlichkeit zu, dass der Gerechtigkeit innerhalb kürzester Zeit Genüge getan werde. Obwohl noch keine offizielle Anklage erhoben worden war, hatte man am Tatort eine Waffe gefunden, und laut Dowell gab es einen Zeugen, der gesehen hatte, wie der Verdächtige den Jungen in das Lagerhaus gezerrt hatte, kurz bevor die Polizei eintraf. Zu den Gründen, warum sich der Junge auf dem Gelände aufgehalten hatte, wollte Dowell keine Angaben machen, ebenso wenig wie zu den Gerüchten, dass er die Uniform der Marsh Academy von Five Mile getragen und seine Schultasche sowie einen Geigenkasten bei sich gehabt hatte. Die Gerüchte verbreiteten sich dennoch wie ein Lauffeuer und sorgten dafür, dass der Unmut in der Bevölkerung wuchs, ebenso wie die Verwirrung darüber, was ein Junge in einer Schuluniform und mit seiner Schultasche in einem baufälligen Gebäude auf einem verlassenen Gelände zu suchen gehabt hatte, noch dazu um zwei Uhr morgens.

Und da es bereits der zweite Mord an einem Jugendlichen in Five Mile innerhalb von zwei Monaten war – tatsächlich der zweite Mord an einem Schüler der Marsh Academy –, war das Medieninteresse riesengroß. Viele Reporter stellten die Frage, wie es sein konnte, dass ein solch schreckliches Verbrechen nicht nur einmal, sondern gleich zweimal an ein und demselben Ort geschehen konnte, ob die Gewalt hier bereits ganz selbstverständlich zum Alltag gehörte und ob die Sicherheitsbehörden nicht in der Lage waren, etwas Derartiges zu verhindern.

Den ganzen Tag berichtete die Presse hauptsächlich über diese Geschichte. Andere Nachrichten, wie ein Raubüberfall auf ein Ladengeschäft in Strawberry Hill, eine mittelschwere Massenkarambolage auf der Umgehungsstraße, ein Einbruch in Jamals Laden in Five Mile und eine vermutete Brandstiftung in einem Haus in Tick Hill, kamen kaum zur Sprache.

Auf der Polizeistation Cornwallis Way saß Singh vor dem Verhörzimmer 3 und wartete, bis Inspector Dowell ihn rufen ließ, um ihm seine Rolle in der weiteren Ermittlung zu erklären. Wie üblich – und wie er es bevorzugte – trug er seine Uniform, die völlig faltenfrei war und tadellos saß, inklusive seiner Rangabzeichen als Detective Inspector, wobei er im Augenblick infolge eines Disziplinarverfahrens, das gegen ihn eingeleitet worden war, nicht als Detective Inspector Dienst tat. Im Augenblick fuhr er wieder Streife. Bei dem Gedanken setzte er sich noch ein bisschen gerader hin und wandte sich wieder der Akte mit der Aufschrift Mordermittlung: Verschlusssache auf seinem Schoß zu. Obenauf lag das offizielle Schulfoto eines Elftklässlers in der Schuluniform der Marsh Academy: Die hellbraunen Haare waren flach an den Schädel gebürstet und wirkten feucht. Die Brille mit schwarzem Rahmen und dicken Gläsern ließ seine Pupillen so groß wie Tischtennisbälle erscheinen. Die Schuluniform war sauber und ordentlich, wirkte aber abgetragen und an einigen Stellen ein bisschen zu eng. Er machte einen ungerührten Eindruck, der Mund war entschlossen, die Augen blickten ernst. Es war irgendwie verstörend, dass er nicht lächelte. Er sah nicht aus, als ob er sich das Lächeln freiwillig verkniffen hätte, sondern als ob Lächeln etwas war, wovon er keine Ahnung hatte.

Singh starrte das Foto an. Unten am Rand des Bildes waren die Hände des Jungen zu sehen. Sie waren zu Fäusten geballt und umklammerten den Hals einer Geige.

Er schloss die Akte und saß weiterhin kerzengerade da. Er dachte nach. Der Name des Jungen, der noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt war, lautete Pyotor Gimpel. Die Schule hatte der Polizei eine Kopie der Förderplanbestätigung ausgehändigt, die das Schulamt wegen Pyotors Autismus ausgestellt hatte. Die restliche Schulakte war wenig informativ. Pyotor war ein Ass in Musik und Mathematik gewesen, in anderen Fächern dagegen lediglich durchschnittlich begabt, wenn überhaupt. Sein Benehmen war tadellos, seine Sozialkontakte dagegen gleich null. Es hatte keine Verbindung zwischen ihm und Martin Magee gegeben, nicht der geringste Hinweis darauf, dass sie sich überhaupt gekannt hatten.

Während er auf dem Plastikstuhl in dem gleißend hell ausgeleuchteten Gang saß und auf Dowell wartete, dachte Singh über all diese Dinge nach. Aber womit sich seine Gedanken am meisten beschäftigten, war das Foto – der leere Ausdruck auf Pyotors Gesicht. Er bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf. Es war genau der gleiche Ausdruck wie letzte Nacht in dem weiß getünchten Raum, als der Junge sterbend zu seinen Füßen gelegen hatte.

4

Jamals Lebensmittelladen lag in einer langen Reihe von Geschäften in der Bulwarks Lane, einer schäbigen, belebten Straße, die sich östlich durch Five Mile zog, vom Rand des Marschlands, wo die Schule lag, bis fast zur Autofabrik an der Umgehungsstraße. Wie alles in Five Mile erfüllte sie ihren Zweck, nicht mehr, nicht weniger. An der Ladenzeile gab es drei Bushaltestellen, einen Zebrastreifen und einen Taxistand. Außerdem Müll, aufgeplatzten Asphalt, einen intensiven Geruch nach Abgasen und Frittierfett und natürlich die Läden, die unter den schmutzigen Fenstern der Wohnungen im ersten Stock kauerten: ein Mini-Markt, ein Zeitungsgeschäft, eine Wäscherei, ein Friseur, Bäcker, Kebab- und Burger-Läden und – um die Ecke – O’Malley’s Bar. Schnörkellos, funktional, pragmatisch.

Eins der Schaufenster bei Jamal war mit einer Spanholzplatte vernagelt, das andere mit glänzendem Blech verkleidet. In der Tür befand sich ein langer Riss, der mit Metallklammern zusammengehalten wurde. Garvie betrachtete sich die Sache mit gleichgültiger Miene und trat dann ein.

«Der dritte Einbruch diesen Monat», sagte Khalid. «Wie bei ’ner Vendetta, wenn du weißt, was ich meine.» Er warf Garvie einen säuerlichen Blick zu. «Abbu geht immer noch auf Krücken, und jetzt der ganze Ärger. Ich frag mich wirklich langsam, wozu der Scheiß?»

Garvie sagte nichts. Er wartete, bis Khalid die Blättchen aus dem Regal hinter dem Tresen geholt hatte. Seit sich sein Vater das Bein gebrochen hatte, schmiss Khalid den Laden, und man sah ihm den Stress an. Er war neunzehn, hatte ein schmales Gesicht, eine krumme Nase und dunkle Schatten unter den Augen. Garvie war aufgefallen, dass seine linke Hand in letzter Zeit nervös zitterte.

Im Laden war es noch unordentlicher als sonst. In den Ständern an der Kasse lagen die Süßigkeiten – Kaugummi, Schokoriegel, Minzbonbons in gelbgrünem Papier – kunterbunt durcheinander und quollen über den Rand der Gitterkörbe. Garvie pfiff leise vor sich hin. Er las die Schlagzeilen in der Samstagabendzeitung: ANGST IN FIVE MILE. SCHÜLER ERSCHOSSEN. MORD-AKADEMIE.

«Schlimme Sache, mit dem Gimpel», sagte er.

Khalid zuckte mit den Schultern. «Hab ihn nicht gekannt.»

«Der zweite Mord in zwei Monaten, Mann. Echt schlimm.»

Khalid zuckte wieder mit den Achseln, als wollte er sagen, dass er eigene Probleme hätte, und reichte Garvie die Blättchen. Garvie zückte seine Brieftasche.

Khalid schnaubte. «Das ist alles? Kein Tabak?»

«Danke, ich hab alles, was ich brauche.»

«Tja, zufällig weiß ich, dass du was anderes rauchst als Tabak.»

Garvie legte einen Schein auf den Tisch, und Khalid warf ihm das Wechselgeld auf den Tresen. Sein Handy klingelte, und er betrachtete es stirnrunzelnd. Dann ging er ans andere Ende des Ladens und verschwand durch eine Tür, an der Werbeplakate für Eiscreme und Haarspray hingen. «Nee», sagte er. «Ich brauch welche, und zwar richtig große. Also Mega-Schlösser, klar? Hast du Mega-Schlösser? … Warum? Warum? Weil, na also weil Mega-Einbrecher mir die Türen eintreten, darum.»

Garvie drehte sich zu Sajid um, Khalids jüngerem Bruder. Er war dreizehn und saß in seinen Basketballklamotten am Ende des Tresens, mit Jamals Laptop auf dem Schoß. Weißes T-Shirt, dunkelblaue Shorts, die Farben des Marsh-Academy-Teams. Sajid war Aufbauspieler und nahm die Sache sehr ernst: jeden Samstagvormittag ein Spiel und zweimal pro Woche Training. Bedauerlicherweise war er nicht sehr groß. Allein am Tresen, den Blick auf den Monitor gerichtet, wirkte er jünger, als er war. Verletzlich. Wenn es stimmte, was man so hörte, dann machte sein Bruder ihm das Leben ziemlich schwer.

«Zwanzig Pence», sagte Garvie und hielt die Blättchen hoch.

«Und weiter?»

«Mit einer Gewinnspanne von … sagen wir: zwölf Prozent.»

Sajid zuckte mit den Schultern.

«Rechne doch mal nach. Der Einkaufspreis ist etwa 88% des Verkaufspreises, der Gewinn 2,4 Pence pro Päckchen. Aus einer Kiste mit zweihundertzwanzig Päckchen lässt sich also ein Gewinn von fünf Pfund und achtundzwanzig Pence machen. Um eine Kiste zu verkaufen, braucht man ungefähr einen Monat. Das macht siebzehn Pence am Tag. Tja, dein Bruder hat recht.»

«Womit?»

«Blättchen sind ein schlechtes Geschäft. Also, was soll der Scheiß? Warum nicht den Laden dichtmachen und stattdessen in einer Boyband die große Kohle scheffeln?»

Sajid schnalzte mit der Zunge. Konzentrierte sich auf den Bildschirm.

Sie hörten, wie Khalid zurück in den Laden kam. Er redete immer noch in sein Handy, während er gleichzeitig Regale in einem der Gänge einräumte. «Ich habe keine Ahnung, wovon du redest», hörten sie ihn sagen. Und dann: «Einen Riesen!»

Im Plauderton fuhr Garvie fort: «Ich sag dir, warum, Sajid. Schau dir den Rest des Zeugs hier im Laden an: hochpreisiger Schnaps und Zigaretten, Softdrinks mit hoher Umschlagsrate, dann das ganze Knabberzeug. Wenn man die langen Ladenöffnungszeiten mit einrechnet und die Anzahl der Kunden – was schätzt du?»

Sajid ignorierte ihn.

Irgendwo hinten im Laden zischte Khalid: «Was? Der macht wohl Witze, stimmt’s?»

Garvie sagte: «Der Laden hat fünfzehn Stunden täglich geöffnet, sieben Tage pro Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Alle fünf Minuten wird ein Verkauf getätigt, im Durchschnitt werden jedes Mal drei Produkte verkauft zu einem Gesamtpreis von etwa drei Pfund. Die Gewinnspanne bleibt gleich. Das ergibt einen Profit von etwa siebzigtausend Pfund. Siebzigtausendsiebenhunderteinundsechzig Pfund und sechzig Pence, wenn du es genau wissen willst. Tja, die Boyband wird wohl warten müssen.»

Sajid ignorierte ihn immer noch. Als er sich vorbeugte und angestrengt auf den Bildschirm spähte, verrutschte der Ausschnitt seines T-Shirts und entblößte zwei langgezogene blaue Flecken an den Seiten seines Halsansatzes. Instinktiv zog er das T-Shirt nach oben und schaute zu Garvie, der ihn immer noch beobachtete.

Garvie nickte in Richtung Laptop. «Ring of Valor?»

Sajid nickte.

«World of Warcraft ist immer noch unschlagbar. Die alten Spiele sind doch die besten.»

Sajid zuckte die Schultern.

«Magst du den Kampf in der Arena?»

«Ja.»

«Mit wem spielst du?»

Sajid schaute sich nervös um und warf einen Blick den Gang entlang. «Eigentlich mit niemandem», sagte er, als Khalid auf sie zukam, das Handy immer noch am Ohr.

«Nee, Mann, das muss ein Missverständnis sein. Ich sag dir doch, ich habe keine Nachricht gekriegt. Hör zu. Hör mir zu! Ich mach keine Witze oder so, aber du musst mit ihm reden. Ein für alle Mal: Daraus wird nichts, klar?» Er stapfte durch den Gang zum Tresen, wo Garvie stand. «Du bist ja immer noch hier. Was willst du – mir den Laden ausplündern?»

Garvie steckte die Blättchen ein. «Bloß abhängen.»

«Warum denken die Leute, sie könnten einfach hier reinkommen und rumlungern, ohne was zu kaufen?»

Er fauchte Sajid in Urdu an, und der Junge rückte ohne zu murren vom Laptop ab und verschwand im Hinterzimmer. Khalid schrie ihm nach: «Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du deine Zeit nicht mit diesem Mist verschwenden sollst?»

Und zu Garvie gewandt: «Das dritte Mal in einem Monat», sagte er. «Aber weißt du, mach dir keine Gedanken um mich. Ich hab Schutz.»

«Ach, echt?»

«Ja. Na ja, demnächst. Ich stell ihn dir vor, wenn er da ist. Er heißt Dschingis. Kapiert? Mit ’ner Eisenkette und so.»

«Aha.»

«Dann werden wir ja sehen.»

«Okay. Kein Grund, sich so aufzuregen.»

«Kein Grund …? Diese ganzen Einbrecher! Diese ganzen Banditen!», schrie er Garvie nach, der schon draußen stand und die Tür hinter sich zuzog. «Diese ganzen Loser, die hier reinkommen und nichts kaufen und mir die Regale leer räumen!»

Die kaputte Tür klappte zu. Wieder klingelte Khalids Handy, und er rannte zum Hinterzimmer, während er in sein Telefon schrie: «Nee, Mann! Ich hab’s dir schon gesagt. Rein und raus, in maximal drei Tagen!»

5

Garvie schlenderte die Bulwarks Lane entlang, am Pollard Way vorbei, bog in die Old Ditch Road ein und steuerte auf den Spielplatz zu. Kirschblüten, die der Wind von den Bäumen gerissen hatte, lagen wie pastellfarbene Fischschuppen im Rinnstein. Es hatte geregnet und würde später wieder regnen, aber im Augenblick war der Himmel klar. Das Tageslicht verabschiedete sich mit einem hässlichen, pinkfarbenen Glühen, während Garvie durch das Parktor trat und über das feuchte Gras lief.

Wie üblich waren die anderen schon da.

«Was hast du heute für uns, Großer?»

Garvie holte die Blättchen aus der Tasche, zum Preis von zwanzig Pence.

«Ist das alles?»

Er holte außerdem ein kleines Päckchen hervor, eingewickelt in Alufolie.

Smudge grinste. «Ich wusste doch, dass man sich auf dich verlassen kann.»

Die Sonne ging unter, der Himmel leuchtete auf und wurde dann dunkel, und sie saßen auf den kleinen Karussells und den winzigen Schaukeln, ließen die Tüte herumgehen und redeten – natürlich – über den Mord, besonders über Pyotor Gimpel, dessen Name zwar von der Polizei immer noch unter Verschluss gehalten wurde, der aber dennoch bereits überall in Five Mile die Runde gemacht hatte.

«Ich kapier’s nicht», sagte Smudge. «Erst Chloe, jetzt der Gimpel. Was is ’n hier los? Als ob Five Mile ganz plötzlich die Verbrecherhauptstadt Nummer eins geworden wäre. Siehst du die ganzen Polizeitransporter unten am Taxistand? Scheinbar haben die alle Cops im Land hier zusammengezogen.»

Die Polizeipräsenz im Viertel war in der Tat nicht zu übersehen. An jeder Straßenecke parkten Streifen- oder Mannschaftswagen. Der Mord an Schulkindern kam selten vor. Der Mord an einem Schüler wie Pyotor Gimpel war abartig. Five Mile stand unter Schock.

«Ausgerechnet der Gimpel!», sagte Smudge. «Also ehrlich: Warum sollte irgendjemand den Gimpel erschießen wollen, Sherlock?»

«Warum sollte irgendjemand ihn nicht erschießen wollen?»

«Was meinst du damit?»

«Na ja, was weißt du denn über ihn?»

Smudge dachte nach. «Gar nichts weiß ich über ihn. Außer dass er komisch war.»

Felix bedachte ihn mit einem leidenden Blick aus seinem hageren Gesicht. «ADS, Smudge. Er konnte nichts dafür.»

«Sag ich doch auch nicht. Er war nicht absichtlich komisch. Einfach nur ein Spinner. Mit ’nem offiziellen Stempel.» Mit einiger Mühe gab er seinem Kartoffelgesicht den Ausdruck von Sachverstand.

Felix schüttelte traurig den Kopf. «Es gibt jede Menge Spinner, Smudge, und einige von denen wissen nicht mal, dass sie spinnen.»

«Da hast du recht», sagte Smudge, und seine Miene entspannte sich, bis er fast wieder normal aussah. «Garv zum Beispiel. Klar, schon gut, ich hab’s kapiert. Aber jetzt mal ehrlich, was wissen wir über den Gimpel? Raus damit.»

Garv saß auf einem kleinen Schaukelpferd, rauchte und ignorierte die anderen, die Informationen über den Gimpel in die Runde warfen wie Zigaretten und Wodka – Gerüchte und Behauptungen, die sie irgendwo aufgeschnappt hatten. Niemand hatte ihn persönlich gekannt; so ein Typ war er nicht gewesen. Obwohl er irgendwie zu ihnen gehört hatte, Teil der alltäglichen Szenerie gewesen war, war er ein Einzelgänger geblieben. Sie waren an seinen Anblick gewöhnt gewesen, hatten aber so gut wie nichts über ihn gewusst.

«Er hat Geige gespielt», sagte Smudge. «Ziemlich schräg, was? Ich meine, wer spielt heutzutage schon Geige, außer irgendwelchen Leuten im Museum?»

Das war einer der offensichtlichen Beweise für Pyotor Gimpels Andersartigkeit. Ein weiterer war seine beunruhigende Akkuratesse. Er hatte die Schuluniform aus freien Stücken getragen, das Hemd immer im Hosenbund, die Haare immer eng an den Kopf gekämmt, immer mit Schlips, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Er hatte ausgesehen wie ein Junge auf einer alten Fotografie. Er war klein gewesen für sein Alter, aber seine Sachen waren trotzdem immer ein bisschen zu eng gewesen, als ob er aus ihnen herausgewachsen wäre. Morgens, wenn er in die Schule kam, und mittags in der Pause saß er immer allein auf einer Bank beim unteren Tor, immer an derselben Stelle, mit dem Geigenkasten auf dem Schoß. Er saß einfach nur da, untätig und irgendwie wachsam, als ob er auf den Bus wartete. Tiger hatte gesehen, wie er mit seinem Handy irgendwelche Fotos machte, was Smudge bestätigte. Er sagte nicht viel, und wenn, dann mit leiser Stimme und einem schleppenden polnischen Akzent. Im Allgemeinen blieb er still und ruhig. Felix hatte ihn hin und wieder beobachtet, wie er mit zierlichen Bewegungen einen Apfel aus einer braunen Papiertüte aß. Niemand hatte ihn je mit einem Freund gesehen.

«Das Ding ist», sagte Smudge, «er war die ganze Zeit in seiner eigenen Welt. Er hat sich nicht entwickelt, so wie wir. Das typische Opfer, das war er. Irgendjemand hat das ausgenutzt. Was meinst du, Garv?»

Garvie sagte nichts. Er rauchte.

«Na ja, wie auch immer», fuhr Smudge fort. «Die Frage ist doch: Was ist passiert?»

Die anderen diskutierten angeregt weiter, während Garvie schweigend rauchte. Im Internet tummelten sich schon etliche Theorien, und einige davon waren gar nicht so dumm. Möglicherweise war es nur eine einfache Verwechslung. Oder ein fremdenfeindlicher Übergriff. Vielleicht hatte der Gimpel etwas gesehen, was er nicht hätte sehen sollen, und musste zum Schweigen gebracht werden. Es war gut möglich, dass er in etwas verwickelt worden war, das er nicht verstand. Aber was hatte er überhaupt mit Magee in dem Lagerhaus gemacht? Vielleicht war er gekidnappt oder durch einen Trick dorthin gelockt worden, vielleicht mit falschen Versprechungen. Vielleicht hatte jemand einen Vorteil aus seiner Einfältigkeit gezogen, wie Smudge gesagt hatte. Aber es war und blieb bizarr, dass ein Schuljunge wie der Gimpel sich gleichzeitig mit einem Typ wie Magee an einem derartigen Ort aufgehalten hatte, gekleidet wie für die Schule. Und daher gab es zum jetzigen Zeitpunkt auch nur bizarre Erklärungsversuche. Einer davon war, dass er sich mit Magee ein Duell geliefert hatte. Die Waffe war in seinem Geigenkasten versteckt gewesen. Smudge, eine unerschöpfliche Quelle bizarrer Ideen, hielt es für möglich, dass der Gimpel zum Lagerhaus geschlafwandelt war. Er hatte von einem Mann gehört, der im Schlaf zu seinem Auto gegangen und dann fünfzig Meilen zu einer billigen Absteige gefahren war, wo er sich mit einer Frau traf, die er nie zuvor gesehen hatte.

«Das hat er seiner Frau erzählt. Er war total geschockt, als er aufwachte und plötzlich in diesem Hotel war. Stellt euch vor, wie geschockt der Gimpel gewesen sein musste, als er in dem Lagerhaus aufgewacht ist, besonders als Magee ihn dann erschossen hat. Was meinst du, Garv?»

Garvie hatte seit zwanzig Minuten nichts mehr gesagt. Er saß auf seinem Schaukelpferdchen, rauchte und blickte über den Rasen auf die Lichter der Stadt. Die anderen musterten ihn neugierig.

«Nicht interessiert?», fragte Smudge. «Ist dir die Sache total schnuppe?»

Garvie stieß den Rauch aus, ließ die Zigarette fallen und zertrat sie mit dem Absatz.

«Ich bin durchaus interessiert.»

Smudge grinste. «Ich wette, wegen der Sache mit dem Schlafwandeln.»

Garvie achtete nicht auf ihn. Er schüttelte eine weitere Benson & Hedges aus dem Päckchen und tippte mit der Zigarettenspitze nachdenklich auf sein Knie. Dann warf er sie mit einer abrupten Bewegung in seinen Mundwinkel, zündete sie an und blies einen langen, blauen Rauchfaden aus.

«Wiederhol noch mal, was du über ihn gesagt hast. Was für ein Typ er war.»

«Das geborene Opfer.»

«Ein Kontrollfreak, hast du behauptet. Ein Außenseiter, ein einsamer Wolf, auch zu Hause in der Wohnung bei seinen polnischen Großeltern, irgendwo in Strawberry Hill. Er war gut im Aufstellen von Listen, mies im Umgang mit Leuten. Ein Planer. Mit einem Hang zur Gewalt.» Er paffte kleine Rauchwölkchen. «Hört sich für mich nicht wie das geborene Opfer an.»

Die anderen wechselten einen Blick. «So was haben wir doch gar nicht gesagt.»

«Klar doch. Ihr habt gesagt, dass er immer auf einer Bank beim unteren Tor saß, in Richtung Strawberry Hill, wo die polnischen Läden sind. Wo sonst sollte er wohl wohnen? Und wer, meint ihr, hat ihn so angezogen und ihm jeden Tag einen Apfel in einer braunen Papiertüte mitgegeben? Niemand, der jünger ist als sechzig. Und was ist mit seinem polnischen Akzent? Er wohnte fast sein ganzes Leben hier, also hat er wohl zu Hause kein Englisch gesprochen. Der Rest versteht sich von selbst: ordentlich gekämmte Haare, Hemd in der Hose, Krawatte – ein besessener Kontrollfreak. Saß immer an derselben Stelle. Hatte einen Plan, an den er sich unter allen Umständen hielt. Hat Fotos von Leuten geschossen, aber nie mit ihnen geredet. Er konnte nicht mit Menschen. Was hat dieser ordnungsbesessene Typ dann mit den ganzen Fotos gemacht? Er hat sie sortiert, katalogisiert, Listen angelegt. Das alles habt ihr gesagt. Und genauso war er.»

Smudge kratzte sich am Kopf. «Na gut, okay. Aber … ein Hang zur Gewalt? Ich meine, wir reden hier vom Gimpel, Garv. Du hast doch selbst gesagt, dass er sich kaum getraut hat, mit irgendjemandem zu reden.»

«Hast du jemals jemand anderen auf dieser Bank sitzen sehen? Hast du jemals erlebt, wie jemand versucht hat, ihm seine Geige wegzunehmen?»

Smudge musste zugeben, dass dies nicht der Fall war. Es war eine allgemein gültige Tatsache, die keiner Erklärung bedurfte, dass der Gimpel unter keinen Umständen ohne seine Geige sein konnte. Er nahm sie sogar mit auf die Toilette. Smudge kratzte sich wieder am Kopf. «Tja … und was willst du uns damit sagen?»

Garvie hievte sich von dem Schaukelpferd und steckte das Zigarettenpäckchen in die Jackentasche. Er schlenderte bis zum Rand der Schatten und blieb dann stehen. «Ich will damit sagen, dass ihr euch nicht fragen solltet, wie er dorthin gelockt wurde. Fragt euch nicht, ob man ihn irgendwie reingelegt hat.»

«Sondern?»

Garvie lächelte. «Sondern wo er seine Pistole herhatte.»

Stille breitete sich aus. Und als Smudge endlich wieder die Zähne auseinanderbekam und etwas sagen wollte, hatte Garvie sich schon umgedreht und ging über den Rasen zum Parktor.

6

Am Montagmorgen fand in der Aula der Marsh Academy eine Versammlung statt. Sie begann erst um halb zehn, weil Lehrer und Schüler erst die neuen Sicherheitsvorkehrungen passieren und sich einen Weg durch die Polizistengruppen bahnen mussten, die an den Toren zum Schulgelände und an jedem Gebäudeeingang postiert waren. Sogar die Bühne stand unter Polizeischutz. Starr und steif standen sie seitlich von den Lehrern, vor der Leinwand, auf der das stark vergrößerte Foto eines ernst blickenden Jungen mit nass wirkenden Haaren zu sehen war, der den Hals seiner Geige umklammerte. Mr. Winthrop, der Schulleiter, richtete das Wort an die elften Klassen und sprach über Pyotor Gimpel, der laut Mr. Winthrop ein eifriger Schüler war, ein pflichtbewusster Sohn und Enkel und ein geschätztes Mitglied der Marsh-Academy-Schulgemeinde.

«Er vertraute darauf, wie wir alle es tun, dass ihm das Leben zumindest Gerechtigkeit widerfahren lassen würde. Aber», so sagte Mr. Winthrop sichtlich bewegt, «dieses Vertrauen wurde enttäuscht.»

In der Aula herrschte Schweigen unter den Lehrern und den Polizisten auf der Bühne und den Schülern im Zuschauerraum. Und zufällig herrschte auch Schweigen zwischen drei Jungen, die zu diesem Zeitpunkt gar nicht in der Aula waren, nicht einmal in der Schule, sondern die über eine Landstraße gingen und gerade an der Kläranlage vorbeikamen. Smudge, Felix und Garvie Smith traten durch das Tor in dem hohen Maschendrahtzaun, der das East-Field-Gewerbegebiet einfriedete und bis zur Zufahrtsstraße reichte. Dort blieben sie stehen und schauten sich verblüfft um.

Nicht nur die Lagerhalle mit den Schließboxen, sondern auch das Außengelände in einem Radius von fünfzig Metern, in dem sich nur aufgerissener Asphalt und Schutt befand, war mit einer blitzblanken, blendend weißen und drei Meter hohen Plastikplane eingefasst, als ob das ganze Gebiet eingepackt und an ein Labor oder eine Kunstgalerie geschickt werden sollte. Männer in Overalls, Atemschutzmasken, Stiefelschützern und Plastikhandschuhen gingen ein und aus, schleppten Gegenstände und wirkten äußerst geschäftig.

«Das ist ja der Hammer», sagte Smudge, «ich meine, ahnt mal, wie weiß alles ist. So was sieht man sonst ja nur an Weihnachten.»

Auf dem Seitenstreifen stand eine Gruppe Reporter und Fotografen, die Kaffee tranken, und Uniformierte liefen mit Polizeihunden, die überall herumschnüffelten, die Straße ab. Garvie machte einen großen Bogen um sie. Er mochte Hunde nicht sonderlich, und schon gar keine Polizeihunde. Noch dazu, wenn sie so groß waren.

«Du musst dir keinen Kopf darüber machen, dass die beißen», sagte Felix, «sondern eher, dass die bellen. Davon kannst du einen Herzschlag kriegen.»

Sie gingen an den Streifenwagen vorbei, die überall herumstanden, einige noch mit blinkendem Blaulicht.

«Meinst du, dein Onkel ist auch da, Garv?», fragte Felix.

Garvie schüttelte den Kopf. «Der ist schon wieder weg. Die Forensiker kommen als Erste. Gestern Morgen war er hier, schätze ich. Jetzt sind es nur noch die Leute von der Spurensicherung. Und die Ermittler.»

Felix sagte: «Wie dieser Singh, der dich beim letzten Mal hochgenommen hat?»

Garvie seufzte. «Ich hab’s euch doch schon gesagt, das war bloß ein Missverständnis.»

Sie gingen an den leeren Streifenwagen vorbei bis zu zwei Zivilfahrzeugen – einem brandneuen Humvee und einem nichtssagenden Ford. In dem Humvee saßen zwei Polizisten, die sich umdrehten und die Jungen musterten.

«Gehen wir woanders spielen», sagte Felix schnell.

Das Seitenfenster fuhr herunter, und ein Gesicht tauchte auf.

«Hi», sagte Garvie und schlenderte zu dem Wagen. «Haben Sie schon rausgefunden, woher der Junge die Pistole hatte?»

Detective Inspector Dowell sammelte seine Gesichtszüge ein. «Ich gebe dir drei Sekunden, um dich vom Wagen zu entfernen, Freundchen. Und genau eine Minute, um ganz von hier zu verschwinden.» Sein schottischer Zungenschlag war so hart wie ein Autoreifen.

Garvie ignorierte ihn und blickte an Dowell vorbei zu dem anderen Mann, der – wie immer in frisch gebügelter Uniform – auf dem Beifahrersitz saß und seinen verbundenen Arm hielt.

«Inspector Singh. Schön, Sie zu sehen.»

Singh schaute ihn nur wortlos an.

«Viel Glück übrigens», sagte Garvie. «Sie können es brauchen.» Er machte eine kurze Pause. «Könnte knifflig werden, wenn Sie mich fragen.» Und damit wandte er sich ab.

Außer Sichtweite der Polizei umrundeten sie das Gewerbegebiet. Es war, wie die Medien berichtet hatten, halb verfallen. Der Grundriss war denkbar einfach: Wie mit dem Lineal gezogen, verliefen die Straßen schnurgerade dahin, mit vier Kreuzungen, zwischen denen sich jeweils ein halbes Dutzend Grundstücke befanden. Die Straßen, breit genug für Lastwagen, waren aufgerissen und voller Schlaglöcher, und auf den Seitenstreifen häufte sich Bauschutt. Einige der Gebäude bestanden aus Backsteinen, andere aus Fertigbauteilen. Fast alles war heruntergekommen und unbenutzt. Es gab einen Holzgroßhandel, ein paar Autowerkstätten, das Lagerhaus und das Gebäude mit den Schließboxen, der Rest lag brach. Obwohl die Umgehungsstraße in der Nähe verlief, direkt unterhalb der Kläranlage, und man in zwanzig Minuten zu Fuß nach Limekilns gelangen konnte, machte das gesamte Areal einen abgelegenen und verlassenen Eindruck.

«Ganz reizend», sagte Smudge, nachdem ein Zug vorbeigedonnert war. «Meine Ohren fangen gleich an zu bluten. Was zur Hölle hat der Gimpel hier draußen gemacht?»

Garvie blickte sich um und antwortete nicht. Smudge sagte: «Okay, suchen wir nach Spuren.»

Sie gingen an der Einzäunung entlang, schoben mit den Füßen allerlei Müll und Unrat beiseite und hielten nach Polizisten Ausschau, während Smudge die anderen ununterbrochen an seinen Gedankengängen teilhaben ließ.

«Dieser Magee muss ihn irgendwie hergeschleppt haben, vermute ich mal. Hat ihn hier rausgefahren, wo es schön abgelegen ist, aus dem Wagen gezerrt und die Straße rauf, dann in das Lagerhaus und PENG! Wie ’ne Hinrichtung. Es gibt einen Zeugen, der das Meiste gesehen hat.»

Felix schaute ihn an. «Was ist mit der Kamera, Smudge?»

«Was für ’ne Kamera?»

«Die Überwachungskamera am Eingang zum Gelände. Wir sind gerade daran vorbeigegangen. Die Polizei hat nichts von einem Wagen gesagt.»

«Vielleicht sind sie von woanders gekommen.»

«Von wo denn? Das ist die einzige Zufahrt. Ist doch richtig, oder, Garv?»

Garvie sagte knapp: «Für einen Wagen gibt es keinen anderen Weg.»

Schweigend gingen sie weiter, bis sie zu einem Loch in dem Maschendrahtzaun kamen.

«Moment mal, jetzt hab ich’s», sagte Smudge. «Sie sind nicht mit dem Auto gekommen, sondern zu Fuß. Magee hat ihn hier durch das Loch gestoßen, hat ihn die Straße raufgezerrt, in das Lagerhaus, und …»

«Vorausgesetzt, er ist an dem Safeway vorbeigekommen», sagte Felix.

«Am was?»

«An dem Sicherheitssystem.» Sicherheitssysteme waren Felix’ Spezialität. «Das Safeway-System hat multifunktionale Hardware und Software. Nicht erste Sahne wie das Modell von SECO dadrüben am Lagerhaus, aber auch nicht schlecht. Die haben nur das Problem, dass sie zeitverzögert losgehen. Wenn man sechzig Sekunden, nachdem man die Tür eingetreten hat, die Schalttafel findet, kann man das Ding einfach ausschalten. Und die Schalttafel hängt meistens da, wo man sie gleich sieht. Und noch was», setzte er hinzu. Er kam jetzt richtig in Fahrt. «Zwei Uhr morgens ist die perfekte Zeit für einen Einbruch. Da ist Schichtwechsel, und die Bullen wollen einfach nur noch nach Hause. Selbst wenn der Alarm losgeht, ist man längst weg, wenn die ankommen. Klappt jedes Mal.»

Smudge machte ein genervtes Gesicht angesichts der Fülle an technischen Informationen. «Mit anderen Worten, Magee hätte locker am Sicherheitssystem vorbeikommen können, was genau das ist, was ich gesagt habe. Vergiss nicht, Felix, das war Mord. Das ist ’ne Sache von einer Minute, da muss man sich nicht beeilen. Also, wie ich gesagt habe: Er stößt ihn durch den Zaun, schleppt ihn die Straße hoch, schlägt die Tür ein, kommt an dem Alarm-Dings vorbei, rein in das Lagerhaus, und …»

«Allerdings», fiel ihm Felix nachdenklich ins Wort, «muss man drinnen noch durch die Sicherheitstüren. Die können ganz schön knifflig sein. Aber wenn man sich auskennt, kann man die mit einem Stück Pappe austricksen, das man an den inneren Türrahmen klebt. Unterbricht die Stromzufuhr.»

«Faszinierend», sagte Smudge. «Du solltest einen Schulclub aufmachen: Wissenschaft für Einbrecher. Jedenfalls, wie ich meinte, bevor ich – wieder mal – unterbrochen wurde: Er stößt, zerrt, schlägt, klebt und so weiter und so fort und – PENG! Die klassische Hinrichtung.»

Sie kamen an einer Autowerkstatt vorbei und an einem ehemaligen Fischgroßhändler, an den nur noch das Werbeschild erinnerte: FISCH UND MEERESFRÜCHTE – HÖCHSTE QUALITÄT, AUS TRADITION UND LEIDENSCHAFT. KOSTENLOSE PARKPLÄTZE. Irgendwann waren sie wieder am Eingang angelangt, und Smudge wandte sich an Garvie: «Du hast noch gar nichts gesagt. Irgendwas Interessantes gesehen?»

Garvie zuckte mit den Schultern. «Nur das Offensichtliche.»

«Und das wäre?»

«Fünf große Kartonplatten an der Hinterseite einer Werkstatt.»

«Ach?»

«Ein ordentlich zusammengeknoteter Einkaufsbeutel mit leeren Suppendosen unter der Feuerleiter.»

«Und weiter?»

«Im Gebüsch daneben ein halbes Dutzend plattgedrückte Bierdosen.»

«Ja. So was nennt man Müll.»

«Jemand kampiert hier draußen. Er isst kalte Suppe aus Dosen, trinkt Bier und schläft unter den Kartonplatten, um sich warm zu halten.»

«Ja, klar. Offensichtlich. Und?»

«Der Zeuge, von dem die Polizei spricht, ist aller Voraussicht nach ein Obdachloser.»

«Okay. Und das heißt was?»

«Seine Aussage ist vermutlich ziemlich vage und wenig vertrauenswürdig und würde vor Gericht nicht standhalten. Wie ich vorhin zu Singh sagte: Es könnte knifflig werden.»

«Na ja, die sagen doch, dass alles glasklar ist. Sie haben den Typ doch schon, weißt du nicht mehr?»

«Ich möchte der Polizei ja nicht zu nahe treten, Smudge, aber die haben einfach keine Ahnung, wie man denkt.»

Sie blieben am Tor stehen, zündeten sich Zigaretten an und warteten, bis es zu spät war, um vor der Mittagspause noch in der Schule aufzutauchen. Felix spekulierte laut über die Aufnahmen aus der Überwachungskamera. Smudge schnitt Grimassen in die Kamera, bis er sich fast den Hals verrenkte. Dann lehnte er sich an den Torpfosten und sagte nachdenklich: «Ich hab einmal mit ihm geredet, mit dem Gimpel, meine ich. Vor ein paar Jahren. Ich habe ihn auf der Bank sitzen sehen und bin zu ihm gegangen, hab ihm irgendwas über das Wetter erzählt oder so was, weiß nicht mehr genau. Er hat mich nur angestarrt. Die ganze Zeit lang. Als ob ich der Spinner wäre.»

Felix und Garvie schauten Smudge fragend an.

«Nee, echt jetzt. Er hat überhaupt nichts gesagt. Hat mich nur angestarrt. Und ich, ich dachte bloß: Ich hab keine Ahnung, was du denkst.»

«Und das ist was Neues für dich, Smudge?»

«Normalerweise kann ich Leute gut durchschauen. Den Gimpel aber nicht. Das will ich damit sagen. Der Gimpel war … keine Ahnung. Ich weiß es nicht, weil ich ihn nicht durchschauen konnte.»

Während sie dastanden und über Smudges Selbsterkenntnis nachdachten, rollte der Humvee auf übergroßen Rädern die Straße entlang und blieb neben ihnen stehen. Das Fenster glitt nach unten, und wie zuvor tauchte Inspector Dowells Gesicht auf.

«Warum seid ihr nicht in der Schule?»

Smudge und Felix blickten bescheiden zu Boden.

«Attest vom Arzt.»

«Ein Projekt in Heimarbeit.»

Dowell schaute Garvie an, der nichts gesagt hatte. «Und du?»

«Exkursion.»

«Ins Gewerbegebiet? In welchem Fach?»

«In Polizeikompetenz. Zusatzfach Anthropologie.»

Dowells Blick bohrte sich in Garvies Augen. Seine Gesichtsränder veränderten die Farbe. «Ich sag dir jetzt was, Freundchen», knurrte er leise. «Ich werde mir deine Visage merken.»