Running Girl - Simon Mason - E-Book
SONDERANGEBOT

Running Girl E-Book

Simon Mason

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Geh chillen, Sherlock – hier kommt Garvie Smith Garvie Smith ist 16, sieht hammer aus, hat ein fotografisches Gedächtnis und den höchsten IQ, den es je an der Schule gegeben hat - plus die miesesten Noten. Wozu auch der Stress? Das Leben nervt total. Nie passiert irgendwas Spannendes … Bis eines Tages die Leiche von Garvies Ex-Freundin Chloe aus dem Teich gefischt wird. Und der junge Kommissar Singh sich bei seinen Ermittlungen einfach zu dämlich anstellt. Jetzt muss Garvie wohl oder übel eingreifen. Langeweile? Endlich mal keine. Schule? Muss halt warten. Nominiert für den Costa Book Award

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 485

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Simon Mason

Running Girl

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Karsten Singelmann

 

Über dieses Buch

Garvie Smith ist 16, sieht bombe aus, hat ein fotografisches Gedächtnis plus den höchsten IQ, den die Schule jemals hatte – und die miesesten Noten. Wozu auch der Stress? Das Leben nervt total. Nie passiert irgendwas Spannendes. Bis eines Tages die Leiche von Garvies Exfreundin Chloe aus dem Teich gefischt wird. Und der junge Kommissar Singh sich bei seinen Ermittlungen einfach zu dämlich anstellt. Jetzt muss Garvie wohl oder übel eingreifen. Langeweile? Endlich mal keine. Schule? Muss halt warten.

Vita

Simon Mason, 1962 in Sheffield geboren, ist sowohl Autor als auch Verlagsleiter bei David Fickling Books in Oxford, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt. In Deutschland erschien seine Kinderbuchreihe «Die Quigleys» bei Carlsen. Sein Jugendbuch «Moon Pie» wurde 2011 für den Guardian Children’s Fiction Award nominiert.

1

Ein Dreckswetter fegte über die Stadt. Der Regensturm peitschte die gläsernen Bürotürme im Westen und prasselte gegen die Dächer, Kuppeln und prächtigen Fassaden der Altstadt. Er breitete sich nach Norden aus, über Krankenhäuser und Schulen, und nach Süden, über Clubs und Casinos. Immer dunkler wurde es, und der Sturm legte noch an Geschwindigkeit zu, raste ostwärts über die Kläranlage, das Industriegebiet und die Autofabrik hinweg. Und schließlich stürzte er sich auf die Wohnanlage Five Mile, schwärzte den gesprungenen Asphalt, überflutete verstopfte Abflüsse und trommelte gegen die Fenster der Wohnung in 12 Eastwick Gardens, wo der sechzehnjährige Garvie Smith, die Hände hinterm Kopf verschränkt, auf seinem Bett lag und an die Zimmerdecke starrte.

Garvie war ein schlanker Junge mit einem schönen Gesicht. Er trug tiefhängende Röhrenjeans, einen schlichten Kapuzenpullover und schmutzstarrende Chucks. Seit zwei Stunden lag er so da, ohne sich zu rühren. Lag da und starrte.

Seine Mutter erschien in der Tür. Sie war eine gesetzte Dame aus Barbados, mit breitem Gesicht und kurzgeschnittenen schwarzen Haaren mit einem leichten Grauschleier. In der Hand hielt sie einen amtlich aussehenden Brief, den sie zusammenfaltete und in ihre Jackentasche steckte, während sie ihren Sohn zornig ansah. Sie machte den Mund auf. In sechzehn Jahren als alleinerziehende Mutter war sie nicht nur stetig breiter und robuster geworden, sondern hatte sich auch eine verblüffend durchschlagende Stimme zugelegt.

«Garvie!»

Er gab nicht zu erkennen, ob er sie gehört hatte.

«Garvie!»

«Ich bin beschäftigt», sagte er schließlich zur Decke.

«Komm mir nicht auf die Tour, Garvie. Warum bist du nicht am Lernen?»

«Ich bin am Lernen.»

Eine Pause entstand, in der seine Mutter Garvies Zimmer betrachtete, nicht nur den wüsten Stapel schmutziger Wäsche, die Berge von Gerätschaften und Krimskrams aller Art, sondern auch – und im Speziellen – den kleinen, fürs Lernen reservierten Tisch, der seit Monaten nicht benutzt worden und mit allem Möglichen beladen war, nur nicht mit Schulbüchern.

«Was genau lernst du denn gerade?»

Es folgte eine noch längere Pause, in der Garvie über die gestellte Frage nachdachte. «Komplexe Zahlen», kam schließlich die Antwort.

Seine Mutter atmete tief durch. Er konnte es hören.

Ohne den Blick von der Zimmerdecke zu wenden, sagte er: «Sagen wir, mein Übungsbuch ist Einheit a –»

«Garvie!» Ihre Stimme glich einem tiefen Knurren.

«Und meine Lernerei ist Einheit bi –»

«Garvie, ich warne dich!»

«Dann entspricht das Gelernte der komplexen Zahl a+bi, wobei i die Eigenschaft i2=–1 besitzt.» Er machte eine Pause. «Man bezeichnet so etwas als unlösbare Gleichung.»

«Garvie!»

Er schwieg.

«Rauchst du wieder dieses Zeug?»

Er antwortete nicht und änderte auch nicht seine Position, während seine Mutter eindringlich auf sein ausdrucksloses Gesicht starrte. Er konnte sie starren hören.

Gleich würde sie ihm sagen, dass er ihr ein absolutes Rätsel sei.

«Du bist mir ein absolutes Rätsel», sagte sie.

Und dann würde sie ihm sagen, dass sie gar nicht mehr wisse, wer er sei.

«Garvie Smith?», sagte sie. «Ich weiß gar nicht mehr, wer das eigentlich ist.»

Er hörte sie tief Luft holen. Sie war im Begriff, ihre übliche Liste durchzugehen. Es war eine lange Liste, und sie erforderte einen langen Atem.

Mit einem Minimum an Erläuterung und einem Maximum an Nachdruck zählte sie verschiedene gewichtige Punkte auf. Dass Garvies Zimmer eine Kiste voller Müll sei. Dass ernsthaftes Lernen an einem Tisch mit Büchern und einem eingeschalteten Computer stattfinde. Dass Garvie Smith der faulste Junge in der ganzen Siedlung und überhaupt der faulste Junge sei, von dem sie je gehört habe, vielleicht sogar der faulste Junge aller Zeiten, ganz zu schweigen davon, dass er ungezogen, rücksichtslos und schwierig sei. Dass er sich ständig und immer tiefer in den Schlamassel reite – und er solle bloß nicht glauben, dass sie nicht darüber Bescheid wisse. Und dass seine Prüfungen in noch nicht mal zwei Monaten für ihn die absolut letzte Chance seien, die Schule noch zu schaffen.

Er antwortete nicht.

«Ich warne dich, Garvie», sagte sie. «Komm in die Hufe. Und zwar sofort. Steh auf, hol deine Bücher aus der Tasche und schalte den Computer ein.»

Sie war auf dem Sprung ins Krankenhaus, wo sie als stellvertretende Oberschwester im OP oft unregelmäßige Arbeitszeiten hatte. Der Brief, über den sie eigentlich hatte sprechen wollen, war vergessen. Sie warf ihrem Sohn einen letzten zornigen Blick zu, bevor sie sich abwandte. «Wenn ich zurückkomme», sagte sie, «erwarte ich, dass dein Zimmer aufgeräumt ist und du was geschafft hast. Das ist mein Ernst, Garvie. Du gehst nicht raus, verstanden? Du hast Hausarrest, bis du ordentlich gelernt hast.»

Schnaubend ging sie davon, und kurz darauf knallte die Wohnungstür zu.

Ihr Sohn, das Rätsel, starrte weiterhin an die Zimmerdecke. Da waren noch ein paar Dinge, die seine Mutter zu sagen vergessen hatte, und die sprach er sich jetzt vor. Dass er ein Junge sei, dessen angeblicher Intelligenzquotient eines Genies ihm in fünf Jahren an der weiterführenden Schule nicht eine einzige Eins im Zeugnis, egal in welchem Fach, verschafft habe. («Keine einzige, Garvie!») Dass er ein Junge aus gutem Haus sei, der sich in Schwierigkeiten bringe – und zwar nicht nur durch Vernachlässigung der Schule, Unordnung in seinem Zimmer und allgemeine Faulheit, sondern auch durch Schwänzen, Alkohol und dadurch, dass er («Streite es nicht ab, Garvie!») dieses Zeug rauche.

Er starrte weiter an die Decke. Der Regen trommelte weiter gegen das Fenster.

Genie, was war das eigentlich? Wenn man in der Lage war, schwierige Gleichungen zu verstehen? Wenn man sich Sachen merken konnte, die andere vergaßen, oder etwas bemerkte, das die anderen übersahen? Na, toll. Aber was bewirkten die Zahlen und Gleichungen? Was passierte denn schon, was sich zu erinnern lohnte? Was sah er, das ihn auch nur eine Sekunde lang daran zweifeln ließ, dass das Leben im Allgemeinen nichts weiter als ein in Zeitlupe vor sich hinschleichender, sinnloser, schäbiger und stinklangweiliger Teppichfussel billigster Machart war?

Und daher starrte er, vollständig bekleidet einschließlich seiner dreckigen Schuhe, mit unbewegtem Gesicht weiter an die Decke. Es war ein ungewöhnliches Gesicht mit diesen pechschwarzen Haaren, dem kupferfarbenen Teint, den strahlend blauen Augen; ein Gesicht, das die Blicke auf sich zog, das Ergebnis seiner gemischten Herkunft. Aber auch ein Gesicht, das von Langeweile beherrscht war.

 

Eine Stunde verging. Regen prasselte gegen das Fenster, Autos zischten über die Ringstraße. Eine weitere Stunde verging.

Dann prasselte etwas anderes gegen das Fenster.

Gähnend hievte Garvie sich vom Bett hoch und schaute hinaus. Unten auf dem Rasenstück stand leicht gebückt ein Junge mit herben Gesichtszügen und schmalen Handgelenken, der ihm zuwinkte. Felix. Felix der Kater. Er war einer von Garvies Freunden, die von seiner Mutter als «schlechter Umgang» eingestuft wurden.

«Ist deine Mutter da?»

«Nee.»

«Kommst du runter, eine rauchen?»

«Okay.»

Garvie zog seine alte Lederjacke über, verließ die Wohnung und ging die Treppe hinunter. Draußen war es fast dunkel. Der Regen hatte vorübergehend ausgesetzt, und die nassen Fassaden von Eastwick Gardens glänzten schwarz und gelb im Schein der Straßenlampen. Hinter dem Häuserblock lagen die Ringstraße, auf der es mittlerweile ruhiger zuging, die schwarzen Umrisse der Autofabrik und jenseits davon Felder und Gestrüpp. In der anderen Richtung erstreckte sich die Siedlung – ein Gewirr aus Haupt- und Nebenstraßen, Doppelhäusern mit Kieselrauputz und Maisonettewohnungen, Garagen und Tante-Emma-Läden, Drahtzäunen, Grünstreifen und rissigen Bordsteinen, alles so öde und gewöhnlich wie vertraut.

Ein Taxi fuhr vorbei und hupte, worauf Garvie die Hand hob, um den Fahrer zurückzugrüßen – Abdul, ein Freund seiner Mutter. Dann schloss er sich Felix an. Die beiden schlurften, die Jacken gegen die feuchte Abendkühle bis oben zugezogen, nebeneinander die Straße entlang, vorbei an den geparkten Lieferwagen, den Elektroläden und Wettbüros in Richtung Old Ditch Road, wo der Spielplatz lag.

Felix blickte sich beim Gehen ständig um, als würde er nach unerwarteten Gelegenheiten Ausschau halten. Sein längliches, weißes Gesicht war übersät von Pickeln. Er war gut zu Fuß, geschmeidig wie ein Tänzer. Garvie hielt in seiner üblichen legeren Gangart und mit gesenktem Kopf Schritt mit ihm.

Nach einer Weile sagte er: «Und wieder ein Freitagabend im Paradies.»

Felix sah ihn von der Seite an, schniefte und wischte sich über die spitze Nase. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.

Ein paar von den anderen waren bereits da, hockten auf den zu kleinen Schaukeln und dem winzigen Karussell. Ganz normale Jungs mit Kapuzenpullovern, nassen Haaren und einer Abneigung gegen Langeweile. Sie klatschten die Neuankömmlinge ab und sahen sich forschend um, dann setzten sie sich wieder hin.

«Was geht?», sagte Garvie.

Allgemeines Achselzucken.

Smudge schlug vor, in den Pub zu gehen. «Oder wie wär’s mit diesem neuen Laden in der Stadt, wo sie diesen Wodkawackelpudding machen? Rattenkeller oder so.» Felix kannte den Türsteher, hatte aber ungute Erfahrungen mit ihm gemacht. Dani erwähnte das Casino, das Imperium. Dafür hätten sie aber ein paar gefälschte Mitgliedsausweise auftreiben und sich in Schale werfen müssen, was dann doch zu viel Aufwand war. Und so herrschte am Ende ratloses Schweigen.

«Na denn», sagte Garvie. «Was habt ihr dabei?»

Alle Vorräte an Tabak und Zigarettenpapier wurden zusammengelegt. Tiger hatte eine kleine, schon zu zwei Dritteln geleerte Flasche Glen’s Vodka mitgebracht, Dani ein paar Dosen Red Stripe Lager und Smudge eine Tüte Zitronenbonbons. Eins nach dem anderen machte die Runde. Felix war vorher schon bei Alex gewesen und drehte jetzt einen mittelgroßen Joint, der ebenfalls herumgereicht wurde.

Sie alberten ein bisschen herum. Tiger und Dani spielten mit einem Messer, das Tiger hinten im Laden von Jamal’sgefunden hatte, und Smudge fiel von der Schaukel und stieß sich die Nase blutig. Garvie saß etwas abseits und starrte schweigend über die nahen Dächer zu den fernen Lichtern der Hochhäuser. Sie verschwammen im trüben Flimmern, das über der Innenstadt schwebte. Er war hier aufgewachsen, kannte alles in- und auswendig und konnte mit hinreichender Gewissheit sagen, dass es hier sterbenslangweilig war. Die Innenstadt mit den ganzen Geschäften, dem Rathaus und den Fußgängerzonen war langweilig. Die aufgehübschte Altstadt mit den Cafés und Restaurants war langweilig. Das neue Geschäftsviertel war langweilig. Die Malls und Megamärkte, die sich entlang der Ringstraße ausbreiteten, waren langweilig. Und die Siedlung Five Mile war das Langweiligste von allem. Seufzend machte er sich daran, einen neuen Joint zu drehen.

«Hey, Sherlock», sagte Smudge. «Hab ein Rätsel für dich. Stand auf einer von diesen Rätsel-Websites.»

Garvie drehte ihm den Kopf zu, und Smudge grinste. Die Natur hatte es nicht gut mit Smudge gemeint. Er hatte die Gesichtszüge eines vierzigjährigen Schlachters und den Ausdruck eines zehnjährigen Kindes. Er saß zusammengequetscht in einem der Karussellsitze, das blasse, runde Gesicht glänzend vom Regen, die kleinen, schlammfarbenen Augen erwartungsvoll auf Garvie gerichtet. Garvie schüttelte den Kopf. Er nahm Zigarettenpapier, Tabak und ein ansehnliches, in Folie gewickeltes Stück Hasch zur Hand und machte sich daran, zwei Papiere zusammenzukleben.

«Bin beschäftigt», sagte er schließlich.

«Das hier kommt echt gut. Im Ernst.»

«Was soll’s, Smudge? Es geht doch immer ums Gleiche.»

«Nämlich?»

«Sex oder Geld.»

«Zwei Dinge, mit denen ich persönlich kein Problem habe. Komm schon. Ich wette um einen Schein, dass du es nicht rauskriegst.»

Sehr konzentriert plötzlich, rieb sich der Junge über den großen, kurz geschorenen Kopf, seufzte zufrieden und fing wieder an zu grinsen. Garvie ignorierte ihn. Er streute Tabak aufs Papier, ließ zerriebene Haschischkrümel großzügig dazwischenrieseln und leckte die Kanten des Papiers an.

Smudge legte trotzdem einfach los.

«Am ersten Juni wird Lola Soul Diva in ihrer Wohnung aufgefunden. Mit dem Gesicht auf dem Fußboden. Von hinten niedergestochen.» Er machte eine kurze Pause und überlegte. «Genau in die Milz», sagte er dann hochzufrieden.

Garvie drehte weiter, drillte das Ende der Tüte zusammen.

Smudge fuhr fort. «Es gibt keine Hinweise auf einen Kampf, außer dass der Zeigefinger ihrer linken Hand aufgeschlagen ist, wahrscheinlich beim Sturz auf den Boden. Sonst keine blauen Flecken oder Schrammen, die Kleidung ist nicht zerrissen, die Uhr am Handgelenk – dem rechten Handgelenk – ist nicht kaputt.»

Er grinste verschlagen. «Voll gut, oder?»

«Nein», sagte Garvie seufzend. «Der totale Mist. Genau wie das Leben selbst, Kumpel.» Mit den Zähnen knipste er losen Tabak vom Mundstück des Monsterjoints und begutachtete kurz sein Werk, bevor er es sich beiläufig in den Mundwinkel schob.

Smudge ließ nicht locker: «In der rechten Hand hält sie einen Kugelschreiber. Daneben liegt ihr privates Tagebuch. Auf der Seite für den betreffenden Tag steht Folgendes: ‹Habe Big Up gesagt, dass ich ihn nicht mehr liebe›. Oben auf der Seite, neben dem Datum, hat sie mit zittriger Schrift ‹6ZB› hingeschrieben. Verstehste? 6ZB. Neben dem Tagebuch liegt ein zerrissenes Foto von ihrem Mann.»

Er grinste wieder. «Ist das gut oder ist das gut?»

«Nein», sagte Garvie. «Total langweilig. Sex oder Geld. Sex und Geld.» Er ließ ein Streichholz an seinem Daumennagel aufflammen und zündete den Joint an.

Smudge ließ sich nicht beirren. «Drei Männer geben zu, sie an dem betreffenden Tag besucht zu haben: ihr Ehemann, ein Profi-Pokerspieler namens Dandy Randy Wilder, kokainsüchtig und stark gehbehindert. Ihr Manager Jude Fitch Abercrombie, ein Kokser, der den linken Arm in einer Schlinge trägt. Und ihr Lover, genannt Big Up Mother, halb blind und ebenfalls kokainsüchtig. Alle drei geben der Polizei gute Gründe für ihren Besuch.»

Er ließ seine Augenbrauen zucken. «Genial, oder?»

«Kompletter Bullshit.» Garvie nahm einen langen Zug von seinem Joint und verdrehte die Augen.

«Na gut, Sherlock. Dann erklär mal. Wer war der Täter?»

Garvie blies den Rauch aus und reichte den Joint an Felix weiter, der ihn mit beinahe ehrfürchtigem Blick entgegennahm. «Keiner von ihnen war der Täter», sagte Garvie.

«Na komm, großer Meister, das kannst du besser.»

Garvie saß schweigend in seiner Rauchwolke und starrte in die Dunkelheit.

«Denk dran, was sie geschrieben hat», sagte Smudge. «Vor allem» – er machte eine dramatische Pause – «das 6ZB.»

«Schwachsinn.»

«Und wenn du schon dabei bist», fuhr Smudge fort, «denk mal über die unbeschädigte Uhr nach. Am rechten Handgelenk.»

Der Joint machte die Runde, und als er zu Garvie zurückkam, nahm dieser einen langen Zug und gleich noch einen.

«Weißt du», sagte Smudge, «ich bin echt enttäuscht. Dachte, du hättest solche Sachen voll drauf. Rauchst wahrscheinlich zu viel von diesem Zeug. Kriegt man ein weiches Gehirn von. Soll ich dir sagen, was passiert ist?»

«Ich weiß, was passiert ist.»

«Dann sag es uns.»

«Keiner war der Täter.»

Smudge zischte spöttisch. «Na schön, wenn du es nicht errätst, muss ich euch wohl auf die Sprünge helfen. Ihr Manager war’s.»

Garvie blies Rauch aus. «Auf keinen Fall.»

«Doch, klar, Sherlock. Soll ich dir sagen, woher ich das weiß?»

Aus seiner Rauchwolke heraus sagte Garvie gelangweilt: «Sie trägt ihre Uhr am rechten Handgelenk, also ist sie wahrscheinlich Linkshänderin. Aber wegen des gebrochenen Fingers hat sie das 6ZB mit der rechten Hand geschrieben, deshalb war die Schrift krakelig. Also soll das gar nicht 6ZB heißen. Sondern 628. Und wenn man diese Zahlen den Monaten in ihrem Tagebuch zuordnet – Juni, Februar, August – und dann jeweils den Anfangsbuchstaben nimmt, dann kommt JFA dabei heraus: Jude Fitch Abercrombie. Ihr Manager.»

«Oh.» Smudge machte ein verwirrtes Gesicht. «Ja, sag ich doch. Der Manager war der Täter.»

«Der Manager war es nicht, weil der Mörder der Frau von hinten durch die Milz gestochen hat.»

«Ja und?»

«Die Milz sitzt auf der linken Seite, Smudge. Es kann nur ein Linkshänder gewesen sein. Und der Manager trug den linken Arm in einer Schlinge.»

Smudge öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu, und sein ganzes Gesicht schien in sich zusammenzufallen. «Scheiße», sagte er schließlich. «Ich muss es verkehrt erzählt haben.»

Garvie beugte sich zu ihm und tätschelte seinen Arm. «Mach dir nichts draus, Smudgie. Passiert.»

Sie saßen auf dem Karussell, die Knie an die Brust gedrückt, die Kapuzen über den Kopf gezogen. Der Joint ging noch dreimal herum, wobei er nach und nach zu einem Glutstängel schrumpfte und schließlich ausging, nachdem sich der Reihe nach jeder die Lippen daran verbrannt hatte. Der Wodka war schon lange vorher zur Neige gegangen. Sie tranken das Bier aus, Smudge machte sich über den letzten Zitronenbonbon her, und sogar die Zigaretten waren jetzt alle. Es fing wieder an zu regnen, wenn auch nur leicht, und schließlich verebbte die Unterhaltung. Sie kauerten in der feuchten Dunkelheit, lauschten dem Regen und den gelegentlich vorbeifahrenden Autos.

«O Gott», sagte Garvie. «Ich glaube, wenn nicht bald irgendwas passiert, raste ich aus.»

Smudge sah ihn interessiert an. «Was meinst du mit ‹bald›?»

«Jetzt oder in den nächsten fünf Minuten.»

Genau in diesem Moment ging ganz in der Nähe eine Sirene los, so plötzlich und brutal, dass die Jungen wie Stoffpuppen in die Luft hüpften. Mit aufgerissenen Mündern und klopfenden Herzen sahen sie gerade noch zwei Streifenwagen mit quietschenden Reifen vor dem Parkeingang zum Stehen kommen – flackerndes Blaulicht, auffliegende Türen, herausstürzende Polizisten –, bevor sie Hals über Kopf über den aufgeweichten Rasen stürmten und sich in alle Richtungen davonmachten.

2

Auch knapp einen halben Kilometer entfernt, vor «Honeymead», einem der neuen Häuser am Fox Walk, war die Polizei präsent. Am Ende der Sackgasse parkte ein Streifenwagen quer, leer, alle Türen offen und angeschaltetes Blaulicht. Alles war ruhig. Es schien, als hielten alle Nachbarn, die hinter ihren Vorhängen standen und die Szenerie beobachteten, den Atem an. Dort im Haus schrie plötzlich eine Frau auf, hoch und schrill. Dann herrschte wieder Stille.

In dem kleinen Wintergarten auf der Rückseite des Hauses stand Inspektor Singh am Fenster und blickte hinaus in den verdunkelten Garten. Er gab Mr. Dow Gelegenheit, seine Frau zu beruhigen, die auf dem Sofa zusammengebrochen war. Es war ein kleiner Garten, wie alle, die zu den Häusern in der Sackgasse gehörten; alles sehr ordentlich, mit einer schmalen Terrasse und einem gepflegten Rasenrechteck, das auf drei Seiten von Blumenbeeten und dichten Sträuchern umgeben war. Eine dekorative Vogeltränke gab dem Ganzen noch eine spielerische Note. Im Haus war es ebenso, wie er bemerkte: sehr klein, sehr sauber, aber hier und da kleine Extravaganzen, ein kunstvolles Glockenspiel oder Möbelstücke aus Bambus.

Inspektor Singh hatte ein Auge für solche Dinge. Mit seinem zurückhaltenden Auftreten und dem unauffälligen Gesicht – schmaler Mund, gerade Nase, ebenmäßiges Kinn – schien er ein Typ, den man leicht übersieht, doch wer ihn kannte, wusste nur zu gut, dass seiner scharfen Aufmerksamkeit nur wenig entging. Nicht zu übersehen war seine Uniform – obwohl er als Inspektor nicht dazu verpflichtet war, sie zu tragen, war es ihm persönlich wichtig.

Jetzt wandte er sich Mr. und Mrs. Dow zu, die nun nebeneinander auf dem Bambussofa saßen. Mrs. Dow sah ihn mit nassem, verzerrtem Gesicht wütend an. Diesen Ausdruck hatte Singh schon häufiger bei betroffenen Müttern gesehen. Sie war verängstigt, und unter ihrer Angst lauerten Verbitterung und Scham. Er warf einen Blick hinüber zu Sergeant Jones, der auf seine Stiefel starrte.

«Mrs. Dow», sagte er vorsichtig. «Am wahrscheinlichsten ist es, dass Ihre Tochter wohlbehalten und in Sicherheit ist. Sie könnte aus irgendwelchen Gründen beschlossen haben, irgendwo hinzugehen, und wird sich bei Ihnen melden, wenn sie den Wunsch dazu hat.»

Er glaubte selbst nicht, was er da sagte. Mr. Dow sah ihn mit Abscheu an. «Bis dahin», fuhr Singh auf die gleiche bedachte Weise fort, «versuchen wir alles, um Ihre Tochter zu finden. Wir überprüfen die Krankenhäuser. Alle Kontaktbereichsbeamten sind alarmiert. Unterdessen wäre es hilfreich, mehr darüber zu erfahren, was eigentlich passiert ist.»

Mr. und Mrs. Dow nickten beide langsam und zögerlich.

«Gehen wir noch mal eins nach dem anderen durch.»

Viel zu erzählen gab es nicht. Chloe Dow, fünfzehn Jahre alt, war joggen gegangen und nicht wieder zurückgekehrt.

«Um welche Zeit hat sie das Haus verlassen?»

Gegen sieben, glaubten sie. Weder Mr. noch Mrs. Dow hatten sie tatsächlich weggehen sehen. Sie waren noch spät einkaufen gewesen und hatten bei der Rückkehr eine Nachricht auf dem Wohnzimmertisch gefunden: Bin joggen gegangen. Um halb acht wieder da. Für gewöhnlich war sie etwa eine halbe Stunde lang unterwegs.

Singh machte sich ausgiebig Notizen. «Und wo ist sie gelaufen? Wissen Sie das?»

Mrs. Dow schüttelte den Kopf. Chloe hatte keine feste Strecke. Sie konnte den Pollard Way runtergelaufen und über East Field zurückgekommen sein. Oder an der Umgehung entlang zum Kreisel und wieder zurück. Oder die Old Ditch Road hinauf, dann hinter der Ringstraße auf dem Weg, der durch Froggett Woods nach Battery Hill führt. Oder sonst wo. Sie hatte keinen Hinweis hinterlassen. Nur die Mitteilung: Bin joggen gegangen.

«Und was haben Sie gemacht, als sie dann nicht wiederkam?», fragte er.

Die Dows sahen einander an. Erst mal gar nichts. Sie waren sauer auf sie. Es hatte in letzter Zeit oft Streit gegeben. Sie stellten ihr Abendessen in den Kühlschrank und versuchten fernzusehen. Um neun Uhr konnten sie es aber nicht mehr aushalten und telefonierten Chloes Freundinnen ab, ob jemand sie gesehen hätte. Danach stieg Mr. Dow in seinen Transporter und fuhr Chloes übliche Laufstrecken ab, während Mrs. Dow am Küchenfenster stand und ins Nichts starrte. Als er unverrichteter Dinge zurückgekehrt war, riefen sie die Polizei an.

«Und da sind Sie nun», sagte Mrs. Dow bitter.

Singh zögerte. Dann fragte er, so feinfühlig wie möglich: «Können Sie sich irgendeinen Grund denken, warum Chloe beschlossen haben könnte, heute Abend nicht wieder nach Hause zu kommen?»

Mrs. Dow stieß ein ärgerliches Schnauben aus. «Warum sagen Sie das immer wieder? Sie ist nicht weggelaufen!» Ihre Lippe zitterte, ihr Gesicht begann zu entgleisen. «Ihr ist etwas passiert», rief sie, von Schluchzern geschüttelt.

 

Singh stand wieder am Fenster des Wintergartens und hörte die Nachrichten auf seinem Handy ab. Das Revier hatte ihm einige Meldungen von Kontaktpolizisten weitergeleitet. Am Pollard Way war spätabends ein Jogger angehalten worden. Ein paar Jugendliche waren Haschisch rauchend auf einem Kinderspielplatz angetroffen und befragt worden. Singh löschte die Nachrichten und sah auf die Uhr: 23:30 Uhr. Gedankenverloren starrte er in den dunklen, regennassen Garten. Um diese Zeit und bei diesem Wetter war nicht damit zu rechnen, dass die Kontaktpolizisten irgendwas entdecken würden. Ohnehin hatte er, was Chloe Dow betraf, längst ein ungutes Gefühl. Mädchen, die joggen gehen, beschließen in der Regel nicht plötzlich, dass sie bei der Gelegenheit gleich ganz von zu Hause weglaufen. Das war auch Mr. und Mrs. Dow sehr wohl bewusst.

Während er so grübelte, wurde er von einer Bewegung im Garten abgelenkt. Er hob den Kopf und spähte durch das nasse Fenster. Nichts, nur die Schatten eines im Regen schaukelnden Strauches. Dann rief ein Kollege an und bat ihn um ein Update. Singh drehte sich um und ging, das Telefon am Ohr, durch den Wintergarten ins Haus zurück, war jedoch noch nicht einmal am Esstisch, als es draußen laut krachte.

Er fuhr herum, spähte durchs Wintergartenfenster. Im Schatten des Gebüsches schwankte der Gartenzaun, dann sah Singh plötzlich den Umriss einer Person, die über den Zaun sprang.

«Was zum …?»

Mr. Dow war aufgesprungen und starrte hinaus. Sergeant Jones sprintete bereits zur Haustür, wie ein von der Leine gelassener Hund.

Singh legte eine Hand auf Mr. Dows Arm. «Was befindet sich hinter dem Garten?»

Der Mann zeigte mit dem Finger. «In der Richtung dort das Straßenbaudepot. Und da drüben die Marsh Fields.»

Singh rief hinter Jones her, der bereits aus der Tür war. «Übernehmen Sie das Depot!» Dann rannte auch er in den Regen hinaus, und als er über den beleuchteten Rasen an der Seite des Hauses schlitterte, bemerkte er vor sich die verhangene Gestalt des Sergeants, der gerade über den Zaun kletterte.

«Nach links!», rief Singh ihm zu. Er war sich allerdings nicht ganz sicher, ob Jones links und rechts wirklich zuverlässig unterscheiden konnte. «Zum Depot!», ergänzte er für alle Fälle.

Jones überwand das Hindernis und verschwand, Singh hörte nur noch seine stampfenden Schritte auf dem Kiesweg. Wenige Sekunden später kraxelte er selbst über den Zaun, rutschte jedoch an den nassen Brettern ab und landete recht unsanft auf der anderen Seite. Er rappelte sich auf, rannte keuchend unter dem Schutz der Bäume an der rückwärtigen Umzäunung der Häuser entlang und suchte dabei das Gebüsch ab. Doch es war zu dunkel, er konnte nicht einmal das abgebrochene Zaunstück ausmachen.

Als er stehen blieb, um zu lauschen, hörte er lediglich sein eigenes abgehacktes Atmen. Und dann, ganz leise, noch etwas, weiter vorn. Schritte. Da lief jemand. Er wischte sich den Regen aus den Augen und lief weiter, schneller jetzt, auf den Fußballen, um besser voranzukommen, den Weg hinunter zu der Stelle, wo er in Richtung Bulwarks Lane abbog. Er sprintete durch ein Pendeltor auf das raue, unebene Gelände der Marsh Fields und erst hier, auf den grasbewachsenen Buckeln des leeren Gemeindelands blieb er stehen, um in der Dunkelheit mögliche Bewegungen auszumachen. Aber da war nichts. Plötzlich herrschte völlige Stille, abgesehen von unbestimmten Regengeräuschen im Geäst ringsum und seinem eigenen Keuchen. Er war zu spät. Wer auch immer sich im Garten der Dows aufgehalten hatte – er war verschwunden.

Stumm machte er kehrt und ging zum Haus zurück.

Jones war bereits dort, hatte aber nichts zu vermelden. Er sah ihn seltsam an und grinste. «’tschuldigung, Sir, hab ihn verloren.»

Singh blickte streng zurück, bis er den Blick abwendete. «Besorgen Sie sich eine Lampe und überprüfen Sie den Garten», sagte er. «Sehen Sie sich den zerbrochenen Zaun an.» Als Jones sich entfernt hatte, rückte er seinen Turban zurecht – ein schlecht sitzendes, kugelsicheres Dienstexemplar – und wischte sich das Gesicht trocken, bevor er in den Wintergarten zurückkehrte. Die Dows erwarteten ihn dort bereits – er bitter, sie verängstigt.

«Warum hat sich da jemand in Ihrem Garten versteckt?», fragte Singh. Es klang vorwurfsvoll, obwohl das gar nicht seine Absicht gewesen war.

«Woher zum Teufel soll ich das wissen?», sagte Mr. Dow.

Mrs. Dow begann zu schluchzen. «Es hat etwas mit Chloe zu tun», sagte sie. «Ich weiß es einfach! Warum tut sie mir das an?» Und sie ließ sich, in Tränen aufgelöst, gegen ihren Mann sinken.

 

Inzwischen war es bereits halb ein Uhr nachts. Doch Singh ließ keine Müdigkeit zu. In steifer, aufrechter Haltung saß er am Tisch mit Mr. und Mrs. Dow und befragte sie noch einmal über Chloe. «Ich muss mir ein genaueres Bild von ihr machen können. Wenn Sie vielleicht ein aktuelles Foto von ihr hätten? Eine kurze Beschreibung, auch wie sie gekleidet war. Diese Informationen werden wir gleich morgen früh benötigen.»

«Morgen?» Mrs. Dows Gesicht legte sich in Falten. «Werden Sie nicht jetzt etwas unternehmen?»

Einen Moment lang befürchtete er, die Fassung zu verlieren. Aber ein Inspektor Raminder Singh verlor nie die Fassung. Das war sein Markenzeichen und einer der Gründe dafür, dass er bei seinen Kollegen zwar großen Respekt genoss, aber auch ziemlich unbeliebt war.

Mr. Dow brachte ein Foto. Kaum hatte Singh einen Blick darauf geworfen, da überkam ihn wieder das ungute Gefühl.

«Verstehe», sagte er und zögerte. «Es wäre auch hilfreich», sagte er behutsam, «wenn Sie mir etwas mehr über Ihre Tochter erzählen könnten. Was für ein Typ ist sie?»

Zu seiner Überraschung brach Mrs. Dow nicht in Tränen aus. Vielmehr starrte sie ihn voller Abscheu an.

3

Der neue Tag dämmerte heran, und es regnete immer noch. Den ganzen Morgen über hing ein flimmernder Nieselvorhang vom Himmel herab und erschwerte die Suche der Polizei, die sich von den nassen Wohngebieten bis in das Ödland und die Industrieparks am Ostrand der Stadt ausfächerte. Die Autofabrik tropfte, die Ringstraße war eine einzige Sprühwolke, und in den Rinnsteinen schwappten schwarze Pfützen, die wie ausgelaufenes Öl aussahen. In der Wohnung Nummer 12 im Haus Eastwick Gardens beschlugen die Fenster in der Küche, wo Garvie Smith und seine Mutter saßen und über den vergangenen Abend debattierten. Mrs. Smith hatte die starke Vermutung, dass ihr Sohn sich mit seinen fragwürdigen Freunden getroffen habe, was dieser allerdings vehement abstritt.

«Kann ich doch nichts dafür, dass du so misstrauisch bist», sagte er.

«Ich bin überhaupt nicht misstrauisch. Ich frage nur –»

«Was würdest du denn sagen, was du bist?»

«Versuch nicht, abzulenken. Ich will wissen –»

«Onkel Len findet auch, du bist misstrauisch.»

«Onkel Len –». Sie unterbrach sich. «Das hier hat nichts mit Onkel Len zu tun. Oder damit, was für ein Typ ich bin. Ich frage dich: Bist du gestern Abend noch weggegangen? Ich weiß genau, dass du jedenfalls nicht für die Prüfungen gelernt hast.»

Zornig sah sie ihn an, wie er da am Tisch saß, das Kinn auf die Hände gestützt. Es war nicht leicht, mit Garvie zu diskutieren. Er war unberechenbar.

«Also?»

Bevor er antworten konnte – sofern er das denn vorhatte –, klingelte es an der Tür. Mit einem Blick, der ihm befahl, sich nicht von der Stelle zu rühren, verließ Mrs. Smith die Küche, worauf Garvie sich augenblicklich erhob und auf diese demonstrativ legere Art, die sie nicht ausstehen konnte, in sein Zimmer schlendern wollte.

«Garvie?»

Er blieb stehen, als er ihr besorgtes Gesicht sah.

«Da ist jemand, der dir ein paar Fragen stellen möchte.»

Ein Polizist mit Turban trat vor. Neben Mrs. Smith wirkte er ziemlich klein, fast mickrig. In seinem Gesicht war nichts, das man als «Ausdruck» hätte bezeichnen können. Aber er sah Garvie unverwandt und abschätzend an.

«Worüber?», fragte Garvie.

«Über gestern Abend.» Auch die Stimme des Polizisten war ausdruckslos, gab nichts preis.

«Ach ja? Was ist mit gestern Abend?»

Garvies Mutter sah ihn stirnrunzelnd an. Der Polizist zückte stehend ein Notizbuch und blätterte darin. Er hob den Blick und sagte: «Um elf Uhr warst du mit einer Gruppe von Jugendlichen auf dem Spielplatz an der Old Ditch Road.»

«Das ist ja interessant», sagte Garvies Mutter.

«Wer sagt das?», entgegnete Garvie, wobei er vermied, seine Mutter anzusehen.

Der Polizist blickte ihn eine ganze Weile schweigend an. In seinem ausdruckslosen Gesicht war jetzt doch etwas zu erkennen: eine Abneigung gegen Garvie. Da ihm diese Regung in den Gesichtern von Amtspersonen, mit denen er zu tun hatte, nicht fremd war, starrte Garvie einfach zurück, bis der Mann den Blick schließlich wieder auf seine Notizen richtete und eine Reihe von Namen verlas, darunter Ryan ‹Smudge› Howell, Ben ‹Tiger› McIntyre und Liam ‹Felix› Fricker.

«Na und?», sagte Garvie. «Das ist doch wohl nicht verboten.»

Der Inspektor sah ihn mit kalten Augen an. Dann sagte er, mit kaum verhohlener Verachtung in der Stimme: «Möchtest du dich mit mir darüber unterhalten, was verboten ist und was nicht?»

Garvies Mutter öffnete den Mund: «Also, Herr Inspektor, ich glaube kaum –»

Er unterbrach sie: «Wir haben zwei Möglichkeiten, Mrs. Smith. Entweder führe ich die Unterredung mit Ihrem Sohn hier auf meine Art, oder wir fahren alle zusammen zur Wache.»

Garvies Mutter kniff die Augen zusammen, doch dann nickte sie.

«Setz dich», sagte der Inspektor zu Garvie.

Garvie fläzte sich, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, auf einen Stuhl am Tisch. Der Inspektor behielt ihn scharf im Auge. Garvie wusste genau, was es damit auf sich hatte: Der Mann versuchte ihn einzuschüchtern. Manche Polizisten wurden laut und drohten einem. Manche starrten einen einfach nur an. Singh war ein Starrer.

Er starrte ungerührt zurück.

«Herr Inspektor, vielleicht könnten Sie uns erklären, worum es eigentlich geht», sagte Garvies Mutter.

«Ein Mädchen wird vermisst.»

«Vermisst?»

«Sie hat gestern Abend das Haus verlassen und ist nicht zurückgekehrt. Seither fehlt jede Spur von ihr.»

«Und welches Mädchen?»

«Ihr Name ist Chloe Dow.»

Mrs. Smiths Hand fuhr an ihren Mund. «Chloe, Garvie!»

Eine Regung flackerte über Garvies Gesicht und war gleich wieder verschwunden. Stirnrunzelnd sah er seine Mutter an.

«Du kennst sie?», sagte der Inspektor in seinem ruhigen, kühlen Ton. Es war eine Frage, sie klang aber wie eine Feststellung.

Beide sahen sie jetzt Garvie an, der Blick seiner Mutter besorgt und verärgert, der des Inspektors streng und vorwurfsvoll.

«Ich weiß, wer sie ist», sagte Garvie schließlich. «Sie geht auf meine Schule. Ist in meinem Jahrgang. Ich sehe sie, ich rede mit ihr. Kennen tu ich sie nicht.»

Schweigen.

«Definieren Sie ‹kennen›», sagte Garvie.

Singh sagte nichts, starrte ihn nur an. Es war leicht zu erkennen, was für ein Typ Mensch er war. Verkrampft. Ehrgeizig. Der Fleck auf seinem Turban ließ Überstunden und Arbeitswut vermuten. Ein Prüfungsbesteher, dachte Garvie. Ein Disziplinfanatiker. Einer, der bei seinen Kollegen unbeliebt war.

Auch seine Mutter mochte ihn nicht, das war deutlich zu merken. Garvie machte es sich auf seinem Stuhl bequem und wartete ab.

«Du bist also mit ihr bekannt. Und was für ein Typ Mädchen ist sie, deiner Meinung nach?»

«Nicht der Typ, der verschwindet.»

«Wie meinst du das?»

«Sie haben doch bestimmt ein Foto von ihr gesehen.»

Singh hob leicht die Augenbrauen, sagte aber nichts.

«Wie dem auch sei», setzte Garvie fort, «was hat das mit mir zu tun?»

Nachdem er erläutert hatte, dass Chloe joggen gegangen sei und die Old Ditch Road zu den Strecken gehöre, die sie oft lief, begann der Inspektor eine umfangreiche Liste von Fragen über den vergangenen Abend abzuarbeiten. Um welche Zeit genau Garvie zur Old Ditch Road gegangen sei? Und auf welchem Weg? Was er gesehen habe? Wohin er gelaufen sei, als die Polizei eingetroffen war? Meistens antwortete Garvie «Weiß nicht mehr» oder zuckte einfach die Achseln. Ein- oder zweimal ignorierte er die Frage völlig.

Im Verlauf der Unterredung wurde Inspektor Singhs ruhige, bedachtsame Stimme zusehends weniger ruhig und bedachtsam.

«Vielleicht könntest du erklären, was du gestern Abend an der Old Ditch Road getrieben hast», sagte er.

«Vielleicht könnten Sie erläutern, welche Verbindung zwischen dem besteht, was ich getrieben habe, und dem, was mit Chloe passiert ist», erwiderte Garvie.

«Garvie», sagte seine Mutter, allerdings in mildem Ton. «Versuch doch einfach, die Fragen des Inspektors zu beantworten.»

«Was soll das bringen? Es sind alles die falschen Fragen.» Er setzte sich aufrecht hin und sah Singh direkt an. «Woher wollen Sie eigentlich wissen, dass sie joggen gegangen ist?»

«Wir wissen es.»

«Aber woher?»

«Sie hat eine Nachricht hinterlassen.»

«Woher wissen Sie, dass sie die nicht einfach geschrieben hat, um Leute wie Sie in die Irre zu führen?»

Singh sagte nichts. Aber seine Miene versteinerte sich.

Garvie fuhr fort: «Woher wissen Sie, dass sie die Nachricht hinterlassen hat? Woher wissen Sie, dass sie zu der von Ihnen angenommenen Zeit weggegangen ist? Woher wissen Sie, dass sie nicht erst die Nachricht geschrieben, sich dann aber die Sache anders überlegt hat?»

Singh blieb weiter unbewegt, nur ein Muskel in seinem Gesicht begann zu zucken.

«Das sind die Fragen, die gestellt werden sollten», sagte Garvie. «Finde ich.»

Nach einigen Momenten eisigen Schweigens begann der Inspektor – vielleicht ein klein wenig atemloser als zuvor – über das Wesen der Polizeiarbeit zu sprechen, das Außenstehenden naturgemäß verschlossen bleiben müsse, doch Garvie winkte sofort ab und unterbrach ihn: «Hören Sie, Mann. Das weiß ich alles schon. Mein Onkel arbeitet bei der Polizei. Spurensicherung.» Er musterte Singh und speziell die Abzeichen auf seinen Ärmeln. «Ist ein hohes Tier», fügte er hinzu.

Singh richtete sich jäh auf, und Garvie gestattete sich ein kleines Lächeln. Seine Mutter warf ihm einen kurzen bösen Blick zu, sodass ihm gleich klar war, was er später zu erwarten hatte. Aber das war es wert gewesen.

Mrs. Smith erhob sich. «Tut mir leid, dass wir Ihnen keine größere Hilfe sein konnten, Herr Inspektor.»

Für einen Moment stand der Mann völlig reglos da; dann, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, bedankte er sich bei Garvies Mutter für die Gelegenheit, ihrem Sohn ein paar Fragen zu stellen.

«Übrigens», ergänzte er mit einer Stimme, die wieder so ruhig und gemessen war wie zu Beginn, «deinem Freund Liam Fricker wurden gestern Abend an der Old Ditch Road zwei Gramm Cannabis abgenommen.» Er fixierte Garvie erneut mit seinem Spezialblick. «Du hast behauptet, ihr hättet nichts Verbotenes getan. Habt ihr sehr wohl. Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass ihr nicht gegen das Gesetz verstoßt. Dir zu erklären, warum Haschrauchen nicht gut für dich ist, das ist die Aufgabe deiner Mutter, und die will ich ihr jetzt mit Freuden überlassen.»

Mit diesen Worten wandte er sich um, und Mrs. Smith begleitete ihn zur Tür.

Garvie blieb, wo er war, starrte den Küchentisch an. Die abschließende Wendung des Gesprächs gefiel ihm gar nicht. Inspektor Fleckiger Turban hatte ihn ausgetrickst. Als er das Schließen der Wohnungstür und die nahenden Schritte seiner Mutter hörte, machte er sich auf einiges gefasst.

Lange herrschte Stille. Als er schließlich aufblickte, stellte er fest, dass sie ihn gar nicht ansah. Stattdessen drehte sie, mit abwesendem Blick, am Radio herum. Leise erhob er sich und schlenderte los in Richtung seines Zimmers, auf diese betont legere Art, die sie nicht –

Diesmal wurde er von den Lokalnachrichten aufgehalten. Die Polizei sei auf der Suche nach der fünfzehnjährigen Chloe Dow, einer allseits beliebten Schülerin an der Marsh Academy und talentierten Sportlerin, die am Abend zuvor verschwunden war.

Seine Mutter stand aufmerksam neben dem Radio, die Hand vor den Mund gelegt, und trotz allen Widerstands lauschte auch Garvie.

Suchtrupps, hieß es, durchkämmten den Osten der Stadt und die Außenbezirke, erschwert werde die Suche durch den unablässigen Regen. Bislang gäbe es keine Hinweise. Chloe habe das Haus gegen sieben Uhr abends verlassen, um joggen zu gehen, und sei nicht zurückgekehrt. Niemand habe sie gesehen, keiner wisse, wo sie abgeblieben sei. Sie sei einfach verschwunden. Detective Inspector Singh rief alle Mitbürger auf, sich zu melden, falls sie irgendwelche sachdienlichen Hinweise geben konnten.

«Elender kleiner Wichtigtuer», sagte seine Mutter. «Aber Garvie», sie seufzte schwer, «Chloe!»

Sie drehte sich um und sah ihren Sohn schweigend an.

«Was?», sagte er schließlich.

Mit sanfter Stimme antwortete sie: «Du hast dem Inspektor gar nicht erzählt, dass sie mal deine Freundin war.»

Garvie wandte den Kopf zum Fenster. Ein Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, den seine Mutter schon lange nicht mehr gesehen hatte und den sie erst mit Verzögerung wiedererkannte. Es war nicht der übliche Ausdruck von blanker Langeweile, den sie so gut kannte, sondern so etwas wie Verblüffung – als wäre ihm, zum ersten Mal seit Jahren, etwas unter die Haut gegangen und würde ihn nachdenklich machen.

Er murmelte etwas vor sich hin. Es klang wie: «Sex oder Geld», aber das ergab keinen Sinn.

«Garvie?», sagte sie.

Aber er war tief in Gedanken versunken.

4

Was für ein Typ Mädchen war Chloe Dow? Nicht der Typ, der einfach spurlos verschwand, das war mal sicher.

Einen Meter siebzig ohne Schuhe. Schulterlange blonde Haare, sehr glatt und glänzend. Veilchenblaue Augen. Schönheitsmal seitlich auf ihrer kleinen Nase. Legendärer Vorbau. Sie war das mit Abstand bestaussehende Mädchen an der ganzen Schule. Alle achteten darauf, was sie anhatte; dafür sorgte sie – in der Schule brauchte sie nur ihren vorschriftsmäßig knielangen Faltenrock einen Zentimeter hochzuziehen, um alle Blicke, einschließlich die der Lehrer, auf sich zu ziehen. Außerhalb der Schule konnte sie anziehen, was sie wollte, es erzielte maximale Wirkung. Man hätte meinen können, ihr Körper wisse instinktiv, wie alles am besten saß und zusammenpasste. Auffällig war auch, wie sie einfach nur dastand, wie das Modell eines Malers, das sich in Pose wirft. Auffällig war, wie sie sich bewegte, gewichtig und schwebend, geschmeidig und straff, als würde sie durch eine allgemeine Stille hindurchschreiten – die angespannte Stille der sie beobachtenden Jungen; die gebannte Stille schweifender Phantasien, wenn sie sahen, wie sie in der Mensa die Beine übereinanderschlug oder sich in der Klasse reckte, sodass sich ihre Silhouette provozierend vor dem Klassenfenster abzeichnete, oder wie sie um die Ecke von Block C gebogen kam und auf ihre spezielle Art über den Hof zum Hauptgebäude wandelte. Sie war Sportlerin und achtete auf ihre Figur. Zur Mittagszeit und nach der Schule trieben sich viele Jungen in der Nähe der Laufbahn herum, einfach um zuzusehen, wie sie elegant durch die Kurve auf sie zuschwebte, mit fließenden Bewegungen und fliegenden blonden Haaren.

All das war Garvie bekannt. Vor einem Jahr war er mal eine Zeitlang mit Chloe gegangen. Aber das war eine Sache, an die er sich eigentlich nicht erinnern wollte – und das bei seinem sagenhaften Gedächtnis. Und gerade jetzt, nach den jüngsten Ereignissen, fiel es ihm nicht leicht, daran zurückzudenken.

Er runzelte die Stirn. Zuletzt war auch noch der Polizeipräsident im Radio zu hören gewesen, um genau wie Inspektor Singh alle, die Chloe am Freitagabend vielleicht gesehen hatten, dazu aufzurufen, sich bei der Polizei zu melden.

Chloe Dow war joggen gegangen und nicht zurückgekehrt. Das war schockierend. Aber es war nicht interessant. Nein. Das Interessante an der Sache war, dass keiner sie gesehen hatte. Das auffälligste Mädchen der ganzen Gegend war joggen gegangen, und keiner hatte es mitgekriegt.

«Garvie?»

Endlich wandte er sich seiner Mutter zu und sagte verärgert: «Wie oft muss ich es dir noch sagen? Sie war nicht meine Freundin. Ich bin vielleicht zweimal mit ihr weggegangen. Das ist ein Unterschied.»

Seine Mutter sah ihm hinterher, wie er in sein Zimmer ging, nicht müßig, sondern zielstrebig, und nach einer Weile trat sie ans beschlagene Küchenfenster, um hinauf in den regenverhangenen Himmel zu spähen.

«Bitte mach, dass man sie findet», murmelte sie vor sich hin. «Bitte mach, dass man sie schnell findet.»

5

Doch es dauerte noch zwei Tage, bis die Polizei Chloe Dow fand. Am Montagmorgen, bei Anbruch der Dämmerung, zogen Froschmänner des Such- und Rettungstrupps sie aus dem Pike Pond, einem kleinen braunen Tümpel mitten im Ackerland in der Nähe von Froggett Woods.

Um zehn Uhr waren die mobilen Einheiten vor Ort, die Kriminaltechniker hatten die Umgebung abgesperrt und ein behelfsmäßiges Leichenschauhaus errichtet. Ein Stück abseits, ruhig wie immer, aber vielleicht ein wenig blasser als sonst nach drei mehr oder weniger schlaflosen Nächten, stand Inspektor Singh und wartete darauf, dass der Gerichtsmediziner kam und den Abtransport der Leiche freigab. Er selbst war schon vor sechs eingetroffen, um die Umgebung zu inspizieren, und hatte nur bei Sonnenaufgang eine kurze Pause eingelegt, um sein Morgengebet zu verrichten. Auch jetzt, während er wartete, notierte er mit methodischer Sorgfalt alles, was er sah.

Pike Pond lag am Rand einer Baumgruppe, in einer von rostigen Landwirtschaftsmaschinen vermüllten und mit Marschgras bewachsenen Senke, die nach dem Regen einem Sumpfgelände glich. Dahinter, halb verborgen von einer eingestürzten Mauer, befanden sich die verlassenen Gebäude eines alten Bauernhofs, die in aller Stille verfielen. Von dem mit Unkraut und Geröll übersäten Hof ging ein Weg ab. Er beschrieb vor dem Teich einen Bogen und führte durch die Felder am südlichen Rand von Froggett Woods entlang zur Ringstraße. Singh folgte diesem Weg mit den Augen, so weit es möglich war. Seiner Einschätzung nach musste Chloe Dow am Freitag gegen Viertel nach sieben diesen Weg entlanggekommen sein. Nach Aussage ihrer Eltern war das eine ihrer bevorzugten Strecken. In der Regel lief sie demnach bis zum Teich, bog am Rand eines Rapsfeldes auf den Pfad, um den Bogen zurück zu den Plätzen des Sportvereins zu schlagen und über Bulwarks Lane nach Hause zu laufen. Nur – an dem betreffenden Freitag hatte sie es nicht wieder nach Hause geschafft.

Ein weiteres Mal ging Singh um den Teich herum und suchte den Boden ab. Drei Tage Dauerregen hatte alle Spuren verwischt, die es gegeben haben mochte. Der nasse Untergrund federte weich.

Singh blickte auf, als sein Name gerufen wurde, und ging zum Weg zurück, um den Gerichtsmediziner zu begrüßen.

Len Johnson, der Onkel von Garvie Smith, war ein stämmiger Mann, geschätzt für seine warmherzige Art ebenso wie für die rechtsmedizinische Kompetenz, die er im Laufe seiner zwanzigjährigen Tätigkeit am Krankenhaus erworben hatte. Für junge Beamte, selbst wenn sie so steif und unnachgiebig waren wie Raminder Singh, war er eine Art Pate, immer freundlich und optimistisch.

«Raminder.»

«Leonard.»

Sie schüttelten sich die Hände und gingen gemeinsam zu dem Zelt, wo die Leiche untergebracht war.

«Sie leiten die Ermittlungen?», fragte Len Johnson.

«Ja.»

«Ihr erstes Mal?»

«Ja.»

«Schön für Sie. Freut mich. Ist allerdings eine undankbare Sache. Bei dem Wirbel. Sie sind wahrscheinlich der jüngste Inspektor, der je einen Fall von dieser Tragweite übernommen hat.»

Singhs Gesicht wurde ausdruckslos. Der Gerichtsmediziner hatte einen wunden Punkt berührt. «Mein Alter ist irrelevant», sagte er.

«Ich wollte nicht auf Ihren Mangel an Erfahrung anspielen, Raminder. Es war nur –»

«Wenn Sie nichts dagegen haben», sagte Singh, «sollten wir jetzt loslegen. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.»

Sie betraten das Zelt, und der Pathologe führte eine erste schnelle Untersuchung durch. Regungslos schaute Singh zu, wie die Hände des schweren Mannes leicht und geschickt über Chloe Dows leblosen Körper strichen. Er beugte sich vor, um ihre blinden Augen oder ihre weißen Fingerspitzen zu begutachten. Ganz behutsam berührte er ihren Hals, wo sich die Haut verfärbt hatte.

«Erwürgt?», fragte Singh nach einer Weile.

«Wahrscheinlich. Aber Sie wissen ja, wie es ist. Immer doch ein bisschen komplizierter, als man glaubt. Wir führen die Tests durch und erfahren dann später Genaueres aus dem Labor. Vorerst können wir nichts weiter tun, als sie in die Leichenhalle zu schaffen.» Er sah Singh an. «Und sie formell identifizieren zu lassen. Hat sie bei den Eltern gewohnt?»

«Mutter und Stiefvater.»

«Der schwierigste Teil.» Er legte eine Hand auf Singhs Schulter. «Viel Glück.»

Singh nickte kurz. Sie verließen das Zelt und gingen am Teich entlang zurück.

Singh zückte sein Notizbuch. «Was glauben Sie, wie lange ist sie schon tot? Erste Einschätzung?»

«Sehr schwer zu sagen vor der Untersuchung. Das Wasser macht die Sache kompliziert.»

«Selbstverständlich. Aber nach Ihrer Erfahrung?»

Sie blieben stehen, und Len Johnson legte die Stirn in Falten. «Seit wann wurde sie vermisst?»

«Freitagabend sieben Uhr.»

«Würde mich wundern, wenn sie nicht fast sofort danach umgebracht worden wäre. Innerhalb einer Spanne von, sagen wir, ein, zwei Stunden. Die Leichenstarre hat sich mehr oder weniger verflüchtigt. Bei diesen Wassertemperaturen können wir von fünfundfünfzig, sechzig Stunden Minimum ausgehen.»

Singh blickte auf seine Armbanduhr und schrieb ins Notizbuch.

«Aber zitieren Sie mich noch nicht», sagte Len Johnson. «Warten Sie die Ergebnisse aus dem Labor ab.»

«Der Polizeichef will schnell Fortschritte sehen», sagte Singh.

«Klar will er das. Aber es gibt schnell und es gibt dumm. Manchmal ist das eine schwer vom anderen zu unterscheiden. Vor allem bei unserem Polizeichef. Auch in diesem Punkt möchte ich bitte nicht zitiert werden.»

Sie schüttelten sich noch einmal die Hände. Singh wartete, bis Johnson bei seinem Auto war, dann machte er kehrt und schritt erneut den Weg ab, um nach Hinweisen zu suchen.

 

Neuigkeiten verbreiten sich schnell. Schon am Nachmittag trafen die ersten Schaulustigen am Pike Pond ein, um zu sehen, ob die Gerüchte stimmten. Zum Teil waren es Einheimische, ältere Bewohner der großen Häuser auf der anderen Seite von Froggett Woods, zum Teil aber auch einfach Sensationstouristen, die den Fall in den Lokalnachrichten verfolgt hatten, oder Herumtreiber, die nichts Besseres zu tun hatten an diesem bedeckten Nachmittag.

Dazu gehörten auch Schüler, darunter Garvie und seine Freunde. Nachdem sie sich vor der letzten Unterrichtsstunde vom Schulgelände geschlichen hatten, fuhren sie auf ihren Fahrrädern die Bulwarks Lane hinauf und über die Spielwiesen, ließen ihre Räder am Rande eines Rapsfeldes zurück und staksten durch Marschgras auf den Teich zu. Inspektor Singh und Leonard Johnson (sowie die sterblichen Überreste von Chloe Dow) waren schon längst verschwunden, doch immerhin waren noch einige Kriminaltechniker in weißen Overalls damit beschäftigt, den Teich und seine Umgebung abzusuchen, während ein paar ganz gewöhnliche Polizisten das Absperrband bewachten. Garvie und seine Freunde suchten sich eine höhere Stelle auf dem Brachfeld, von der aus sie eine gute Sicht hatten.

«Ich kann’s nicht glauben», sagte Smudge leise, während er ziemlich verzweifelt den Ort des Geschehens begutachtete. «Wir haben die Leiche verpasst.»

Er schien am Boden zerstört und auch ein bisschen fassungslos, als hätte er gerade festgestellt, dass sein Essensgeld verschwunden war.

Felix zog eine Augenbraue hoch. «Meinst du, die hätten uns mal gucken lassen?»

Garvie stand etwas abseits und sagte nichts, während Smudge und Felix sich eifrig umschauten.

Smudge hatte eine Idee, und gleich strahlte er übers ganze Gesicht. «Was meint ihr? Ich schätze, er war in dem Gemäuer da drüben versteckt. Und als er sie auf dem Weg hat kommen sehen, ist er angeschlichen und hat sie sich geschnappt.»

«Wer?»

«Der wahnsinnige Frauenschänder, wer immer es ist. Hat sich drüben in den Trümmern versteckt und auf sie gewartet.»

Felix dachte darüber nach und strich sich mit seinen dünnen Fingern über sein spitzes Gesicht. «Es sei denn, es war eine spontane Geschichte. Sagen wir, er hat hier irgendwas Krummes laufen, einen Deal oder was, und sie taucht zufällig auf und stört ihn dabei, er ist überrascht, und plötzlich versucht er, sie am Schreien zu hindern, reißt ihr die Klamotten vom Leib und …» Sein Redestrom versiegte.

Smudge blickte zu Garvie hinüber. «Hey, Knobelfreak! Wie siehst du die Sache?»

Garvie beachtete ihn gar nicht.

Smudge und Felix begannen sich über Alex zu unterhalten, einen gemeinsamen Freund. Alex war ziemlich lange mit Chloe gegangen, länger als irgendwer sonst, den sie kannten, und als sie vor einigen Monaten mit ihm Schluss gemacht hatte, war er daran fast kaputtgegangen. Er hatte mehr oder weniger sein Zuhause verlassen, war abgesackt und hauste jetzt die meiste Zeit in einer verborgenen Absteige in Limekilns, wo niemand hinkam außer irgendwelchen schrägen Vögeln, ein paar Kunden und Garvie Smith. In der Schule, wo jeder wusste, dass er immer noch verrückt war nach Chloe Dow, wurde er nicht mehr gesehen.

«Was wird er machen, wenn er es erfährt?», sagte Felix. Smudge schüttelte nur traurig den Kopf.

 

Keine halbe Stunde später erhielten sie die Antwort. Ein ramponierter Ford Focus ohne Außenspiegel schlingerte über den Feldweg. Bevor er die Anhöhe über dem Teich erreichte, wurde die Beifahrertür aufgestoßen, und ein Jugendlicher in einer rot-gelben Collegejacke stolperte heraus. Er war groß, dunkelhäutig und er weinte. Alex. Für einen Moment stand er da, die Hände in die nassen Haare gekrallt, und schrie. Dann rannte er den Hang hinunter auf das Wasser zu. Die Wachleute kamen gerade noch rechtzeitig, um ihn zu bremsen, als er die Absperrung durchbrach. Er streckte einen der beiden nieder, und eine Keilerei begann.

«Dem geht’s gar nicht gut», stellte Smudge fest.

«Und ganz frisch im Kopf ist er auch nicht», setzte Felix hinzu.

Sie rannten über das Brachland auf die Stelle zu, wo ihr Freund sich abmühte. Er stieß wilde Flüche aus – überwiegend gegen die Polizisten, zum Teil aber anscheinend auch gegen das tote Mädchen. Der Junge, der normalerweise so sanft und zurückhaltend war, befand sich in einem schrecklichen Zustand der Raserei. Sie hörten ihn schreien: «Du blöde Schlampe, warum hast du das getan?», dann kassierte er einen Schlag und lag auf einmal bäuchlings im Schlamm. Smudge und Felix wollten zu ihm rennen, aber einer der Polizisten verscheuchte sie auf der Stelle. Ihnen blieb nichts übrig, als den Bullen ein bisschen zu beschimpfen und sich auf die Anhöhe zurückzuziehen. Von dort aus sahen sie, wie Alex in einen Streifenwagen gesteckt und weggefahren wurde.

«Der hat ja wohl ’nen Schuss», sagte Felix. «Was glaubt der denn – dass sie sich selbst umgebracht hat?»

«Er muss aufpassen, sonst buchten die ihn gleich mit ein», sagte Smudge.

 

Als die Aufregung sich gelegt hatte, gingen all die Schaulustigen meist in Zweier- oder Dreiergruppen wieder ihres Weges. Um sechs Uhr waren fast alle weg.

Smudge sagte, er wolle sich auch mal vom Acker machen. Felix ebenso.

«Kommst du, Garv?»

Sie sahen ihn an, tauschten untereinander einen Blick. Die ganze Zeit hatte Garvie keinen Ton gesagt, war nur dagestanden und hatte abwesend durch die Gegend gestarrt. Jetzt endlich machte er den Mund auf.

«Was hat sie hier gemacht?»

Felix und Smudge tauschten einen weiteren Blick.

«Sie war joggen, Garv. Das wissen wir doch.»

«Warum hier?»

«Weil das eine ihrer Laufstrecken ist. Das haben sie in den Nachrichten erklärt.»

«Ach ja?»

«Tatsache.»

«Du glaubst, dass die in den Nachrichten Sachen erklären?»

Felix und Smudge schwiegen.

Nach einer Weile sagte Garvie: «Mochtet ihr sie?»

«Chloe?»

Sie schüttelten die Köpfe.

«Ich hätt’s mit ihr gemacht», fügte Smudge hinzu. «Aber gemocht habe ich sie nicht. Niemand mochte sie, Garv. Das weißt du doch. Ich meine, nichts für ungut, aber du weißt es besser als die meisten anderen.» Er zog seine Hosen hoch, kratzte sich und versuchte ein mitfühlendes Gesicht zu machen.

Ohne weitere Kommentare standen sie da und starrten auf den Teich.

Felix sagte: «Was ist jetzt, kommst du?»

Garvie schüttelte den Kopf. «Ich glaub, ich warte noch ein bisschen.»

«Was meinst du mit ‹noch ein bisschen›?»

Er blickte auf seine Uhr. «Noch mal achtunddreißigeinhalb Minuten.»

Sie sahen ihn verständnislos an, Felix zuckte mit seinen dünnen Schultern. Dann stiegen sie auf ihre Fahrräder, und Garvie sah ihnen nach, wie sie auf dem Feldweg davonfuhren, auf dem auch der Ford Focus und der Streifenwagen gefahren waren, auf dem Weg, auf dem Chloe oft gelaufen war.

Die schöne, unsympathische Chloe. Wie Smudge ganz richtig gesagt hatte: Niemand mochte sie. Und sie mochte auch niemanden. Sie war knallhart und aggressiv. Das war das Zweitauffälligste an ihr. Garvie hatte noch nie jemanden erlebt, der so ehrgeizig war. Sie wollte berühmt werden, und nichts sollte sie aufhalten. Sie war gewillt, alles auf diese eine Karte zu setzen. Das war der risikofreudige, zockende Teil ihrer Persönlichkeit. Das Modeln lag sozusagen auf der Hand. Ihr Aussehen brachte sie in eine gute Ausgangsposition, ansonsten wollte sie ihre Kontakte nutzen und auf ihr Glück vertrauen. Sie war immer darauf aus, Leute mit Einfluss kennenzulernen. Netzwerke aufzubauen. Schon mit dreizehn schrieb sie den Männern und Frauen, deren Namen sie in den Mode- und Filmzeitschriften gelesen hatte. Den Reichen, den Glamourösen, den Mächtigen. In letzter Zeit hatte sie zunehmend versucht, Zugang zu den Partys dieser Leute zu bekommen. Sie ging einfach zu den betreffenden Hotels, Clubs, Casinos, sah umwerfend aus und zeigte dem Türsteher ihr liebreizendstes Lächeln. Manchmal – so sagte sie – wurde sie hineingelassen. Und daraus hatten sich angeblich auch schon ein paar Shootings ergeben. Wenige Monate vor ihrem sechzehnten Geburtstag schien das große Abenteuer ihres Ruhms Gestalt anzunehmen.

Während Garvie all diese Gedanken in seinem Kopf wälzte, ging er ziellos über den nassen, weichen Untergrund. Einmal blieb er stehen und hockte sich hin, um etwas genauer zu betrachten: eine schmale, plattgedrückte Stelle im Gras, wo offenbar etwas Schweres gelegen hatte. Irgendein altes Geräteteil vielleicht. Eine Metallstange oder so. Er fragte sich, warum es bewegt und wozu es benutzt worden war. Dann schlenderte er weiter, bis er nach einem Blick auf die Uhr merkte, dass der Zeitpunkt gekommen war: 18:45 Uhr.

Er blickte hinauf in den Himmel.

Genau um diese Zeit vor drei Tagen hatte Chloe beim Anziehen ihres Trainingszeugs aus ihrem Zimmerfenster geschaut und entschieden, welche Strecke sie laufen wollte. Er sah jetzt das Gleiche, was sie gesehen hatte. Garvie kniff die Augen zu, runzelte die Stirn. Der Spätnachmittagshimmel wurde von den ersten Schatten der bevorstehenden Dämmerung eingefärbt. In der nächsten Viertelstunde ungefähr würde die Sonne sich verabschieden und das Tageslicht zu schwinden beginnen.

Und jetzt beschwor er eine Erinnerung herauf, die er eigentlich lieber begraben hätte – seine letzte Verabredung mit Chloe vor einem Jahr. Die Erinnerung tauchte so auf, wie es immer bei ihm war: klar und deutlich, als würde alles gerade jetzt erst geschehen. Er sah das Café im Five Mile Center vor sich, die glänzenden Kiefernholztische, die dazu passenden Stühle; er roch den Kuchen und den Kaffee, hörte den hallenden Lärm des Einkaufstrubels am Samstagvormittag. Er sah Chloe auf dem Stuhl gegenüber sitzen. Sie trug ein blaues Top mit Nackenträgern und graue Jeggings, außerdem ein Paar silberne, halbmondförmige Ohrringe, die er noch nie an ihr gesehen hatte. Alles schlicht und natürlich umwerfend. Sie redete auf ihn ein, wie üblich, er konnte sie geradezu hören. Chloe erzählte, sie habe sich neue Laufklamotten im Internet besorgt, total günstig. Ihre Stimme klang komisch, sie redete zu schnell. Er konnte ihr Gesicht sehen, die veilchenblauen, unruhigen Augen, die sich beim Sprechen öffneten und schlossen. Sie erzählte, sie wolle die neuen Sachen gleich am Mittag tragen, da werde sie joggen gehen, durch Froggett Woods nach Battery Hill und weiter zum Pike Pond. Sie erzählte irgendwas über Pike Pond und holte ein Papiertaschentuch hervor, betupfte sich die Augen. Und dann kam dieser Moment, absolut unvergesslich, aber im Grunde nicht der Erinnerung wert, als sie ihn zum ersten Mal an diesem Vormittag direkt ansah mit ihren glänzenden feuchten Augen. «Das war’s dann also? Lebwohl und gut?»

Und als er darauf nichts antwortete, sagte sie: «Dann also Lebwohl, Garvie Smith. Aber sag nicht, ich hätte mir keine Mühe gegeben.»

Er runzelte die Stirn. Das war genug an Erinnerung. Mehr als genug.

Er blickte über das Brachland, den Teich, den verfallenen Bauernhof. Außer einem einzelnen Polizisten, der am Wasser stand und auf seine Stiefel starrte, war niemand mehr da. Durch Unkraut und Abfall hindurch bahnte sich Garvie einen Weg zum Hof. Er war noch nie hier gewesen, kannte nicht einmal den Namen, bis er auf ein verrostetes Schild im Gras stieß: Four Winds Farm. Von einer Farm konnte keine Rede mehr sein. Durch die eingestürzte Mauer betrat er den Hof, blickte sich um und speicherte alles Gesehene im Gedächtnis ab: die alten, auf der Veranda gestapelten Matratzen, die zerbrochenen Fenster, die Zweige der Holunderbüsche, die wie Stacheln durch das eingefallene Dach wuchsen. Im Hof war der Betonboden an einigen Stellen geschwärzt, offenbar war hier Feuer gemacht worden. In einem verwitterten Unterstand gammelte ein ausgebranntes Auto, das verbliebene Gerippe rostrot verfärbt.

Ein düsterer Ort. Ein Ort für düstere Seelen.

Was hatte Chloe an jenem Vormittag im Café über Pike Pond gesagt?

«Es ist mir unheimlich da. Sobald es später wird, geh ich da nicht mehr hin. Noch nicht mal am Nachmittag, wenn es bedeckt ist.»

Um Viertel vor sieben an einem Freitagabend im April herrschte vielleicht noch Tageslicht, aber Chloe hätte sich niemals entschieden, zum Pike Pond zu laufen. Nicht um diese Zeit. Nicht aus freiem Willen.

Erneut runzelte er die Stirn.

Was also hatte sie hier gewollt?

Schließlich wurde es auch für ihn Zeit. Die Sonne ging unter, der Horizont in Richtung der Autofabrik färbte sich blutrot. Als er schon auf dem Fahrrad saß, drehte sich Garvie ein letztes Mal um und beobachtete, wie die Schatten sich über der Szenerie verdichteten. Ein übler Ort zum Sterben. Ein unheimlicher Ort, ganz wie Chloe gesagt hatte. Der Wald albtraumhaft düster, der Bauernhof eine Ruine und Pike Pond ein kaltes, schwarzes Gewässer, wie ein Teich aus dem Märchen, der so tief ist, dass er bis hinab in die Hölle reicht.

Das Letzte, was er sah, bevor er sich auf den Heimweg machte, war die umrisshafte Gestalt des Polizisten, der neben seinem Streifenwagen auf dem Feldweg stand und noch immer seine Stiefel anstarrte.

6

Am