Kieleck - Maximilian Pollux - E-Book

Kieleck E-Book

Maximilian Pollux

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Beschreibung

Kieleck ist mehr als ein übereifriger Beamter in einem Hochsicherheitsgefängnis. Er ist der wahre Herrscher hinter diesen Mauern. Nicht nur Gefangene, auch unliebsame Kollegen fallen seinen Intrigen zum Opfer. Zur Aufrechterhaltung seiner Ordnung ist ihm jedes Mittel recht. Doch Kieleck hat ein Geheimnis. Bei einer Briefkontrolle verliebt er sich in Anabelle, die Frau eines Gefangenen. Sie wird sein Lichtblick in dieser Welt aus Stahl und Beton. Als der Gefangene sich eines Tages von Annabelle scheiden lassen will, droht Kielecks Verstand zusammenzubrechen. Beim Versuch die Trennung zu verhindern kommt seine dunkle Seite zum Vorschein. Die eines grausamen, sadistischen Psychopathen. ER IST DAS GESETZ

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Maximilian Pollux

Kieleck

Roman

Rhein-Mosel-Verlag

Buch eins

1

»Hallo mein Prinz, wie geht’s dir?

Ich bin gerade auf dem Weg ins Bett und wie immer kreisen meine Gedanken dabei um dich. Mit etwas Glück träume ich gleich von dir und wir begegnen uns. Du kannst dir sicher denken, was für eine Art Traum ich dabei im Sinn hab. ;-) Ich wollte dir nur noch schnell sagen, dass ich dich liebe.

Deine Annabelle«

Das ist alles.

Kieleck dreht die Postkarte in seinen haarigen Fingern. Er betrachtet die rosa Herzen auf der Vorderseite. Die runde, bauchige Mädchenschrift auf der Rückseite. Der penetrante Geruch nach süßlichem Frauenparfüm, den die Karte verströmt, erregt ihn. Mit verschwommenen Augen drückt er sich die Postkarte direkt unter die Nase. Gierig zischend schnüffelt er daran. Wie ein Weinkenner, ein echter Genießer und Connaisseur oberster Güte.

Leider handelt es sich nur um eine kurze Postkarte und nicht um einen ausführlichen Brief. Er hätte gerne noch mehr über Annabelles Abend erfahren. Ob sie zum Schlafen wohl ihr niedliches kleines Nachthemd trägt, dazu noch ein duftendes Höschen, oder schläft sie gar nackt?

Ja! Der Gedanke gefällt ihm.

Das kleine Schlämpchen ist beim Schreiben bestimmt schon ganz feucht gewesen. Kieleck merkt, wie sich sein Schwanz in der engen Uniformhose zu regen beginnt. Warum hat sie sich nicht die Mühe gemacht, einen ganzen Brief zu schreiben? Und vielleicht ein sexy Foto mit reinzulegen?

Immer noch an der Karte riechend reibt er sich den halbsteifen Schwanz.

Um sich einen runterholen zu können, bräuchte er mehr Material als dieses eine jämmerliche Kärtchen. Hastig wühlt er sich durch den Stapel Briefe, der vor ihm auf dem Schreibtisch liegt.

Niemand außer ihm ist im Büro. Er könnte die Gelegenheit also nutzen, wenn … Doch die weiteren Briefe sind alle enttäuschend. Kieleck macht den Job schon lange genug und kann bereits an den Umschlägen erkennen, worum es sich bei einer Sendung handelt. Überraschungen gibt es dabei selten. Der Stapel birgt hauptsächlich Gerichtspost. Graue, oder gelbe Umschläge aus recyceltem Papier. Dazwischen einige Briefe von Freunden an Freunde. Von Annabelle ist heute nichts weiter dabei.

Etwas enttäuscht bemerkt er, wie sich sein Schwanz zusammenzieht, klein und harmlos wird. Mist! Erst macht sie ihn geil und dann das. Sie spielt gerne mit ihm und sie spielt unglaublich gut. Was für eine Frau!

Die übrige Post ist, wie vermutet, Müll. Er überprüft sie trotzdem gewissenhaft. HAH! Bei Edelstein, einem der jüngeren Zigeuner-Arschlöcher von C2, wird ein neues Verfahren eröffnet. Das sind gute Nachrichten. Sicher wird man ihm noch ein paar Jährchen aufbrummen. Das wird ihm vielleicht die Arroganz aus der Fresse brennen.

Und hier, ein Todesfall in der Familie. Das ist heikel. Man kann nie wissen, wie jemand reagiert, wenn er erfährt, dass der eigene Vater gestorben ist. Manche werden depressiv, versuchen sich selbst zu töten. Anderen ist es scheißegal. Schließlich gibt es hier den ein oder anderen, der seinen Vater selbst ermordet hat.

Besondere Beachtung verdienen in diesen Fällen nur die, die dazu neigen, ihrer Umwelt und vor allem den Bediensteten gegenüber gewalttätig zu werden. Diese Arschlöcher muss man ganz genau im Auge behalten.

Kieleck beschließt diese Nachricht noch etwas geheim zu halten. Er verstaut den Umschlag in seiner Schreibtischschublade. Neuigkeiten wie diese wollen im richtigen Moment präsentiert werden. Eine gute Gelegenheit dazu wird sich finden und wie bei allen Dingen im Leben heißt es nichts überstürzen.

Ansonsten ist der komplette Stapel Post nur heiße Luft, nichts als bla, bla, bla. Er überfliegt die restlichen Briefe dennoch gut gelaunt. Er liebt diese Momente, in denen er allein ist mit der Korrespondenz der Gefangenen. Keine nervtötenden Kollegen. Das Gesindel weggeschlossen. In diesen Momenten fühlt er sich wohl und tiefste Zufriedenheit durchflutet ihn. Wenn doch nur Annabelle mehr als diese eine billige Karte geschickt hätte. Annabelle …

Zuhause hat er eine stattliche Sammlung Fotos von ihr. Viele davon in eindeutigen Posen. Bei dem Gedanken an seinen Schrein regt sich erneut sein Schwanz. Was findet eine Topfrau wie Annabelle nur an einem Kerl, der hier einsitzt? Auch noch lebenslänglich. Anstatt sie jeden Abend alleine einschlafen zu lassen, würde Kieleck ihre Maschine schon auf Touren bringen. Oh ja, das würde ich.

Noch einmal riecht er an der Karte. Auf seiner frisch rasierten Glatze bilden sich kleine Schweißtropfen.

In Wahrheit sitzt Kieleck nicht freiwillig in diesem Büro. Seit Jahren auf demselben Posten. Es ist alles eine Art Notlösung und doch, die Briefkontrolle entschädigt ihn für vieles.

Er genießt sie so sehr.

Plötzlich öffnet sich die Bürotür und ein junger Kollege blickt verunsichert herein.

»Herr Kieleck, es ist soweit, oder? Soll ich die Gefangenen jetzt aufsperren?«

Kieleck lässt die Postkarte sinken und blickt lustlos auf die Wanduhr über der Tür.

10.25 Uhr. Zeit den Abschaum aus seinen Löchern zu holen und für eine Stunde ans Tageslicht zu lassen. Er hat nie wirklich verstanden, warum man den Gefangenen die 60 Minuten Hofgang gesetzlich zugesteht. Das ist mehr Zeit im Freien, als mancher Fabrikarbeiter am Tag genießen kann! Rechte, immer mehr Rechte.

Er schüttelt den Kopf.

Früher hätte man die meisten einfach an die Wand gestellt, dann wäre Ruhe. Heute füttert man sie jahrzehntelang durch und dann noch die Ausländer, die …

»Herr Kieleck?«

Wieder der junge Anwärter. Ein Bursche von gerade 25 Lenzen, dem die Korrektheit noch aus dem Arsch trieft. Er hat zweifellos von den 60 Minuten gehört und will sich an die Regeln halten. Keine Fehler machen. Recht muss Recht bleiben. Er hat sicher auch davon gehört, dass Gefangene das Recht haben Beschwerden zu schreiben und dass einige nur allzu gerne Gebrauch von diesem, ihrem Recht machen. Wer kann es ihm verdenken, dass er sich in seiner ersten Woche hier nicht unbeliebt machen will? Nicht zur Zielscheibe des ohnehin überbordenden Hasses werden will?

Unsicher tritt er von einem Bein aufs andere.

Was für einbeschissenes Weichei. Die Tiere da draußen werden ihnzerkauen und ausspucken wie ein altes Kaugummi.

Kieleck blickt ihm vielsagend in die Augen.

»Haben Sie Ihre Ausrüstung überprüft?«

»Ähh, ja, Herr Kieleck!«

»Funkgerät, Namensschild und das Wichtigste, Ihren Schlüssel?«

»Jawohl, Herr Kieleck!«

»Verlieren Sie um Himmels Willen niemals Ihren Schlüssel! Davon kann unser aller Leben abhängen. Ist Ihnen das klar?«

»Gewiss, Herr Kieleck!«

Der Anwärter fühlt sich zusehends unwohl in seiner Haut und versucht, Kielecks durchdringendem Blick auszuweichen. Der hat seinen Spaß und starrt den jungen Mann weiter unbarmherzig an.

»Der Schlüssel ist so wichtig wie Ihr Schwanz! Begreifen Sie das besser schnell. Sie schätzen doch wohl Ihren Schwanz, nicht wahr? Nun, jetzt stellen Sie sich einen Moment vor, eines dieser Monster bekommt Ihren Schlüssel, also Ihren Schwanz, in die Finger. Was glauben Sie wohl, werden die damit machen? Richtig, dann sind wir alle gefickt. Wir haben es hier mit Psychopathen zu tun. Die würden Ihre Frau töten, um diesen Schlüssel zu bekommen. Sind Sie überhaupt verheiratet? Nein? Na, egal. Die würden auch Ihre Schwester töten. Jawohl, vergewaltigen! Zu Tode ficken, verschleppen und in einem Wald vergraben, oder andersrum. Wer weiß das schon? Sie etwa? Nein, ganz sicher nicht. Also haben Sie das jetzt verstanden?«

»Ja, ich denke schon, Herr Kieleck.«

Kieleck schenkt ihm sein freundlichstes Lächeln.

»Dann ist’s ja gut.«

Plötzlich, mit einer Geschwindigkeit, die man seinem massigen 90-Kilo-Körper gar nicht zutrauen würde, springt er aus seinem Bürostuhl und klatscht in die Hände.

»Auf geht’s! Lassen wir die Hunde los! Jetzt werden wir einigen der gefährlichsten Menschen der Welt gegenübertreten. Ich hoffe, ich kann auf Sie zählen.«

Kieleck klopft seine Taschen ab.

»Haben Sie irgendwo meinen gottverdammten Schlüssel gesehen? Ständig verleg ich das Mistding.«

Auf der Uhr ist es fünf nach halb. Wegen Kielecks Monolog würde es für die Gefangenen heute nur 55 Minuten Hofgang geben. Am allerwenigsten interessieren Kieleck in dieser Hinsicht irgendwelche Beschwerden. Schließlich kontrolliert er die Ein- und Ausgangspost. Das wären nicht die ersten Beschwerden, mit denen er sich den Arsch abwischt.

2

Kielecks Schritte hallen laut durch die noch leeren Gänge. Er lässt die schweren schwarzen Stiefel, die er trägt, auf den Fliesenboden knallen. Das tut er absichtlich. Notfalls kann er sich lautlos anschleichen, wie eine Katze. Dann wird man ihn erst bemerken, wenn er den Schlüssel im Schloss herumdreht.

Doch zum einen mag er den scharfen, militärischen Klang marschierender Stiefel und zum anderen weiß er, dass die Gefangenen dieses Geräusch hassen.

Dazu haben sie auch allen Grund.

Vielleicht erinnert es einige daran, dass sie hinter dicken Stahltüren eingesperrt sind wie Tiere, während ihre Bewacher frei auf- und ablaufen dürfen. Vielleicht auch nur daran, dass es ein Leben außerhalb ihrer vier Wände gibt. Ein Leben, an dem teilzunehmen ihnen nicht gestattet wird. Den meisten hier für eine sehr lange Zeit. Manchen überhaupt nie wieder.

Das Geräusch der Schritte vor der Tür wird also mit vielem assoziiert und in den wenigsten Fällen gibt es den Gefangenen ein gutes Gefühl. So einfach ist es für Kieleck. Der Abschaum fühlt sich schlecht – er fühlt sich besser.

Außerdem darf man nie vergessen, dass die meisten Typen hier drin ständig irgendetwas im Schilde führen und da kann es nicht schaden, Präsenz zu zeigen. Von Kieleck abgesehen, tragen nur die Angehörigen der S-Gruppe solche schweren Kampfstiefel.

Früher selbst einmal Mitglied, verabscheut Kieleck diesen elitären Verband heute zutiefst. Die Kränkung die er durch sie hinnehmen musste, wird er nie vergessen. Auch die Gefangenen hassen die S-Gruppe. Sie müssen ständig auf der Hut sein, fürchten Blitzkontrollen und Drogentests. Im Hinblick auf Stiefelgetrappel sind sie also auf Wachsamkeit konditioniert.

Kieleck geniesst dieses Gefühl der Furcht um ihn herum. Allein durch seine Schritte nimmt er Einfluss auf jedes einzelne dieser armseligen Leben hinter den Stahltüren. Musik verstummt, Fernsehgeräte werden leiser gedreht, der Atem angehalten.

Kommen die zu mir?

Was hab ich Verbotenes in der Zelle?

Bitte nicht heute! Lieber Gott, lass sie weitergehen.

So viel Furcht. Er kann sie beinahe riechen.

Vergnügt schreitet er weit aus. Wie hätte er da seine Stiefel gegen die schwarzen Turnschuhe tauschen mögen, die mittlerweile im Vollzugsdienst erlaubt sind? Alle seine verweichlichten Kollegen tragen sie. Kielecks bescheidener Meinung nach tauschen sie damit Macht gegen Bequemlichkeit. Was sind schon ein paar Blasen an den Füßen im Vergleich zu dieser Macht?

Er hasst sie alle, diese Hippies. Er hasst sie von ganzem Herzen.

Heute Morgen, beim Öffnen der Hafträume, war ihm der junge Anwärter nicht von der Seite gewichen. Man bläut den Frischlingen ein, dass sie bei jedem Schritt wachsam sein müssen. Der kleinste Fehler kann einen Kollegen das Leben kosten. Also scheissen sich die Jungen in die Hosen und ihr kümmerlicher Versuch, sich an alle Vorschriften zu halten, macht sie erst recht fehleranfällig.

Wieso zum Teufel zwingt man sie nicht erst mal alle wieder in anständiges Schuhwerk?

Kieleck schnaubt.

Scheißbürokraten. Studierte. Haben keine Ahnung, was hier an der Front wirklich los ist!Das hier ist kein Zuckerschlecken! Wir sind nicht die Security in irgendeinem miesen Einkaufszentrum. Wir arbeiten in einem Hochsicherheitsgefängnis.

Kieleck ist kein weichgespülter Idiot. Er weiss, dass es unter den Insassen mehr als einen gibt, der dazu imstande ist, einem das Licht auszublasen. Immer wieder gibt es Messerstechereien. Vor einigen Jahren sogar die Geiselnahme und Vergewaltigung einer Kollegin.

Was diesen Ort hier besonders gefährlich macht, ist seine Ruhe. Wochen- und monatelang passiert nichts. Alles bleibt still. In jeder Kindertagesstätte mag es mehr Probleme geben. Ruhe, nichts als Ruhe und dann plötzlich – knallt es!

Als würde sich eine aufgestaute Spannung entladen.

Es ist beinahe unmöglich vorherzusagen, wo der Blitz einschlagen wird. Das ist einer der Gründe, warum man hier, entgegen den eigentlichen Gesetzesvorgaben, jeden einzelnen Brief genau durchliest. Diese Briefe zeichnen ein präziseres Bild des Seelenlebens eines Gefangenen als jede Akte. Oft gibt sich einer nach außen hin taff und heiter. »Fuck, ihm kann der Scheiß doch nichts anhaben …« – aus seinen Briefen jedoch quillt tiefste Verzweiflung.

Genau auf solche Widersprüche gilt es zu achten. Meistens sind diese Zerrissenen nur eine Gefahr für sich selbst und Kieleck ist froh über jedes Arschloch, das sich die Pulsadern aufschneidet, sich ans Gitter hängt, eine Überdosis nimmt, sich mit Rattengift erledigt, eine Rasierklinge schluckt, oder eine Plastiktüte über den Kopf stülpt. Einer weniger, für den der Steuerzahler aufkommen muss. Die Statistiken zeigen, wie oft Häftlinge die Reißleine ziehen. Kielecks bescheidener Meinung nach endlich eine Statistik, die zeigt, wie verdammt gut er seinen Job macht.

Trotzdem darf man diese Zeichen innerlicher Zerrissenheit nicht ignorieren. Wer sagt einem, dass der Irre sich nicht dafür entscheidet jemanden mitzunehmen? Ein sogenannter erweiterter Suizid.

Vorsicht ist, in solchen Fällen, die Mutter der Porzellankiste.

Bei den Briefkontrollen versucht Kieleck also zwischen den Zeilen zu lesen. Die feinen Nuancen zu beachteten und auch wenn er nicht alles nach oben, zum Referat 16S, weiterleitet, weiß er doch gerne selbst, wen er im Auge behalten muss.

Nicht zuletzt geht es bei der Kontrolle um die Zensur. Sollte irgendein Witzbold sich zu ausführlich über den internen Vollzugsablauf beschweren, findet sein Brief den direkten Weg in den Mülleimer. Bei akuten Drohungen oder Beleidigungen, wie dem immer wieder gern gemachten Dritte-Reich-Vergleich, schaltet Kieleck die Staatsanwaltschaft ein. Der anarchistische Scherzkeks hat dann die Chance auf eine Strafanzeige und da ist von einem Bußgeld bis zum Nachschlag alles drin.

Der Gedanke lässt Kieleck lächeln. Wie viele Klugscheißer haben sich so schon selbst den Aufenthalt hier drin verlängert.

Ein weiterer unverzichtbarer Punkt ist das Checken der mitgeschickten Fotos. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einige sind gewaltverherrlichend und Abbildungen von Schusswaffen sind im Haus verboten. Man schneidet solche Bilder sogar aus den Tageszeitungen heraus. Das führt regelmäßig zu Diskussionen mit deren Abonnenten.

Natürlich gibt es innerhalb der Anstalt ein striktes Pornografieverbot, woran sich nicht alle Ehefrauen und Freundinnen halten. Bei dem Gedanken daran beginnt Kieleck wieder zu schwitzen. Was man da alles zu sehen bekommt! Oft genug können Nacktbilder nicht ausgehändigt werden, weil man ein sogenanntes primäres Geschlechtsorgan erkennen kann.

Wenn die Frau nicht seinem Geschmack entspricht, lässt Kieleck den Gefangenen zu sich kommen und hält ihm eine Standpauke. Er weist den Schmutzfink darauf hin, dass er, Kieleck, solche Fotos nicht aushändigen darf und die Frau so etwas in Zukunft zu unterlassen hat.

Die Reaktionen, die er da zu sehen bekommt, sind himmlisch.

Einige der erwachsenen Männer fangen unterwürfig an zu betteln, wie Hunde. Er möge doch ein Auge zudrücken. Die Nächte wären lang und einsam und schließlich sei man doch verheiratet.

Kieleck bleibt hart. Regel ist Regel.

Anderen Gefangenen ist es sehr unangenehm, dass ein Fremder, noch dazu ein Beamter, die eigene Frau nackt zu sehen bekommt. In diesen Fällen setzt Kieleck langsam seine Lesebrille auf und betrachtet die Bilder ausführlicher. Dabei leckt er sich schmatzend über die Lippen. Lässt seinen Kamerablick über die steifen Nippel, nackten Ärsche und kleinen Muschis gleiten. Die ganze Zeit über steht der Gefangene vor ihm, läuft rot an und windet sich.

Köstlich.

Nach eingehender Untersuchung sagt Kieleck dann mit untröstlicher Stimme etwas wie: »Es tut mir wiiiirklich sehr leid, aber solche Fotos kann ich Ihnen hier nicht aushändigen. So sind die Regeln. Das verstehen Sie doch sicher.«

Gefällt ihm die Schlampe auf den Bildern nicht, schickt er sie weiter zur Kammer, wo sie eingelagert werden. Natürlich nicht, ohne sich damit über sein Arschloch gewischt und eine kleine, erzwungene Ladung Sperma darauf verspritzt zu haben.

Gefällt ihm die Absenderin, gehen die Bilder eben auf dem Postweg verloren.

3

Manchmal wünscht er sich, die Postkontrolle wäre seine einzige Tätigkeit. Dann ermahnt er sich, ruft sich zur Ordnung. Als stellvertretender Vollzugsdienstleiter ist er für zwei Gänge mit insgesamt 38 Gefangenen verantwortlich. Sein Aufgabengebiet umfasst mehr als das Lesen und Evaluieren der Post.

Mit diesmal nur halblautem Schritt marschiert er, gefolgt von dem pickelgesichtigen Anwärter, durch den Gang.

Wie heißt der Junge doch gleich? Immer wieder vergisst er dessen Namen. Oswald. Ja! Aber ist das ein Vor- oder Nachname? Oder war es Ewald?

Drauf geschissen!

Nr. 113/02 hat heute Besuch. Zu diesem Zweck müssen sie ihn natürlich aus seinem Haftraum holen. Kieleck sperrt die Tür auf.

»Bascak, Besuch. Auf geht’s!«

113/02, der ohnehin schon gespannt in seiner Zelle auf und ab gelaufen ist, tritt heraus. Entgegen seiner Art lächelt er.

»Guten Morgen, Herr Kieleck.«

»Ja ja …«

Besuch ist etwas ganz Besonderes für jeden Gefangenen. In diesen drei Stunden im Monat, können sie ihre Familien und Freunde sehen. Sie dürfen sich daran erinnern, dass es ein Leben außerhalb dieser Mauern gibt. Manchmal kommt es Kieleck vor, als füllten einige dieser Halbtoten dabei ihren Akku auf. Bekommen Kraft, Zuversicht und Hoffnung zugesprochen. Davon zehren sie dann wieder einen Monat lang.

Kieleck hofft stets von ganzem Herzen, dass der Besuch nicht erscheinen wird. Eine plötzliche Grippe, oder gar ein Herzinfarkt. So etwas kann doch vorkommen, oder etwa nicht? Die Besucher sind oft alt, und wer achtet heute schon noch auf seine Gesundheit? Oder vielleicht etwas ganz Ausgefallenes. Bei dem Versuch, einem über die Fahrbahn rennenden Fuchs auszuweichen, rast die ganze Familie in einen entgegenkommenden Lieferwagen. Der ist voll beladen mit Kreissägeblättern, die gerade vom Schleifen geholt wurden, um sie in der hiesigen Schreinerei abzuliefern. Surrend und scheppernd wird nun Hackfleisch produziert. Arbeitet der Gefangene 113/02 nicht zufällig in der Schreinerei? Sachen gibt’s!

Heute wird es leider keinen Besuch geben, Herr Bascak. Um genauer zu sein, es wird nie wieder Besuch geben, außer die Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr bringen Ihre Angehörigen in einem Eimer vorbei. Und wegen der Kreissägeblätter, die Sie zum Schleifen gegeben haben, auch die kommen etwas später. Es tut mir leid.

Kieleck beginnt leise zu beten.

Taucht ein Besucher nicht wie vereinbart pünktlich auf, wird es spannend. Der Gefangene ist am Boden zerstört, in einer emotionalen Ausnahmesituation. Für ihn ist es so gut wie unmöglich herauszufinden, was passiert sein könnte. Es gibt keine Mobiltelefone, kein verficktes WhatsApp, kein Facebook, niemand twittert einen Scheiß und geinstagramed wird ganz sicher nicht.

Diese Ungewissheit reißt den Gefangenen in solchen Fällen regelrecht auseinander. Wie soll er schlafen, essen, scheißen?

Für Kieleck gibt es dafür nur ein Wort – Herrlich!

Dabei hat das Fernbleiben der Besucher oft die banalsten Gründe. Wird ein Termin schon vorher abgesagt, hält Kieleck den Brief einfach ein wenig zurück und schon bekommt er die Show, die er so gerne miterlebt. Nämlich wie diese ach so harten Typen vor lauter Unsicherheit in sich zusammenfallen.

Bei Bascak hat diesmal leider alles gut geklappt. Der Besuch wartet schon unten. Es bleibt Kieleck nichts übrig, als weiter um einen Schlaganfall zu beten. Er presst die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschen. Das Kreischen von hundert über die Autobahn fliegenden Kreissägeblättern schreit in seinem Schädel. Eine dicke blaue Ader erscheint pulsierend auf seiner Stirn und vor lauter Adrenalin durchflutet ein metallischer Geschmack seinen Mund.

»Herr Kieleck?«

Er muss sich zurück in die Realität kämpfen.

Nur nicht abdriften. Nicht jetzt! In letzter Zeit geschieht mir das immer öfter. Konzentrier dich!

»Herr Kieleck?«

Komm zurück! Jetzt!

»Ja verdammt! Was ist denn?«

Der Anwärter steht an seiner Seite und starrt ihn an. Sie sind den Gang bis zum Ende gelaufen und stehen vor einer grünen Gittertür. Die Treppenaufgänge sind durch schwere Gitter abgeschottet. So kann man nur mit einem Schlüssel von Stockwerk zu Stockwerk gelangen.

Außer, man ist ein guter Kletterer und drückt sich an den überall gespannten Auffangnetzen vorbei. Dabei handelt es sich um eine relativ neue Anschaffung. Nachdem früher immer wieder Gefangene vom dritten Stock ins Parterre herabfielen. Die meisten sprangen selbst, der ein oder andere wurde »gesprungen«. Das Geräusch auf dem Fliesenboden aufschlagender Gefangener ging einem durch Mark und Bein.

Nun gibt es im ersten Stock ein Auffangnetz, wie man es aus dem Zirkus kennt. Und das in jedem Gang der beiden Haupthäuser. Zweifellos retten diese Netze Leben. Leider waren sie nicht billig und Kieleck schaudert beim Gedanken an die horrenden Kosten.

»Geht es Ihnen gut, Herr Kieleck?«

Wieder Herr seiner Sinne sperrt er ohne zu antworten den Durchgang zum Treppenhaus auf. Sie müssen ein Stockwerk tiefer, um durch einen unterirdischen Gang in den Besuchsraum zu kommen. Der liegt, wie ein Bunker, unter der Erde. Hauptsächlich aus praktischen, nämlich Platzgründen, doch darüber hinaus bietet er auch maximale Sicherheit.

Im Falle einer Geiselnahme, oder einer Revolte, ist die Situation dort unten leichter zu klären. Keine Fenster, jeweils nur ein Ein- und Ausgang.

Auf dem Weg dorthin müssen die Gefangenen einer Leibesvisitation unterzogen werden. Zu diesem Zweck gibt es einen kleinen Raum, in dem sich jeder, begleitet von mindestens zwei Beamten, nackt ausziehen muss. Die Insassen sind daran gewöhnt und so findet sich recht selten ein verborgener Gegenstand, wie kleine Kassiber oder Schmuck. Früher wurde auch mal Geld rausgeschmuggelt, aber in letzter Zeit …

Das strenge Sicherheitskonzept greift. Auch das Klientel ist ein anderes als vor 25 Jahren. Kieleck seufzt. Manchmal vermisst er die alten Zeiten.

Bascak bleibt von selbst vor der Tür zum LV-Raum stehen. Für ihn ist dies Routine. Er zieht sich häufiger vor Zuschauern aus als ein Pornostarlet. Kieleck selbst schätzt diesen Teil seiner Arbeit nicht besonders. Manche der Gefangenen sind dreckig und stinken zum Himmel. Dann ihre vergammelten Socken und vollgeschissenen Unterhosen zu kontrollieren, ist trotz der Latexhandschuhe kein Vergnügen.

Wenigstens werden wir jetzt sehen, ob der Anwärter tatsächlich eine Tunte ist.

Wie es Kieleck schon den ganzen Morgen vermutet.

Nicht alle Gefangenen sind heruntergekommen und Bascak ist in ausgezeichneter Form. Für Kieleck ist es nicht minder widerlich, ein gut gebautes Arschloch nackt zu sehen, aber für die rosa Brigade unter seinen Kollegen? Die sehen dann doch lieber was Schnuckliges.

Und dass es solche Kollegen gibt, steht außer Frage. Natürlich gibt es im ganzen Landkreis keinen Beamten, der nicht ab einem bestimmten Alter verheiratet ist und Kinder hat. Gleichzeitig ist es kein Geheimnis, dass manch einer schwuler ist als Elton John. Offene Homosexualität hat Kieleck im Kollegenkreis jedoch noch nie erlebt.

Scheiße, so weitkommt es noch. Nach so einem Outing würde er sich, anstatt einiger leckerer Schwänze, seine Karriere in den Arsch schieben können.

Da heiratet man eben die eigene fette Cousine oder eine, die sonst als alte Jungfer gestorben wäre. Irgendwer packt ihr dann schon einen Braten in die Röhre. Ganz einfach. Das hat Tradition.

Kieleck selbst läuft außerhalb dieser Regeln. Niemand würde ihn für schwul halten, auch wenn er bis heute nicht verheiratet ist. Er hat schließlich DIE FRAU am Hals, aber das ist eine andere Geschichte.

Wie gesagt, dass sich keiner zum Schwulsein bekennt, heißt nicht, dass keiner schwul ist. Oft sind die Leibesvisitationen ein aussagekräftiges Indiz. Wer die gerne macht, sich unauffällig freiwillig dafür meldet und dann noch glasige Augen beim Blick auf einen dicken Verbrecherpimmel bekommt, der macht sich in Kielecks Augen zumindest verdächtig.

Auch der Welpe, den Kieleck heute an der Backe kleben hat, erscheint ihm ein klein wenig zu aufgeregt. Bascak scheint das zu bemerken, denn als er sein T-Shirt auszieht, flext er kurz den muskulösen Oberkörper.

»Schauen ist umsonst, aber alles Weitere kostet.«

Der Verbrecher ist wegen der Vorfreude auf seinen Besuch gut gelaunt und zum Scherzen aufgelegt. Mit rot leuchtenden Wangen dreht sich der Anwärter zur Seite.

Schnell merkt er, dass das dem Zweck der Leibesvisitation widerspricht und wendet sich wieder dem Gefangen zu. Der ist mittlerweile nackt.

Na sieh mal einer an, der Schwuchtel ist es noch peinlich. Noch! In wenigen Wochen wird er seine Scham ablegen und sogar verlangen, dass die Gefangenen sich nach vorne beugen, die Arschbacken spreizen und husten. Das gewährleistet dem Kenner einen freien Blick auf den zuckenden Anus. Dieser kleine Rosettenprinz.

Theoretisch können sich die Gefangenen weigern, dieses entwürdigende Ritual auszuführen. Im schlimmsten Fall kann das aber dazu führen, dass ein Röntgenbild angeordnet wird. Nur so kann man sicherstellen, dass keine verbotenen Gegenstände im Körper versteckt sind. Offensichtlich würden sie dadurch ihren Besuchstermin verpassen und wer will das schon riskieren?

Die Analpiraten unter seinen Kollegen wissen davon und nutzen die Situation nur zu gerne aus.

Da Kieleck auf diesen Anblick verzichten kann und nicht glaubt, dass dem Gefangenen ein zusammengerolltes Bündel Hunderter aus dem Arsch plumpst, nur weil er hustet, während er eine Kniebeuge macht, besteht er ungern auf die ganze Prozedur. Er sieht den ganzen Tag schon genügend Arschlöcher und kann auf eine Nahaufnahme verzichten.

Bascak dreht sich automatisch um und zeigt ihnen seine nackten Fußsohlen. Währenddessen durchsucht der Anwärter auf Kielecks Geheiß hin die am Boden liegenden Kleidungsstücke. Beinahe liebevoll tastet er mit behandschuhten Fingern über die Unterhose, die Socken … Fuck! Kieleck hat genug gesehen.

»Anziehen!«

Seine Stimme durchschneidet die unangenehme Stille. Der Anwärter sieht beinahe enttäuscht aus.

Sicher fühlt er sich um seine Analparade geprellt. Miese kleineSchwuchtel. Kieleck reicht es nun wirklich. Was für ein Tag!

Das Anziehen geht schnell vonstatten und sie verlassen die kleine, fensterlose Kabine. Kieleck wird den Gefangen bis hinunter in den Besuchsraum bringen. Von da an, bis zum Ende des Besuchs, ist er dann nicht mehr sein Problem. Laut Besuchsantrag kommt Bascaks Mutter, eine alte Schachtel. Anders wäre es, wenn H. Besuch gehabt hätte. Denn H. wird nur von Annabelle besucht.

Annabelle in einem kurzen Kleid, mit hohen Schuhen und rot geschminkten Lippen. Verführerisch lächelnd. Für sie hatte er sogar schon Überstunden gemacht, komplette Dienstpläne geändert und an Feiertagen Dienst getan. Klopfenden Herzens denkt Kieleck daran, wie sie jeden Raum, den sie betritt, ausfüllt mit ihrer Wärme. Eine Göttin, zur Erde herabgestiegen, um unter den niedrigsten Geschöpfen zu leben.

Auf ihre nächste Nachricht wird er wohl bis morgen warten müssen.

Er strafft sich, um seinen verklärt glänzenden Blick wieder in die Gegenwart zu lenken. Vor ihnen liegt die Tür zum Besuchsraum. Passt.

Die Tür öffnet sich automatisch und Bascak tritt ein. Ohne sich zu verabschieden, geht er nach innen davon. Endlich. Den Anwärter im Schlepptau, macht Kieleck sich sofort auf den Rückweg. Es ist Zeit für einen Kaffee und ein oder zwei Briefe.

Doch zuerst muss ich diese Schwuchtel loswerden.

4

Wieder im Büro angekommen, schickt er den jungen Kollegen ins Spital, das in einem eigenen Gebäude, am anderen Ende des Geländes, untergebracht ist. Will ein Gefangener einem Arzt vorgeführt werden, muss er dort hin. Dies geschieht immer in Begleitung mindestens eines Beamten.

Kieleck ist der festen Überzeugung, dass die medizinische Versorgung hier drin mindestens so gut ist wie draußen und damit viel zu gut. Man schmeißt Millionen dafür aus dem Fenster, um diese Faulpelze und Drückeberger mit Medikamenten zu behandeln, die in jedem Krankenhaus gebraucht werden. Die Hälfte dieser Irren sind schlicht und ergreifend Hypochonder. Die andere Hälfte sucht nur nach einer Möglichkeit, sich die Birne wegzuballern.

Wie ist es sonst zu erklären, dass so vielen Gefangenen starke Schmerzmittel verschrieben werden müssen? Zurück im Haus sieht Kieleck dieselben Typen dann über den Hof stolzieren und 15 Klimmzüge am Stück machen.

Diese Typen sind in besserer Verfassung als ich und bekommen gleichzeitig Tabletten, die einen Elefanten ausknocken würden. So etwas gibt es sonst wohl nirgends auf der Welt.

Ein Großteil der Tabletten, die Kieleck jeden Morgen, Mittag und Abend im Büro aushändigt, wird am selben Tag gewinnbringend weiterverkauft.

Jahrelang haben die Bediensteten sich den Arsch aufgerissen, um den Drogenhandel in den Griff zu bekommen. Besucherkontrollen, dazu Ben, ein hauseigener Drogenspürhund, Razzien bei Nacht und der persönliche Einsatz vieler Kollegen. All das …

Und am Ende drücken wir ihnen selber den Stoff in die Hand.

Es ist zum Kotzen.

Eine staatlich subventionierte Einnahmequelle für die gleichen Dealer, die wir davor besiegen wollten.

Mit starken Schmerz- und Beruhigungsmitteln um sich zu werfen hat zumindest einen positiven Effekt – es hält die Junkies bei der Stange. Typen, denen es egal ist, was sie sich reinpfeifen. Von denen hat man jetzt Ruhe. Die sind bedient. Wahrscheinlich ist die Leitung gar nicht so unglücklich über diesen Zustand. Besser ein Dutzend Pillensüchtige als ein einziger Herointoter innerhalb dieser Mauern.

Tote, die an illegalen Substanzen verstarben, insbesondere im Strafvollzug, so etwas macht Schlagzeilen in der Lokalpresse. Das sieht aus, als hätte man seinen Laden nicht im Griff. Die ein oder andere Tilidin-Tramadol-Lyrica-Überdosis interessiert jedoch kein Schwein. Stirbt mal einer, wirkt es nach außen wie ein Selbstmord à la Marilyn Monroe. Eine saubere Sache.

Der Knast als Mikrokosmos ist nichts weiter als ein verzerrtes Abbild der Welt da draußen. Was hier funktioniert, klappt auch dort. Prozac als Opium fürs Volk im 21. Jahrhundert. Hier drin ist Lyrica der Dauerbrenner. Ein aufputschendes Antidepressivum und Schmerzmittel. Angeblich wirkt es ein wenig wie Koks.

Der Handel wird von den gleichen Figuren kontrolliert, die sich früher noch die Mühe machen mussten, eigenen Stoff hier rein zu schmuggeln. Jetzt müssen sie ihn nicht einmal mehr bezahlen, denn sie bekommen ihn auf Rezept. Die Ärzte und Psychiater wissen davon, die Beamten wissen davon und Kieleck mag wetten, dass sogar die fetten Pharmakonzerne wie Pfizer davon wissen. Medikamente statt Drogen.

Die Oxycontinwelle in den USA ist dafür Beweis genug.

Nur der Anwärter, der gerade zum Spital dackelt, um eine neue Lieferung abzuholen, der hat von all dem noch keinen blassen Schimmer. Dabei ist er in seiner gegenwärtigen Tätigkeit einigen der Insassen, die zuvor als Drogenkuriere fungiert haben, nicht unähnlich.

Da sogar der dümmste Bauer unter Kielecks Kollegen von diesem Kuhhandel weiß, wird auch dem Kleinen bald ein Licht aufgehen und er wird alles ohne weitere Fragen akzeptieren. Man befindet sich da auf vermintem Gebiet, denn es geht um eine Menge Geld. Sich wegen solcher Abläufe an die Vorgesetzten, das Ministerium oder gar die Medien zu wenden ist ein sicherer Karrierekiller. Von den moralischen Konsequenzen mal abgesehen.

Einfach keine Sache, über die man reden sollte.

Dazu kommt, dass einige der Kollegen selbst gerne mal bei den bunten Smarties zugreifen. Wer einmal in einem Krankenhaus gearbeitet hat, weiß, dass Pfleger und Ärzte ihren eigenen Mittelchen oft mehr zugetan sind, als gut für sie ist. Lange undankbare Arbeitszeiten, strapaziöse Nachtschichten, wer kann es ihnen verdenken?

Hier ist es nicht anders. Jeder Stationsbeamte hat Zugang zu einem ganzen Depot verschreibungspflichtiger Spaßmacher.

Für Kieleck ist das nichts. Sein Gehirn und seine Eier produzieren alles, was er braucht, um hellwach und auf Zack zu sein. Er kennt jedoch jeden seiner Kollegen, der einen unangemeldeten Bluttest nicht überstehen würde.

Diese Vollidioten sollten mir besser nie in die Quere kommen, oder ich mache sie fertig. Rückgratlose Junkies, verdammte!

Obwohl er den Anwärter weggeschickt hat, um ein wenig Ruhe zu haben, ist er nicht allein im Büro.

Der Abteilungsleiter persönlich hat sich die Mühe gemacht, seinen feisten Arsch hierher zu bequemen. Natürlich sitzt er auf dem einzigen komfortablen Drehstuhl direkt am Schreibtisch.

Kieleck hat sich in die Ecke des Raumes an einen kleinen Tisch zurückgezogen und liest die wenigen übriggebliebenen Briefe. Sie sind nichtssagend, was gut ist, denn er ist unkonzentriert. Wobei unkonzentriert nicht das richtige Wort ist, er ist abgelenkt vor lauter Hass. Das ist es.

Hassstress – So sollte man das Gefühl nennen!

Piestl, der Abteilungsleiter und damit sein direkter Vorgesetzter, zieht mal wieder seine Show ab. Es sind noch zwei weitere Stationsbeamte anwesend, die jeden seiner abgeschmackten Uraltwitze mit schallendem Gelächter begleiten. Sie haben ihre Köpfe so tief in seinem Arsch, dass es ein Wunder ist, dass Piestl sich noch so bequem in den Bürosessel lümmeln kann.

Kieleck hingegen bekommt den angewiderten Ausdruck nicht aus dem Gesicht, also hebt er das Briefpapier wie einen Schild zwischen sich und die anderen.

Leider kann ich mir das Papier nicht auch in die Ohren stopfen.

Die Unterhaltung dreht sich um das gestrige Fußballspiel. Offenbar hat man knapp gegen Griechenland gewonnen.

»Habt ihr gesehen, wie die Gyrosfresser den Unseren nicht hinterhergekommen sind? Anstatt Fußball zu spielen, sollten sie sich lieber einen Arbeitsplatz besorgen. Dass sie denen auch so hinterherlaufen, glaub ich nicht!«

Piestl brüllt vor Lachen über seinen eigenen Gag.

»Die sind so pleite, da kann’s gut sein, dass wir deren Fußballschuhe bezahlt haben.«

Zustimmendes Gemurmel von den anderen beiden.

»Aber bei uns ist’s auch nicht mehr wie früher.«

Die bedeutungsvolle Pause, die Piestl hier einfügt, macht allen klar, wie ernst die Lage ist.

»Dass wir jetzt unbedingt einen Neger in der Nationalelf brauchen. Ich weiß nicht. Wenn das ein Deutscher ist, bin ich ein Chinese. Unga Bunga, was ist aus Gerd Müller geworden?«

Einer der beiden anderen Schwachköpfe, Gilger, stimmt mit ein.

»Nicht mal die Nationalhymne mitgesungen hat der. Ich würd jeden rausschmeißen, der da nicht mitsingt. Als Trainer mein ich. Raus damit! Mit so einem schaffen wir es nicht zum Titel.«

Er betont das »mit so einem« auf eine ganz besondere Art. Eine Mischung aus Abscheu und Überheblichkeit. Als weißer Staatsdiener bewegt er sich damit auf ausgetretenen Pfaden, was ihm weder bewusst ist, noch ihn interessiert. Nicht in einer Zeit, in der ganz Fußballdeutschland am Abgrund steht.

Die Lage ist zu ernst für Pietät.

Ein Schwarzer in der Nationalmannschaft ist allen unangenehm. Schließlich vertritt die Elf jeden von ihnen direkt.

Kieleck ist kein Rassist. Er hasst sie alle gleich. Weißbrote, Nigger, Sandneger, Batschaken und so weiter. Da er gefühlt mehr Ausländer als Deutsche zu seiner Klientel zählt, hat er nur häufiger die Möglichkeit, sich an diesen abzureagieren.

Rassismus ist hier aber auch keine große Sache. Er ist so institutionalisiert, dass er gar niemandem mehr auffällt. Keiner käme auf die Idee, aus Gründen der Political Correctness »ein Farbiger« zu sagen. Ein Neger ist und bleibt ein Neger. Das ist nicht einmal böse gemeint. Es ist einfach so.

Hier gibt es keine schwarzen Richter, Staatsanwälte, oder gar Beamte. Schwarze in Uniform sind eine echte Rarität.

Aber natürlich gibt es schwarze Gefangene.

Mehr als genug sogar. Doch auch die kommen nicht aus dieser Gegend. Sie werden aus den stinkenden Großstädten herangekarrt. Wir befinden uns noch Jahre vor der großen Flüchtlingskrise, durch die sogar die Landbevölkerung gezwungen wurde, sich mit allerlei fremden Kulturen auseinander zu setzen.

Mit elf Jahren hatte Kieleck zum ersten Mal dunkelhäutige Menschen gesehen. Damals wie heute besteht eine ernst gemeinte und für die Betroffenen brandgefährliche Abneigung gegen alles Fremde. Anders als in den Großstädten, wo es linke und liberale Solidaritätsbewegungen gibt, wo gemischtrassige Paare die Einkaufsmeile entlangschlendern.

Eines Tages, als Kleinkieleck mit seinen Schulkameraden gerade von einem nahe gelegenen Weiher aus nach Hause lief, bemerkten sie zwei dunkelschwarze Gestalten. Sofort blieb die Gruppe Kinder stehen.

Die zwei Schwarzen waren einige Jahre älter als Kleinkieleck und standen mitten auf der Straße. Direkt neben einem heruntergekommenen Mofa.

Schwarz wie sie waren.

Sie trugen keine Helme und so konnte Kleinkieleck ihre wilde Haarpracht bestaunen. Verwegen kräuselte sich ihr Haar und stand wie bei einem Schaf in alle Richtungen davon.

Kleinkieleck war fasziniert von der exotischen Fremdartigkeit dieser zwei Burschen. Für ihn glichen sie Außerirdischen und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Die älteren seiner Schulkameraden, die er damals noch umschwärmte wie ein Welpe, schienen jedoch genau zu wissen, was hier los war. Auch um wen es sich bei den Besuchern handelte, war für sie offenbar kein Geheimnis.

Sie stießen sich verschwörerisch in die Seiten und murmelten mit Kennermiene Dinge wie:

»Sieh sich einer die Neger an.«

»Jetzt kommen die schon bis hier raus, um zu klauen.«

Ein anderer fügte hasserfüllt hinzu.

»Ich wette, dass das Mofa gestohlen ist.«

Das erstaunte Kleinkieleck. Die beiden sollten Diebe sein? Nichts als gemeine Halunken. Ein Gedanke, der ihn mit Trauer erfüllte. Er wusste zwar nicht, was er erwartet hatte, aber das …?

»Vielleicht wollen sie sich sogar noch ein Mädchen schnappen!«

Das war der Tropfen, der das Fass des Hasses zum Überlaufen brachte.

Sofort bewaffneten sich die Größeren mit Knüppeln vom Straßenrand und begannen zu grölen. Die Schwarzen verstanden, dass sie sich hier im Feindesland befanden und dass sie von einer Gruppe knüppelschwingender Jugendlicher keine Pannenhilfe erwarten durften. Anstatt ihre Beine in die Hand zu nehmen, (wohin hätten sie auch laufen sollen?), plusterten sie sich auf und stellten sich den Aggressoren entgegen. In einem abgehackt, fremd klingenden Deutsch, wie es Kleinkieleck noch nie zuvor gehört hatte, begannen sie zu schnattern.

»Was los? Was wollen? Komm her!«

Die Dorfjugend war zu dieser Zeit nicht gerade zimperlich. Es gab regelmäßig gewalttätige Auseinandersetzungen mit Jungen aus anderen Dörfern. Jeden Tag flogen irgendwo die Fäuste. Kleinkieleck, der mit seiner seltsamen Art nicht wirklich beliebt war, wurde regelmäßig selbst zum blaugeprügelten Ziel der Gewalt. Er wusste, dass es für die beiden fremdartigen Wesen jetzt übel werden würde.

Außer vielleicht sie verfügten über irgendwelche geheimen Kampftechniken, wie in den Abenteuerromanen mit den unbesiegbaren Mohren, dachte Kleinkieleck noch.

Schnell stellte er fest, dass dem nicht so war.

Der Überzahl aus erfahrenen Schlägern hatten sie nichts entgegenzusetzen. Sie wurden überrollt und auf gutbürgerliche Art eingestampft.

Der Zauber des Fremdländischen, der Kleinkieleck zuerst noch so fasziniert hatte, verflog unter den Schlägen und Tritten seiner Heimat. Voller Blut und Staub verloren sogar die gekräuselten, schwarz-glänzenden Locken ihre Schönheit. Als die Älteren zum Abschluss auf die verkrümmt daliegenden Gestalten urinierten, ließ auch Kleinkieleck seinen goldenen Strahl auf die besiegten Feinde niederprasseln.

Man hielt hier draußen nichts von Fremden.

Das war damals im Wald nicht anders als heute im Büro.

»Letztes Mal, als wir eine WM gewonnen haben, hatten wir eine rein deutsche Mannschaft. Das waren noch Zeiten.«

Es folgt zustimmendes Gemurmel. Kieleck, dem Smalltalk schon immer zuwider ist, reicht es. Ohne jemanden anzublicken, steht er auf.

»Ich mach eine Haftraumkontrolle.«

Hinter sich hört er Piestl lachen.

»Der versteht eh nix vom Fußball.«

5

Auf seinem Weg durch den Gang möchte Kieleck irgendetwas kaputtschlagen, oder irgendwen. Wie kann es sein, dass jemand so inkompetentes über ihm steht? Seine Hände, zu Fäusten verkrampft, sind weiß und taub. Das Blut kocht heiß in seinen Adern. Der Druck steigt und steigt und es gibt kein Ventil.

In letzter Zeit passiert ihm das immer häufiger. Kontrollverlust.

Er versucht an Annabelle zu denken. Ihre beinahe durchsichtige Haut, die zerbrechlichen Glieder. Wie sie in einem neuen Sommerkleid posiert, oder sich nackt auf dem Bett räkelt. Wie sie lächelt und einen durch das Kameraobjektiv bis in die Seele zu schauen vermag.

Es funktioniert.

Kielecks Puls verlangsamt sich, pegelt sich ein. Die Aggression schwindet und er kann wieder bewusst denken.

Was reg ich mich so auf? Jetzt mach ich meine Kontrolle und dann, dann hab ich ja immer noch den Brief. Eine echte Todesnachricht ist ja wohl nicht zu verachten, oder?

Der Gefangene 150/09 weiß noch nicht mal, dass sein Vater tot ist. Es gibt heute also noch genug zu tun.

Noch einmal durchzuckt Piestls dreckiges Lachen seinen Kopf und die Wut glimmt von neuem.

Dieses aufgeblasene Arschloch!

Kieleck ist vor der Zelle 153 angekommen.

Bascaks Zelle.

Der wird sich freuen, wenn er vom Besuch zurückkommt.

Haftraumkontrollen sind verhasst unter den Gefangenen. Etwas, das man leicht nachvollziehen kann. Der kärgliche Rest Privateigentum wird durchwühlt, nicht selten dabei beschädigt. Dazu wird die eigene Ordnung, die jeder nach seinem Gusto hält, auf den Kopf gestellt. Der letzte Rest Privatsphäre wird einem genommen.

Es ist als würde man nach einem verlängerten Wochenende nach Hause kommen, nur um die Wohnung von Einbrechern durchwühlt aufzufinden. Nichts ist mehr an seinem Platz.

Außerdem kann ein guter Beamter jederzeit etwas entdecken, das für eine hausinterne Anzeige reicht. Der Spielraum ist groß genug. Der sogenannte gelbe Zettel, der nichts anderes ist als eben diese hausinterne Anzeige, bedeutet den Gang zum Strafrapport. Dort sitzt ein Jurist und spricht Recht. Was selten gut für den Gefangenen ausgeht.

Doch ganz so weit sind wir noch nicht.

Erst einmal steht Kieleck vor der Tür. Er atmet tief durch. Zum einen, um sich selbst für die bevorstehende Aufgabe aufzupumpen, sich groß zu machen wie King Kong. Unaufhaltsam, dominant, ein Silberrücken der sich auf die Brust trommelt und zum anderen, weil es in den meisten Hafträumen geradezu bestialisch stinkt.

Bevor er also in die Zelle stürmt, um das Fenster zu öffnen, braucht er Sauerstoff – und zwar so viel wie möglich.

Kieleck sperrt die schwere Stahltür auf und sofort schlägt ihm ein Schwall aufgebrauchter Luft entgegen. Eine Mischung aus kaltem Rauch und alten Socken.

Mit Riesenschritten stürzt er ans Fenster, reißt es auf und schnappt mit offenem Mund nach Luft. Die Fenster sind auf einer Höhe von zwei Metern angebracht, weswegen er dabei den Kopf in den Nacken werfen muss.

Durch die Höhe der Fenster entsteht der Eindruck, der Haftraum liege in einem Keller, obwohl er in Wahrheit im zweiten Stock liegt. Ein kleiner Trick mit enormer Wirkung. Vor allem verhindert man damit das ständige »Aus-dem-Fenster-glotzen« der Inhaftierten.

Um hinauszuschauen, müsste man einen Stuhl oder einen Tisch vor das Fenster schieben. Bequem ist das nicht und so erwischt Kieleck selten Gefangene, die aus dem Fenster schauen.

Die Ausnahme bilden die Absonderungs- und Isolationshäftlinge, die auf B1 untergebracht sind. Das ist der zweite Gang, der in Kielecks Verantwortungsbereich fällt. Da die Gefangenen hier 23 Stunden unter Verschluss sind und weder in die Arbeit noch irgendwo anders hin mit den restlichen Gefangenen gehen dürfen, ist ihnen öfter langweilig. Abgeschnitten von allen menschlichen Kontakten verbringen manche von ihnen ganze Tage am Fenster. Ein kläglicher Versuch mitzubekommen was im Hof so passiert. Die Isos sind die Einzigen, die, in Zeiten von Fernsehgeräten auf den Hafträumen, noch aus dem Fenster glotzen.

Bascak gehört nicht in diese Kategorie, sonst hätte er ganz sicher nicht alleine in den normalen Besuchsraum gedurft.

Durch die offenstehende Tür zieht der Geruch schnell hinaus auf den Gang und das Klima in der kleinen, aufgeheizten Zelle wird erträglich. Kieleck blickt sich um.

Den Anwärtern gibt man ein genau vorgeschriebenes Schema für den Ablauf so einer Haftraumkontrolle, aber nach fast drei Jahrzehnten hat Kieleck seinen eigenen Plan.

Er zieht die Tür zu. Nicht ohne vorher den Riegel vorzusperren. Standardprozedere. Damit ihn von außen niemand einschließen kann.

Schließlich steht er in der Mitte der Zelle, ohne etwas zu berühren. Es gilt, die hier herrschende Atmosphäre in sich aufzunehmen. Nicht unähnlich einem Dirigenten, kurz vor dem Konzert. Kieleck drückt die Knie durch, sein Brustkorb weitet sich und virtuos schiebt er sein Kinn nach vorn.

Und wie der Dirigent jedes zu spielende Stück kennt, kennt Kieleck jede einzelne Zelle in seinem Block. Er weiß, was als nächstes zu tun ist.

Langsam, die anschmiegsame Enge des Latex genießend, streift er sich die Handschuhe über seine knubbeligen Finger. Kurz blitzt der Wunsch sich als Gynäkologe auszugeben und eine junge Pussy mit einem Spekulum zu spreizen, in ihm auf. Naserümpfend schiebt er ihn beiseite.

Er wird hier gebraucht.

Mit behandschuhten Fingern streicht er sich über die Glatze. Er ist hier ganz allein. Vollkommen sicher. Dieser Raum und damit auch sein nicht anwesender Bewohner sind ihm ausgeliefert. Kieleck badet in dem daraus resultierenden Gefühl der Macht.

Nebenbei leckt er sich seinen Latexfinger. Für einen kurzen Moment, nicht mehr als einen Wimpernschlag, verschwindet der dicke, glatt glänzende Daumen zwischen seinen wulstigen Lippen. Dann wird er ernst.

Los geht’s!

Wie beim Putzen beginnt man von oben. Auf dem Schrank, oder dem Bücherregal, bzw. der Neonröhre an der hohen Decke und arbeitet sich Schritt für Schritt nach unten durch. Dafür zieht er den einzigen Stuhl, der als Mobiliar erlaubt ist, vor den Schrank. Er tritt mit seinen schweren Stiefeln auf das selbstgemachte (und damit eigentlich illegale) Sitzkissen und zieht seinen kleinen Teleskopspiegel aus der Tasche.

Das gute Stück ähnelt dem Teil, mit dem ein Zahnarzt die Mundhöhle untersucht und ist unerlässlich für eine gründliche Haftraumkontrolle. Die Hängeschränke hängen so hoch, dass man ohne einen Spiegel nicht auf sie hinaufsehen kann. Ein Konstruktionsfehler, den Kieleck schon mehr als einmal angesprochen hat.

Methodisch sondiert er die staubige Oberfläche des Schranks. Ein Auge zugekniffen, die Zungenspitze im Mundwinkel.

Nichts!

Auf dem Schrank finden sich nur ein alter Lumpen, ein paar Packungen mit Teebeuteln, und eine Formation Wollmäuse.

Als nächstes knöpft er sich die Bücher und Aktenordner vor. Kieleck blättert sie alle durch, wobei er sie so vor sich hält, dass hineingelegte Gegenstände oder lose Blätter zu Boden fallen müssen. Stichpunktartig liest er einige Zeilen in den jeweiligen Büchern und abgehefteten Papieren. Bei solchen Gelegenheiten sind schon die erschreckendsten Pamphlete aufgetaucht. Von Morddrohungen gegenüber Bediensteten und detaillierten Fluchtplänen bis zu ganzen Listen mit Namen und Buchnummern von Gefangenen, die mit den Behörden kooperieren.

So etwas findet sich dann zwischen bereits kontrollierten Liebesbriefen oder leckeren Kuchenrezepten. Die Gefangenen dürfen (leider ) ihre Prozessakten bei sich auf dem Haftraum aufbewahren. Das macht eine vollständige Überwachung unmöglich. Einige dieser Mistkerle haben jahrelange Mordprozesse hinter sich, mit Wagenladungen von Akten. Stets dürfen sie zehn Aktenordner bei sich haben. Kieleck bedauert dies von ganzem Herzen.

Aber was kann man tun, außer auf das Beste hoffen?

Kieleck öffnet den Schrank. Hier bewahren die Gefangenen ihren Einkauf auf. Vor ihm stehen fein säuberlich aufgereiht Dosen mit Thunfisch, Sardinen, Truthahn und Hähnchenfleisch, Corned Beef, Schwein und Rind. Bascak ist ein Arschloch, das in der Knasthierarchie weit oben steht. Sein verdammter Schrank ist voll! Damit befindet er sich hier drin in einer Minderheit. In den meisten Schränken findet sich nichts außer Tabakbröseln und Papierchen. Bei den höher gestellten Gefangenen gibt es jedoch alles. Tomaten in Dosen, Champignons, Mandarinen, Birnen und Aprikosen. Tüten mit Nudeln, Spätzle und Fertigsaucen. Tafeln Schokolade, Schogetten in allen Geschmacksrichtungen und Folienkuchen. Am Schrank kann man immer sehen, wer gut im Geschäft ist, und bei Bascak läuft es ohne Zweifel. Er hat so ziemlich alles, was man hier drin irgendwie bekommen kann.

Kieleck nimmt jeden Gegenstand einzeln heraus, begutachtet ihn kurz, wiegt ihn in der Hand und wirft ihn zurück. Auch hier gibt es keine hundertprozentige Sicherheit, er tut einfach was er kann. Dabei steigt sein Hass auf Bascak und das System, das einem Gefangenen einen so vollen Schrank erlaubt.

Der Mistkerl hat trotz einer nun beinahe zehnjährigen Haft nicht einen Tag gearbeitet. Er lebt angeblich von den 30 Euro Taschengeld, die der Staat mittellosen Gefangen im Monat zur Verfügung stellt. Seinen Schrank damit so voll zu bekommen ist unmöglich. Nicht einmal in zehn Jahren!

Allein die Tatsache, dass er einen vollen Schrank hat, reicht jedoch nicht für eine Anzeige. Nicht mal eine hausinterne.

Was am seltsamsten ist, es findet sich nicht eine einzige Packung Tabak in seinem Schrank. Bascak ist Raucher, und was noch wichtiger ist, Tabak gilt hier als offizielle Währung, wie in wohl jedem Gefängnis auf der Welt. Bargeld ist verboten, also werden alle Transaktionen mit Koffern, wie die Tabakpackungen genannt werden, abgewickelt.

Und dann hat einer der krummsten Hunde nicht einen einzigen Koffer im Schrank?

Nur auf dem Tisch liegt eine offene Packung, mit Papers und einem Feuerzeug. Kieleck wird rot. Offensichtlich soll er an der Nase herumgeführt werden. Bascak weiß natürlich, dass man ihm für die verdammten Sardinenbüchsen keinen Ärger machen kann. Hätte er aber 30 Koffer im Schrank gehabt, würde die S-Gruppe ganz sicher misstrauisch werden. Am Ende würden die, oder Kieleck vielleicht, sogar den ganzen Tabak konfiszieren. Man würde Fragen stellen, auf die er keine Antworten hat. Es würde Scherereien geben.

Stattdessen wird sich morgen einfach ein weiterer offener Tabak auf dem Tisch befinden. Genau wie übermorgen und den Tag darauf.

Kieleck weiß von all dem und Bascak weiß, dass Kieleck es weiß. Damit ist alles in etwa so überraschend wie die Schwerkraft.

Dennoch, oder gerade deswegen, schäumt Kieleck vor Wut. Viel zu gerne hätte er etwas von Bascaks illegal erworbenem Geld aus dem Verkehr gezogen. Den Kerlen Tabak wegzunehmen ist zwar nicht mehr, als ihnen einen Klaps auf ihre kriminellen Finger zu geben, aber immerhin.

Für Kieleck ist es ein tiefes Bedürfnis, anderen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie zu erwischen. Sie in Situationen zu bringen, in denen sie lieber nicht wären und sie dann zu zermalmen. Er sieht das heute als wichtigen Bestandteil seines Jobs.

In Wahrheit war das sogar Teil seiner ursprünglichen Motivation gewesen, sich an der Polizeiakademie zu bewerben. Kurz denkt er an die verpasste Chance. An sein Versagen und den Dolchstoß, den er hatte hinnehmen müssen. Die Erinnerung schmerzt und er verdrängt sie.

Konzentrier dich! Was du hier und heute tust ist genauso wichtig! Dieser miese Pole versucht dich zu verschaukeln! Er denkt, du bist nur ein dummer Kartoffel und kannst ihm gar nichts!

Kieleck schnaubt.

Er schlägt die Schranktür zu und stürmt zum Waschbecken. Dort reißt er die Zahnbürste aus dem Becher, steckt sie sich hinten in die Hose und zieht sie sich langsam durch die Arschritze. Das hat der dreckige Kriminelle nun davon.

Das Gefühl, mit dem die harten Borsten seine Rosette kitzeln, erregt ihn ungemein. Langsam bewegt er die Bürste hin und her.

Wie sagte der Onkel Doktor so schön? »Kreisende Bewegungen. Nicht nur auf und ab.«

Vor sich im Spiegel betrachtet er sein glattrasiertes Gesicht. Die runde Nickelbrille glänzt mit seinem Schädel um die Wette. Er bekommt Lust sich einen runterzuholen, doch das muss warten. Ein letztes Mal dreht er den Bürstenkopf genüsslich herum, um auch dem Zungenschaber auf der Rückseite eine Prise abzugeben.

Kieleck grunzt zufrieden.

Wer verarscht jetzt wen?

Er stellt die Bürste zurück in den Becher, dabei fällt ihm ein einsames schwarzes Arschhaar auf, das sich zwischen den grün-weißen Borsten verfangen hat. Kieleck befreit es mit flinken Fingern und lässt es zu Boden fallen.

Ein wenig entspannter, kann er jetzt die Haftraumkontrolle zu Ende bringen.

Er schraubt die Zahnpastatube auf, überprüft das Mundwasser und die Niveacreme, die ebenfalls auf der Ablage stehen. Er findet nichts. Auch der Deoroller und der kleine gelbe Schwamm sind unverdächtig. Er öffnet den Klodeckel, zieht wieder den Teleskopspiegel hervor und geht in die Hocke. Mit dem Spiegelchen kann er in den Hohlraum unter dem Rand blicken. Ein beliebtes Versteck für Tabletten und Drogen.

Nichts.

Kieleck lässt die Toilette offenstehen und tritt ans Bett. Ohne große Sorgfalt dreht er die Matratze um und lässt Kissen und Decke dabei zu Boden fallen. Mit fliegenden Fingern tastet er die Matratze ab. Er sucht nach Löchern, durch die man etwas ins Innere der Schaumstoffmatratze stecken könnte. Nachdem er Kopfkissen und Decke ebenfalls abgetastet hat, lässt er die Matratze an die Wand gelehnt stehen.

Anders als bei den Hausdurchsuchungen der Polizei geht es im Knast nicht zwingend um das Sicherstellen von Beweismitteln. Es geht auch darum, Präsenz zu zeigen.

Natürlich ist das Auffinden von gefährlichen oder verbotenen Gegenständen wichtig, aber wirklich große Überraschungen finden sich selten in den Hafträumen.

Zu verbotenen Gegenständen zählt so gut wie alles. Von einer nicht eingetragenen Leselampe über Backgammonspiele, Pokerchips, bis hin zu Sportkleidung und überzähligen Unterhosen. Zu finden gäbe es also immer irgendetwas.

Kieleck öffnet den Kleiderschrank und sieht auf den ersten Blick, dass unser Freund zu viele Unterhosen darin liegen hat. Dem Gefangenen sind fünf Paar erlaubt. Etwas lustlos zählt er nach. Nur um sicherzugehen.

Zwo, vier, sechs, acht … Hab dich!

Er zählt nun auch die Trainingshosen, von denen zwei erlaubt sind und die T-Shirts. Zu den festgelegten Mengen gibt es für jeden Gefangenen extra noch eine eigene Liste, die seinen gesamten eingetragenen Besitz umfasst. Alles was nicht darauf steht, darf sich nicht in seinem Haftraum befinden. Punkt.

Diese verdammte Liste interessiert Kieleck jedoch nur am Rande. Er träumt stets von den echten Krachern. Ein Tütchen mit Pulver oder ein dicker Haufen Bargeld, das wäre was. Ach, er wäre schon mit einem einzelnen Scheinchen zufrieden, aber Unterhosen? Da muss noch mehr sein. Vielleicht ein selbstgebautes Stichwerkzeug oder ein geklauter Schraubenzieher.

Kieleck hat einmal Nunchakus gefunden und vor fast zehn Jahren wirklich einmal ein selbstgeschliffenes Messer.

Manchmal ist es nicht leicht aufmerksam zu bleiben. Die ständigen Misserfolge machen einen mürbe. Im Notfall schickt man die Schweine dann eben wegen ihrer verkackten Unterhosen zum Strafrapport. Damit hält man sich selbst auf Trab.

Da die Stationsbeamten die Kontrollen alleine durchführen dürfen, besteht theoretisch immer die Möglichkeit, dass etwas gefunden wird, was vorher noch gar nicht da gewesen ist. Nicht wirklich Kielecks Modus Operandi, aber eine Option.

Gegenüber diesen Tieren fühlt er keine moralische Verpflichtung.

Sein Blick fällt auf einen Stapel Playboy-Magazine, die auf dem kleinen vergilbten Nachtkistchen liegen. Wie alle Gefangenen, wichst der gute Bascak gerne. Kieleck sieht genauer hin und tatsächlich sticht eins der Hefte heraus. Es ist vom Erscheinungsdatum deutlich älter als die anderen Exemplare und wirkt abgegriffen. Er setzt sich auf den Bettrand und beginnt es Seite für Seite durchzublättern.

Impressum. Bacardiwerbung. Autowerbung. Nackte Schlampe. Titten. Hohe Schuhe. Autowerbung. Colin Farrell Interview und …

Kielecks Augen leuchten auf. Zwischen playboytypischen Tittenbildern klebt eine Seite härteren Materials. Zu sehen ist der Mund einer Frau, prall vollgestopft mit einem dicken, ädrigen Schwanz.

Ebenso fleischfarben wie die meisten anderen Bilder in diesem Heft, wäre es bei einem schnellen Durchblättern gar nicht weiter aufgefallen. Ein nettes Versteck für verbotene Pornografie. Weitere Bilder finden sich zwar nicht darin, aber dieses eine reicht aus.

Bascak ist gefickt!

Beim Strafrapport wird er es sein, der einen Schwanz in den Mund bekommt. Die Juristen, besonders die weiblichen, verstehen da keinen Spaß.

Eine Welle tiefer Befriedigung wogt durch Kielecks Körper. Wie viele Eimer Sperma waren aufgrund dieses einen Bildes verspritzt worden? Wie viele entspannte Körper zurück auf die Knastpritsche gesunken, nachdem sie sich für einige Augenblicke in den Hochglanzmund dieser Blondine geflüchtet hatten? Damit ist jetzt Schluss. Dank ihm. Er hat die Ordnung wiederhergestellt! Er, der Schutzwall! Die letzte Bastion, der gottverdammte Limes, der die Zivilisation vor dem Barbarentum schützt. Ohne ihn würden all die Hausfrauen, Banker, Steuerberater, Bauarbeiter, Handwerker, Lehrer, ja sogar die Richter und Staatsanwälte von dem Abschaum, den er im Zaum hielt, zersetzt werden. Niemand würde in Ruhe und Frieden leben können. Ohne ihn wäre jeder diesen Tieren ausgeliefert.

Ich glaube, ich bin ein Held …

6

Befriedigt ob seiner heroischen Tat, verlässt Kieleck den Haftraum Nr. 153 und tritt zurück in die geflieste, dunkle Kühle des Gangs. Es wimmelt bereits von Gefangenen, denn die reguläre Arbeitszeit ist zu Ende und das Ungeziefer kehrt aus den Betrieben zurück.

Etwa zwei Drittel aller Gefangenen arbeiten. Man hätte das Recht alle zur Arbeit zu zwingen, aber es gibt schlicht und ergreifend nicht genügend freie Stellen. So beschränkt man sich also auf die, die freiwillig um Arbeit ersuchen. Rentner und Schwerbehinderte sind freigestellt. Der Rest der sogenannten »Ohne Arbeit ohne eigenes Verschulden«, abgekürzt O.A.O.V, sind Typen, die aus verschiedensten Gründen nicht arbeiteten. Manche haben keine Lust ihre Zellen zu verlassen und tun lieber gar nichts.

Bascak, dessen Zelle er gerade auf den Kopf gestellt hat, ist auch O.A.O.V. Die Anstalt hat versucht ihn in verschiedenen Betrieben unterzubringen, ohne Erfolg. In der Schreinerei hatte er nach weniger als einer Stunde eine Holzallergie. In der Spülküche reagierte er mit Schwindel und Atemnot auf das Spülmittel, und beim Nähen machte sich seine alte Handgelenksverletzung bemerkbar, sodass er umgehend zum Arzt gebracht werden musste.

Innerhalb kürzester Zeit war er aus allen Betrieben »ohne eigenes Verschulden« entlassen worden. Kieleck kennt solche Drückeberger. Sie benutzen den Arzt, um die Arbeitspflicht zu umgehen. Bascak ist schlimmer als die meisten, denn gleichzeitig besitzt er einen prall gefüllten Schrank.

Wenigstens hab ich ihm heute den Tag vermiest.

Kieleck grinst. Der Verlust eines so geilen Bildes wird an Bascak nagen. Und am Donnerstag geht es dann ab zum Strafrapport. Kieleck wird ihm eine hübsche kleine Anzeige schreiben. Diese sogenannten gelben Zettel sind verhasst. Sie warten in der Gefangenenakte bis zum Jüngsten Gericht. Wie Herpes kommen sie immer wieder hervor, wenn der Gefangene um irgendetwas ersucht.

Plötzlich entdeckt er Bascak unter der Zentrale stehen.

Wenn man vom Teufel spricht …

Der Bursche ist bereits vom Besuch zurückgekehrt und macht einen fröhlichen Eindruck. Lässig unterhält er sich mit einigen Mitgefangenen.

Der Familie geht’s gut, häh?!

Die Kinder gesund, was?!

Alle erwarten deine Entlassung, nicht wahr?! Na, mein Junge, du wirst dich noch umschauen.

Im Vorbeigehen hält Kieleck den zusammengerollten Pornoplayboy so, dass Bascak ihn nicht bemerkt. Was gibt es Schöneres, als gutgelaunt nach Hause zu kommen und zu bemerken, dass jemand die eigenen Sachen durchwühlt hat? Diese Überraschung will Kieleck ihm nicht vorenthalten.

In wenigen Minuten schlägt es sechzehn Uhr und der Nachmittagshofgang beginnt. Vor Kieleck liegen noch etwa eineinhalb Stunden bis Feierabend. Vor seiner Bürotür steht, wie üblich um diese Zeit, eine lange Schlange Junkies, die ihre Nachmittagsration abholen wollen.

Der junge Anwärter verteilt unter Piestls glasigen Augen bereits fleißig Tabletten und Tropfen. Von Gabapentin bis Lyrica ist alles dabei, was das Junkieherz begehrt. Kieleck fragt sich einmal mehr, was die Farce überhaupt soll. Die eine Hälfte dieser sogenannten Kranken verkauft ihre Ration an die andere Hälfte. Um ihren Turn zu bekommen, brauchen die nämlich das Doppelte. Und die Rechnung bezahlt vor allem der Steuerzahler.

Als Piestl ihn bemerkt, pfeift er zwischen den Zähnen hindurch und sagt mit lauter Stimme: »Da sieh einer an, der alte Goldgräber ist zurück. Na, was hast du uns denn heute für einen Schatz mitgebracht, aus dem Tal der dreckigen Unterhosen?«

Außer dem Anwärter sind keine Kollegen anwesend, aber einige der Gefangenen grinsen höhnisch.

Sie lachen! Sie lachen mich aus!

Eine Woge des Hasses brodelt in Kieleck auf. Sein Magen verkrampft sich. Er will seinem Vorgesetzten die Faust ins Gesicht schmettern. Sein widerliches, pockennarbiges Säufergesicht bearbeiten, bis nur noch Brei übrig bleibt. Ihm den rötlichen Schnurrbart aus der Fresse schlagen! Die Knollennase brechen! Stattdessen stößt er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Pornografisches Material. Aus der Zelle 153.«

»Gute Arbeit, Schatzsucher. Leg mir das Beweismaterial auf den Schreibtisch, damit ich einen genaueren Blick drauf werfen kann. Hehe, oder willst du dich erst selbst damit befassen?«

Brüllendes Gelächter lässt Kielecks Ohren klingeln.

Etwa zur gleichen Zeit betritt Bascak seine Zelle. Sie sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Er schüttelt den Kopf und bemerkt den fehlenden Playboy. All die Jahre in verschiedenen Gefängnissen haben ihn gelehrt ruhig zu bleiben. Er kennt alle Arten von Schikane und Terror. Seine Frustrationstoleranz ist in den vielen Jahren immer größer geworden und er selbst immer kälter. Ein großer Teil seines Mensch-Seins ist verschwunden, musste sich verabschieden, damit er überleben konnte. Er schließt das offen stehende Fenster und atmet aus.

Bevor er sich ans Aufräumen macht, wirft er seine Zahnbürste in den Mülleimer.

7

Den Rest des gestrigen Arbeitstags hat Kieleck auf der Toilette zugebracht. Auf einem geschlossenen Klodeckel sitzend, die Fäuste vor das Gesicht gepresst, hat er Mordfantasien ihren freien Lauf gelassen.

Piestl, der verfluchte Alkoholiker.

Den Posten als Abteilungsleiter hätte er ohne seinen Vater, der bis zu seiner Pension jeden Tag im Zuchthaus gearbeitet hat, nie bekommen. Die Erinnerung daran, wie der alte den jungen Piestl, oft vor der gesamten Dorfjugend, grün und blau schlug, heitert Kieleck wieder ein wenig auf. Piestl Senior war ebenfalls Alkoholiker und prügelte seinen Sohn regelmäßig wie einen Hund.

Dennoch war es sein Name, der hier noch immer einiges an Gewicht besitzt und seinem Taugenichts von Sohn seine Stelle verschaffte. Jeder weiß, dass Piestl von Grund auf inkompetent ist. Dabei ist er in der langen Reihe von »Söhnen«, die hier beschäftigt sind, noch nicht mal der Unfähigste. Hier arbeiten Männer in hohen Positionen, die man draußen keinen Bus fahren lassen würde. So sichert man sich seit jeher die Loyalität der Ehemaligen. Wie dankbar jeder Vater gegenüber der Anstalt ist, wenn diese die inzestuöse Frucht seiner Lenden in Lohn und Brot nimmt. Das Sorgenkind bekommt so nicht einfach nur einen Job – es bekommt einen guten Job.

Der Beamtenapparat funktioniert hier seit Jahrhunderten so.

Und an behinderten Kindern gibt es wahrlich keinen Mangel hier draußen. Die eigene Cousine zu heiraten ist nichts Ungewöhnliches und dass Zärtlichkeiten zwischen Familienmitgliedern ausgetauscht werden, ist ein offenes Geheimnis. Man liebt sich.

Oft ein wenig zu sehr.

Kieleck ist ein Einzelkind und hat seinen Posten nicht irgendwelchen familiären Beziehungen zu verdanken. Was einer der Gründe ist, warum er an Leuten wie Piestl nicht vorbeikommt.

Der Mistkerl wird seinen Posten noch jahrelang besetzen, bevor ihn die automatische Beförderungsmaschine weiter nach oben durchreicht.

Wenn er dann überhaupt geht. Ein Faulpelz wie er ist ja vielleicht ganz zufrieden, da wo er ist. Vielleicht will er das Ganze aussitzen. Was dann? Die Pension ist nicht mehr allzu weit weg.

Wie er es auch dreht und wendet, Piestl ist ihm im Weg! Schon seit einigen Wochen wabert ein Plan durch Kielecks Kopf. Taucht auf, nimmt Konturen an und versinkt wieder im schwarzen Ozean seiner Gedanken.

Vielleicht muss es sein …

Die Idee ist gut, birgt aber durchaus einige Risiken. Etwas könnte auf Kieleck zurückfallen. Wieder löst sich der Plan auf, wenn auch nicht mehr vollständig. Ein Schatten bleibt, wie die rußigen Umrisse einer menschlichen Gestalt nach einem Brand, und so sitzt er vornübergebeugt auf der Toilette und grübelt.

Irgendwann ist seine Schicht zu Ende und Kieleck verlässt seinen Posten.

Der nächste Morgen beginnt unerfreulich. Es findet sich kein Brief Annabelles bei der eingehenden Post. Wahrscheinlich wird dann erst wieder montags einer eintreffen. Das allein reicht und Kielecks Laune ist wieder im Keller.

Sie fehlt ihm.

Gedankenverloren steht er vor seinem Spind und starrt auf eines ihrer Fotos. Sie trägt einen pinken Jogginganzug und liegt auf einer Couch, eine riesige braune Katze an sich gekuschelt. Das Bild strömt Wärme und Geborgenheit aus.

Kieleck wird ruhiger.