Kinder des Treibsands - Efua Traoré - E-Book

Kinder des Treibsands E-Book

Efua Traoré

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Beschreibung

Großstadtkind Simi wird in den Ferien zu ihrer Großmutter in ein abgelegenes Dorf geschickt. Wie soll sie die Sommerferien ganz ohne Handy, Internet und Fernsehen nur überstehen? Und auch ihre Großmutter ist Simi fremd, denn bis vor kurzem hatte ihre Mutter nie von ihr gesprochen.  Als Heilerin kümmert die Großmutter sich um alle Bewohner des Dorfs, doch auch von ihr erfährt Simi wenig über den Grund für die Entfremdung zwischen den Frauen. Entschlossen, dem Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen, macht Simi sich auf die Suche nach Antworten. Im roten Treibsand eines verbotenen Sees beginnt ihre magische Reise …

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Seitenzahl: 250

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Für meine Töchter Shola, Enina und Leila.In Erinnerung an Ese.

Glossar

Agbalumo

Eine orangefarbene Waldfrucht, etwa so groß wie eine Mandarine. Sie hat weiches Fruchtfleisch mit milchig-klebrigem Saft und großen dunkelbraunen Kernen. Diese werden zu Knöchelbändern zusammengebunden und beim Tanzen getragen, um ein klapperndes Geräusch zu erzeugen. Als Kinder haben wir die Schale so lange gekaut, bis sie zu Kaugummi wurde.

Agboblätter

Die Blätter einer medizinischen Pflanze, die zur Behandlung von Malaria und anderen Krankheiten verwendet wird. Sie sind sehr bitter.

Agege-Brot

Ein beliebtes weiches und süßliches Weißbrot, das aus dem Stadtteil Agege in Lagos stammt

Agogo

Ein sehr altes Musikinstrument aus Metall, das die Form einer länglichen Kuhglocke hat. Es wird mit einem Holzstab geschlagen, um einen hohen Ton zu erzeugen, und wird oft bei wichtigen Zeremonien bei den Yoruba verwendet.

Ajebutter

Ein nigerianischer Slang für ein verwöhntes Kind. Butter ist kein traditionelles nigerianisches Lebensmittel. Der Begriff Ajebutter entstand, weil Butter ursprünglich als teures, importiertes Produkt eingeführt wurde, das sich nicht jeder leisten konnte.

Akara

Frittierte, würzige Bällchen aus Bohnenteig, die oft mit weichem Brot oder einem Maisbrei zum Frühstück gegessen werden

Ashe

Magie

Ayo

Ein hölzernes Spielbrett mit zwölf Vertiefungen und vielen haselnussgroßen Kernen, mit denen man spielt. Als Kinder spielten wir Ayo auch manchmal ohne Brett und gruben stattdessen zwölf kleine Löcher in die Erde.

Bata-Trommel

Eine doppelseitige Trommel, bei der eine Seite größer ist als die andere. Historisch wurde sie von den Yoruba bei religiösen Zeremonien verwendet.

Be-eni

Bedeutet »ja« in der Yorubasprache.

Bushbaby oder Galagos

Kleine, nachtaktive Waldtiere, die wie kleine Affen mit riesigen Augen aussehen. Es gibt viele mysteriöse Geschichten über sie, da sie nachts unheimliche Geräusche machen und dabei wie weinende Babys klingen, die Menschen in den Wald locken.

Efun

Eine weiße Kreide aus gemahlenen Schneckenhäusern und weißem Ton. Sie wird verwendet, um magische Symbole zu zeichnen und den Körper in traditionellen Ritualen zu bemalen, um die Götter und Göttinnen zu besänftigen.

Egun

Die Geister der verstorbenen Vorfahren

Ewa Agoyin

Eine Mahlzeit aus weich gekochten Bohnen, die mit einer sehr würzigen Soße aus Palmöl, Chili und Paprikaschoten gegessen wird

Fila

Ein weicher Hut, der traditionell von Yoruba-Männern getragen wird. Er liegt eng am Kopf an und wird je nach Stil seitlich geneigt oder mit beidseitigen Klappen getragen.

Gbedu-Trommel

Die größte der Yorubatrommeln. Sie symbolisiert Königtum und wurde traditionell nur in Anwesenheit von Königen gespielt. Gespielt wird mit einer offenen Handfläche und einem Stock. Ein altes Sprichwort besagt: Kein Dieb wird es jemals wagen, eine Gbedu-Trommel zu stehlen.

Gele

Großes und aufwendig gestaltetes Kopftuch aus festem und oft glänzendem und buntem Stoff. Es wird meist zu formellen oder feierlichen Anlässen getragen wie in der Kirche oder zu Hochzeiten.

Kaftan

Eine weite Tunika, die traditionell in den heißen Klimazonen Afrikas und im Nahen Osten getragen wird. In Nigeria sind Kaftane vor allem für Männer eine formelle Kleidung und werden oft aus teuren Materialien hergestellt und aufwendig und stilvoll bestickt.

Korallenperlen

Werden aus Korallensteinen geschliffen und poliert. Sie betonen in der Yorubakultur königlichen Status, Reichtum oder Alter.

Kolanuss

Die Nuss eines Baumes, der in den afrikanischen Regenwäldern wächst. Der Geschmack ist zunächst bitter, wird aber nach längerem Kauen süßer. Die Kolanuss hat eine kaffeeähnliche Wirkung, wird aber auch als Medizin verwendet. In vielen nigerianischen Kulturen wird sie feierlich Gästen oder wichtigen Personen angeboten.

Kosi Iberu

Bedeutet »keine Angst« in der Yorubasprache.

Ijoko

Ein kleiner Hocker aus oft aufwendig verziertem Holz

Irukere

Ein Zepter oder Stab für einen Chief. Besteht aus einem an einem Holzgriff befestigten Pferdeschweif und wird auch von Priestern und Priesterinnen bei religiösen Zeremonien verwendet oder bei traditionellen Tänzen gehalten.

Juju

Afrikanische Magie und spiritueller Glaube

Ofada-Reis

Ein ungeschliffener Reis, der gern mit Ofada-Soße gegessen wird, einer Soße aus Johannisbrotkernen

Okada

Umgangssprachliche Bezeichnung für Motorradtaxis

Orisha

Die Gottheiten der Yoruba-Religion, die unterschiedliche Rollen und Kräfte haben

Shekere

Getrocknete, mit einem Perlennetz verzierte Kürbisse. Wenn sie rhythmisch an die Handfläche geschlagen werden, klappern die Perlen gegen die harte Kürbisschale, und es entsteht Musik.

Shokoto

Weite, traditionelle Hosen der Yoruba mit Kordelzug zum Befestigen an der Taille

Suya

Gegrillte Fleischspieße, serviert mit rotem Pfeffer und rohen Zwiebeln. Ein berühmtes Streetfood in Nigeria, das häufig an den Stränden in Lagos verkauft wird.

Sprechtrommel

Eine sanduhrförmige Trommel, die unter den Arm geklemmt wird und mit einem gebogenen Stock geschlagen wird. Durch das Schlagen und Halten der Trommel auf eine bestimmte Art und Weise kann der Schlagzeuger menschliche Sprache und Töne nachahmen und somit Botschaften übermitteln.

Zobo

Ein erfrischendes Getränk, das in Nigeria üblicherweise kalt serviert wird. Es wird aus getrockneten Hibiskusblüten und anderen Zutaten wie Orangen-, Zitronen- oder Ananassaft, Ingwer und Honig gemacht.

1

Ferien am Ende der Welt

Widerwillig stieg Simi in das Taxi. Die Rückbank war durchgesessen, der Stoff an mehreren Stellen gerissen, und es roch, als wäre unter den letzten Fahrgästen eine Ziege gewesen. Sie rümpfte die Nase und versuchte verzweifelt, die nächste Welle an Wut und Tränen zu unterdrücken.

Ihre Mutter, die dem Fahrer gerade letzte Anweisungen gegeben hatte, kam um das Auto herum und legte ihre zierliche Hand an die noch offene Tür. Simi verschränkte ihre Arme vor der Brust und blickte stur nach vorn.

»Simi, es sind nur zwei Monate«, sagte ihre Mutter leise.

Sie antwortete nicht.

»Bitte, mach es nicht schwieriger für mich, als es schon ist. Ich bin so froh, dass ich diesen neuen Job gefunden habe. Aber ich muss für die Einarbeitung nach London fliegen. Und du weißt, wir brauchen das Geld, jetzt wo dein Vater und ich …« Ihre Mutter ließ den Satz unbeendet in der feuchtheißen Luft hängen.

Simis Magen zog sich bei der Erinnerung an die Trennung, die sie alle im letzten Jahr durchgemacht hatten, schmerzhaft zusammen.

»Glaub mir, Simi, wenn ich irgendeine andere Möglichkeit gehabt hätte, dann würde ich dich nicht dorthin schicken. Aber wir haben einfach kein Geld für ein Feriencamp, und ich habe keine andere Familie als sie.«

Allein die merkwürdige Art, wie ihre Mutter immer ›sie‹ sagte, machte Simi total nervös, wenn sie an das erste Treffen mit ihrer Großmutter dachte. Sie spürte den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen. Dieser hoffnungsvolle Blick, der Simi bat, zu lächeln und zu sagen, dass sie sie verstehe und dass alles okay sei. Aber Simi tat ihr den Gefallen nicht. Wochenlang hatte sie ihre Mutter angefleht und ihr versichert, sie könne mit dreizehn Jahren allein zu Hause bleiben. Sie hatte ihr vorgeschlagen, das Geld für ein Sommercamp von ihrem Vater zu leihen, er hatte schließlich genug davon. Aber ihre Mutter hatte jedes Mal nur den Kopf geschüttelt und sie ignoriert. Also tat Simi das jetzt auch.

Ihre Mutter seufzte leise und zog etwas aus ihrer Handtasche. Es war ein kleiner Umschlag.

»Das hier ist für sie. Du musst ihr den Brief übergeben, sobald du ankommst, und ich meine wirklich SOFORT!«

Simi schaute auf und kniff die Augenbrauen zusammen. Was in dem Brief wohl stand? Und wieso verhielt sich ihre Mutter wieder so merkwürdig? Diese ganze Geheimnistuerei war so was von nervig. Sie wusste gar nichts über diese Frau, die ihre Großmutter war. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie existierte, bis ihre Mutter beschlossen hatte, für zwei Monate nach London zu gehen und sie in Nigeria zurückzulassen. Einfach so. Du gehst zu deiner Großmutter. Dort wirst du deine Schulferien verbringen.

So wie Simi es verstanden hatte, lebte diese Großmutter auch noch mitten im Dschungel! In einem Dorf namens Ajao. Da wäre sie ja lieber zu ihrem Vater und seiner neuen Schickimicki-Freundin gefahren. Aber dafür war ihre Mutter viel zu stolz. Sie würde ihn nie um Hilfe bitten.

»Hörst du mir überhaupt zu?« Ihre Mutter hielt ihr den Brief unter die Nase. »Es ist wirklich wichtig, dass du ihr den Brief sofort gibst!«

»Jaja, ist gut«, grummelte Simi und schnappte sich den Umschlag. Sie verstaute ihn in ihrem Rucksack, der auf ihrem Schoß lag. Einen kurzen Moment lang spürte sie die warme Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter. Dann schlug die rostige Tür mit einem lauten Scheppern zu, und die klebrige, stickige Luft im Auto umhüllte Simi wie eine schwere Decke.

Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, und sie griff nach der abgebrochenen Fensterkurbel. Mühsam rollte sie das quietschende Fenster herunter. »Bitte, Mum! Kannst du mich nicht wenigstens hinbringen? Nur bis …«

Ihre Mutter wich ruckartig zurück. Ihr Blick erlaubte keine weitere Diskussion.

Es war zwecklos. Diesen versteinerten Gesichtsausdruck kannte Simi nur zu gut. Immer wenn es um ihre Familie ging, verstummte ihre Mutter und benahm sich wie eine komplett Fremde. Über die Vergangenheit konnte man mit ihrer Mutter nicht sprechen. Simi hatte sich früher vorgestellt, ihre Großeltern wären bei einem schweren Unfall ums Leben gekommen und ihre Mutter wolle vor lauter Kummer nie über ihre Eltern reden.

Und nun würde sie alleine zu dieser Großmutter fahren müssen, die sie nicht kannte, und unangekündigt vor ihrer Tür stehen. Zwar hatte ihre Mutter sie den größten Teil der sechsstündigen Busfahrt von Lagos aus begleitet, doch das letzte Stück sollte Simi allein im Taxi weiterfahren.

»Aber was mache ich, wenn sie nicht da ist«, hatte Simi ihre Mutter im Bus gefragt.

»Sie geht nie irgendwo hin«, hatte diese trocken erwidert. »Außer in den Wald hinter dem Haus zu ihren …« Ihre Mutter hatte gestockt und neu angesetzt. »Sie macht manchmal ein paar Besuche bei Nachbarn, aber dann weiß jeder im Dorf, wo sie gerade ist.«

»Ja, aber was ist, wenn sie gar nicht mehr … ähm dort … lebt«, hatte Simi gestammelt. Was sie eigentlich hatte sagen wollen, war »wenn sie nicht mehr lebt«, aber sie hatte ihrer Mutter nicht wehtun wollen; wobei sie nicht mal sicher war, ob der Tod der Großmutter ihr überhaupt etwas bedeuten würde.

»Sie lebt noch dort«, hatte ihre Mutter gesagt. »Und sie lebt noch.«

»Was ist, wenn sie keine Lust hat, ihre Enkelin, die einfach so aus dem Nichts auftaucht, zwei Monate lang zu beherbergen?«, hatte sie noch als letzten Versuch herausgebracht.

Ihre Mutter hatte nur ungeduldig den Kopf geschüttelt. »Sie wird dich aufnehmen. Sie wird sich sogar sehr freuen, dich zu sehen.« Und somit war das Thema beendet gewesen.

Nun nickte ihre Mutter dem Fahrer zu, den sie offenbar kannte. Sie hatte ihn vorher mit »Mister Balogun« angesprochen, und er hatte ihre Mutter nach so vielen Jahren wiedererkannt. Er war ganz aufgeregt gewesen, als er gehört hatte, wo er Simi hinbringen sollte.

»Du wirst bei ihm in guten Händen sein«, sagte ihre Mutter nun, während der Motor mit einem bedrohlichen Scheppern zum Leben erwachte.

2

Reise ins Unbekannte

Die Schotterstraße nach Ajao war so stark vom Regen und der Witterung abgetragen, dass es an manchen Stellen mehr Schlaglöcher als Straße gab. Der Fahrer kam nur im Schneckentempo voran, und das Auto quietschte und stöhnte so entsetzlich, dass Simi befürchtete, sie würden niemals heil ankommen.

Von links und rechts drängte sich der Wald auf die Straße. Gigantische Bäume und Büsche, höher und dichter, als sie es jemals in Lagos gesehen hatte, hüllten den Weg in kühle, düstere Schatten. Mit seinen alles überragenden dunkelgrünen Spitzen wirkte der Wald bedrohlich.

»Was sind das für Bäume?«, fragte sie den Fahrer, der, seitdem sie losgefahren waren, kein einziges Wort von sich gegeben hatte.

»Bäume?«, der alte Mann wandte seinen Blick von der Straße ab und drehte sich komplett zu ihr um. Simi machte sich sofort Sorgen um das nächste Schlagloch.

»Wie heißen die Bäume? Die großen da?«, fragte sie schnell etwas lauter.

Er betrachtete sie aus faltigen Augen. Braune Zähne, verfärbt vom ständigen Kauen der Kolanüsse, blitzten kurz auf, als sein Mund sich in ein schiefes Grinsen verwandelte. »Das ist Irokobaum. Geisterbaum!«, sagte er mit rauer, brüchiger Stimme.

Simi nickte und atmete erleichtert auf, als er sich endlich wieder der Straße zuwandte.

Geisterbaum. Das Wort hallte wie ein gespenstisches Echo in ihrem Kopf nach, und sie schauderte beim Anblick der langgliedrigen Bäume.

»Frau, wo ich dich bringe, ist Großmutter«, sagte er nach einer Weile.

Das klang zwar nicht wie eine Frage, aber Simi hatte das Gefühl, antworten zu müssen.

»Ja«, sagte sie.

»Deine Großmutter sehr gute Frau, viele Menschen kennen sie.«

Toll. Nur ich nicht, dachte Simi and sah wieder missmutig aus dem Fenster.

Nach etwa einer Stunde passierte genau das, was Simi die ganze Zeit befürchtet hatte. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen und einem heftigen Ruck landete das Auto in einem Schlagloch und blieb stecken.

Der Fahrer schnaubte und schnalzte mit der Zunge. »Du hilfst«, brummte er ihr über seine Schulter zu. Dann stieg er aus, bückte sich und verschwand außer Sichtweite. Zaghaft öffnete Simi ihre Tür und kletterte hinaus.

Der alte Mann kniete auf dem staubigen, unbefestigten Boden vor dem Auto und murmelte vor sich hin.

»Kiakia!«, rief er plötzlich, »schnell!«, und zeigte auf den hinteren Teil des Autos. »Schieben!«

Simi stolperte hinter das Fahrzeug. Ein Rascheln im Gebüsch neben ihr ließ sie nervös um sich schauen. Die gewaltigen Irokobäume auf beiden Straßenseiten zitterten im Wind und wölbten sich über sie wie unruhige Riesen. In ihrem Nacken bildete sich bei der Erinnerung an Mr. Bolaguns Worte eine Gänsehaut.

»Schieben!«, rief er noch einmal.

Simi schreckte aus ihren Träumereien. Es raschelte erneut in den Büschen, aber sie verdrängte alle Gedanken an Geisterbäume, Schlangen oder andere wilde Tiere. Sie biss die Zähne zusammen und schob, so fest sie konnte.

Das Auto bewegte sich kein bisschen.

Was, wenn sie das Auto nicht herausbekamen? Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich wieder umsah. In der letzten halben Stunde waren sie an keinem Dorf mehr vorbeigefahren, an keiner Stadt, keiner einzigen Person.

Simi schob mit aller Kraft, der Schweiß lief ihr schon die Achseln herunter. Auch der Fahrer drückte sein ganzes Gewicht gegen das Auto. Und diesmal bewegte es sich kurz.

»Mehr!«, rief er. Er steuerte das Lenkrad durch das Fenster und schob gleichzeitig. Simi drückte sich mit so viel Kraft gegen das Auto, dass sie befürchtete, ihre Venen würden vor Anstrengung platzen.

Nach drei weiteren Versuchen klappte es endlich. Das Auto rollte mit einem Ruck aus dem Schlagloch.

»Kiakia«, rief der Fahrer, aber Simi war schon längst zurück ins Auto gesprungen. Sie zog die Tür zu, klopfte ihre staubigen Hände ab und atmete zischend aus. Während das Auto sich wieder mühsam vorwärtsbewegte, holte sie ein Buch aus ihrem Rucksack und benutzte es als Fächer. Der alte Mann fuhr jetzt merklich vorsichtiger, und Simi wurde langsam müde. Trotz der Gefahr, dass ihre frisch geflochtenen, langen Zöpfe nach Ziege riechen könnten, lehnte sie ihren Kopf an den Sitz und schloss die Augen.

Als Simi wieder aufwachte, fuhren sie gerade in ein Dorf hinein. Sie setzte sich aufrechter hin und sah neugierig aus dem Fenster. Alles war aus dunkelrotem Lehm – die Häuser, die kleinen Grundstücke und die Straßen. Sogar die verrosteten Blechdächer schienen sich dem roten Lehm anpassen zu wollen.

Auf beiden Straßenseiten zählte Simi jeweils ungefähr zehn Häuser, die kaum größer als kleine Hütten waren. Überall liefen Ziegen, Hühner und nackte Kleinkinder herum. Unter einem riesigen Mangobaum saßen zwei ältere Männer auf einer Bank, ein Ayo-Spielbrett zwischen ihnen. Simi beobachtete, wie die kleinen runden Kerne aus ihren Händen in die Kuhlen des Holzbretts fielen, und stöhnte. Sie blickte auf ihr Handy. Kein Signal! Aber was hatte sie erwartet?

Es gab hier kein Handynetz, um mit Freunden zu chatten, keinen Fernseher und kein Internet. Nur Holzbrettspiele und runde Kerne. Wie sollte sie es jemals acht Wochen hier aushalten?

Am Ende des Dorfes, genau da, wo die kleine Schotterstraße sich verengte und dann in den Wald verschwand, tauchte ein kleines Haus auf. Es war aus genau demselben rötlichen Lehm wie alles andere hier. Zwei vergilbte Fensterläden umrahmten ein einziges Fenster neben der offenen Eingangstür.

Das Auto kam mit einem kleinen Ruck zum Stehen.

»Ajao!«, verkündete der Fahrer, fast feierlich.

Die zwei Hibiskusbüsche, die den Vorgarten zierten, raschelten sanft in der Abendbrise. Blätter und Blüten der Pflanzen waren mit rotem Staub bedeckt, als ob auch sie versuchten, eins mit dem Dorf zu werden. Ein großer Wasserkrug thronte hüfthoch neben der Eingangstür, am Griff baumelte ein kleiner Becher an einer Schnur.

Plötzlich stand eine winzige Frau im Türrahmen. Simi sog scharf die Luft ein.

Die Frau trug ein buntes Kopftuch und ein bodenlanges grünes Kaftan-Kleid. Kaurimuscheln blitzten an ihren Handgelenken und Knöcheln auf. Sie war barfuß.

Ihre Großmutter war nicht ganz so alt, wie Simi sie sich vorgestellt hatte, aber sie wusste sofort, dass sie es war. Sie sah genauso aus wie ihre Mutter. Und wie sie selbst. Sie hatten alle drei dieselbe kleine Nase, ernste, wachsame Augen und einen trotzigen Mund. Drei Generationen von Frauen mit ein und demselben Gesicht.

Und wieder fühlte Simi diese Traurigkeit. Wieso hatte ihre Mutter ihre Großmutter nie erwähnt?

Sie kletterte aus dem Auto und spürte, wie die Augen der alten Frau jeder ihrer Bewegungen folgten.

In der Zwischenzeit hatte der Fahrer ihren Koffer schon aus dem Kofferraum geholt und trug ihn nun zur Tür.

»Willkommen, Mister Balogun. Wie geht es dir?«, fragte ihre Großmutter mit ruhiger Stimme. Ihr Blick richtete sich sofort wieder auf Simi.

»Ekuirole – guten Tag«, antwortete der Fahrer. »Mir geht es gut, danke.«

»Herzlichen Glückwunsch. Ich habe gehört, dass du mit einem achten Urenkel beschenkt worden bist.«

»Ja, Iyanla.«

»Die Götter haben dich gesegnet.«

Er dankte ihr lächelnd und setzte den Koffer vor der Tür ab.

»Guten Abend, ähm … Großmutter«, sagte Simi und machte einen respektvollen Knicks.

»Willkommen, mein Kind«, sagte die alte Frau. »Es ist gut, dass du endlich gekommen bist.«

Simi starrte sie überrascht an. Ihre Großmutter schien kein bisschen verwundert, sie zu sehen. Sie wirkte, als hätte sie längst gewusst, dass ihre Enkelin sie besuchen würde.

Wie oft hatte sie sich diesen Moment in den letzten Tagen vorgestellt? All die Fantasien von gestotterten Erklärungen, verwirrten Fragen, Umarmungen oder sogar Tränen erschienen ihr jetzt total albern. Sie hatte das Gefühl, man müsse dieser Frau nicht viel sagen. Sie schien schon alles zu wissen.

Das sah man an ihrem Blick. Tief und eindringlich schaute sie Simi an, als könnte sie ihre Gedanken lesen.

Plötzlich knatterte das Auto hinter ihr laut.

»Duro! Warte«, rief ihre Großmutter. »Ich habe etwas für deinen Urenkel.« Sie verschwand im Haus.

Simi stand unentschlossen da. Sollte sie ihr folgen oder lieber draußen warten? Sie entschied sich zu warten.

Der Fahrer brachte den Motor zum Schweigen und stieg wieder aus.

Ihre Großmutter erschien kurz danach mit einem kleinen grünen Päckchen aus Bananenblättern. Der Fahrer nahm es mit beiden Händen entgegen und verbeugte sich.

»Deine Enkelin soll das Baby nach dem Baden mit der Salbe einreiben. Das hält Krankheiten fern.«

»Ese gan«, sagte er und verbeugte sich wieder. »Danke, Iyanla.«

Sobald das Auto weg war, drehte sich ihre Großmutter um und verschwand ins Hausinnere.

»In diesem Teil des Landes tragen sich Taschen meistens nicht von selbst ins Haus«, rief sie Simi zu.

Hastig schlüpfte Simi aus ihren Sandalen, schnappte sich ihren Koffer und eilte ihr hinterher.

3

Iyanla

Es war dunkel in dem kleinen Häuschen, dafür aber angenehm kühl. Der Boden unter Simis nackten Füßen fühlte sich fremd an, und sie stellte überrascht fest, dass er aus glatt poliertem roten Lehm war. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das schummrige Licht, und sie sah sich um. Sie stand allein in einem kleinen Raum, und es gab zwei weitere Türen. Eine davon war geschlossen, die andere war offen und führte in einen winzigen Flur.

Vor einem bettähnlichen Sofa, das mit einer orangen handgewebten Decke bedeckt war, stand ein kleiner Tisch. Unter ihm lag eine Strohmatte, und auf der Tischplatte stand eine kleine Schale mit Kolanüssen für Gäste. Der Raum wirkte einfach, aber einladend. Hübsche gelbe Gardinen umrahmten das kleine Fenster. Ihre Mutter bevorzugte dunkle, eintönige Farben. Ihre Wohnung zu Hause in Lagos war in allen denkbaren Grautönen ausgestattet.

Simi setzte ihren schweren Koffer und ihre Sandalen ab und lief zaghaft in den Flur, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Dort verbreiterte er sich zu einem Raum, der offensichtlich als Lagerraum diente. Ein hohes, mit Lebensmitteln gefülltes Regal nahm eine Seite des Raums ein. Auf dem Boden vor dem Regal lagen eine große Staude Kochbananen, ein Reissack und ein großer Kanister Palmöl. Lange Yamswurzeln waren ordentlich zu einem Haufen gestapelt. Die andere Seite des Lagerraums war aber der interessantere Teil. Hunderte kleine Tontöpfe, bunte Fläschchen, birnenförmige Phiolen und winzige Päckchen aus braunem Papier und getrockneten Blättern reihten sich in einem hohen Regal aneinander.

»Wieso habe ich das Gefühl, dass du unwissend hierhergeschickt wurdest?«

Simi wirbelte herum. Sie hatte ihre Großmutter nicht kommen hören.

»Unwissend?«, fragte sie und schluckte.

»Deine Verwirrung steht dir deutlich ins Gesicht geschrieben. So wie ich deine Mutter kenne, hast du wahrscheinlich bis vor Kurzem nicht mal gewusst, dass es mich gibt.« Ihre Großmutter hob fragend eine Augenbraue.

Simi verlagerte ihr Gewicht verlegen von einem Bein auf das andere.

»Hat sie vielleicht keine Wahl gehabt? Die Dinge wurden kompliziert, und sie sah keinen anderen Ausweg, als dich herzuschicken?«

Simi sah sie sprachlos an.

»Ist sie etwa in Schwierigkeiten?« Die dunklen Augen ihrer Großmutter bohrten sich so tief in Simi hinein, dass sie wegschauen musste.

»Woher weißt du das? Hat meine Mutter dich doch noch angerufen?«

Ihre Großmutter wedelte ungeduldig mit einer Hand im Raum herum. »Siehst du hier irgendwo ein Telefon?«

Simi spürte, wie ihre Wangen warm wurden, und biss sich auf die Lippen, die immer viel schneller als ihre Gedanken waren.

»Hat sie dir etwa nicht einmal gesagt, in welches verschlafene Dorf sie dich schickt?«

»Doch! Ja. natürlich, ich … ähm … ich hatte das nur vergessen.«

»Darf ich erfahren, weswegen sie mir ihre Tochter schickt, nachdem wir seit Jahren kein Wort gesprochen haben?«

»Also, meine Eltern haben sich getrennt … letztes Jahr … und, ähm, meine Mum muss wegen der Arbeit verreisen«, brachte Simi stotternd hervor.

Sogar jetzt, ein Jahr später, mochte sie immer noch nicht darüber reden. Die Worte hinterließen einen bitteren Geschmack in ihrem Mund, und sofort fiel ihr das Gestreite wieder ein. Nichts macht dich jemals glücklich!, hatte ihr Vater zu ihrer Mutter gesagt. Du trägst Wut mit dir herum wie ein Schutzschild … Du lässt keine anderen Gefühle zu … Wenn du nicht endlich mit deiner Vergangenheit ins Reine kommst, wirst du nie glücklich werden …

War das jetzt der Versuch ihrer Mutter, mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen? Wollte sie die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter dadurch retten, dass sie ihre Tochter zu ihr schickte? Aber wenn das der Grund war, wieso war sie nicht mitgekommen?

Der Gesichtsausdruck ihrer Großmutter war schwer zu deuten.

»Ist es okay, dass ich, ähm … hergekommen bin?«

Ihre Großmutter griff ins Regal und holte eine kleine dunkelgrüne Phiole herunter.

»Was ist das für eine Arbeit, die eine Mutter von ihrem Kind trennt?«, fragte sie, ohne auf Simis Frage einzugehen.

»Sie ist Apothekerin«, antwortete Simi. »Sie hat gerade einen neuen Job in einer großen Firma angenommen, und dafür muss sie nach London zu einem Einführungskurs fliegen.«

Die Stirn ihrer Großmutter kräuselte sich. Sie sah verwirrt aus.

»Also eine Apothekerin ist jemand, der Medikamente …«, setzte Simi an.

»Ich weiß, was eine Apothekerin tut«, unterbrach ihre Großmutter sie. »Auch wenn ich hier draußen wohne, heißt das nicht, dass ich von gestern bin.«

»Entschuldigung«, sagte Simi und senkte ihren Blick.

»Ich bin nur überrascht, dass deine Mutter so eine Arbeit gewählt hat. Ich hätte nie gedacht …«

Ihre Großmutter brach ab und schüttelte gedankenverloren den Kopf.

Einen kleinen Moment lang hatte Simi das Gefühl, einen Anflug von Stolz in ihrem Gesicht zu sehen. Ihre Großmutter war selbst offensichtlich eine Art Naturheilerin, jemand, der sich mit natürlicher Medizin auskannte. Also eine Art Natur-Apothekerin.

Nun nahm sie eine kleine Stofftasche aus einem Korb in der Ecke. »Komm, wir haben heute viel zu tun«, sagte sie und marschierte nach draußen.

Der vordere Teil des Hinterhofs war überdacht. Dort standen ein großer Holztisch und zwei Stühle. In einer traditionellen Feuerstelle glühten Holzscheite. Darüber blubberte laut ein dreibeiniger eiserner Kessel auf großen rußbedeckten Steinen.

Der große Hinterhof sah sehr gepflegt und ordentlich aus. Am äußersten Ende streckte ein großer Frangipanibaum seine Äste in alle Richtungen aus und spendete Schatten. Schmetterlinge und Bienen sausten im Zickzack über einen Kräutergarten, der neben einem kleinen Steinbrunnen angelegt war. Simi roch frischen Thymian. Ihre Mutter liebte Thymian und hatte sogar welchen in ihrem winzigen Garten in Lagos angepflanzt. Simi versuchte, sich ihre Mutter als kleines Mädchen hier vorzustellen, wie sie im Garten kniete und den Duft des Thymians einatmete. Aber es klappte nicht. Sie hatte noch nie ein Foto ihrer Mutter als Kind gesehen. Simi seufzte und ließ ihren Blick schweifen. Ein kleiner Holzzaun umrandete den Garten und den Hinterhof. Dahinter verlief ein Pfad, der in die eine Richtung zum Wald führte und in die andere zurück zum Dorf.

»Bist du hungrig?«, fragte ihre Großmutter, die sich schon an den kleinen Tisch gesetzt hatte.

Simis Magen fühlte sich immer noch komisch an nach der holprigen Fahrt, also schüttelte sie den Kopf. »Kann ich das Bad benutzen?«

Ihre Großmutter machte eine Kopfbewegung in Richtung einer kleinen Blechkonstruktion in der hintersten Ecke des Hofes. Simi hatte das Blechhäuschen noch gar nicht bemerkt, weil es hinter hohem Elefantengras versteckt war.

Sie lief hinüber und öffnete eine der beiden Metalltüren. Die Tür quietschte laut, und Simi starrte in eine leere Kabine. Der Boden war mit kleinen Steinchen ausgelegt, und ein Handtuch hing an einer Wäscheleine, die oben unter der Decke befestigt war.

Das hier war die Dusche!

Hmm, na ja, was hatte sie erwartet? Wo es keinen Strom gab, gab es auch nicht unbedingt fließendes Wasser aus Wasserhähnen.

Mit einer bösen Vorahnung öffnete Simi die andere Tür. Vor ihr befand sich eine eckige Holzkonstruktion, wie eine große Holzkiste, die fast die ganze Kabine einnahm. In einer Ecke stand ein kleiner mit Wasser gefüllter Eimer. Mittig auf der großen Holzkiste war ein runder Holzdeckel befestigt. Die Toilette!

Hilfe, wo war sie hier nur gelandet? Sie versuchte, nicht an das schöne kleine Bad zu Hause zu denken, mit den glänzenden, weißen Fliesen und dem flauschigen, grauen Teppich.

Als sie zu ihrer Großmutter zurückkam, wühlte diese gerade in einem großen Korb herum, der am Boden neben ihr stand. Zwischen Geschirrtüchern, Suppenkellen und anderen Küchenutensilien holte sie einen kleinen steinernen Mörser und einen passenden Stößel hervor. Sie legte beides auf den Tisch und gab ein paar getrocknete Blätter aus einer Schüssel in den Mörser. Aus der grünen Phiole, die sie aus dem Regal im Haus mitgenommen hatte, träufelte sie ein paar Tropfen dazu. Es war eine etwas zähe gelbliche Flüssigkeit, die so aussah wie Erdnussöl. Dazu kam noch etwas schwarzes Pulver aus einem Tongefäß.

»Zermahle das«, sagte sie und schob Simi den Mörser zu.

Simi nahm den Stößel und rührte die Mischung um. Zunächst zaghaft, aber bald wurde sie sicherer und rührte, stampfte und zermahlte die Blätter, bis alles langsam zu einem sämigen Brei wurde. Zu Hause liebte sie es, ihrer Mutter in der Küche zu helfen. Ihre Mutter entspannte sich beim Kochen. Die tiefen Sorgenfalten zwischen ihren Augenbrauen glätteten sich, wenn sie gemeinsam eine Soße zubereiteten oder das Gemüse für gebratenen Reis schnippelten.

Während sie die Blätter zermahlte, beobachtete Simi ihre Großmutter. Sie hatte hinten im Garten einen Büschel Blätter von einem hohen Busch gepflückt und entfernte gerade die dunkelgrünen Blätter von den Stängeln. Sie sahen aus wie Bitterblatt, was ihre Mutter immer für Schwarze Suppe benutzte. Ihre Großmutter wusch die Blätter nun in einer Schüssel und setzte sich mit einem Holzbrett und einem Messer zu ihr.

»Wie nennt sie dich?«, fragte sie unvermittelt.

»Was meinst du?«, fragte Simi verwirrt.

»Wie haben dich deine Eltern genannt? Du hast doch einen Namen, oder?« Ihre Großmutter beäugte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Simi«, antwortete sie. Und nach einem kleinen Zögern sagte sie ihren vollständigen Namen: »Oluwanifesimi.«

Ihre Großmutter nickte zufrieden. »Das ist ein guter Name. Du weißt, was er bedeutet?«

»Ja. Gott liebt mich.«

Ihre Großmutter nickte noch einmal. »Es ist gut, wenn du die Götter auf deiner Seite hast.«

Simi sah überrascht auf. Das war das zweite Mal seit ihrer Ankunft, dass sie die Mehrzahl verwendet hatte, also »Götter« statt »Gott«. Das Gesicht ihrer Großmutter war schwer zu lesen. Simi betrachtete sie näher. Unter ihrem gelben Kopftuch lugten vereinzelt ein paar graue Haare hervor. Sie hatte schmale Schultern, und ihre Haltung war leicht gebeugt, aber in ihrem Gesicht war keine einzige Falte zu erkennen. Während sie die Blätter zerhackte, war ihr Gesichtsausdruck so friedlich, dass Simi sich traute, die Frage zu stellen, die ihr am meisten auf der Zunge brannte.

»Großmutter? Wieso habt ihr euch gestritten, du und meine Mum?«

»Iyanla!«, unterbrach ihre Großmutter sie. »Nenn mich Iyanla, das bedeutet ›große Mutter‹, also ist es fast das Gleiche. So nennt mich jeder hier. Wenn du mich ›Großmutter‹ nennst, dann fühle ich mich zurück in meine Schulzeit versetzt, in die Schule des weißen Mannes.« Iyanla hielt kurz inne und fügte dann noch hinzu: »Es war nicht wirklich ein Streit zwischen deiner Mutter und mir.«

Simi nickte, auch wenn sie nicht wirklich eine Antwort auf ihre Frage bekommen hatte. Es war wahrscheinlich noch zu früh für dieses Gespräch. Die Kaurimuscheln an Iyanlas Handgelenken tanzten, während sie die Blätter mit flinken Fingern arrangierte und gekonnt schnitt. Simi versuchte, sie sich als kleines Kind vor sechzig oder siebzig Jahren in irgendeiner Missionarsschule vorzustellen, aber es gelang ihr nicht.

Eine Weile lang war es still. Aber die Stille war nicht unangenehm. Es fühlte sich einfach nur unwirklich an, wie in einem Traum. Hier saß sie nun, mitten im Nirgendwo, am Rand eines gigantischen Dschungels, und verrührte merkwürdige Mixturen.

Plötzlich zerrissen Schreie die Stille. Laute Stimmen kamen immer näher. Iyanla hielt inne und legte ihr Messer zur Seite. »Wir haben Besuch«, sagte sie mit einem leichten Seufzen. »Besuch mit Problemen, wie mir scheint.« Sie stand auf und wusch sich in der Schüssel die Hände. »Wieso gehst du nicht eine kleine Runde spazieren, mein Kind?«

Simi nickte, obwohl sie sich langsam Sorgen machte.