Kindstod - Ralf Romahn - E-Book

Kindstod E-Book

Ralf Romahn

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Beschreibung

Erschreckend und authentisch: spannende Kriminalfälle aus der DDR Der absolute Albtraum: Im Frühjahr '82 meldet eine völlig aufgelöste Mutter im Revier 14 in Berlin-Mitte die Entführung ihres Kindes. Panik steht ihr ins Gesicht geschrieben. Der Säugling sei aus dem Kinderwagen, den sie vor der Kaufhalle abgestellt hatte, gestohlen worden. Stunden später findet die Polizei das tote Kind in einem Müllcontainer, eingewickelt in ein Badetuch ... Für Kripo-Chef Ralf Romahn, zuständig für den Bezirk Mitte, beginnt die nervenzerreißende Suche nach dem Kindermörder. In seinem nunmehr dritten Buch schildert Romahn diesen und andere spannende Fälle, die ihm während seiner Polizei-Laufbahn schlaflose Nächte bereitet haben. Dabei fließt nicht in jedem Falle Blut, manche Delikte sind skurril, spektakulär und gehen darum in die Kriminalgeschichte ein. Da geht es zum Beispiel um einen vermeintlichen Charité-Professor, der sich Wohnungen im Berliner Nikolai-Viertel erschleicht. Oder um einen Täter, der sich die beiden einzigen genealogischen Handbücher in der DDR (von denen es weltweit nur hundert gibt) unter den Nagel reißt ... Romahn zeichnet diese wahren Kriminalfälle aus der DDR gründlich nach und schildert packend die Ermittlungsarbeit der Polizei. Authentisch, spannend, aus Insiderhand.

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden alle Namen von Tätern und Opfern sowie Tatorte verfremdet. Namensgleichheiten sind dem Zufall zuzuschreiben.

Das Neue Berlin – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-50165-3

ISBN Print 978-3-360-01 354-5

1. Auflage 2019

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von Jakub Krechowicz, AdobeStock

www.eulenspiegel.com

Inhalt

Der freundliche Hochstapler

Martina

Kindstod

Der freundliche Hochstapler

Es war im Frühjahr 1983 und ich Leutnant der Kriminalpolizei. Mir war signalisiert worden, dass ich am Tag der Volkspolizei, also am 1. Juli, noch einen Stern auf die Silberlitze bekommen würde. Oberleutnant der K nach nur zwei Jahren, hatten die Kollegen in der VP-Inspektion gesagt, als sie davon Wind bekamen: alle Achtung. Und das meinten sie durchaus anerkennend und frei von Neid. Sie konnten es ohnehin nicht verhindern. Doch weshalb sollten sie das? Ich wurde vom Kollektiv unserer Dienststelle in Mitte vom ersten Tag an angenommen, nachdem ich die zweijährige Ausbildung an der Polizeischule in Aschersleben mit Auszeichnung bestanden hatte und gleich zum Leutnant ernannt worden war. Als einziger Absolvent. Die anderen kehrten als Unterleutnant in ihre Dienststellen zurück.

Und nun bald schon Oberleutnant.

Einverstanden, es gab nie eine Phase in meinem kurzen Leben, in der mich der Ehrgeiz verlassen hatte. Egal, welchen Arbeit ich machte: Ich wollte sie gut machen. Hob ich mich dabei ab von den anderen, war also besser als sie, lag es nicht unbedingt an mir.

In den frühen siebziger Jahren war ich bei den Kampfschwimmern in Kühlungsborn. Ich besaß die Hochschulreife und wollte später Meeresbiologie studieren. Dieses Berufsziel hatte weniger mit meiner Liebe zu Fischen denn mehr mit dem Wunsch zu tun, die DDR auch einmal von außen zu sehen – vor Erreichen des Rentenalters. An der Oberschule in Gera hatte mich mein Biologielehrer gleichsam angesteckt. In der 11. Klasse untersuchten wir die Wasserqualität der Schwarzen Elster, die durch die Bezirksstadt floss. Das brachte mich auf den – wie man heute sagen würde – Öko-Trip. Wir sahen, welche Folgen der tägliche Eingriff von uns Menschen in die Natur zeitigte: Verkehr, Produktion, der Rauch aus unseren mit Braunkohle befeuerten Wohnzimmeröfen und, wie von uns Oberschülern gemessen, der Dreck in der Elster. Wir wurden ökologisch erzogen, ohne dass es als Fach im Stundenplan stand. Und so reifte bei mir der Wunsch nach einem entsprechenden Beruf, neben der schon erwähnten anderen Intention.

Von einer Verpflichtung als Längerdienender versprach ich mir einen Hilfspunkt bei der Studienbewerbung. Vier Jahre lang diente ich, treu und mit Überzeugung, meinem Vaterland. Noch vor der Entlassung aus der Marine beantragte ich mein Seefahrtsbuch, weil davon auszugehen war, dass ich es als Meeresbiologe brauchen würde. Das Buch war wie ein Reisepass. Man brauchte es, um die Hoheitsgewässer der DDR – und das waren damals drei Seemeilen – legal verlassen zu dürfen. Wider Erwarten erhielt ich eine Absage. Ich zog die Uniform an und marschierte zum Wehrkreiskommando, an meiner Kieler Bluse pendelten die Eicheln an der Schützenschnur, klapperten die Anhänger am Bestenabzeichen, neben der Quali-Spange glänzte das Leistungsabzeichen und diverse andere Soldatenauszeichnungen, ich war mit Metall behängt wie ein Kriegsveteran der Roten Armee. Die Militärs im Wehrkreiskommando ließen sich davon wenig beeindrucken. Genosse Maat, klärten sie mich auf, es gebe nun einmal Vorschriften, auch wenn sie meinen Einsatz zum Schutz der DDR und des Friedens durchaus zu schätzen wüssten. Und die Vorschriften besagten, dass ich als Angehöriger einer Spezialeinheit das Land zehn Jahre lang nicht verlassen dürfte.

Wütend hielt ich dagegen, dass wir im Ernstfall an fremden Gestaden Brückenköpfe errichten und in auswärtigen Häfen Schiffe versenken sollten, da verließe ich auch die DDR, worauf die Genossen im Wehrkreiskommando widersprüchlich reagierten. Das sei etwas ganz anderes und nicht vergleichbar, das geschähe im Kriegsfall. Unser Klassenauftrag, also meiner und ihrer, bestünde jedoch darin, den Frieden zu sichern, also zu verhindern, dass eben jener von mir angeführte Fall je einträte.

Ich trollte mich aus dem Wehrkreiskommando und schrieb eine Beschwerde an Admiral Ehm. Der Chef der Volksmarine, zugleich Stellvertretender Verteidigungsminister, war ein leutseliger, umgänglicher Mensch, wie nicht nur die Marineangehörigen in Warnemünde wussten. Vielleicht würde er mir zu einem Seeleute-Ausweis verhelfen können.

Allerdings war auch die Macht des Admirals endlich, gegen die Gesetze und Vorschriften kam er nicht an. Min Jong, ließ er mich altväterlich wissen, du hast dich seinerzeit dieser Vorschrift unterworfen. Hatte ich wirklich? Ich konnte mich jedenfalls nicht daran erinnern, jemals eine solche Verfügung unterschrieben zu haben. Was aber nicht hieß, irgendwann nicht doch meine Unterschrift unter eine derartige Verpflichtung gesetzt zu haben. Wissentlich ganz gewiss nicht, denn dann wäre mir bewusst geworden, dass ich nach dem Studium noch mehrere Jahre ans Land gefesselt sein und vor 1984 kein Seefahrtsbuch erhalten würde.

Nun war es so, dass man sich hierzulande um jeden kümmerte, selbst wenn man dies nicht wünschte. Ersatzweise bot man mir als Alternative ein Studium als Agraringenieur oder als Physiotherapeut an. Als ich mich mit meinem Seesack zur Kleiderkammer begab, um abzumustern, war mir jedoch klar: Das machst du nicht! Ich ging nach Berlin und begann als Hilfsarbeiter im VEB Elektrokohle Lichtenberg. In diesem Großbetrieb produzierte man noch wie zu Kaisers Zeiten, als für die Rüstungsindustrie Großkohleerzeugnisse hergestellt wurden. Der VEB stellte als einziger Betrieb im ganzen Land Zeug aus Graphit für die Industrie her. Ich kam als Ofenarbeiter in die »rollende Schicht« und presste bei einigen tausend Grad Silikonheizleiterstäbe. Täglich gingen zwei Waggons in die Sowjetunion, die Stäbe brauchte der Große Bruder zur Fertigung von irgendwelchen Spezialstählen für die Raumfahrt. Das hieß nicht nur für die bemannte, sondern auch für die vielen Beobachtungssatelliten der Kosmos-Reihe, die im Wochentakt in Baikonur in den kasachischen Himmel geschossen wurden und jahrelang die Erde umkreisten.

Die Produktionsbedingungen waren erbärmlich. Die gesundheitsschädliche Arbeit bei Dreck, Lärm und Hitze wurde jedoch fürstlich entlohnt. Selbst ich als angelernter Hilfsarbeiter kam mit den Zuschlägen auf über dreitausend Mark im Monat, so viel bekam ein Kombinatsdirektor. Nun begriff ich auch, woher die Bezeichnung »Mörderkohle« kam, denn die Arbeit war mörderisch. In dieser Hölle hielt man es nicht lange aus. Entweder ging man rechtzeitig oder zugrunde. In den Pausen tranken wir nicht Tee, sondern Schnaps, weil wir es bis zum Schichtende sonst nicht geschafft hätten. Man hatte die Wahl, sich entweder zu Tode zu schuften oder zu Tode zu saufen. Beides hatte ich nicht vor. Aber was war die Alternative?

Im Sommer ’76 kam der Kollege Zufall des Wegs. Ich malochte bereits ein Jahr in Lichtenberg. Meiner Frau wurde im Centrum Warenhaus am Alex die Handtasche geklaut. Mit allen Papieren und auch dem Scheckheft. Das waren damals kleine, quadratische, in Grün bedruckte Blättchen im Block. Man konnte damit in der Zeit vor Erfindung der Geldkarten wunderbar einkaufen. (Was die Diebe auch taten. Sie räumten unser ganzes Konto leer und noch einiges mehr. Vorzugsweise kauften sie elektrotechnische Konsumgüter für mehr als achttausend Mark, ehe sie in eine von der Kriminalpolizei gestellte Falle tappten. Es handelte sich um ein Pärchen. Die Frau hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Passfoto in Reginas Ausweis, der bei der Bezahlung mit Schecks stets vorgelegt werden musste. Deshalb hatte der Betrug ja auch funktioniert.)

Wir erstatteten unmittelbar nach dem Diebstahl Anzeige in der nächstgelegenen VP-Inspektion. Die befand sich in der Keibelstraße. Dort bekamen wir es mit einem Gerhard Scheller zu tun. Der war Hauptmann der Kriminalpolizei und ein ziemlich angenehmer Zeitgenosse. Er nahm alles auf, meine Frau und ich mussten Schriftproben abgeben, um die Unterschriften bei den Schecks zu prüfen und um die Urkundenfälschung vor Gericht zu beweisen. Ich traf Scheller in der Folgezeit wiederholt. Wir sprachen nicht nur über den Diebstahl, sondern auch über meine schweißtreibende Tätigkeit im VEB Elektrokohle. Irgendwann sagte Scheller: »Komm doch zur Polizei.« Ich sei Genosse und Obermaat der Reserve, das heißt die vier Jahre bei der Volksmarine würden auf die Dienstzeit beim MdI, also dem Ministerium des Innern, angerechnet werden.

Bei Offerten solcher Art fragte man in der Regel nach: Was habt ihr zu bieten?

Diese Frage stellte ich natürlich auch. Scheller antwortete: 820 Mark plus 135 Mark Bekleidungs- und Verpflegungsgeld sowie ein gesünderes Leben als jenes, das du aktuell führst.

Das Letztere sei ein gewichtiges Argument, entgegnete ich. Über den Rest müsse ich erst mit meiner Frau reden. Das bedeutete nämlich, dass ich weniger als ein Drittel von dem bekäme, was ich sonst am Monatsende mit nach Hause brachte. Außerdem wollte ich, erklärte ich, wenn ich mich denn tatsächlich entschließen sollte, sein Angebot anzunehmen, zur Kriminalpolizei und zu keiner anderen Sparte.

Scheller nickte und fragte nicht nach Gründen.

Daheim musste ich nicht lange mit Regina diskutieren. Auch für sie stand die Gesundheit im Vordergrund. Was nütze uns die fette Kohle, wenn du in zehn Jahren auf dem Zahnfleisch kriechst und in zwanzig Jahre völlig ausgebrannt bist, fragte sie rhetorisch. Meine sportliche Vergangenheit würde mich in diesem Job jedenfalls nicht bis zur Rente tragen.

Ich war noch lange keine dreißig und dachte nicht an den Lebensabend, aber die nüchtern urteilende Regina hatte natürlich recht: So weit würden die Körner nicht reichen. Und was die finanzielle Einschränkung betraf: Viele Menschen in diesem Lande kamen mit weit weniger aus.

Ich sagte also Scheller zu und wurde im April ’78 als Polizeianfänger eingestellt. Man schickte mich als Wachtmeister ins Lehrrevier 242 nach Köpenick. Dort, in der Bölschestraße, sollte ich ein halbes Jahr als Wachtmeister Erfahrungen sammeln, ehe ich bei einem Lehrgang in Potsdam zum Hauptwachtmeister der K ausgebildet werden würde. Die Monate in Köpenick waren fantastisch, eine bessere Einladung zum Polizeidienst hätte es nicht geben können. Wir waren die meiste Zeit an der frischen Luft und wenig im Büro, fuhren Streife rund um den Müggelsee und waren auch zu Fuß unterwegs. Zu den eher ungewöhnlichen Einsätzen gehörte die Begleitung einzelner Panzer, die per Bahn eintrafen und durch das nächtliche Berlin mit Blaulicht in die sowjetische Garnison in Karlshorst geleitet werden mussten. Jenseits der Hermann-Duncker-Straße lag »Karlowka« – mehr als dreihundert Häuser und Kasernen, und eben da befänden sich auch die Panzerunterstände und Garagen. Von dort waren 1953 die Tanks in die Berliner Innenstadt gerollt, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Jungs in den neuen Panzern hatten es immer sehr eilig, sie wollten rasch in die Kaserne kommen und traten aufs Pedal. Mit 70 km/h knatterten sie nachts gegen zwei Uhr von Köpenick nach Karlshorst und wir mit Blaulicht vornweg.

In Potsdam lernte ich den Bürokram der Polizeiarbeit: Schreibmaschine schreiben, Anzeigen aufnehmen und andere Verrichtungen, was nur sehr bedingt etwas mit kriminalistischer Ermittlungsarbeit zu tun hatte, aber eben nötig war. Dann kam ich ins Kommissariat 7, zuständig für Kinder- und Jugendkriminalität, in eben jener Keibelstraße in Mitte. Ich war Hauptwachtmeister der K. und wurde im Frühjahr ’79 zum Kadergespräch befohlen. Dabei ging es um meine weitere Entwicklung.

Die Bezeichnung »Kadergespräch« war insofern irreführend, als sie suggeriert, dass sich die Vorgesetzten mit einem jungen Menschen – Nachwuchskader geheißen – über dessen mögliche Zukunft ergebnisoffen austauschten. Überall und in allen Branchen wurden an jedem Tag solche »Kadergespräche« geführt. Und bei allen stand das Ergebnis eigentlich schon fest: Zuvor hatten nämlich die Verantwortlichen die Köpfe zusammengesteckt, Kaderpläne entwickelt und Weichen gestellt. Im Gespräch wurde dann der »Vorschlag« unterbreitet, dem der Kader zustimmte. Oder auch nicht. Zögerte er oder lehnte gar ab, wurde argumentativ nachgearbeitet. Biss man trotzdem auf Granit, wurde eine eventuelle Parteizugehörigkeit ins Spiel gebracht und ein Parteiauftrag erteilt. Dem konnte sich der Kader kaum entziehen: Wenn »die Partei« beschlossen hatte, diese oder jene Laufbahn einzuschlagen, dann durfte man sich schlechterdings nicht verweigern. Oder man war ein schlechter Genosse.

Mein Kadergespräch endete mit dem Vorschlag, noch im Herbst an der Fachschule des MdI »Wilhelm Pieck« in Aschersleben ein Studium zu beginnen. Das sollte zwei Jahre dauern.

Allerdings – die Vorgesetzten hatten meine Kaderakte sehr aufmerksam studiert – müsse ich jetzt meine Westkontakte einfrieren. Die hatte ich zwar nicht, wohl aber meine Eltern. Zwei Brüder meiner Mutter lebten in der Bundesrepublik. Ich sollte Unterschriften meiner Eltern beibringen, dass auch sie künftig keine Beziehungen mehr zur Verwandtschaft im Westen unterhalten würden. Mein Vater, klassenbewusster Bergmann und Mitglied der SED, griff sich bei diesem Ansinnen an den Kopf. Ich solle mir besser einen andere Arbeit suchen, knurrte er verärgert und unterschrieb nicht. Aber auch das war wieder typisch DDR: keine Regel ohne Ausnahme. Meine Vorgesetzten schauten durch die Finger und schickten mich trotzdem nach Aschersleben. Und ich ließ mich zum Offizier ausbilden. Mit künftig 1300 Mark würde ich zwar weniger als meine Frau verdienen, aber mich reizte die Tätigkeit als Kriminalist. Ich wollte ermitteln und Täter jagen, dem Gesetz und der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen. Das hatte zunächst nichts mit Ideologie und Bewusstsein zu tun, sondern erschien mir als eine abwechslungsreiche, bisweilen spannende Arbeit.

Diese Erwartung erfüllte sich seit meiner Rückkehr aus Aschersleben. Und als mich Oberst Werner Gutzeit im Frühjahr ’83 zu sich rief, hoffte ich darauf, wieder einmal einen interessanten Auftrag übertragen zu bekommen. Sicher sein konnte ich mir allerdings nicht. Wenn der Chef der VP-Inspektion einen zu sich befahl, musste dies nicht zwingend etwas Gutes bedeuten. Oft gab es auch ein Donnerwetter. Gutzeit schien aber guter Laune und seinem Namen Ehre zu machen, als er mich aufforderte, vor seinem aufgeräumten Schreibtisch Platz zu nehmen. Ich sah zwei Blätter vor ihm liegen. Im Kopf der beiden Briefe waren die Signets der Absender zu erkennen.

Der Oberst, wie meist in Uniform, schob mir die beiden Blätter zu und forderte mich auf zu lesen. Er zündete sich eine Zigarre an und lehnt sich in seinem Arbeitssessel zurück, für die Lektüre räumte er mir erkennbar Zeit ein.

Das eine Schreiben war an die Orthopädische Klinik der Charité gerichtet. Absender war der VEB Kommunale Wohnungsverwaltung Berlin-Mitte (KWV), also die Wohnungsverwaltung des Stadtbezirks. Das zweite Schreiben war von der Charité und ging an die Kreisleitung der SED in der Friedrichstraße 165.

»Die Briefe habe ich vom Kaiser erhalten«, schickte Gutzeit erklärend voraus. Das war der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, der den Spitznamen »Erster Kaiser« trug, was durchaus auf seine Stellung und sein Selbstverständnis zielte. Viele wichtige zentrale Institutionen befanden sich auf seinem Territorium, so auch die größte Klinik der DDR. Deshalb war die SED-Kreisleitung von Berlin-Mitte natürlich viel bedeutender als etwa die in Calau oder Kyritz. Doch alle glichen sich in einem: Sie waren der kollektive Kummerkasten des Kreises. »Die Partei« fühlte sich für alles zuständig, also bekam sie auch alles auf den Tisch (neben den vielen Dingen, die sie sich selbst auf den Tisch zog). Wenn es ein Problem gab, und war’s noch banal, schrieb der Bürger eine Eingabe. Und die musste binnen vierzehn Tagen beantwortet werden. So verlangte es das Gesetz.

Den Klinik-Chef hatte eine Korrespondenz mit der Wohnungsverwaltung irritiert, und für die Kriminalpolizei schien es ihm zu läppisch, weshalb er sich an die Kreisleitung gewandt hatte, die schließlich für alles zuständig war. Und der »Erste Kaiser« wiederum hatte offenkundig das Problem an die VP-Inspektion delegiert, denn kriminalistische Ermittlungen waren deren Sache und nicht die der Partei. Am Rande irgendeiner Zusammenkunft hatte Kaiser die beiden Schreiben mit den entsprechenden Bemerkungen an Gutzeit übergeben, wie ich von ihm hörte.

Ich las und schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. Gutzeit beobachtete mich amüsiert.

Na, sagte er, als ich die Lektüre beendet und die beiden Bögen wieder auf den Schreibtisch zurückgelegt hatte. »Das ist doch mal eine echte Herausforderung, nicht wahr?«

Auch ohne sein Grienen registrierte ich seine Ironie.

»Geh mal der Sache nach. Diskret natürlich. Und was du rausbekommst, lässt du nur mich wissen. Kein Papierkram, keine Auswertungsrunden, alles piano.« Gutzeits Hände hoben und senkten sich über der Schreibtischplatte. »Haben wir uns verstanden?«

Was gab es da nicht zu verstehen? Das Ganze konnte eine Luftnummer sein. Und wenn es das nicht war, lud es Trittbrettfahrer zur Nachahmung ein. So oder so schien es vernünftig, den Ball flachzuhalten. Da hatte der Oberst völlig recht.

Das erste Schreiben war Anfang des Jahres von der KWV aufgesetzt worden. Darin ließ die Wohnungsverwaltung den Klinikchef wissen, dass sie seiner Bitte habe entsprechen können. Dem genannten Patienten sei eine Einraumwohnung im Nikolaiviertel zugewiesen worden. Und wenn wieder einmal Unterstützung erforderlich sei, könne er sich gern vertrauensvoll an die KWV wenden. Mit freundlichen Grüßen.

Das zweite Schreiben kam vom Klinikchef und war an die SED-Kreisleitung gerichtet. Mit Bezug auf das in der Anlage beigefügte Schreiben der KWV teilte der entrüstet mit, dass er sich nicht erinnere, irgendwelche Bettelbriefe versandt zu haben, deren Erfüllung ihm quittiert wurde. Er habe nach Eingang dieses Schreibens bei der KWV angerufen und sich nach dem Anlass erkundigt, worauf man auf ein Schreiben von ihm verwies, das im August 1982 bei der Kommunalen Wohnungsverwaltung eingegangen war. Das alles, so der unterzeichnende Professor von der Charité, erscheine ihm reichlich unverständlich. Vielleicht könne sich die Partei mal darum kümmern.

Und nun sollte ich es.

Ich machte mich also auf zur KWV. Die saß in einem Haus im Nikolaiviertel. Das Areal rings um die Kirchenruine war eine einzige Baustelle, einige Häuser standen noch oder bereits. Die Wohnungsverwaltung hatte sich im Eckhaus gegenüber dem Roten Rathaus einquartiert. Die Chefin reagierte entschuldigend auf meinen vermutlich etwas neidvollen Blick, es handele sich nur um eine Zwischenlösung, klärte sie mich auf. Jenseits der S-Bahntrasse, in der Dircksenstraße, entstünde demnächst die neue KWV-Zentrale, sie solle bis zum Berlin-Jubiläum 1987 fertig sein. Wie das gesamte Nikolaiviertel, schob sie lächelnd nach.

Ach, sagte ich ironisch, meinetwegen könnte die KWV selbst im Palast der Republik da drüben residieren, wenn denn endlich alle Wohnungssuchenden in der Hauptstadt auch eine ordentliche Behausung bekämen.

Die junge Frau wischte sich eine Haarsträhne aus dem schmalen Gesicht. »Wir verwalten nur, wir bauen nicht.« Sie wies auf den Stuhl, auf dem ich Platz nehmen sollte.

Inzwischen war die sonst obligatorische Frage, ob man einen Kaffee wünsche, landesweit abgeschafft. Auch sie stellte diese Frage nicht, wie es vor Beginn jedes Gesprächs vor Jahren noch üblich gewesen war. Die Kaffeekrise hatte auch die DDR erreicht: Aufgrund einer Missernte in Brasilien waren die Weltmarktpreise extrem angestiegen. Die DDR versuchte mit der Erfindung von »Kaffee-Mix« das Defizit auszugleichen, doch diese Mischung aus 51 Prozent Bohnen und 49 Prozent gerösteten Hülsenfrüchten und Getreidekörnern quälte Kaffeeautomaten und Geschmacksnerven.

Das Zeug, vom Volksmund als »Erichs Krönung« verspottet, provozierte massive Beschwerden und Proteste, was zum einen zur Einstellung des Feldversuchs, zum anderen zum Ende eines wesentlichen Elements der Kommunikationskultur führte. Es wurde von oben verordnet, dass in Dienststellen und anderen öffentlichen Einrichtungen des Staates Besuchern kein Kaffee mehr angeboten werden durfte.

»Nun, Genosse Romahn, wie kann ich der Kriminalpolizei helfen?«

»Sie haben im vergangenen Sommer einen Brief aus der Charité bekommen. Den hätte ich mal gern gesehen.«

»Aus der Charité? Das ist doch nicht unsere Liga.«

»Ja, ich weiß. Aber es soll trotzdem einen Brief aus der Klinik für Orthopädie in der Schumannstraße geben, der an die KWV adressiert war.«

Die Frau erhob sich und ging zur Ablage. Die gesamte Wand war zugestellt mit Aktenordnern, gefüllt mit Tausenden Papieren: Rechnungen, Mahnungen, Durchschläge, Klagen und Beschwerden, ein Friedhof für Sorgen und Futter für den Amtsschimmel. Suchend glitt der Finger durch die Luft, dann trat die Verwaltungschefin zielstrebig an das Regal und zog einen Ordner heraus. Den trug sie zu ihrem Platz, blätterte eine Weile, dann klappte der Bügel auf und sie entnahm ein Schreiben, das sie mir über den Tisch reichte. »Sie hatten recht. Hier. Vermutlich meinen Sie diesen Brief.«

Der Bogen trug einen Eingangsstempel der Kommunalen Wohnungsverwaltung und eine Aktennotiz über den Vollzug, angeheftet waren die Durchschläge eines Schreibens an einen Herrn Oskar K. sowie jener Brief, mit dem der Charité die Erledigung der Sache mitgeteilt wurde. Das Original hatte mir vorhin mein Chef gegeben. In der Ablage der KWV herrschte erkennbar Ordnung.

Der Charité-Briefkopf schien so echt wie die unleserliche Unterschrift des Klinikchefs und der Stempel daneben, und auch der Text war für DDR-Verhältnisse keineswegs ungewöhnlich. Ein erfolgreich behandelter Patient werde im Herbst aus der Reha entlassen, benötige aber eine behindertengerechte Wohnung, das heißt, sie müsse rollstuhltauglich sein: Ob die KWV nicht helfen könne? Und hilfreich wäre es auch, wenn das Quartier nicht an der Peripherie des Stadtbezirks läge, denn der Mann würde wieder seiner früheren Tätigkeit in der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) in der Wilhelm-Pieck-/Ecke Chausseestraße nachgehen. Die Angelegenheit solle mit dem betreffenden Herrn Oskar K. direkt abgewickelt werden. Dieser sei unter folgender Telefonnummer und Adresse zu erreichen. Mit Dank und freundlichen Grüßen Professor XYZ.

Ich schlug das Blatt um und las den Durchschlag der KWV-Antwort an die Klinik, die erstaunlich verbindlich war.

Nun waren, wie jedermann hierzulande wusste, nicht die kommunalen Wohnungsverwaltungen für die Wohnungslenkung und -zuweisung zuständig, sondern das Amt für Wohnungswesen. Die der Abteilung Inneres nachgeordnete Behörde vergab auf Antrag Wohnungen, erteilte Zuzugsgenehmigungen und Genehmigungen zum Wohnungstausch. Gleichwohl galt auch hier: keine Verordnung ohne Ausnahme. Und wenn ein Klinikchef sich derart für einen Patienten engagierte, schaute auch mal die KWV durch die Finger und sprach ein Entscheidungswort mit.

Den zweiten Durchschlag musste ich nicht lesen, ich kannte das Original, eben jene Vollzugsmeldung der KWV an die Charité, die den Klinikchef überhaupt erst ins Grübeln gebracht hatte.

»Danke«, sagte ich und versenkte die Papiere in meiner Kollegmappe. »Das sind Beweismittel.«

Die Frau sah mich überrascht an. »Gibt es Ärger?« Offenkundig fürchtete sie, für ihre Fürsprache gemaßregelt zu werden.

Ich schüttelte den Kopf. »Mich interessiert nur der Rollstuhlfahrer. Haben Sie ihn mal gesehen, war er bei Ihnen im Büro?«

»Nein. Zur Schlüsselübergabe kam ein junger Mann. Er brachte auch den unterschriebenen Mietvertrag vorbei.« Sie wies aus dem Fenster. »Hier kann doch kein Rollstuhl fahren, ist doch noch alles Baustelle. Wir haben ihm daher auch eine Wohnung zu ebener Erde und an der bereits gepflasterten Spreeseite gegeben.« Und wieder breitete sich ein freundliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Es machte sie offenkundig stolz, einem hilfsbedürftigen Menschen geholfen zu haben. Einem von zweitausend, die einmal in den achthundert Wohnungen im Nikolaiviertel wohnen würden.

Ich verabschiedete mich und stampfte durch Matsch und Bauschutt zum mir gewiesenen Haus, dessen spitzbogiger Giebel an die Hansezeit der Handelsstadt Berlin-Cölln erinnern sollte. Nach einigem Suchen fand ich auch den Eingang und studierte die Namen auf der noch unvollständigen Klingelleiste. Müller, Meyer, Wolf … Ah, da war er: Oskar K., Erdgeschoss.

Ich drückte auf den Knopf. Erst öffnete sich mit einem Summton die Haus-, dann eine Wohnungstür gleich dahinter. Ein junger, attraktiver Mann erschien im Türrahmen. Er stand auf zwei Beinen und lächelte mich erwartungsvoll an, nachdem ich ihm meinen Namen genannt und den Dienstausweis gezeigt hatte. Er registrierte durchaus mein Erstaunen und reagierte wohl darum eine Spur zu heftig, als ich mich erkundigte, ob er Herr K. sei.

Neinnein, wehrte er ab, er sei aber dessen Freund und heiße Clausen.

»Sie wohnen hier?«

»Ja.«

»Zur Untermiete?«

»Nein. Er hat mir die Wohnung zur Nutzung überlassen. Aber müssen wir das an der Tür besprechen? Kommen Sie doch rein. Ich mach uns einen Kaffee.«

Ich folgte ihm in den kleinen Flur, der aber breit genug war für einen Rollstuhl und auch sonst war alles irgendwie behindertengerecht, wie ein Blick durch die offene Badezimmertür verriet. Im Zimmer ließ ich mich in einen tiefen Sessel fallen. Während in der Küche das Wasser blubberte und ich allein war, konnte ich den Raum in Ruhe mustern. Viel Plüsch, viel Kitsch, viel bunt.

Clausen kam wenig später und servierte auf dem Couchtisch, schenkte mit abgespreiztem kleinen Finger ein und nahm mir gegenüber Platz.

»Also, Herr Kommissar …«

Ich wehrte lächelnd ab. »Leutnant, Herr Clausen. Das genügt.«

Doch bevor ich zur Kaffeetasse griff, wurde ich richtig dienstlich.

»Mieter dieser Wohnung ist Ihr Freund, der Herr Oskar K.? Aber er wohnt nicht hier?«

Verlegen schaute der Schönling zu Boden, knetete sichtlich nervös die Hände. »Ich komme aus Magdeburg und habe keine Zuzugsgenehmigung erhalten, folglich hatte ich auch keine Bleibe, habe mal bei diesem oder bei jenem Freund übernachtet. Dann traf ich Oskar, und er sagte, er habe zufällig eine Neubauwohnung übrig.«

Er deutete mein Erstaunen richtig.

»Naja, wie das im Einzelnen zusammenhängt, weiß ich auch nicht. Vermutlich über Beziehungen. Er ist nämlich ein Kollegen von Ihnen. Oskar brachte mich jedenfalls hier unter, gab mir die Schlüssel und verschwand. Vorher …«

»Moment mal: Was meinten Sie mit der Bemerkung, er sei ein Kollege von mir?«

»Oskar ist doch auch bei der Berliner Kriminalpolizei.«

»Hat er das gesagt? Wo arbeitet er denn, ich meine, in welcher Volkspolizeiinspektion? Auf keinen Fall in Mitte, denn dann müsste ich ihn kennen.«

Clausen beugte sich nach vorn und dämpfte seine Stimme. »Er ist bei so einer geheimen Truppe, die offiziell nicht existiert«, raunte er über den Couchtisch. »Deshalb hat er ja auch die Kassette hier deponiert. Bei ihm zu Hause sei sie nämlich nicht sicher, hat er gesagt.«

Ich schaltete sofort und nickte. »Genau. Deshalb hat man mich auch hierher geschickt. Ich soll nämlich eben diese Kassette abholen! Ich wollte nur testen, ob Sie der verlässliche Partner sind, als der Sie uns beschrieben wurden.«

Natürlich hatte ich keine Ahnung, was es mit diesem Behältnis auf sich hatte. Aber da in dieser Angelegenheit offenkundig nichts mit rechten Dingen zuging, ließ ich mich darauf ein. Der Mann schien ohnehin nicht der hellste Kopf zu sein.