Kira und das Känguru - Miriam Frankovic - E-Book

Kira und das Känguru E-Book

Miriam Frankovic

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Beschreibung

Die zehnjährige Kira wünscht sich nichts sehnlicher als ein Känguru. Als sie von ihrem Vater einen Computer geschenkt bekommt, springt eines Tages tatsächlich ein Känguru, das lange durchs Internet gereist ist, aus dem Computer und plumpst auf ihren Schreibtisch - Cangoo. Weitere Tiere und ein 873 Jahre altes Gespenst namens Albert folgen, und alle ziehen zusammen in die alte Villa am Seerosenteich. Sie könnten glücklich zusammen leben. Aber dann wird Albert von den Rasomiten entführt, gefährlichen Raubrittern aus dem Mittelalter, die Albert vor langer Zeit seine Formel gestohlen haben, aus der hervorging, wie man Macht über die Menschen erlangt. In der kleinen Stadt am Meer beginnt eine spannende Verfolgungsjagd.

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Seitenzahl: 192

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Impressum

Kira und das Känguru

Miriam Frankoviċ

Copyright© 2014 Miriam Frankoviċ

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: 978-3-7375-1404-0

Inhaltsverzeichnis

Geburtstagsüberaschung

Albert

Watahulu und die Dichterlesung

Ein neuer Freund

Krokodilstränen

Unerwarteter Besuch

Pferdfreund

Alberts Geburtstag

Der Streit und ein neuer Plan

Mintz

Kira beweist Mut

Die Überraschung

Herzklopfen

Nächtliche Gefahr

Alberts Geschichte

Der Zauberspruch

Mintz' großer Moment

Verstärkung

Beim alten Leuchtturm

Im Innern des Leuchtturms

Der Kampf gegen die Rasomiten

Niklas in Gefahr

Im Innern der Kirche

In Sicherheit

Ein gelungenes Experiment

Der große Internetauftritt

Ein Traum wird wahr

Geburtstagsüberaschung

Wie angewurzelt saß ich vor meinem neuen Computer und starrte auf den Bildschirm. Bildete ich mir das nur ein oder hatte das Känguru im Internet mir wirklich zugenickt? Die Tür ging auf, und mein Vater steckte seinen Kopf herein. „Na, Kira? Kommst du zurecht, Süße?“ Schnell klickte ich die Seite mit dem Känguru weg. „Klar. Der Computer ist ziemlich cool. War der nicht teuer?“ Mein Vater lächelte. Und wie immer, wenn er das tat, sah man deutlich die Grübchen auf seinen Wangen. „Das lass´ mal meine Sorge sein. Außerdem habe ich ihn gebraucht gekauft.“ Er stand unentschlossen im Türrahmen. „Hast du Lust, mir im Atelier noch ein bisschen Gesellschaft zu leisten?“

„Gleich. Ich muss nur noch etwas abspeichern“, sagte ich. Er zwinkerte mir zu und schloss die Tür hinter sich. Ich klickte die Seite über Australien wieder an und bewunderte die pelzigen Ohren des Tieres, das sich nun nicht mehr bewegte. Wahrscheinlich hatte ich mir das Ganze doch nur eingebildet. Ein bisschen enttäuscht las ich, dass es 51 verschiedene Arten von Kängurus gibt. Einige der größeren Arten springen bis zu acht Meter weit und drei Meter dreißig hoch, stand dort. Manche sind so schnell, dass sie mit achtzig Kilometern pro Stunde neben einem Auto herhüpfen. Warum lebte ich bloß nicht am anderen Ende der Welt? In Australien soll es Leute geben, die sich statt eines Hundes ein Känguru als Haustier halten. Jedenfalls hatte ich das gehört. Außerdem war es da wärmer als hier. Besonders jetzt, wo uns das Heizöl ausgegangen war und wir kein Geld hatten, um neues zu kaufen. Und das ausgerechnet an Weihnachten. Ich schaltete den Computer aus, zog mir meinen wärmsten Pullover über und ging ins Atelier, das eigentlich mehr eine Kammer war. Mein Vater legte gerade einen Pinsel auf ein Tuch mit Terpentin und wischte sich mit dem Hemdärmel etwas Farbe aus dem Gesicht. Dann sah er kritisch auf die Leinwand. Jedes Mal, wenn er das tat, wurden seine Augen, die sonst groß und blau wie der Himmel über Afrika waren, schmal wie zwei Schlitze. „Meinst du, hier ist zu viel Gelb drin?“ Ich schüttelte den Kopf. „Mir gefällt es.“ Ich ging ein paar Schritte zurück. Von weitem sah das Bild aus wie ein wunderschöner Strand, über dem ein prächtiges, altes Segelschiff durch die Luft flog. Es hätte aber auch genauso gut eine Wüste mit einer Oase sein können, in der ein Boot gestrandet war. „Glaubst du, wir können irgendwann mal nach Australien fliegen?“, fragte ich und tat dabei so, als ob es mich gar nicht besonders interessierte. Mein Vater sah mich nachdenklich an, und seine Augen waren jetzt wieder groß und blau wie blühende Kornblumen. „Falls mal wieder jemand ein Bild von mir kauft, bestimmt. Im Moment wäre ich schon froh, wenn wir uns einen Weihnachtsbaum leisten könnten.“ Er wusch sich die Hände an dem kleinen Waschbecken in der Ecke und sah mich bekümmert an. „Findest du es sehr schlimm, dass wir keinen haben?“

„Quatsch. Überhaupt nicht“, antwortete ich eilig und nicht ganz aufrichtig. Viel mehr als einen Weihnachtsbaum hätte ich mir allerdings gewünscht, dass meine Mutter noch am Leben wäre und mit uns zusammen feiern könnte. Aber das behielt ich für mich. Mein Vater sah nun doch etwas erleichtert aus. „Was hältst du davon, wenn ich uns gleich ein paar Spaghetti mit Tomatensoße zaubere?“ Eigentlich hatte ich keine Lust, schon wieder Spaghetti zu essen, weil es die bei uns ungefähr 200 Mal im Jahr gab. Aber Nudeln waren billig. Und wir mussten sparen. Erst recht jetzt, wo ich einen Computer bekommen hatte, weil alle anderen in meiner Klasse auch einen hatten. Jedenfalls sagte ich nichts wegen der Spaghetti und folgte meinem Vater in die Küche. Als er den Topf vom Regal nahm und Wasser hineinlaufen ließ, dachte ich darüber nach, was er mir neulich über Erfolg erzählt hatte. Oder das, was man so Erfolg nennt. Okay, ich war zwar erst zehn, aber selbst ich hatte schon kapiert, dass wir in einer Zeit leben, in der Geld wichtiger als alles andere ist. Für die meisten ist es sogar wichtiger als Freunde und Spaß am Leben zu haben. Sogar wichtiger als Tiere. Vor Leuten mit viel Geld ziehen die meisten den Hut, selbst wenn die Geldleute oft sogar zu dumm sind, ein Känguru von einem Grizzlybären zu unterscheiden. Als wir gegessen hatten und mein Vater wieder in seinem Atelier verschwunden war, ging ich mich noch einmal ins Internet und rief die Seite über Australien auf, die mit dem Känguru. Kaum hatte ich die Website auf dem Bildschirm, entdeckte ich es auch schon. Aber es bewegte sich nicht. „Warum bist du bloß nicht lebendig?“, seufzte ich. „Das lässt sich machen“, antwortete das Känguru. Überrascht starrte ich es an. Es wackelte mit den Ohren. „Was guckst du so? Hast du noch nie ein Känguru sprechen hören?“ Kaum hatte es das gesagt, schob es seinen Kopf mit den großen Ohren auch schon durch den Bildschirm. Die Vorderpfoten kamen hinterher, und schließlich quetschte es seinen pelzigen Körper durch den Monitor und plumpste mit einem Knall aus dem Computer heraus, direkt auf meinen Schreibtisch, wo es mit seinem Schwanz mein Mathebuch vom Tisch fegte. „Puh“, stöhnte es. „Ganz schön eng, dein Computer.“ Es kletterte unbeholfen vom Schreibtisch, baute sich in seiner voller Größe von ungefähr zwei Metern vor mir auf und schmatzte laut. Ich streckte meine Hand aus, um mich davon zu überzeugen, dass ich am helllichten Tag träumte. Aber statt ins Leere zu greifen, bekam ich seine flaumige Brust zu fassen. „Nicht!“, protestierte es. „Da bin ich kitzlig.“ Es war also kein Traum. Das Känguru stand leibhaftig vor mir. Plötzlich zog es ein paar rohe, glitschige Fische aus seinem Beutel und streckte sie mir hin. Ich nahm die Gabe entgegen und sah diesen ältesten Ureinwohner aller Australier verdutzt an. „Was soll ich damit?“ Es klopfte sich auf den Bauch. „Ich habe Hunger.“ Eigentlich war das auch kein Wunder nach einer so langen Reise. Jedenfalls dachte ich, dass es eine lange Reise hinter sich hatte. Also ging ich in die Küche und briet und würzte die Fische. Ich wunderte mich, da ich bis jetzt geglaubt hatte, dass Kängurus sich nur von Gras, Beeren und anderem Grünzeug ernähren. Als mein Vater das Känguru, das es sich auf unserem Wohnzimmerteppich gemütlich gemacht hatte, später vergnügt vor sich hin schmatzen sah, war er nicht besonders erstaunt. Es gab nur wenig, was ihn wirklich aus der Fassung bringen konnte. Also nahm er die Anwesenheit unseres ungewöhnlichen Gastes ohne sich zu wundern hin.

In den kommenden Tagen machte das Känguru, das wir auf den Namen Cangoo getauft hatten, keine Anstalten auszuziehen. Ich glaube, es fühlte sich sogar richtig heimisch bei uns. Als ehemaliger Steppenbewohner hatte es große Probleme damit, sich in einer möblierten Wohnung zurechtzufinden und stieß alles um, was nicht niet- und nagelfest war. Es verging kein Tag, an dem er nicht einen Stuhl oder Tisch umrannte oder mit seinem buschigen Schwanz die Gläser von den Regalen fegte. Da es Januar war und Cangoo Schnee und Kälte nicht gewohnt war, fror er dauernd, und mein Vater lieh ihm einen dicken, gefütterten Mantel von sich. Der war Cangoo allerdings viel zu klein. Das Auffallendste an ihm war sein ständiger Hunger. Andauernd lag er uns damit in den Ohren. Weil wir ihn mit all seiner Tollpatschigkeit inzwischen lieb gewonnen hatten und nicht mehr hergeben wollten, ging fast all unser Geld für Lebensmittel drauf. Am liebsten mochte Cangoo gebratene Fische. Zum Frühstück fraß er gern Süßes. Morgens verschlang er manchmal zwanzig Tortenstücke auf einmal. „So geht das nicht weiter“, sagte mein Vater eines Tages zu mir. „Er frisst uns die letzten Haare vom Kopf.“ Vielleicht hatte Cangoo uns heimlich belauscht. Denn am nächsten Tag schleppte er ächzend vier prall gefüllte Einkaufstüten an und stellte sie neben den Kühlschrank. Wir waren ziemlich verblüfft, als er dann noch zwei Dutzend Fische, zehn Liter Milch, drei Sahnetorten und ein paar Pfund Kartoffeln aus seinem Beutel zog und alles auf dem Küchentisch stapelte. Sogar an Spülmittel, Spaghetti und Tomatensoße für uns hatte er gedacht, obwohl ich eigentlich wirklich gern einmal etwas anderes als Spaghetti gegessen hätte. „Ich habe totalen Hunger“, nuschelte er, schnappte sich die Pfanne und briet die Fische. Cangoo lernte wirklich sehr schnell. Mein Vater sah ihn verblüfft an. „Wo hast du das ganze Zeug her?“ Cangoo goss noch etwas Olivenöl in die Pfanne. „Aus dem Internet natürlich.“ Mein Vater runzelte die Stirn. „Wie? Aus dem Internet?“ Cangoo sah ihn an, als ob er schwer von Begriff wäre. „Ist doch ganz einfach. Im Internet gibt es jede Menge Seiten mit Lebensmitteln. Feinkosthändler zum Beispiel. Die haben alle Warenkörbe. Und da hab ich die Sachen reingetan.“

„Und wer hat dir das Geld dafür gegeben?“ Wieder sah Cangoo meinen Vater an, als ob er vom Mond käme. „Geld?“, fragte er dann. „Hast du schon einmal von jemandem gehört, der Geld in einen Computer steckt? Ein Computer ist schließlich kein Spielautomat.“ Kopfschüttelnd zog er seine fertig gebratenen Fische aus der zischenden Pfanne, warf sie auf einen Teller und träufelte Zitrone drauf. Mein Vater und ich packten die Einkaufstüten aus, aus denen lauter leckere Delikatessen zum Vorschein kamen. Forellenfilets, frische Champignons, Tortellini in Sahnesoße, Tiramisu-Eis, Zitronenlimonade, Himbeeren, Wiener Würstchen, Rinderfilets, Erdbeertorte und Schweizer Schokolade. Sogar an eine Flasche Wein für meinen Vater hatte er gedacht. An diesem Abend gab es ein Festmahl, wie wir es schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatten. Die Spaghetti verstauten wir in der hintersten Ecke unseres Küchenschranks. So ging es auch in den kommenden Tagen weiter. Jeden Tag quetschte unser neuer Mitbewohner sich aufs Neue in den Computer hinein und kam kurz darauf mit prall gefüllten Einkaufstüten und einem vollen Beutel zurück. Einmal brachte er sogar ein paar Kanister Heizöl mit. Denn in unserer Wohnung war es so kalt wie in einer Eishöhle. „Ich brauche zum Beispiel ein Bett“, verkündete Cangoo eines Tages. Ich war froh, dass er das Thema ansprach. Denn der Wohnzimmerteppich war auf Dauer keine Lösung, und mein Bett war zu klein für uns beide. Entschlossen sah Cangoo uns an. „Ich will auf einem Bonbon schlafen. Auf einem Himbeerbonbon.“ Es dauerte nicht lange, bis er einen großen Himbeerbonbon aus dem Internet besorgte, der von nun an sein Bett war. Ich fragte mich, wo er den wieder aufgegabelt hatte. Wahrscheinlich auf einer Seite für ausgefallene Möbelstücke. Aber inzwischen hatten wir uns schon daran gewöhnt, dass jeden Tag etwas Neues, Merkwürdiges passierte, seit er bei uns eingezogen war. „Ich brauche Gesellschaft“, verkündete Cangoo eines Tages. Ich glaube, es war ein Dienstag. „Freunde zum Beispiel. Zu Hause in Alice Springs hatte ich zwanzig. Und hier keinen einzigen. Das ist total langweilig.“ Das konnte ich nur zu gut verstehen. Niemand kommt auf Dauer ohne Freunde aus. Auch kein Känguru.

„Vielleicht sollte ich noch einmal im Internet gucken, ob ich noch ein Känguru finde“, flüsterte ich meinem Vater zu. Cangoo schüttelte entschieden den Kopf. „Kein zweites Känguru!“ Unser neuer Mitbewohner stand eben gern im Mittelpunkt. „An was für einen Freund denkst du denn?“, fragte ich ihn.

„Das kann man sich nicht vornehmen“, erwiderte er geheimnisvoll. „Die wichtigen Dinge im Leben passieren von ganz allein. Je mehr man etwas will, umso kleiner ist die Chance, dass man es bekommt. Deshalb darf man zum Beispiel nie etwas wollen. Man kann es sich nur wünschen. Aber wenn man sich etwas wirklich wünscht, mehr als alles andere, dann schickt man den Wunsch ins Internet oder in den Himmel, und irgendwann wird er erfüllt. Zum Beispiel.“ Ich sah Cangoo beeindruckt an. Meistens benahm er sich ziemlich kindisch, aber manchmal warf er mit klugen Sprüchen nur so um sich. „Lernt man so etwas in Australien?“

„Ich zum Beispiel brauchte mal Luftveränderung“, wich er meiner Frage schmatzend aus. „Und da bin ich hergekommen.“

„Aber wie? Du kannst doch unmöglich den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt haben.“ Ich hoffte, endlich eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die ich mir schon stellte, seit er bei uns eingezogen war. Cangoo zwinkerte mir verschwörerisch zu: „Zum Beispiel versetzt der Glaube Berge. Und Schiffe und Flugzeuge auch. Außerdem hatte ich keine Lust, als Känguru-Emu-Spieß mit Süßkartoffelpüree auf einer Speisenkarte zu landen.“

„Und deine Freunde in Alice Springs? Vermisst du die nicht?“, wollte mein Vater wissen. Cangoo stopfte sich einen rohen Fisch ins Maul. „Wir schicken uns E-Mails. Das ist total krass und zum Beispiel fast gebührenfrei.“ Großzügig hielt er mir das Schwanzende des Fisches hin. Ich schüttelte dankend den Kopf und sah mit leichtem Schaudern zu, wie er sich das ölige Schwanzende in sein geöffnetes Maul hielt. „Außerdem nerven die“, fuhr er kauend fort. „Jeder will immer der Größte sein. Dabei bin ich der Größte, zum Beispiel. Dann kommt erst einmal lange gar nichts, und dann wieder ich.“ Mein Vater malte einen roten Kreis auf seine Leinwand. „Hast du noch nie etwas von Nächstenliebe gehört?“ Cangoo schüttelte den Kopf. „Totaler Quatsch. So etwas gibt es nur in Büchern. Und die halten einen zum Beispiel vom Leben ab. Wer liest, hat keine Zeit mehr zum Essen. Und wer nicht isst, der fällt tot um.“ Als Beweis biss er ein Stück von einer Marzipantorte ab. Mein Vater sah von seiner Leinwand auf. „Es gibt auch noch andere Dinge zwischen Himmel und Erde.“

„Marzipantorte zum Beispiel“, antwortete Cangoo und hielt mir die angefressene Torte fröhlich an die Lippen. Ich biss ein Stück davon ab und ließ mir den süßen, cremigen Rand genüsslich auf der Zunge zergehen. Und mit einem Mal wurde mir klar, dass Cangoo viel weniger egoistisch war als er immer tat. Er machte nur nicht gern viele Worte um seine guten Taten.

Albert

Ich nutzte die Zeit in den Winterferien, um Cangoo unsere kleine Stadt am Meer zu zeigen. Als erstes lernte er die Nachbarin links von uns kennen, eine ältere, streng aussehende Dame mit schwarzen, zu einem Dutt aufgetürmten Haaren und einer Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug. „Das ist Frau Steinhaus“, erklärte ich ihm. „Ihr gehört die Konditorei nebenan.“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, lief Cangoo schon wieder das Wasser im Mund zusammen. Ich knuffte ihn in die Seite. „Reiß dich zusammen. Und wehe, du klaust Kuchen!“ Frau Steinhaus wunderte sich zwar etwas über unseren neuen Mitbewohner, sagte aber nichts und verschwand wieder in ihrem Laden. Ich zeigte auf den Gitterzaun, der das kleine, ziemlich schief stehende Haus, in dem unsere Dachwohnung war, von dem modernen Gebäude aus Glas nebenan trennte. „Und hier gibt es im Sommer die saftigsten Brombeeren, die du dir vorstellen kannst. Sie wachsen hier durch, genau zwischen den Zaunlöchern.“ Ich lief ein paar Schritte weiter und zeigte ihm ein rotes Backsteinhaus, das rechts von unserem stand. „Ganz oben wohnt meine Lieblingsnachbarin, Frau Meyer. Manchmal, wenn mein Vater oder ich keine Lust zum Kochen haben, esse ich bei ihr. Sie ist achtzig, groß und kräftig und kocht den besten Haferflockenbrei mit Zimt, den es gibt. Und ihre Weihnachtsplätzchen sind genial.“ Cangoo fuhr sich mit der Zunge über die Schnauze, was ein Zeichen dafür war, dass er Frau Meyers Plätzchen für sein Leben gern mal probiert hätte. „Jetzt will ich das Meer sehen!“, rief er entschlossen, zog seine Wollmütze tiefer ins Gesicht und hoppelte neben mir auf der Straße her. Ein eisiger Wind fegte uns ins Gesicht, als wir die schmale Straße Richtung Wald entlangliefen, die zum Meer führte. Auf dem Weg zur Promenade zeigte ich Cangoo, wo ich zur Schule ging, in welcher Imbissbude die Pommes Frites am leckersten schmeckten und wo man im Sommer das cremigste Eis bekam. Schließlich kamen wir an einem grauen Haus mit Gardinen vor den Fenstern vorbei. Der Vorgarten des Hauses war mit Stacheldraht eingezäunt. Ein Cockerspaniel, der im Garten hin und her raste, bellte aus Leibeskräften, als wir näher kamen. „Das ist Rocko“, erklärte ich. „Er bellt jedes Mal, wenn jemand vorbeigeht.“ Cangoo sah den Hund teilnahmsvoll an. „Kein Wunder. Eingesperrt zu sein, macht zum Beispiel keinen Spaß.“ Bisher hatte ich eigentlich immer gedacht, dass Rocko es nicht gern hatte, wenn ihm jemand zu nahe kam. Aber vielleicht würde Rocko wirklich aufhören zu bellen, wenn er frei herumlaufen könnte. Wir bogen in den Waldweg ein, kamen auf eine große Wiese zu, und ich zeigte Cangoo meinen Lieblingsplatz. „Hier stand letztes Jahr noch eine Trauerweide. Aber dann hat ein Orkan sie entwurzelt.“ Nachdem ich ihm noch den Froschteich, den Leuchtturm, die Fähre und schließlich das Meer gezeigt hatte, machten wir noch einen kleinen Umweg zu meinem Lieblingsplatz, dem Seerosenteich, mit der einsamen, halb verfallenen Villa, die sich am Rand des zugefrorenen Teichs erhob. „Vor ungefähr 200 Jahren hat der Herzog von Aurelien hier gelebt. Aber seit er gestorben ist, steht das Haus leer“, erklärte ich Cangoo. „Warum zum Beispiel?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es wäre viel zu teuer, die Villa wieder instand zu setzen. Und die reichen Leute kaufen sich lieber ein modernes Haus. Außerdem wird sie wahrscheinlich sowieso bald abgerissen.“ Grüblerisch betrachtete Cangoo das alte Haus mit den halb blinden Fenstern. „Können wir zum Beispiel nicht da einziehen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist ja schon froh, wenn er das Geld für die Wohnungsmiete jeden Monat zusammenbekommt.“ Ziemlich durchgefroren machten wir uns wieder auf den Nachhauseweg. Ich hatte das Gefühl, dass unsere kleine Stadt am Meer Cangoo gefiel. Und das machte mich froh. Als ich mich am nächsten Morgen an einem verregneten, grauen Tag aus dem Bett quälte, saß Cangoo wie angewurzelt auf einem unserer Wohnzimmersessel und starrte gebannt den Stuhl an, der am anderen Tischende stand. Er war so versunken, dass er sogar vergaß, den Zimt-Pfannkuchen, den er sich gerade ins Maul gestopft hatte, zu Ende zu kauen. „Siehst du Gespenster?“, murmelte ich verschlafen. „Bloß eins“, antwortete er sehr ernsthaft, ohne seinen Blick abzuwenden. „Es heißt Albert.“ Mein Vater sah von seiner Zeitung auf, tippte sich dreimal mit dem Finger auf die Stirn und ging in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. „Er ist 873 Jahre alt“, sagte Cangoo, den es überhaupt nicht störte, dass mein Vater ihm nicht glaubte. „Und unsterblich ist er auch.“

„Niemand ist unsterblich“, belehrte ich ihn.

„Albert schon. Hat er mir jedenfalls erzählt.“

„Wenn er reden kann, wieso sagt er dann nichts?“, fragte ich. „Weil er zum Beispiel seit ein paar hundert Jahren nicht mehr geredet hat und sich erst einmal wieder dran gewöhnen muss.“ Ich hockte mich neben Cangoo und starrte nun ebenfalls den leeren Stuhl an. „Ich sehe keinen Albert.“

„Du musst genau hingucken.“ Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und machte Stielaugen. Kein Albert weit und breit. Cangoo wedelte ungeduldig mit seinem buschigen Schwanz und beförderte eine Obstschale vom Tisch. Apfelsinen und Äpfel rollten auf den Boden. „Siehst du nicht, wie er leuchtet?“ Ich kniff meine Augen zusammen und sah plötzlich eine Art rosa Hülle in der Größe einer mittelgroßen Dschungelpflanze vor mir. Aber das konnte ich mir auch genauso gut nur einbilden. „Du meinst, Albert steckt unter dieser Hülle?“

„Er kann verschiedene Gestalten annehmen“, erklärte mir Cangoo. „Im Moment ist er unsichtbar. Dich kennt er noch nicht. Logisch, dass er sich da erst einmal bedeckt hält.“

„Und seit wann kennst du ihn?“

„Seit heute Morgen um zehn vor fünf. Da wollte er im Internet zwei Kabel zusammenlöten. Die Dinger sind in Flammen aufgegangen. Und auf der Feuerwolke ist er aus dem Computer in dein Zimmer geschleudert worden.“

„Warum bitten wir ihn nicht, mit uns zusammen zu frühstücken? Albert hat doch sicher Hunger.“ Cangoo schüttelte den Kopf. „Albert ernährt sich zum Beispiel nur von geistigen Dingen. Von Literatur.“

„Albert liest?“ Cangoo nickte nachdenklich. „Meistens philo... philo...“ Der Rest ging in einem unverständlichen Kauderwelsch unter. Mein Vater, der wieder reinkam und den Anfang des Gesprächs mitbekommen hatte, sagte: „Du meinst, er liest philosophische Bücher?“ Cangoos' Gesicht erhellte sich. „Genau.“

„Und was soll das sein?“, fragte ich stirnrunzelnd.

„Irgendetwas ziemlich Kompliziertes. Frag ihn am besten selbst“, meinte Cangoo.

„Warum heißt der Mensch Mensch?“, erklang plötzlich ein dünnes Stimmchen von dem leeren Stuhl.

„Keine Ahnung“, gab ich zurück. „Weil ihn irgendjemand mal so genannt hat.“

„Wann ist ein Tier ein Tier? Wieso haben wir ein Gehirn zum Nachdenken? Wieso denken wir manchmal so einen Blödsinn? Und warum kann ein Känguru hüpfen?“, fragte die Stimme wieder. „Das sind ziemlich schwierige Fragen“, erwiderte mein Vater und stellte seine Kaffeetasse, meinen Tee und einen Eimer heißen Kakao für Cangoo auf den Tisch. „Nein. Das ist Philosophie“, antwortete das Stimmchen.

„Mir egal. Willst du auch ein Brötchen?“, fragte Cangoo die Hülle, die unruhig in der Luft hin- und herschwebte. Wieder ertönte die Stimme. „Ich habe keinen Hunger. Ich habe heute Morgen schon fünf Bücher gegessen und bin pappsatt.“

„Kann ich mir vorstellen“, warf mein Vater trocken ein und schlug die Zeitung wieder auf. „Wie ist es, wenn man ewig lebt?“, fragte ich Albert.

„Total langweilig“, antwortete er. „Tagaus, tagein dasselbe. Ohne Ende.“ Die Stimme klang so betrübt, dass mir vor lauter Mitgefühl fast die Tränen kamen. „Vielleicht werden Gespenster einfach nur viel älter als wir und sterben erst mit tausend oder so“, flüsterte ich Cangoo nachdenklich zu. Der blickte die Hülle fragend an. „Wann stirbst du denn so zum Beispiel?“, fragte er neugierig. „Gar nicht“, sagte das Stimmchen. „Ich bin eine Art Seele ohne Körper.“ Ich nickte. Geschichten über unsterbliche Seelen hatte ich schon in meinen Indianerbüchern gelesen, auch wenn ich nicht genau kapierte, was damit gemeint war. „Hattest du denn früher einen Körper, als du noch jung warst?“ Wieder flatterte die Hülle unruhig auf und ab. „Früher war ich Baumeister von Beruf, dann Hofnarr am Königshof, später Weber und dann Opernsängerin in Mailand. Die anderen Sachen habe ich im Lauf der Zeit vergessen.“ Cangoo, der sich nie lange auf ein Gespräch konzentrieren konnte, sprang auf, hoppelte in die Küche und kam kurz darauf mit einem Berg übereinandergestapelter und mit Erdbeermarmelade bestrichener Pfannkuchen zurück. „Ich glaube, Albert ist nicht der Freund, auf den ich gewartet habe“, wisperte er mir kauend zu. „Das kann man nie wissen“, antwortete ich. „Gib ihm eine Chance.“ Cangoo guckte gelangweilt. „Von mir aus. Aber besonders lustig wird es wahrscheinlich nicht mit ihm.“