Neue Liebe rostet auch - Miriam Frankovic - E-Book
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Neue Liebe rostet auch E-Book

Miriam Frankovic

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Beschreibung

Die Theaterfotografin Luna ist Single und lebt in Berlin. Ihr graut vor ihrem nahenden vierzigsten Geburtstag. Als ihre Freundin Amelie ihr zum Geburtstag einen Mietmann für einen Konzertbesuch bucht, ist es bei Marco und Luna Liebe auf den ersten Blick. Aber Luna wehrt sich gegen ihre Gefühle, weil sie sich nicht mit dem vermeintlichen Escort einlassen will. Schnell verlieren die beiden sich aus den Augen. Als sie sich zufällig wiederbegegnen, erfährt Luna, dass Marco in Wirklichkeit Steuerberater und Personal Coach ist und ihre Freundin sich in der Sparte vertan hat, als sie Luna ein besonderes Geburtstagsgeschenk machen wollte. Luna und Marco verabreden sich, doch dann erfährt Luna, dass Marco vergeben ist … und das Chaos nimmt seinen Lauf.

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Seitenzahl: 348

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Miriam Frankovic

Neue Liebe rostet auch

Roman

1.

Vierzig! Nein, schlimmer: vierzig und Single. Ich hatte es ja geahnt, aber lange nicht wahrhaben wollen. Doch nun würde mir nichts anderes übrig bleiben, als den Tatsachen ins Gesicht zu blicken. Und zwar in genau sechs Tagen, drei Stunden und zweiunddreißig Minuten.

»Was machst du denn nun zu deinem Vierzigsten?«, unterbrach Amelie meine düsteren Gedanken und machte es sich mit einem Glas Wein auf der Wohnlandschaft bequem. Amelie nahm wie gewöhnlich kein Blatt vor den Mund, was sicher auch der Grund dafür ist, dass sie Zahnärztin wurde.

»Auftragskiller, Kopfschuss, peng!« Ich hielt mir eine imaginäre Knarre an die Schläfe und ließ mich deprimiert auf die Couch fallen.

»Schade ums Geld«, konterte Amelie und blätterte interessiert in der Fernsehzeitschrift.

War es das wirklich oder handelte es sich vielleicht um eine lohnende Investition? Nur, dummerweise bin ich von Natur aus ängstlich. Und wie sollte ich überhaupt an einen Auftragskiller herankommen? Schließlich stehen Mörder nicht an jeder Straßenecke herum, und man findet derartige Serviceleistungen auch nicht unbedingt im Branchenbuch. Und wenn ich schon einen Killer anheuerte, dann zumindest einen, dessen Anblick mir die letzten Sekunden meines Lebens ästhetisch veredelte. Ein süßes Gift. Welche Frau möchte in einem solch denkwürdigen Augenblick schon einem glatzköpfigen, aus dem Leim gegangenen, womöglich noch versoffenen und unrasierten Kerl Auge in Auge gegenüberstehen? Ich für meinen Teil zog es vor, diesen Planeten mit Würde zu verlassen, was beinhaltete, dass der Mann, der das Privileg haben würde, mich zu erschießen, atemberaubend sein musste. Atemberaubend in doppelter Hinsicht.

»Heute kommt Der eiskalte Engel, mit Alain Delon«, rief Amelie. »Da spielt er doch auch einen Auftragskiller.«

Amelie fuhrwerkt nicht nur gern anderen Leuten im Mund herum, sie ist außerdem ein Filmfreak. Übrigens nicht das Einzige, was sie mit mir gemeinsam hat.

»Ja, aber einen mit schizoider Persönlichkeitsstörung. So einen will ich nicht«, erwiderte ich. Vor meinem geistigen Auge ließ ich alle Vertreter dieser umstrittenen Branche Revue passieren, mit denen ich bislang – wenn auch nicht persönlich – zu tun gehabt hatte. Als Jean Reno-Fan fiel mir natürlich direkt Léon der Profi ein. Aber der hatte im Dienste der Italo-Mafia gemeuchelt und am Ende selbst dran glauben müssen. Auch Bruce Willis kam in Der Schakal schließlich im Maschinengewehrfeuer um. Und ein ähnliches Schicksal ereilte Tom Hanks in Road to Perdition.

»Weißt du was? Du brauchst mal wieder einen Kerl im Bett«, analysierte Amelie nüchtern meine Endzeitstimmung. Sie hatte wirklich ein Talent dazu, immer mitten ins Wespennest zu stechen.

»Soll das irgendwie witzig sein?!«

»Nein, das meine ich todernst.«

»Umso schlimmer«, gab ich resigniert zurück.

Während Amelie weiter die Fernsehzeitschrift studierte, formulierte ich in Gedanken eine Trauerrede, die natürlich jemand anders halten musste, denn ich wäre ja dann schon verschieden. Natürlich hatte ich nicht ernsthaft vor, mich abknallen zu lassen, obwohl die Aussicht, bald vierzig zu werden, mich alles andere als heiter stimmte. Aber da ich zu gedanklichen Katastrophenszenarien und Unheilsfantasien neige, malte ich mir en détail aus, wie ich kurz vorm Dahinscheiden in den Lauf einer Revolvermündung blickte. Ob mein imaginärer Auftragskiller gegen Aufpreis mit sich reden lassen und mich freundlicherweise in den Zustand der Bewusstlosigkeit versetzen würde, bevor er mich ins Jenseits schickte? Mit ein oder zwei K.o.-Pillen zum Beispiel, diesen unscheinbaren kleinen Dingern, die man auch im Krankenhaus vor einer OP verabreicht bekommt und nach deren Genuss einem alles egal wird, weil man nur noch beseelt vor sich hin grinst. In so einem Zustand hatte ich mich sogar einmal dazu herabgelassen, einem Chirurgen schamlose Angebote zu machen, noch während mein Bett in den OP-Saal geschoben wurde – und dabei ist diese Spezies mir normalerweise ein Gräuel.

Was verdiente ein Auftragskiller eigentlich so im Durchschnitt? Rechneten Leute aus diesem Gewerbe grundsätzlich nur pauschal ab? Gab es Sonderpreise zu bestimmten Konditionen, zum Beispiel bei gegenseitiger Sympathie?

Du wirst lediglich ein Jahr älter, Luna. Was ist eigentlich so schlimm daran?, fragte ich mich selbst in Gedanken. Und hörte mich antworten: Alles.

Den Namen Luna habe ich meinen Eltern zu verdanken. Wem auch sonst? Wenn ich ihren Erzählungen Glauben schenken darf, habe ich sie und meinen Bruder als Kleinkind in Vollmondnächten regelmäßig terrorisiert, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen. Selbst schuld, wenn man einem Kind diesen Namen gibt! Eigentlich heiße ich Anna Luna, aber es gibt kaum noch jemanden, der sich die Mühe macht, meinen vollständigen Namen auszusprechen, schon gar nicht am Theater. Ich bin nämlich Schauspielerin. Und zwar eine ohne Engagement. Man sagt, wer sich mit dreißig in diesem Beruf noch keinen Namen gemacht hat, schafft es nie. Aber vielleicht sollte man angesichts der vielen beliebten Vorabendserien, in denen hauptsächlich talentfreie Teenie-Jungstars herumhüpfen, das Durchschnittsalter eher auf vierzehn heruntersetzen. Es fällt mir schwer, heute noch nachzuvollziehen, welcher Teufel mich damals in meinem jugendlichen Wahn ritt, mich von allen denkbaren Berufen ausgerechnet für den der Schauspielerin zu entscheiden. Aber schließlich hat jeder das Recht, sein Leben selbst zu ruinieren. Warum sollte ausgerechnet ich die Ausnahme sein?

Ich beugte mich vor, um die Kerze auf dem Tisch auszupusten, die wegen des zu langen Dochts zu flackern anfing. Dann legte ich eine CD von Leonard Cohen ein. »Hallelujah, hallelujah«, erklang Leonards sonore Stimme aus den Lautsprecherboxen.

»Hallelujah«, prostete ich Amelie zu und trank den letzten Schluck Wein.

Der große Durchbruch in der Schauspielerei jedenfalls war ausgeblieben. Was keine Tragödie war angesichts der Tatsache, dass ich meinen Lebensunterhalt seit ein paar Jahren als Fotografin bestritt. Als Theaterfotografin. Was den Vorteil hatte, dass ich mich nach wie vor unter Verrückten aufhielt. Mein fotografischer Röntgenblick war schon immer bemerkenswert gewesen und sicherte mir heute die Miete. Seinetwegen konnte ich im Winter das Heizthermostat auf fünfundzwanzig Grad drehen und trotzdem meinem Shoppingwahn nachgehen. Damit waren meine wichtigsten existenziellen Bedürfnisse bereits erfüllt.

Während Leonard melancholisch sein Liebesleid besang, fragte Amelie: »Wusstest du, dass Bernds Ex schon wieder einen Neuen hat?« Sie angelte sich ein paar Cracker aus der Schale auf dem Tisch. Bernds Ex! Immer wieder ein beliebtes Thema bei Amelie und mir. Sie wechselte ihre Männer so häufig wie andere ihre Bettwäsche – die Vielwechsler, wohlgemerkt.

»Der Wievielte ist das jetzt in drei Monaten?«, fragte ich.

»Der Vierte oder Fünfte? Die Frau ist eine Femme Fatale.«

So viele Männer in nur drei Monaten? Ich begann, die Frau spontan zu beneiden.

»Und was sagt Bernd dazu?«

Amelie zermalmte genüsslich ein paar Cracker. »Er hofft immer noch, dass sie wieder zusammenkommen.«

Bernd ist Software-Spezialist und ein gemeinsamer Bekannter von Amelie und mir, den wir immer dann zu Rate ziehen, wenn einer unserer Computer mal wieder Probleme macht oder abstürzt, was nicht ganz selten passierte.

»Sex mit der Ex?«, fragte ich und entkorkte eine neue Flasche Wein.

»Nicht nur das. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass sie zu ihm zurückkommt, wenn sie sich erst mal ausgetobt hat.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Eigentlich dachte ich, dass nur Frauen zu so haltlosen Fantastereien neigen.«

Habe ich schon erwähnt, dass ich ein Problem mit Exfrauen habe? Ein ziemlich gravierendes sogar. Exfrauen sind meiner Ansicht nach die reinste Plage. Man will nichts von ihnen wissen und zieht sie gleichzeitig an wie das Licht die Motten. Jedenfalls ist es mir so ergangen, mit Paul. Paul ist Schauspieler und meistens arbeitslos. Wenn er doch mal irgendwo engagiert wird, verjubelt er seine Gage am liebsten in seiner Stammkneipe, einem heruntergekommenen Etablissement, wo er und seinesgleichen sich vormachen, sie seien immer noch gefragt, während sie volltrunken Polonaise tanzen. Paul und ich hatten es in vier Jahren auf immerhin acht Trennungen gebracht. Während die meisten Schauspieler, die ich kenne, auf der Bühne durch Mittelmäßigkeit glänzen und ihr theatralisches Talent im wahren Leben verschleudern, beherrscht Paul den perfekten Ausgleich: Im wahren Leben lügt er, dass sich die Balken biegen, und kaum steht er im Scheinwerferlicht, verkörpert er seine Rolle bis zur vollkommenen Verschmelzung. Wobei es für ihn in den letzten Jahren nicht mehr viel zu verschmelzen gab, da sich die Rollenangebote im umgekehrten Verhältnis zu seinem steigenden Alkoholkonsum entwickelt haben.

Und dann seine Ex! Agnes. Ein dauergewelltes, blondes, larmoyantes Pummelchen mit Sirenenstimme und polnischem Akzent. Jahrelang erpresste sie Paul damit, vom Dach eines Hochhauses zu springen, falls er sie verlassen würde. Höhenangst teilte Agnes definitiv nicht mit mir. Dafür aber meinen Freund, nur unglücklicherweise lange Zeit ohne mein Wissen. Leider ist Agnes nie gesprungen, und das, obwohl Paul irgendwann endlich den Absprung schaffte, wenn auch nicht von einem Hochhaus, aber immerhin von ihr.

Doch Paul war mittlerweile Geschichte, und neue, wichtige Aufgaben warteten auf mich. Zum Beispiel die Trauerrede, die noch so ausformuliert werden musste, dass alle an meinem Grab Anwesenden zu Tränen gerührt wären.

»Ich mache uns mal ein paar belegte Brote.« Unsanft riss Amelie mich aus meinen Gedanken, und wie aufs Stichwort knurrte mein Magen. Während Amelie die Brote zubereitete, schweiften meine Gedanken sofort wieder ab. Wie verfasste man am besten einen Nachruf auf sich selbst und blieb dabei einfühlsam, ohne in Pathos zu schwelgen und alle merken zu lassen, dass man selbst der Verfasser war?

Aber … wozu hatte ich eigentlich einen Bruder? Ich beschloss, ihm die Rede kurz vor meinem Verbleichen per E-Mail zukommen zu lassen. Jan lebt zwar in Bremen und ich in Berlin. Aber wegen seiner markanten Stimme ist er ein gefragter Radiomoderator. Meine Grabrede aus seinem Mund würde der Trauergemeinde mit Sicherheit unter die Haut gehen. Vor meinem geistigen Auge sah ich Jan an meinem noch offenen Grab stehen, tief Luft holen und mit gebrochener Stimme rezitieren:

»Luna, du fehlst mir so sehr. (Erste Tränen unter den Anwesenden.) Hätte ich mich nur ein einziges Mal von meiner Arbeit losgerissen und wäre deiner Einladung nach Berlin gefolgt. Nun ist es zu spät. Die Vorstellung, nie wieder deine Stimme zu hören, nie wieder eine ganze Nacht lang mit dir durchquatschen zu können bei einer oder zwei Flaschen Wein, erscheint mir unerträglich. (Das Schluchzen schwillt an.) Als ich mit siebzehn meine erste Freundin hatte, bezeichnetest du sie als ›hirnlose Tussi, die nur mit dir angeben will, weil du Schulsprecher bist und gut aussiehst‹. Veronika, die danach kam, mochtest du viel lieber. Ich übrigens auch. Weshalb ich sie auch geheiratet habe. Sie steht gerade neben mir und heult sich die Augen aus dem Kopf. Luna, du bist … warst (das Schluchzen geht in hemmungsloses Weinen über) nicht nur meine Schwester, sondern auch eine tolle Frau. Eine Frau, vor der die meisten Männer Angst haben … hatten, nicht nur wegen deiner messerscharfen Intelligenz, sondern auch, weil du schön bist … warst. Ich wünschte, du wärst … noch zu Lebzeiten … jemandem begegnet, der dir guttut und deinen Wert zu schätzen weiß. So wie ich. Und viele andere. Für mich wirst du immer meine kleine Schwester bleiben. (Hier sind alle Trauergäste in Tränen aufgelöst.)«

Ich ließ mir die noch ungesagten Worte einen Augenblick lang durch den Kopf gehen und kämpfte angesichts der dramatischen Szene mit den Tränen. Denn wenn ich erst mal tot wäre, würde ich ja keine Zeit mehr dazu haben.

»Du solltest es mal so richtig krachen lassen«, unterbrach Amelie, die mit einem Berg belegter Brote aus der Küche zurückkam, meine herzzerreißende Vision.

»Was? Wann?«

»Zu deinem Vierzigsten. Lade Leute ein, mach eine Party.«

»Ich kann Partys nicht leiden, das weißt du.«

»Dann geh aus. Theater, Kino, Konzert.«

»Mit vierzig geht man nicht mehr aus. Da ist das Leben vorbei.«

Amelie rollte mit den Augen und zog den linken Mundwinkel hoch, wie sie es immer macht, wenn etwas nicht ihre Zustimmung findet. »Dann schlage ich vor, dass wir jetzt ein passendes Seniorenheim für dich heraussuchen.«

Beleidigt wandte ich mich ab. »Ich will kein Seniorenheim.«

Amelie schnappte sich meinen Laptop, legte ihn sich auf die Knie und ließ ihn hochfahren. Dann tippte sie energisch etwas ein.

»Ich suche dir jetzt einen Mietmann. Kostet weniger als ein Auftragskiller und macht außerdem viel mehr Spaß«, fuhr Amelie unbeirrt fort. Bevor ich protestieren konnte, hatte sie im Internet schon die Seite einer Escort-Agentur aufgerufen und schob den Laptop zu mir herüber. Fotos von mehreren Männern mit Begleittext sprangen mir entgegen. »Was soll ich mit so einem?«

»Ausgehen«, erwiderte Amelie. »An deinem Vierzigsten. In ein Konzert zum Beispiel. Und wer weiß, was sich danach noch so alles ergibt.« Sie betonte das danach und zwinkerte.

Ich wollte etwas einwenden, aber Amelie kam mir wieder zuvor: »Bernhard, 44«, las sie vor. »Raum Berlin. 182 cm groß. Bernhard ist Klempner und fährt gern und sehr sicher Auto. Er kann sich seiner Umgebung und Menschen extrem gut anpassen, liebt Theater, klassische Konzerte und begleitet Sie gern in die Oper oder zu einer Vernissage. Auch einem gemütlichen Essen zu zweit steht nichts im Weg. Denn Bernhard kocht auch hervorragend.«

Ich klickte Bernhard weg. »Kein Bedarf.«

Aber Amelie war nun nicht mehr zu bremsen. »Hier: Lothar, 46, 185 cm, Konfektionsgröße 52, Finanz- und Anlageberater. Ob in Jeans oder Smoking … Lothar kann sich in jedem Outfit bewegen und ist ein Mann für jeden Anlass. Hobbys: Wasserski, Fahrrad fahren, Reisen. Hey, der sieht gar nicht so schlecht aus.« Sie klickte sich auf die nächste Seite, auf der mir das Foto eines glatzköpfigen, glutäugigen Südländers entgegenprangte.

»Pietro, 187 cm, in Spanien aufgewachsen. Intelligent, charmant, kultiviert, mehrsprachig und parkettsicher. Diskretion und Stil sind seine zweiten Vornamen. Seine Hobbys sind Sport, Kino und Ausstellungen. Seine positive Ausstrahlung und sein fröhliches Lachen sind ansteckend. Pietro versüßt Ihnen auch gern den Urlaub, egal womit und wohin die Reise geht.«

»Ich will weder mit dem Klempner in die Oper gehen, noch mir von Pietro den Urlaub versüßen lassen«, wandte ich entschieden ein. »Außerdem kommt es überhaupt nicht infrage, dass ich irgendeinen dahergelaufenen Kerl dafür bezahle, dass er Zeit mit mir verbringt.«

Amelie beäugte mich kritisch. »Aber unentgeltlich gehst du ja auch mit niemandem aus. Obwohl es dir an Angeboten nicht mangelt.«

»Weil ich den Abend lieber mit einem guten Buch zuhause verbringe, als mich die ganze Zeit zu langweilen oder lästige Annäherungsversuche abzuwehren. Davon abgesehen glaube ich sowieso nicht mehr an diesen Mann fürs Leben-Unsinn. Meine Illusionen diesbezüglich tendieren mittlerweile gegen Null.«

»Deshalb plädiere ich ja auch für einen Mietmann«, sagte Amelie. »Du buchst ihn, ihr verbringt einen netten Abend zusammen und am nächsten Morgen schickst du ihn wieder nach Hause.«

Ich zog die Augenbrauen hoch, was Amelie dazu veranlasste, sich noch mehr ins Zeug zu legen, während ihre Stimme diesen lehrerhaften Beiklang bekam, den sie immer hatte, wenn sie mich unbedingt von der Notwendigkeit eines Unternehmens überzeugen wollte. »Luna. Du siehst zwar aus wie höchstens zweiunddreißig, aber du wirst bald vierzig.« Ich stöhnte innerlich auf. »Und seien wir doch mal ehrlich«, fuhr Amelie fort. »Was Männer angeht, fallen alle deine Erfahrungen in die Kategorie mittlere Katastrophe bis Super-GAU. Ich behaupte ja nicht, dass du daran ganz unbeteiligt bist. Schließlich hast du dir die Kerle selbst ausgesucht. Du hast nun mal ein ausgesprochenes Händchen für Loser und Neurotiker.«

»Laszlo war aber weder das eine noch das andere«, protestierte ich gegen den gnadenlosen Rundumschlag meiner besten Freundin.

Amelie verdrehte die Augen. »Laszlo, ja. Aber der war immer nur zweite Wahl, wenn gerade mal wieder Schluss war mit Paul. Ernsthaft verliebt warst du nie in ihn, Verlobung hin oder her. Und du wirst es auch nie sein. Weil er dir zu normal ist. Ein anderer Typ ist aber gerade nicht greifbar. Und selbst wenn … er hätte sowieso keine Chance. Weshalb sonst erzählst du mir fünfmal am Tag, dass eine feste Beziehung für dich nicht mehr infrage kommt? Ich für meinen Teil glaube, du hast einfach noch nicht den Richtigen gefunden. Außerdem ist es inzwischen fast ein Jahr her, dass du mit einem Mann im Bett warst. Im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Sex hält jung, stärkt das Immunsystem, sorgt für straffe Haut und überhaupt ist er ein Heilelixier für Körper und Seele.« Nach diesem flammenden, wenn auch für Amelies Verhältnis ungewohnt klischeebeladenem Plädoyer, holte sie kurz Luft und sagte: »Was spricht also dagegen, deinen Vierzigsten mit einem netten Mietmann zu verbringen?«

»Alles«, gab ich zurück, klappte kurzerhand den Laptop zu und widmete mich meinem Lachsbrot.

2.

Als Amelie gegangen war, blieb ich noch eine Weile auf der Couch sitzen, nippte an meinem Wein und starrte nachdenklich vor mich hin. So sehr ich mich auch dagegen wehrte, Amelies Worte ließen mich nur schwer wieder los. Zwar war ich fest entschlossen, keinen Mann zu bezahlen, damit er zu dem Privileg kam, sich mit mir zu vergnügen. Aber was sprach eigentlich dagegen, sich kurzzeitig eingehender mit dem Thema Mietmann zu beschäftigen, schon aus Recherchegründen? Auch wenn ich mir noch nicht darüber im Klaren war, welchem Zweck die Recherche dienlich sein könnte. Ich schnappte mir meinen Laptop, setzte mich im Schneidersitz auf die Couch und klickte mich zu Siegfried auf Seite zwei vor. Siegfried, Berlin, 182 cm, Konfektionsgröße 50. Menschen, die mir nahestehen, schätzen an mir mein geselliges Wesen und meine zuvorkommende Art. Aha, gesellig! Der Mann ist demnach eine Plaudertasche, kombinierte ich. Ich bin ehrlich und aufrichtig, habe ausgezeichnete Umgangsformen und spreche dialektfreies Deutsch. Ein Sprachgenie also! Wenn das mal nicht kultiviert war … Ich liebe die Musik, Philosophie und intellektuelle Gespräche. Mein Steckenpferd sind die Standardtänze wie Walzer, Foxtrott und Rumba.

Steckenpferd? Wer sagt denn heute noch Steckenpferd? Ich schaute noch einmal genauer hin. Vorsorglich hatte Siegfried sein Alter nicht angegeben, und das Foto machte auch schon einen recht verstaubten Eindruck. Ich scrollte die Seite weiter herunter und landete bei Markus, 43 Jahre, kreativ, intelligent, einfühlsam. Ich liebe das Abenteuer, das ich auch gern mit dir erleben würde. Mit mir kannst du über Gott und die Welt reden. Die Natur und die Einsamkeit weiß ich genauso zu schätzen wie das bunte Treiben der Großstadt. Ich betreibe seit 20 Jahren Leistungssport und trage dich, wenn du magst, auch auf Händen. Dann musste Markus aber sehr stark sein. Oh Gott, nein, einen durchtrainierten Bodybuilder wollte ich wirklich nicht. Ich interessiere mich besonders für fernöstliche Kultur und erforsche mit Vorliebe die Flora und Fauna meiner Umgebung.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich mit Markus weder über Gott noch über die Welt reden wollte, und sein Faible für fernöstliche Kultur und die Erforschung von Flora und Fauna teilte ich erst recht nicht. Davon abgesehen gingen dem guten Mann offensichtlich die Haare aus, was ein weiterer Minuspunkt war. Und auch bei den nächsten Anzeigen war einfach niemand dabei, der auch nur ansatzweise meiner Vorstellung eines geistreichen, interessanten Manns mit Charisma entsprach. Die meisten sahen vielmehr so aus, als wurden sie aufgrund ihres zunehmenden Alters nicht mehr als Mietmann gebucht, und einigen war die Einfältigkeit direkt ins Gesicht geschrieben. Zunehmend gelangweilt klickte ich mich weiter durch die Model-Geisterbahn alternder Escort-Herren. Sebastian, 43, prahlte mit versierten Tennis- und Golfkenntnissen, während Dirk, 45, sich im tiefsten Innern als Ritter und Poet sah, der im falschen Jahrhundert geboren war und seine Gefühle durch Musizieren ausdrückte. Andreas, 45, besaß fundierte Kenntnisse in spirituellen Heilpraktiken und Olaf, 41, war Schauspieler ohne Engagement, aber mit Interesse an Mountainbiking und fernöstlichen Meditationspraktiken. Arbeitslose Schauspieler kannte ich genug, da musste ich mir nicht extra einen buchen. Claus, 63, und immer noch vital, wollte mir empathisch und kommunikativ begegnen und seine Lebensfreude mit mir teilen. Ich verzichtete schon im Vorfeld dankend. Und Michael, 45, hatte eine Profisport-Karriere hinter und das ganze Leben noch vor sich.

Rein interessehalber klickte ich mich weiter zu den Buchungspreisen und las:

Die Honorare für die Escort-Herren sind kein Entgelt für erbrachte Dienstleistungen, sondern Sie vergüten damit lediglich die Zeitspanne des gebuchten Herrn.

Privatzeit: 1,5 Stunden: 300 Euro, jede weitere Stunde 150 Euro.

Kurze Nacht (12 Stunden): 1.000 Euro.

Lange Nacht (16 Stunden): 1.400 Euro.

Tag und Nacht (24 Stunden): 2.000 Euro.

Wochenende (48 Stunden): 3.000 Euro.

7 Tage: 7.000 Euro

Na, das waren ja echte Schnäppchen! Und was genau war eigentlich unter Dienstleistungen zu verstehen? Die Sache begann mir Spaß zu machen. Ich legte eine CD ein und las staunend weiter.

Urlaubsbegleitung: Preis nach VB zzgl. der Reisekosten für den Escort.

Bitte reichen Sie dem Escort das vereinbarte Honorar zu Beginn des Termins in einem offenen Kuvert. Selbstverständlich können Sie das Treffen auch noch spontan vor Ort verlängern, sofern der Escort keine zwingenden Folgetermine hat.

Spaßeshalber kalkulierte ich im Geist kurz die Kosten für meinen imaginären Mietmann durch. Für einen netten Abend mit einer »kurzen Nacht« würde ich schätzungsweise an die tausenddreihundert Mäuse hinblättern. Die Länge der Nacht wäre letztlich vom Steh- und Durchhaltevermögen des Mietmanns abhängig, aber irgendwann muss schließlich jeder schlafen, selbst der hartgesottenste Escort. Also fiel die Übernachtung aus praktischen Erwägungen schon mal weg.

Unsere Preise sind nicht verhandelbar. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Begleitung Ihres Wunsch-Gentleman.

Das Telefon klingelte. »Ja?«

»Luna? Hier ist Frank. Sorry, ist etwas kurzfristig. Aber wir brauchen dich morgen Nachmittag unbedingt bei der Probe.«

Frank war der Regisseur von der ich weiß nicht wievielten Inszenierung von Hamlet, bei der ich gerade Standfotos machte. Mit dem Unterschied, dass seine Inszenierung mit Shakespeares Stück nicht mehr viel gemeinsam hatte, sondern eher einer wilden Karnevalsparodie im Dschungel ähnelte. Nicht nur, weil das Gros der Schauspieler in Tierkostümen herumtänzelte, sondern vor allem wegen des Lärms, den sie auf der Bühne produzierten. Abgelenkt klickte ich mich weiter vor zu Christian, 41, der mit nacktem behaarten Oberkörper und einem um den Hals geschlungenen Lederkettchen vor der Kamera posierte.

»Wozu?«, fragte ich weinselig, denn inzwischen hatte ich schon das dritte Glas intus.

»Hamlet, ich meine Julian, ist mit den letzten Fotos noch nicht zufrieden. Außerdem brauchen wir dringend noch Abzüge von Laertes und Ophelia für die Presse.«

»Alles klar«, sagte ich, während mein verklärter Blick auf Andi, 37, aus Stendal fiel, vielseitig, weltoffen, charmant, der mich gern zu einem Candle Light Dinner begleiten oder mich gleich im Hotel besuchen wollte. Aber das klang mir dann doch ein bisschen zu weltoffen.

»Luna?«

»Äh, ja?«

»Kannst du um kurz vor vier hier sein?«

»Klar doch.«

»Irgendwie klingst du komisch«, sagte Frank. »Alles okay bei dir?«

»Könnte nicht okayer sein«, antwortete ich aufgeschlossen.

»Schön, dann bis morgen.«

Nachdem ich einige weitere Escort-Profile durchgesehen hatte, kam ich zu dem Schluss, dass allen hier abgelichteten Männern eins gemeinsam war, abgesehen davon, dass sie sich für gewisse Dienste teuer bezahlen ließen: Sie strotzten nur so vor Selbstbewusstsein und guten Eigenschaften. Ich war mir natürlich darüber im Klaren, dass werbewirksame Maßnahmen in diesem wie in jedem anderen Gewerbe unumgänglich waren. Und dass die Agenturen, die Herren diesen Kalibers beschäftigten, erfahrene Schreiberlinge hatten, welche dazu angehalten wurden, die Qualitäten der »Begleiter« in den schillerndsten Farben zu loben. Aber die hier beschriebenen Männer schienen so unfehlbar zu sein, dass man neben ihnen unwillkürlich verblassen musste. Und welche Frau hat es schon gern, wenn alle bewundernden Blicke auf den Mann an ihrer Seite gerichtet sind anstatt auf sie selbst? Nein, Mietmänner und ich passten definitiv nicht zusammen!

Etwas angeschlagen von dem Wein machte ich es mir mit einem Krimi im Bett bequem. Kaum hatte ich zu lesen angefangen, hörte ich es in der Wohnung über mir murmeln.

»Nicht schon wieder«, stöhnte ich auf, fingerte nach meinen Ohrstöpseln und stopfte sie mir in die Ohren, um mich auf mein Buch zu konzentrieren. Aber es nützte nichts, das monotone Gemurmel hielt an, es wurde sogar noch stärker. Entnervt sprang ich auf und presste mein entstöpseltes Ohr ans Heizungsrohr. Es murmelte munter weiter, nur etwas lauter. Wenn mich nicht alles täuschte, war es eine männliche Stimme, die da vor sich hin murmelte. Nur konnte ich leider nicht verstehen, was sie sagte, obwohl es mich brennend interessierte. Die Sache ließ mir keine Ruhe. Kurz entschlossen rief ich Amelie an. Schlaftrunken nahm sie ab.

»Hi, ich bin’s. Es murmelt wieder.«

»Was? Wer murmelt?«, kam es gähnend zurück.

»Na, über mir. Ich habe dir doch davon erzählt. Ich werde noch verrückt, wenn das so weitergeht!«

»Dann geh rauf und sag ihnen, dass sie aufhören sollen, zu murmeln.«

»Das geht nicht. Es gibt schließlich kein Gesetz, das Leuten verbietet, nachts zu murmeln.«

»Wenn es Ruhestörung ist, schon«, gab Amelie entschieden zurück.

»Wenn dieses verdammte Haus bloß nicht so hellhörig wäre«, rief ich entnervt.

»Wohnt da oben nicht so ein komisches Pärchen?«

»Das komisch bezweifle ich. Aber Pärchen stimmt. Sie ist so eine kühle Brünette, immer top gestylt, von Beruf Investment Banker. Und er Hausmann, wenn mich nicht alles täuscht.«

Amelie gähnte lauthals. »Du, ich habe morgen früh zwei Implantate und einen Wurzelkanal. Ich schlage vor, du klingelst bei Gelegenheit mal bei denen und fragst sie, ob sie sich nicht in normalem Tonfall miteinander unterhalten können.«

»Damit es noch lauter wird? Vielen Dank auch!«, gab ich zurück.

»Sorry, aber ich bin todmüde. Wir hören uns«, sagte Amelie und legte auf.

Wieder presste ich mein Ohr an das Heizungsrohr. Das Murmeln schien angeschwollen zu sein, aber es war kein beruhigendes Geräusch, sondern klang eher aufgebracht. Ja, das war es: ein griesgrämiges, gereiztes, grimmiges Murmeln, das langsam aber sicher im Begriff war, mich um meinen Nachtschlaf zu bringen. Und zwar nicht zum ersten Mal. Das Leuchtzifferblatt meiner Uhr zeigte mittlerweile ein Uhr fünf. Ich betete insgeheim, dass mir wenigstens die Nachbarin in der Wohnung gegenüber heute ihre nächtlichen Schreiorgien ersparen würde, legte mich zurück ins Bett und griff nach meinem Krimi. Aber kaum hatte ich die ersten zwei Zeilen gelesen, ertönte ein spitzer Schrei durch die Wand. Kurz darauf hörte ich einen zweiten, noch längeren Schrei. Darauf folgte lautes Geheul, das in einen lang gezogenen klagenden Jammerlaut überging. Ich sprang wütend aus dem Bett und drückte mein Ohr gegen die Wand. Ein weiterer spitzer Schrei folgte, dann ein ohrenbetäubendes Kreischen, das so klang, als würde gerade jemand abgestochen. Ich lauschte noch ein paar Minuten lang. Schweigen. Dann folgte unversehens ein weiterer lauter gequälter Schrei, der in ein ersticktes Röcheln überging. Als Ursache der allnächtlich wiederkehrenden Geräuschkulisse schloss ich exzentrische Liebespraktiken meiner Nachbarin aus, zumal ich bei ihr noch nie einen Mann hatte ein oder aus gehen sehen. Fernöstlich angehaucht, wie sie aussah, musste es sich entweder um eine spektakuläre Meditationstechnik oder um ein prekäres Voodoo-Ritual handeln. In jedem Fall hätte sie mit ihrem durchdringenden Organ Tote aufgeweckt. Bevor ich mich wieder hinlegte, nahm ich mir vor, mich eines Tages selbst bei Frau Karwan zum Kaffee einzuladen, um dem Radau zu nächtlicher Stunde auf die Spur zu kommen und im besten Fall vielleicht sogar ein Ende zu bereiten.

Als ich mich am nächsten Vormittag um elf Uhr aus dem Bett quälte, stellte ich als Erstes fest, dass meine Waschmaschine eine große Pfütze auf dem Kachelboden hinterlassen hatte. Bis zur Probe waren es noch fünf Stunden. Ich warf einen resignierten Blick auf den Berg Schmutzwäsche, der sich neben der kaputten Maschine türmte, stopfte kurzerhand alles in eine Tasche und machte mich auf den Weg zum nächsten Waschsalon. Dort warf ich ein paar Münzen in einen Automaten und erhielt im Gegenzug Waschpulver und Weichspüler.

Ich wollte mich gerade in meinen Krimi vertiefen, als ich auf ein Paar zwei Plätze weiter aufmerksam wurde. Er war um die fünfzig mit beginnender Stirnglatze und tabakbraunen Zähnen, sie eine üppige Blondine mit aggressiv vorgestülpter Unterlippe. Beide trugen Jogginganzüge und Sportschuhe.

»Wenn du blöde Kuh unsere Maschine nicht geschrottet hättest, würden wir jetzt nicht hier rumhocken«, blaffte er.

»Kauf lieber ’ne neue Maschine, statt die Kohle zu versaufen«, fuhr sie ihm über den Mund.

»Bin ich Krösus oder was?« Er nahm einen Schluck aus der Bierdose und fuhr sich mit der Hand über die glänzende Stirn.

»Nee, du bist das größte Arschloch, was unter der Sonne rumläuft. Sagt Mutti übrigens auch.«

»Na, die muss es ja wissen.« Er stierte auf die sich drehende Waschtrommel, die ein leises Surren von sich gab. Ich tat es ihm nach, da ich davon ausging, dass die Kommunikation zwischen ihnen noch nicht zum Abschluss gekommen war. Denn wenn es etwas gibt, das mir den Lesegenuss zunichtemacht, sind es störende Geräusche um mich herum.

»Sag deiner Mutter, sie kann mich mal«, ertönte es links von mir.

»Du sie schon lange!«, kam es zurück.

Ich warf einen verstohlenen Blick auf die beiden. Er rollte seine Bierdose zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, während sie aus ihrer Handtasche eine Plastikdose zutage förderte, ein Leberwurstbrot herausnahm und ein großes Stück davon abbiss. Der durchdringende Geruch nach Leberwurst und die Gesellschaft, in der ich mich befand, trugen nicht gerade zur Aufheiterung meiner Stimmung bei, die seit dem Anblick meiner kaputten Waschmaschine auf dem Tiefpunkt war. Außerdem hatte ich morgens gern meine Ruhe und fühlte mich derartigen Unterhaltungen noch nicht gewachsen, auch wenn meine Rolle nur die der unbeteiligten Zuhörerin war.Ein junger Mann mit Hornbrille und langen, fettigen Haaren kam mit einer Reisetasche herein und warf eine Münze in einen Automaten. Er hatte gerade seine Wäsche in die Maschine gestopft, als ein Mädchen, das mehrere Piercings an der Unterlippe hatte, den Waschsalon betrat. Ihre Augen strahlten, als sie ihn sah. »Hey, Armin. Bist du schon lange da?«

»Gerade eingeritten.«

»Cool«, sagte sie, ging zu ihm und küsste ihn auf den Mund. Er küsste sie leidenschaftlich zurück. Ich überlegte, wie sie es hinkriegte, ihre Unterlippe dabei so weit wegzuspreizen, dass weder ihre Piercings noch ihre Lippen beim Küssen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ob es dafür eine bestimmte Technik gab?

»Müssen die sich hier in aller Öffentlichkeit abschlecken?«, erklang die Stimme links neben mir.

»Neidisch?«, fragte die Blondine spitz.

»Auf die da? Bestimmt nicht.«

Das junge Pärchen ließ sich von den Kommentaren nicht stören und knutschte hingebungsvoll, während seine Finger über ihr Hinterteil wanderten.

»Würde mich nicht wundern, wenn sie’s gleich noch treiben«, murmelte der Mann links von mir und öffnete eine neue Bierdose.

»Besser so, als wenn er keinen mehr hochkriegt. So wie du«, entgegnete die Blondine.

»Halt’s Maul, sonst setzt es was.«

»Ja, im Prügeln bist du ja ganz groß. Das ist aber auch das Einzige«, gab die Blonde zurück und kramte noch ein Leberwurstbrot aus der Plastikdose. Lieber Gott, bitte mach, dass meine Maschine schnell fertig wird, murmelte ich im Geiste vor mich hin.

»Frisst und frisst den ganzen Tag. Guck dich doch mal an, wie du aussiehst«, zischte ihr Begleiter.

»Halt doch einmal die Schnauze, Hermann. Nur ein einziges Mal!«

»Hey, Leute. Peace!«, mischte Armin sich ein und hielt den Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand nach oben, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Der Mann links von mir machte eine drohende Gebärde. »Was willst du halbe Portion denn? Einen auf die Fresse oder was?« Toll, eine Prügelei um diese nachtschlafende Uhrzeit hatte mir gerade noch gefehlt.

Der junge Typ zwinkerte nervös hinter seiner Brille und machte eine versöhnliche Geste. »Ich wollte bloß …«

»Hat dich irgendwer nach deiner Meinung gefragt?«, schnitt die Blonde ihm barsch das Wort ab. »Also labere uns nicht dämlich von der Seite an, klar?«

»Komm, lass, das bringt nichts«, sagte das Mädchen. »Außerdem müssen wir uns noch für die Biovorlesung vorbereiten.«

»Stimmt«, sagte Armin, während seine Lippen zuckten. Sie kraulte ihm durchs Haar und zog ihn mit sich zu einem freien Platz. Dann holte sie ihren Laptop heraus und klappte ihn auf. Die Blonde wischte sich mit der Hand einen Leberwurstrest vom Kinn und sah ihren Mann triumphierend an. Der legte den Arm um sie. Seufzend klappte ich mein Buch wieder auf. Paare konnten komisch sein.

3.

Mein Geburtstag nahte mit Riesenschritten, und es verging kein Tag, an dem mich nicht irgendjemand aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis darauf aufmerksam machte. War ich nur von Sadisten umgeben? Mittlerweile bereute ich zutiefst, dass ich überhaupt je so naiv gewesen war, mein wahres Geburtsdatum preiszugeben. Ich konnte auch keine von mitleidigen Blicken begleiteten aufmunternden Sprüche in der Art von Vierzig ist doch kein Alter oder Jetzt fängt das Leben erst richtig an mehr hören. Denn erstens war es Fakt, dass mein Leben vor vierzig Jahren angefangen hatte, und zweitens ist vierzig ein Alter, ein ziemlich deprimierendes sogar. Aber inzwischen hatte ich wenigstens einen Plan für meinen sogenannten Ehrentag, und zwar in Form zweier Eintrittskarten für die Berliner Philharmoniker. Beethovens Sinfonien würden mir den fatal anmutenden Einstieg in mein neues Jahrzehnt sicher erleichtern, wenn nicht es sogar vorübergehend vergessen lassen. Für mich ist Beethoven einer der größten Komponisten aller Zeiten, und die kraftvolle Dramatik, Leidenschaft und mitunter auch lyrische Zartheit in seinen Werken geht mir unter die Haut. Wenn ich den ersten Satz der Mondscheinsonate höre, gerate ich so ins Träumen, dass ich alles um mich herum vergesse, während der dritte Satz mich so aufwühlt, dass ich beim Hören regelmäßig in Tränen ausbreche. Mit viel Überredungskunst war es mir gelungen, Matthias dazu breitzuschlagen, mich zu dem Konzert zu begleiten, obwohl er mit Klassik so viel am Hut hat wie ich mit elektrischen Sägen. Matthias ist mein bester Freund, Vater siebenjähriger Zwillinge und neuerdings auch noch einer kleinen Tochter. Er ist überzeugter Pink Floyd- und Van Morrison-Fan und mein männlicher Ansprechpartner bei Liebeskummer, dramatischen Anwandlungen, Weltschmerz und diversen anderen Befindlichkeiten, die mich in der ihnen innewohnenden Emotionalität überfordern. Freundlicherweise wartet er jedes Mal geduldig so lange ab, bis ich mich wieder verständlich artikulieren kann, nachdem ich meistens eine Viertelstunde nur in den Hörer geschluchzt habe. Um mir dann einen pragmatischen Rat zu geben, der – im Fall von Liebeskummer – meistens »Hak den Mann ab« lautet. Woraufhin ich zu sagen pflege, dass man Gefühle nun mal nicht an- und ausknipsen könne wie eine Stehlampe. Aber das versteht Matthias nicht, weil er sehr wohl findet, dass man das könne. Dieser wohlgemeinte Rat ist bei ihm allerdings nur ein rein theoretisches Konstrukt, da er selbst noch nie in die Verlegenheit kam, seine Gefühle von heute auf morgen ausschalten zu müssen. Denn Matthias gehört zu den seltenen Ausnahmeexemplaren, die seit Langem verheiratet sind und so etwas wie ein in ruhiges Fahrwasser gelenktes Glücksgefühl empfinden. Mittlerweile sind er und seine Frau eine Art Ersatzfamilie für mich geworden, und Matthias steht mir viel näher als mein leiblicher Bruder Jan, den ich seit mindestens fünf Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, weil er sich beim Radio unentbehrlich gemacht hat.

Noch zwei Tage bis zu dem verhängnisvollen Datum, und ich hatte mir fest vorgenommen, jeden einzelnen Tag so zu gestalten, als wäre es mein letzter, was ja, wäre die Entscheidung nicht gegen den Auftragskiller ausgefallen, sogar der Wahrheit entsprochen hätte. Am Freitag war ich mit Amelie zu einer Shoppingtour verabredet. Wie immer, wenn ich durch die Bekleidungsgeschäfte und Boutiquen streifte, fielen mir dort die verloren und deplatziert wirkenden Männer auf, die vor zugezogenen Umkleidekabinen auf ihre kaufwütigen Begleiterinnen warteten und einem bei jeder Gelegenheit im Weg herumstanden. Nachdem Amelie und ich uns für mehrere Outfits entschieden und dafür eine Unsumme hingeblättert hatten, stießen wir in einem Café mit einem Glas Champagner auf unsere neuen Errungenschaften an. Für April war es ungewöhnlich warm, und die Straßencafés waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Sonst waren die ersten wärmenden Sonnenstrahlen immer ein Anlass zur Freude für mich gewesen, aber aufgrund meines nahenden Geburtstags war das in diesem Jahr anders. Da ich beschlossen hatte, die ganze Woche Trauer zu tragen, hatte ich mich für eine schwarzen engen Rock entschieden, der meine schmalen Hüften und langen Beine betonte – dazu passend hatte ich schwarze High Heels und eine schwarze, eng anliegende Seidenbluse erstanden, die in Kombination mit meinen langen blonden Locken ein bemerkenswertes Ensemble darstellten. Wobei ich schon seit einer Weile überlegte, ob ich mir aufgrund des deprimierenden Anlasses die Haare nicht auch gleich schwarz färben lassen sollte. Von einem Friseurbesuch hielt mich bislang nur Amelies vehementer Protest ab, der in dem empörten Ausspruch gipfelte, dass ich dann jedem Grufti Konkurrenz machen könnte.

»Falls du damit andeuten willst, dass es sich bei mir um eine ältere Person weit entfernt von aller Jugend handelt, die in Windeseile auf die Gruft zueilt, hast du den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte ich düster.

»Will ich nicht«, wies Amelie mein Ansinnen zurück, bestellte sich einen Latte Macchiato und fuhr fort: »Nur zur Information: ein Grufti trägt schwarze Klamotten, hat schwarzgefärbtes Haar, schwarzes Make-up und ist blass geschminkt. Er ist gern mit mehreren Gesichtspiercings zugetackert, hängt vorzugsweise auf Friedhöfen herum und steht auf alles, was einen morbiden Touch hat.«

»Ich dachte, diese Typen kommen aus der Gothic-Szene?«

Amelie zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Ich bin nicht mehr ganz auf dem Laufenden, was jugendliche Subkulturen angeht.«

Ich seufzte. »Da bist du leider nicht die Einzige.«

Ich fragte mich, ob ich mich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht unmerklich in den Prototyp jener Person verwandelt hatte, gegen die ich im aufrührerischen Alter von fünfzehn noch heftig protestiert hatte. Während man heute als cool gilt, wenn man auf R&B, Elektro, Indie und Hip-Hop steht, rappen kann und sich Ecstasy-Pillen einwirft, war es damals angesagt, in neonfarbenen Synthetikoutfits und Plateauschuhen zu Techno und House zu tanzen. Teestuben, indische Flatterhemden, Cat Stevens, Led Zeppelin und Deep Purple waren längst out. Dafür kamen eingefallene Wangenknochen, dunkle Augenringe und Girlies mit ausgemergelten Körpern in Mode.

»Irgendwie waren die Neunziger doch idyllisch, oder?«, seufzte ich mit einem Anflug von Wehmut.

Amelie grinste. »Wenn ich an meine Schnullerkette und die scheußliche Sonnenblumen-Haarspange denke, wage ich das zu bezweifeln. Ganz zu schweigen von den bauchfreien Tops.«

»Was soll ich denn sagen? Mit meinen bodenlangen Wickelröcken und den blauen Strähnen im Haar.«

Amelie verdrehte die Augen. »Du sahst aus wie eine Mischung aus Hippie und Alien.« Sie bestellte sich noch ein Glas Schampus. Ich schloss mich ihr an.

»Heute gehört es jedenfalls sowohl zum guten Ton als auch zu einem gelungenen Wochenende, sich ins Koma zu trinken, bis der Arzt kommt. Prost.«

»Auf uns«, sagte Amelie und nahm einen Schluck.

»Und wer kein Smartphone und nicht mindestens zweitausend Freunde in einem sozialen Netzwerk hat, mit denen er virtuell chillt und chattet, gilt als Outsider und hoffnungsloser Fall. Jeder Teenie, der heute etwas auf sich hält, hat nämlich mindestens schon einmal mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelegen, weil er dann mit Fug und Recht behaupten kann, dass er dazugehört«, fügte ich schon leicht angeheitert hinzu.

Amelie grinste: »Seit wann wirfst du mit solchen Klischees um dich?«

»Seit ich aufs Rentenalter zueile. Ich finde es tröstlich, Dinge zu pauschalisieren. Mein Leben ist nämlich auch so schon kompliziert genug«, seufzte ich und fuhr fort: »Es sei denn, der besagte Teenie ist top gestylt, konzentriert sich auf seinen Notendurchschnitt und sein Studium und absolviert nebenbei noch ein erfolgreiches Praktikum nach dem anderen, von diversen Nebenjobs ganz zu schweigen.«

Amelie schlug die Beine übereinander. »Du denkst dabei nicht rein zufällig an meine Tochter?«

»Doch«, sagte ich. »Wetten, dass sie ein Einser-Abi hinlegt, dann gleich vier Sachen auf einmal studiert und nebenbei noch jobbt?«

Amelie verzog unwillig das Gesicht. »Wundern würde es mich nicht. Ich finde es übrigens nicht so berauschend, dass sie schon seit drei Jahren einen festen Freund hat. Statt ihr Leben erst mal zu genießen und zu gucken, was oder wer sonst noch so kommt. Ganz ehrlich, das ist doch oberspießig.« Amelie zupfte sich eine Haarsträhne zurecht, die auch vorher schon perfekt gesessen hatte

Ich lachte. »Stimmt, Sarah ist ein Fall für sich.«

»Ein Härtefall«, sagte Amelie. »Aber ein süßer. Auch, wenn sie mich eines Tages noch in den Wahnsinn treiben wird.«

Amelie ist geschieden und lebt mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Sarah zusammen, die nichts unversucht lässt, um ihre Mutter zu verkuppeln, wodurch Amelie schon in die aberwitzigsten Situationen geraten ist. Davon abgehen ist Sarah eine überzeugte Verfechterin bürgerlicher Werte und verweigert sich beharrlich jeder Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Das ist auch der Grund dafür, dass Amelie, was aktuelle Entwicklungen in der Jugendkultur anbelangt, nicht mehr ganz up to date ist. Trotz ihres jugendlichen Alters hat Sarah ihr weiteres Leben schon durchstrukturiert: Mit neunzehn Abitur machen, BWL und Jura studieren. Karriere machen. Mit zwanzig ihren Freund heiraten, Schwangerschaft nach dem Examen, zwei Kinder, ein Häuschen in einem Randbezirk von Berlin kaufen, die Kinder gemeinsam mit ihrem Göttergatten, der natürlich auch einer lukrativen Beschäftigung nachgeht, aufziehen. Einmal im Jahr in Urlaub fahren. Mit fünfzig ein Haus auf den kanarischen Inseln kaufen, alternativ ein Sommerhäuschen in Schweden, ab sechzig regelmäßig dort und mit Anschluss an die Natur überwintern. Diesen Plan hatte sie Amelie und mir auch schon des Öfteren en détail unterbreitet, mit glockenheller Stimme, in der eine keinen Widerspruch duldende Festigkeit mitschwang. Bei all ihrer Detailversessenheit wunderte mich nur, dass sie ihr Sterbedatum noch nicht festgelegt und sich und ihrer noch nicht vorhandenen Familie noch keine adäquate Grabstätte ausgesucht hatte.

Während Amelie genussvoll an ihrem Champagner nippte und vorbeigehende Passanten beäugte, geriet ich ins Grübeln. Irgendwie hatte ich den Anschluss an die Rap-, Hip-Hop- und Multitasking-Online-Generation verpasst. Zweifelnd sah ich Amelie an. »Meinst du wirklich, wir werden alt?«

Amelie nickte, ohne dass sich dabei auch nur die geringste Spur von Melancholie in ihrem Gesicht abzeichnete. Im Gegensatz zu mir ließ sie sich nie von Tatsachen entmutigen. Sie hatte sich vollständig dem Hier und Jetzt verschrieben und weinte der Vergangenheit aus Prinzip keine Träne nach. Was im Übrigen kein Kunststück war, da ich ihr zwei Jahre Vergangenheit voraushatte.

Am Samstag, einen Tag vor dem Konzert, rief Matthias an. Da seine Stimme fast eine Oktave tiefer klang als sonst, erkannte ich ihn am Telefon erst gar nicht.

»Ich bin krank. Fieber und Halsschmerzen«, krächzte er.

Mir wurde heiß und kalt. »Aber bis morgen bist du doch wieder fit?«