Kittylectric und die Entgiftung der heidnischen Gaukler - Oliver Rennicke - E-Book

Kittylectric und die Entgiftung der heidnischen Gaukler E-Book

Oliver Rennicke

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Videothekengänger aufgepasst! Kittylectric ist da! Auf der Suche nach ihrer Mutter, die über Nacht spurlos verschwand, begibt sich Kitt auf eine ungewisse Reise in die Nacht. Verloren in einer kalten Außenwelt, die nur auf den ersten Blick der unseren gleicht, sich vielmehr aus ihrem Unterbewusstsein speist – oder vielleicht Lichtjahre entfernt liegt –, greift ihre Suche unbemerkt vom Wachzustand in das Reich der Träume über. Von grausamen Menschenhändlern auf der einen Ebene zu wolfsartigen Dämonen auf der darunter, flüchtet sich das Mädchen zusehends in ihre eigenen Sphären, wo sie als schillernde Lichtgestalt aus Frau und Katze über sich hinauswächst, reale Abgründe verarbeitet. Schließlich entdeckt sie ihre große Stärke – anderen den Schmerz zu nehmen, ihnen ein Licht zu senden in den dunkelsten Stunden – per Videokassette!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Oliver Rennicke

Kittylectricund die Entgiftung der heidnischen Gaukler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kinderwald Gruppe  1  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog9

Familie19

Die Nacht, in der es geschah25

Eindringlinge29

Rufe aus dem›Hexenhaus‹33

Ausbruch37

Überleben und Sterben  oder die Todeskunst, unbemerkt  durch einen Krieg zu tänzeln61

›StadtX‹75

Wege durchs Feuer91

Jahrtausendereignis103

Ein neuer Morgen …113

Moor-Videothek THE HOUSE OF YESTERDAY119

Die Architektin131

Blutregen145

Inquisition163

Opfer171

Zuflucht vor dem Sturm183

Harlekin189

Großmütterchen203

Opernhaus229

Exit241

Eine heiße Spur243

(Z-w-i-s-c-h-e-n-z-e-i-t-l-i-c-h aus der Zeit gefallen) MOOR-Video-Geschichten249

 

 

 

›Man zollt dem Licht keinen Respekt, indem man es ausbläst!‹

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

 

 

 

»Alles wird gut! Nimm meine Hand!«, rief ein kleines Mädchen aufgeregt ihrem laut dröhnenden Fernseher zu, rosa Schleife im pechschwarzen Pagenhaar, die Beinchen unruhig zappelnd in der Luft. Sie saß allein auf ihrem Bett im dunklen Kinderzimmer. Lediglich das Geflacker, das von dem quadratischen Kasten ausströmte, drang in ihre heile kleine Kinderwelt ein und ließ sie in einem ungesund grellen, stroboskopartigen Licht erstrahlen – ein Fremdkörper, der schmerzhaft in den Augen brannte.     Der ›Film‹, der sie derart in Aufruhr versetzte, besaß weder Anfang noch Ende. Anders als bei allen Filmen, die sie in ihren jungen Jahren mit Begeisterung verschlungen hatte, wurde in dieser Ausstrahlung keine Handlung erzählt, kein Skript, keine dritte Person. Vielmehr war sie mittendrin! Ein neuer Blickwinkel tat sich auf – wie ein Spiegel in eine andere Welt. Ist das überhaupt noch der Film? Oder hab ich, bei all dem Geflacker, mein Bewusstsein verloren? – und bin gestürzt, durch mein Bett hindurch, ins Bodenlose, geradewegs hinein in die zweite Dimension?     Die Kamera wurde zu ihrem dritten Auge, schwebte über endlos graue Straßen, durch schwermütige Gassen, die sie nie zuvor betreten hatte – ›Inland Empire - The Polish Cut‹ – und die sich doch so vertraut anfühlten – ›Cosmic Baby - Loops Of Infinity‹ – wie aus einem früheren Leben. Ein Hauch Krakau, ein Hauch Moskau, zu gleichen Teilen St. Petersburg wie Prag, am Ende doch wieder Krakau – und doch irgendwo nirgendwo (wo man meint, schon mal gewesen zu sein – schon mal gewesen zu sein …) Mietskasernen voll melancholischer Schwere, die im Laufe der Zeit viel miterlebt hatten und die ihre ganz eigenen Geschichten erzählen würden, wären es nicht bloß ortsgebundene Gespenster, die davon Zeugnis ablegten – Geister der Vergangenheit hinter vergilbten Gardinen, die blutende Seele einer uralten Stadt. Ein trüber Schleier hing nasskalt über den lückenlosen Altbauten, den verschachtelten Gassen, die mitunter in großflächigen Plätzen für Paraden mündeten.     An einer unwirklich breiten Kreuzung – wie soll man da rechtzeitig die Straße überqueren? – hielt ihr schwebendes Ich auf ein majestätisches Opernhaus zu. Das monumentale Bauwerk bildete einen eigenständigen Kosmos, eine Welt in der Welt, die dazu einlud, von innen betrachtet erlebt zu werden. Die wärmenden Augen des Mädchens wurden groß, als sie durch die weiten Flure und verschwenderischen Konzertsäle geisterte. In einem menschenleeren Seitenflügel mit Museumscharakter hielt sie auf eine schwarze Säulenfigur zu.     »Alles wird gut! Nimm meine Hand!«, sprach sie mit tief verstellter Stimme und sah an der glänzenden Statue auf, deren messerscharf in die Höhe gezerrte Ohren einem Fiebertraum gleichkamen. Spielerisch legte sie der Figur die eigenen Worte in den Mund und ermutigte sich letztlich selbst. Ihr imaginärer Freund aus frühen Kindertagen – Mangrowjong, Name aus dem Unterbewusstsein –, hier fügte er sich unbeachtet in das prunkvoll überladene Interieur. »Keiner hat dich bemerkt!«     Blasses Tageslicht fiel durch die schweren Gardinen ein. Ein blaugrauer Schleier färbte das antike Mobiliar und verlieh ihm gleichsam eine bedrückend unheimliche Note. In diesen Räumlichkeiten sollte jeden Augenblick ein Treffen von historischer Tragweite abgehalten werden. In verborgener Tradition luden die ›Gaukler‹ zur feierlichen Stunde – einmal alle einhundertsiebenundzwanzig Jahre! Und das kleine Mädchen befand sich mittendrin.     »Feme, Feme, Feme …«, säuselte es gespenstisch durch die stillen Korridore, als unvermittelt eine uralte, stark gekrümmte Frauengestalt um die Ecke lugte. Ungepflegtes Haar – mehr grau als schwarz – verschleierte einen Großteil ihres Gesichts. Ihre Augen blieben stets im Schatten verborgen. Heimtückisch schleichend, wandelnd, betrat ›Großmütterchen‹ den Raum. Dreckige Lumpen zeugten von Armut und Leid – und dem Mitgefühl des Mädchens.    Da fuhr die Unheimliche geschwind herum, wachsam, als prüfte sie, ob auch ja niemand von außen zugegen sei.     Die heimliche Beobachterin hatte sich geistesgegenwärtig hinter der Säulenfigur versteckt, die sie weitestgehend vor der Finsterfrau abschirmte. Sie allein wurde Zeugin ihrer Existenz, der Existenz einer Gruppierung, die vor aller Augen ungesehen – unerkannt – umherwandelte, sich versteckte und doch nicht versteckte. Die wenigen, die mit diesen Entitäten, über die Jahrhunderte hinweg, in Berührung kamen, beschrieben sie in Überlieferungen recht vage, bald sonderbar und unergründlich, bald unterhaltsam komisch, doch stets als gefährlich. Als wiederkehrendes Motiv war von einem umherziehenden Zirkus die Rede, von Gauklern, dazu verdammt, weder Ruhe noch Frieden zu finden. Es galt jedoch genauer hinzusehen, im Vorfeld zu wissen, nach welchen literarischen Querverweisen zu suchen war, um überhaupt eine Verbindung zwischen den Epochen herzustellen.     Ein stämmiger, übertrieben geschminkter ›Harlekin‹ tauchte wie aus dem Nichts hinter einer Wand auf – als wäre er geradewegs durch den Beton hindurchgestiegen –, kurz darauf ein klassischer ›Bühnemagier‹, der zur Begrüßung seinen hohen Zylinder zog. Sie alle weckten auf den ersten Blick gewisse Assoziationen an altbekannte Märchenfiguren, eine Umgebung aus frühen Kindertagen, doch gerade in dieser vermeintlichen Vertrautheit haftete ihnen etwas umso Fremdartigeres an, eineschaurig schwere Melancholie aus der Sicht eines Erwachsenen.          Der Magier öffnete eine versteckte Schranktür, hinter der eine Wendeltreppe steil hinabführte. Ohne ein Wort – stillschweigend wie Stummfilmfiguren – schritten die Gaukler der Unterwelt entgegen, die unzugänglich unterm Opernhaus verborgen lag.

    Als sich die Geheimtür eigenmächtig wieder zu verschließen anschickte, folgte das kleine Mädchen mutig, neugierig, von unsichtbarer Hand getrieben. Und obwohl sie keine konkrete Bewegung registrierte, würde die schwarze Statue nicht von ihrer Seite weichen, wenn sie sich zu fürchten begann – so ihre leise Hoffnung.

    Am Ende der Wendeltreppe lag ein verdreckter Backsteinkeller. Erde und Unrat bedeckten weithin den Boden. Die gewölbte Decke war beklemmend niedrig, voller Spinnweben, die sich vor milchig verschwommener Gasbeleuchtung zu schauerlichen Schattenspielen aufplusterten. Tapfer folgte die Träumerin der schweigenden Gesellschaft durch gruftartige Gänge, schwarz vor Augen, befallen von unkontrollierbarem Schwindelgefühl.     Die Bewegungsgeschwindigkeit, mit der die aus der Zeit Gefallenen voranschritten, verfremdete sich zu einer stotternden Zeitlupe. Abgehackte Unterbrechungen täuschten über den tatsächlichen Standort der Gaukler hinweg, ließen sie bald in weiter Ferne, bald bedrohlich nah aufschlagen – und erschwerten somit die Beschattung durch die kleine Detektivin. – Wie sie sich bewegen, so bewegt sich kein Mensch! Sie lachen, doch ihre Augen strahlen keine Freude aus! In der Zeitlupe lauert ein böses Erwachen! Auch ihre Lippen – und nur ihre Lippen – wandeln wolkengleich – und ich hab mich nie so gefürchtet! Als drohte meine Welt, alles, woran ich je geglaubt habe, in diesem Augenblick, mit diesem Lächeln, einzustürzen. Wer seid ihr? Was seid ihr? – Und eine weibliche Stimme ohne Ursprung kroch in ihren Nacken: »Irgendwann sind wir alle tot!«     Von einem eisigen Windhauch berührt, doch an die Nähe ihres säulenartigen Schattenfreundes glaubend, folgte sie der stillen Prozession in zunehmend geringerem Abstand – als ob sie mich nicht längst bemerkt hätten. Staunend ließ sie sich in einen menschenleeren Saal führen, in eine Welt, die tief unter den Straßen den Blicken der Oberwelt auf ewig verborgen blieb.           »Ein Theater unterm Theater!«, flüsterte sie ihrem Beschützer im Dunkeln zu, begleitet von dem mulmigen Gefühl, vielleicht doch ganz allein zu sein.     Dasselbe antiquierte Gaslicht scheuchte lange Schatten über die leeren Sitzreihen. Geisterhaft aufblitzend nahmen Großmütterchen und Harlekin in der vordersten Reihe Platz. Der Magier betrat die kleine Bühne des Kellervarietés, in einem Moment die steilen Stufen ersteigend, stand er im nächsten bereits in der Mitte der Bühne – als wäre ein Stück des Films herausgeschnitten worden! Mit geschwungenem Stab, pantomimisch gestikulierend – eben noch da, gleichzeitig in der gegenüberliegenden Ecke aufflackernd – verkündete er eine Sensation, die sich hinter den roten Samtvorhängen versteckt hielt. »Es gibt Menschen«, legte sich eine unheimliche Stimme über den Saal, doch der Sprechstallmeister blieb stumm, »die ihre Fühler zu Lebzeiten derart weit ausstrecken, dass ihre erbauten Seelenlandschaften nach dem Tode denen Obdach gewähren, die im Leben nur ein Tausendstel, Millionstel dessen zu empfinden imstande waren!«     Vor Kälte bibbernd hielt sich das Mädchen in den hinteren Rängen versteckt, und wartete gespannt auf die Auflösung seiner großen Überraschung – auf das Ungeheuer, das hinterm Bühnenvorhang lauerte.     Und dann plötzlich, aus allen Wolken fallend, mit allen Erwartungen brechend, blitzte es glühend durch ihr kleines unterkühltes Bäuchlein – wie neonfarbene Schmetterlinge –, als eine zarte Silhouette aus dem Schutz der Samtvorhänge schlich, sich zögernd zu dem Magier auf die Bühne gesellte: Ein schlanker, überaus graziöser Frauenleib – daran besteht nicht der geringste Zweifel! – Und als die Sensation aus dem Schatten ins blaue Scheinwerferlicht trat, durchströmte es den Bauch der kleinen Beobachterin – wie mit erfrischend wärmender Creme geflutet! –, als würde sie selbst im Rampenlicht stehen. Was ist das, was sie da anhat, ein hautenger Ganzkörperanzug in schwarzen und weißen Streifen? Nein, das ist kein Anzug, das ist ihre – Haut! Doch was ist sie? Was soll sie darstellen? Die Zebrastreifen ziehen sich von ihren langen Beinen über den schmalen Bauch bis zu ihrem Gesicht hinauf, verlor sich das Mädchen in der blau angestrahlten Bühnensensation und wurde erst bei dem wild zerwühlten Pagenschnitt stutzig: Die sieht ja aus – sieht ja aus – wie ich!Hinter pechschwarzen Augenringen, die ihr Antlitz verfinstern, hinter pink verschmierten Lippen, den feinen, lang abstehenden Vibrissen darüber, hinter all der Farbe und erwachsenen Weiblichkeit bin das doch ich, die da oben auf der Bühne steht!     Und als die geheimnisvolle, bis auf ein kunstledernes Katzenhalsband in nichts als ihre schwarzen und weißen Streifen gekleidete Traumfrau näher und immer näher in den Scheinwerferspot trat, wurde dem Mädchen erneut schwindelig: Einer Fieberphantasie entschlüpft, ragten zuckende, erschreckend reale Katzenohren aus dem Haar, ein verlängertes Steißbein erhob sich eigenmächtig schlängelnd über ihrem Gesäß – konnte unmöglich real sein, und blieb der heimlichen Beobachterin doch auch auf den zweiten, dritten, vierten Blick erhalten. – Zu schön, um wahr zu sein. Und doch steht sie da, als könnte ich sie anfassen. So real und gleichzeitig so unwirklich schön, dass es mir wehtut, sie überhaupt nur anzusehen, dass es mir wehtut, so auszusehen, ganz tief in mir drin, unter den Straßen der Stadt, wo diese Schönheit nie jemand zu Gesicht bekommen wird. Und wenn es doch nur ein Traum ist, so möchte ich nie daraus erwachen!    Die irreale Katzenfrau – ›KITTYLECTRIC‹ blinkte in großen Neonlettern über der Bühne, als wär’s der Name der Show – wandte ihren Blick zu einem der Seitenaufgänge. Hinter den Bühnenvorhängen knarrte eine angelehnte Tür, die nur sie, aus ihrem Blickwinkel heraus, erfasste.      »Wenn du noch länger auf diesen Spalt starrst«, sprach die unheimliche Stimme, »siehst du ihn, den Beobachter dahinter!«      Mit ihren malerischenAquarellaugen, verschwommen und doch gestochen scharf, realisierte die geträumte Überfrau, dass tatsächlich jemand hinter der Tür hockte. Ein blutunterlaufenes Auge lugte verstohlen hervor, sah aus, wie von einem Wolf.     »Ihr müsst wissen, Dämonen hängen wie Kletten an mir!«, ließ sie erstmals ihre eigene Stimme hören und wandte sich, ein charmantes Lächeln auf den Lippen, an die Gaukler, die sie gegen ihren Willen gefangen hielten, sie wie ein Versuchskaninchen ins Scheinwerferlicht zerrten. »Dämonen, die mich früher süchtig machten, mich daran hinderten, mein Leben aktiv zu leben! Mein Alltag war so stumpfsinnig und leer, aber machen wir uns doch nichts vor, diese Abhängigkeit von künstlichen Welten ist unnatürlich, gaukelt einem Magie vor, die sich als Luftschloss verflüchtigt, sobald man nach ihr greift.«     »Sieh dich doch an!«, unterbrach sie die unheimlich körperlose Stimme. »An dir ist alles ganz und gar unnatürlich!«     »Ja, das wird mir schmerzhaft bewusst«, entpuppte sich ihre Stimme Wort für Wort als die des kleinen Mädchens. »Doch in meinem Fall, welcher andere Weg wäre mir geblieben? Ich hab’s versucht, hab dem Leben eine Chance gegeben, doch es hat mich eiskalt abgelehnt!«     »Oh, ist sie nicht sensationell! So tragisch, so bescheiden, dabei könnte sie mit ihrem Licht, mit ihrer bloßen Umarmung …«     Da hob sich der Bühnenvorhang und ein Kinderchor rückte ins tiefblaue Scheinwerferlicht, einheitlich in weiße Schlafgewänder gekleidet. Ein blonder, rundlicher Knabe, der sich deutlich von den anderen Kindern abhob, gab den Ton vor. Das Geschehen glich mehr und mehr einem geträumten Theaterstück. Und während die Katzenfrau als Bildstörung zu flimmern und zu rauschen begann, stimmten die Kinder ihren melodischen Singsang an:

 

»Wenn das Bild verliert seine Macht, dann nimm dich in Acht! Sieh nicht zu lang hin, sonst verlierst du den Sinn!Empfindest du Glück,blickt sie zu dir zurück! Bist du rein im Herzen, wird sie dich in Verzücken versetzen! Bist du gemein im Herzen, wird sie dich sehr, sehr schmerzen!«

 

 

    Beiläufig sah die Flimmerkatze zu der versteckten Beobachterin in der letzten Reihe auf, sah in die verängstigten Augen des Kindes – ein gegenseitiger Blick in den Spiegel, dem beide nicht lange standhielten – und wandte sich geschwind wieder den Gauklern zu: »Ihr präsentiert mich wie ein Schauobjekt«, erhob sie schwere Anklage. »All der feierliche Zirkus, doch in Wahrheit habt ihr keine Ahnung, wer ich bin!« – Ein unergründliches Lächeln, ein starrer Blick über die Logen hinweg und mit zischenden Funken zersprangen sämtliche Scheinwerfer im Saal, bis sie das gesamte Varietétheaterin vollkommene Dunkelheit hüllte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Familie

 

 

 

 

 

»Ob ihr’s mir verbietet oder nicht, ich will zurück nach Hause!«, säuselte Kittylectric in den beißend nasskalten Herbstwind. Hinter nacktem Astwerk erstreckte sich ein Plattenbau, der charakteristisch die ärmlicheren Regionen Osteuropas widerspiegelte. Schwere, vergilbte Gardinen aus längst vergangenen Tagen filterten das ohnehin recht trübe Tageslicht, das spärlich in die zahllosen Zimmer einfiel. Ringsum den breitflächigen Betonklotz erstreckte sich ein Meer bräunlich grauen Herbstlaubs.      Ein Panzer kam dröhnend über den schlammigen, von Schlaglochpfützen durchzogenen Weg gerollt und durchbrach die trügerische Stille wie die sprichwörtliche Axt im Walde. Im Land wüteten kriegerische Auseinandersetzungen, ständige Militärpräsenz stand auf der Tagesordnung.    Umso leichtfüßiger schwebte die ausgebüxte Bühnensensation durch die Lüfte, über die schweren Maschinen hinweg, in hohem Tempo geradewegs auf den Plattenbau zu. »In einer der kleinen Wohnungen, eine kleine Familie«, legte sich ihre Stimme beruhigend über den pfeifenden Herbstwind und wirkte so den hektischen Wirren im Wohnblock entgegen. »Eine kleine Geschichte, die niemand erzählt, eine von vielen, die nie aus den eigenen vier Wänden dringen wird. Tür an Tür, und doch könnte der Mond nicht weiter sein!«     Mühelos drang ihr Körper durch das feste Mauerwerk, von Etage zu Etage, Wohnung zu Wohnung, bis sie in einer beengten Küche ihr Ziel erreichte. Eine Frau mittleren Alters huschte unter ihren Beinen umher, bereitete Speisen zu, das Gesicht stets vom schwebenden Eindringling abgewandt.     »Eine Mutter lebt hier ganz allein mit ihren Kindern. Der Vater hat diese Familie für eine neue verlassen, hat Kinder mit einer anderen Frau, die er mehr liebt. Diesmal sind es Wunschkinder, wahrhaftige Wunschkinder – anders als die da unten.«     Die Alleinerziehende öffnete ein hochgelegenes Schrankfach, tastete nervös nach einem wackligen Tellerstapel. Und als wären ihre Finger ganz plötzlich taub geworden, griff sie ins Leere. Mit einem lauten Knall zersprang das Geschirr auf dem Küchenboden.      Da sackte die Mutter verzweifelt in sich zusammen, sammelte die Scherben auf und schluchzte bitterlich, den unbemerkten Gast unablässig über ihrer Schulter.     »Sie geht täglich zehn Stunden arbeiten, und doch reicht’s hinten und vorne nicht für Miete, Verpflegung und um ihren Kindern eine Kindheit zu ermöglichen. Wochenenden und Feiertage existieren für sie nicht. Sie hat noch einen zweiten Job angenommen, muss sogar nachts arbeiten. Zumindest war das früher so! Früher? – Ja, ich kenne diese Frau – meine Mutter!«     Gern hätte sie sich ihr genähert, sie tröstend in den Arm genommen und ihr gesagt, dass alles gut werden würde, doch die Alleinerziehende entfernte sich wie ein flüchtiger Traum. In ihrer nüchternen Realität gefangen, vermochte sie die Präsenz der geisterhaften Tochter nicht wahrzunehmen. Vermutlich hätte sie ihre Nähe nie akzeptiert – ein Gespenst! Ein Gespenst! – und wäre vor Schreck tot umgefallen!      Im Nebenraum – einem spärlich möblierten Wohnzimmer – saßen zwei Kinder, ein kleiner Junge und ein jugendliches Mädchen, auf einem Sofa vom Sperrmüll, starrten vertieft auf das Geflimmer eines veralteten Röhrenfernsehers. Eine schwarzbraun gescheckte Katze schlief eingerollt in der gegenüberliegenden Ecke.      Das Bild rauschte, doch das tat der hypnotischen Wirkung, die es auf die Kinder ausübte, keinen Abbruch. Einzig die Katze blieb vom Geschehen unbeeindruckt. Schnurrend rollte sie sich auf den Rücken und streckte alle Glieder von sich. Anders als hochauflösende Flachbildschirme mit entsprechenden Katzenprogrammen schien dieser Flimmerkasten für sie gänzlich uninteressant zu sein.      »Das ist ihre Tochter!«, hauchte der Eindringling ebenso leise wie bedeutungsschwanger in den Raum. »Kitt, das war ihr Name! Sie ist fünfzehn, sieht aber aus, als wäre sie höchstens dreizehn. Ich erinnere mich. Neben der Schule kümmerte sie sich rührend um ihren kleinen Bruder«, und blickte zu dem Jungen, der noch ein paar Jahre jünger – und einen ganzen Kopf kleiner – als seine Schwester war. »Jim! Jimmy! Der kleine Jimmy!«     Schreckhaft erwachte der Stubentiger und starrte mit großen, angsterfüllten Augen in Richtung des Eindringlings. »Was ist los, meine Süße?«, flüsterte das Mädchen – Stirn an Stirn – ihrer Katze zu.     Als sich Kittylectric der deckungsgleichen Stimme des Mädchens gewahr wurde, schoss ihr augenblicklich eine Flut an Erinnerungen durch den Kopf. »Diese Stimme, diese Zeit! Die silbernen Knöpfe am Fernseher! So viele Filme für so ein kurzes Leben! Als ihr Ende nahte, kam die Zeit, da sie sprach, bevor dieselben Worte im Flimmerkasten erklangen, ihr schauriges Echo warfen – als hätte sie, auf unerklärliche Weise, mit dem Apparat zu kommunizieren gelernt. Zufall? Noch ein Zufall? Tausend Zufälle!«         Verunsichert ging der schwebende Eindringling auf Distanz, darum bemüht, zufälligen Blickkontakt zu vermeiden. Anders als bei der Mutter, fürchtete sie, von den Kindern vielleicht doch gesehen zu werden. Wieder jaulte die Katze mit funkelnden Scheinwerferaugen – ist ja schon gut, ich geh ja schon!     Der Weg vom Wohnzimmer zum Kinderzimmer, in ihren Augen nur Sekunden, doch in der Zwischenzeit mussten Jahre verstrichen sein. Das Mädchen Kitt, eben noch mit ihrem Bruder im nachmittäglichen Fernsehprogramm versunken, saß allein auf ihrem Bett, um einen halben Kopf geschrumpft, zu diesem Zeitpunkt sogar noch jünger als Jimmy. Einzig die schwarzbraun gescheckte Katze leistete ihr unverändert Gesellschaft, wachte schnurrend an ihrer Seite. Mit verstellter Stimme in einen Dialog mit sich selbst versunken, die Außenwelt ausgeblendet, sprang das Mädchen vom Bett und tigerte im Raum umher, hochkonzentriert, auf und ab, ab und auf.     Die übergroße Einbrecherin lehnte indes ihren Rücken gegen die obere Kante des Türrahmens, stemmte ihre langen Beine bis zur gegenüberliegenden Seite – zu entspannt, als dass sie tatsächlich Halt benötigt hätte. »Oh Kitt, spinnst du dir wieder deine eigenen Filme zusammen«, bemerkte sie mit einem schwärmerischen Lächeln auf den Lippen. »Später wirst du versuchen, deine Ideen zu Papier zu bringen. So viel Talent, so viel Feuer und Flamme! All die Bücher, die du nie schreiben wirst … Oh Kitt, wenn du nur wüsstest, welche Reise dir noch bevorsteht!«     Und ihr Lächeln verfinsterte sich. – Erst als ihre Zähne nach der Einäscherung zermahlen wurden, erst da begriff ich, was vor sich ging, was wirklich vor sich ging, erst da überkam mich die Sehnsucht, sie nie wieder zu sehen, ihr Gesicht, das nie wieder so existieren wird, die tiefschwere Trauer, dass nichts von ihr blieb, nichts als dieses kleine Häufchen Sand, was einst ihre Zähne gewesen – all die Besuche beim Zahnarzt, das Putzen früh und spät, tagein, tagaus …     Dunkelheit breitete sich überm Kinderzimmer aus. Erschrocken sah die Flimmerkatze zu einer tiefschwarzen Ecke überm Türrahmen auf, die sich besorgniserregend vergrößerte. »Ihr habt mich gefunden«, wandte sie sich mit großen Augen an die formlose Entität, die sie von dem kleinen Mädchen fortzureißen drohte, »aber ich komme nicht mit euch!« Bald darauf tauchte sie in die schwarze Leere ein und wurde gänzlich von ihr verschluckt. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Nacht, in der es geschah

 

 

 

 

 

»Dein Körper ist nicht mehr! Oder hast du am Ende doch nur deinen Aggregatzustand geändert? Du hättest diesen Film nie sehen dürfen!«, erklang eine vorwurfsvolle Stimme. Es war stockduster im Kinderzimmer und Kitt befand sich in einem dösenden Zustand zwischen Schlafen und Wachen, einem Zwischenreich, in dem es ihr nur allzu leicht fiel, die Stimmen im Raum ihren Träumen zuzuschreiben.