Klaasohm - Ocke Aukes - E-Book

Klaasohm E-Book

Ocke Aukes

4,8

Beschreibung

Alle Jahre wieder beginnt am Abend des 5. Dezember auf Borkum eine besondere Hatz: Sieben auserwählte Männer dürfen jeder Frau, die sie erwischen, mit dem Kuhhorn den Hintern versohlen. Das Klaasohmfest verspricht ausgelassene Freude - nur nicht für Markus, den Teufelsgeigenträger. Seinem Leben wird an diesem Abend ein Ende gesetzt. Die Einheimischen befürchten die Fortführung einer grausamen Tradition, denn Markus ist nicht der erste, der in einer Klaasohmnacht ermordet wurde. Kommissar Busboom allerdings glaubt nicht an einen Serienmörder. Und er wird recht behalten ...

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Seit ihrer Kindheit lebt Ocke Aukes auf der Insel Borkum. Sie hat mehrere Krimis veröffentlicht und ist in der Touristikbranche selbstständig tätig.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/ohneski Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-203-6 Insel Krimi Originalausgabe

Prolog

1972

Wer hätte gedacht, dass der Aberglaube eines Rentners und ein kleines grünes Herz das künftige Leben eines Fünfjährigen bestimmen würden!

»Hallo, Marga, warum so früh heute?«, grüßte der Mann. »Deine Schicht beginnt erst in einer halben Stunde.«

»Ich weiß, Karl, aber heute ist ein besonderer Tag.« Marga trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf einen kleinen Jungen im Kindergartenalter frei.

Es wird allgemein behauptet, es gebe keine hässlichen Kleinkinder, doch die Welt macht sich da etwas vor.

»Ich habe lieben Besuch mitgebracht.« Ihre Hand streichelte über das struppige Haar des Jungen.

»Ah, wen haben wir denn da?« Der Mann betrachtete das Kind und hoffte inständig, dass sein Tonfall freudig überrascht klang.

»Das ist Bodo, der Enkel meiner Schwester. Bodo, sag Guten Tag.«

Bodo war von der Natur offensichtlich doppelt gestraft und auch noch stumm.

»Der Junge ist heute bei mir.«

»Dann ist es so weit?«

»Ja, meine Schwester wird das zweite Mal Großmutter.« Ihren Neid konnte sie kaum verbergen. »Darum kümmere ich mich heute um den Jungen – nicht wahr, Bodo, wir beide werden was Schönes miteinander machen.«

»Er wird sich langweilen. Ein Museum ist für einen Fünfjährigen nicht der beste Platz zum Spielen.« Besorgt betrachtete der Mann das Kind. Der Junge hatte einen Gesichtsausdruck, der ihm Sorgen bereitete. Er wirkte brutal, wenn man das von einem Fünfjährigen schon behaupten konnte. Verschlagen. Sein Blick verriet wenig Intelligenz.

Eine gefährliche Kombination, Dummheit und Brutalität.

»Ein Museum ist kein Ort zum Spielen, es wird ihm keinen Spaß machen«, wiederholte er. In Wirklichkeit machte er sich jedoch keine Gedanken um den Jungen. Er war besorgt um die hier im Haus ausgestellten Exponate. Er hasste es, wenn Kinder durch »sein« Museum liefen. Kaum jemand hatte heutzutage seine Blagen unter Kontrolle. Alles fassten sie an, überall mussten sie rüberklettern. Sie ignorierten Absperrungen und Hinweisschilder oder rannten durch die Räume und stießen womöglich noch irgendetwas um. Früher war das anders gewesen, da herrschte noch Zucht und Ordnung. Er seufzte leise und verkniff sich einen entsprechenden Kommentar.

Marga kannte ihren Arbeitskollegen lange genug, um seine Sorge zu durchschauen. »Keine Bange. Bodo ist nicht wie andere Kinder, du wirst schon sehen. Sind gerade Besucher im Haus?«

»Nein, alles ruhig. Wir sind allein.«

»Dann lass uns doch mit dem Jungen eine Runde machen. Komm, Bodo, wir zeigen dir unser Museum.«

Der Mann rollte mit den Augen; der Kleine griff nach Margas Hand und ließ sich durch das frisch renovierte Insulanerhäuschen führen. Die ganze Zeit über sagte er nicht einen Ton, schaute nur schweigend und mit großen Augen den Mann oder seine Großtante an, wenn sie ihm etwas erklärten.

»Damals kam das Wasser nicht einfach aus dem Wasserhahn wie heute«, sagte der Mann und zeigte auf eine Pumpe, die in einer altertümlichen Küche stand. »Fließend Wasser gab es nicht. Man musste mit so einem Pumpschwengel rauf- und runterhebeln, bis Wasser kam.« Er führte die Auf- und Abbewegung am Objekt vor. Der Junge sah ihn vorwurfsvoll an, als trotz des Pumpens kein Wasser kam. Er wandte den Kopf zur Seite und blickte in den nächsten Raum, machte aber nicht den Eindruck, als würde ihn dort irgendetwas besonders interessieren. Nichtsdestotrotz ließ er Margas Hand los und die beiden Alten stehen.

»Tinis Schmuckkasten«, hörten sie ihn zwei Minuten später sagen. Es waren die ersten Worte, die das Kind mit zarter Stimme von sich gab.

Der Junge stand im Kapitänswohnzimmer. Ein Ohrensessel, schwere Schränke, Holztruhen und Seemannsartefakte konnten hier bestaunt werden. Seine Hand griff nach einem kleinen Kästchen, das aus Walknochen gefertigt und mit aufwendig geschnitzten Seefahrtsmotiven verziert war. Nur gut, dass es sicher hinter einer Scheibe stand.

»Tinis Kasten, Tinis Kasten«, sagte der Junge, und der Mann glaubte, einen Hauch von Erregung herauszuhören. »Ich will Tinis Schatz sehen«, betonte das Kind wichtig, doch die Erwachsenen reagierten nicht. »Bodo will sie sehen.« Seine kleine Hand schlug gegen die Glasscheibe, die das alte Stück schützte. »Will sehen, will sehen.«

»Kinder, de wat willen, kreegen wat för de Billen«, drohte der Mann auf Borkumer Platt. Bodo verzog sein Gesicht. Gleich würde er weinen. Der Mann hasste heulende Kinder noch mehr als die, die alles anfassten. »Das darf man nicht anfassen«, fügte er dennoch hinzu. »Das gehört dir nicht.«

Das winzige Kindergesicht bekam einen herrischen Ausdruck. »Dir auch nicht. Das ist Tinis Kasten.«

Marga ging in die Knie, auf Augenhöhe mit dem Kind. »Bodo, mein Süßer, wer, in Gottes Namen, ist Tini?«

»Die wohnt bei Oma.«

»Bei Oma? Nein, bei deiner Oma wohnt keine Tini.«

»Doch«, beharrte der Kleine, »jetzt nicht mehr, aber früher.«

»Wann denn, Schatz?«

»Weiß nicht. Früher.« Bodos kleine Finger tippten wieder gegen die sichernde Glasscheibe. »Tinis Kasten. Da ist ein Schatz drin mit grünen Herzen. Ich will ihn sehen«, sagte er, wobei der Kleine das »Ich« ganz besonders betonte. Erschreckend altkluge Augen schauten Marga und den Mann so direkt an, dass es dem alten Herrn unangenehm den Rücken herunterrieselte. Der sonst dumpfe Ausdruck des Kindes war für einen Moment verschwunden. »Grüne Herzen – ich weiß das!«

Bodo tippte noch einmal gegen die Scheibe, verlor dann aber genauso schnell das Interesse, wie er Notiz davon genommen hatte, und wandte sich ab. Er ging zur Pumpe zurück und versuchte, die ihm daran gezeigten Bewegungen selbst in die Tat umzusetzen. Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. Das Schmuckkästchen hatte er vergessen.

Nicht aber der alte Mann. Der rang nach dieser seltsamen Demonstration innerlich um Fassung.

Am Eingang des Museums schellte das Türglöckchen.

»Kundschaft«, sagte Marga. »Ich kümmere mich darum.« Sie griff nach der Hand des Jungen und zog ihn hinter sich her. »Bodo, möchtest du etwas malen? Ich habe auch Kekse.«

Der Mann schaute den beiden nach und wartete, bis sie im Kassenraum verschwunden waren. Er griff nach einem Schlüssel an seinem Gürtel und öffnete die Vitrine. Dann nahm er das handgeschnitzte Kästchen mit leicht zittrigen Händen heraus und öffnete es.

Auf verblichenem rotem Samt lag ein Paar goldene Ohrringe. An jedem baumelte ein winziges grünes Smaragdherz. Er traute seinen Augen kaum. Der Junge hatte recht gehabt. Er hielt die Luft an und nahm die beiden Schmuckstücke vorsichtig heraus. Dann hob er den Samt an und entnahm dem Kästchen einen Zettel.

»Gestiftet von Familie Bakker.

Hermine Bakker geb. Jansen (1813–1899)

verheiratet mit Klaus (1807–1865)«

Mit einem beklemmenden Gefühl in der Herzgegend legte er Zettel, Samttuch und Ohrringe zurück ins Kästchen. Fast ehrfürchtig stellte er alles wieder an seinen Platz, verschloss die Vitrine und grübelte. Wen kannte er aus der Familie Bakker, der zu Hermines und Klaas’ Linie gehörte und heute noch lebte? Er eilte ins Büro, das gleichzeitig als Kassenraum diente. Der Raum war leer. Er hörte Margas Stimme aus der Walhalle. Bestimmt stand sie unter dem Walskelett und erzählte den Besuchern etwas über die Walfangzeit. Eilig nahm er den Telefonhörer ab und drehte die Wählscheibe.

»Wolfgang? Du, sag mal eben, deine Uroma, die hieß doch Hermine Bakker?«

»Ja, warum fragst du?«

»Ach, ich bin hier gerade im Museum …«, wich der Mann aus. »Recherchen, du weißt schon. Du, Wolfgang, die ist doch ganz alt geworden, die hast du als Kind doch noch gekannt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Hatte deine Uroma einen Spitznamen?«

»Natürlich, wie die meisten Insulaner.«

Das hatte er sich schon gedacht. Der alte Mann nickte zufrieden, auch wenn sein Telefonpartner es nicht sehen konnte. »Und wie hat man sie genannt?«

»Tini. So haben wir sie immer gerufen. Aber warum willst du das alles wissen?«

»Ach, nicht so wichtig«, log er. »Marga ist gerade mit dem kleinen Bodo hier. Mit dem Jungen bist du doch auch verwandt, oder?«

»Soweit ich weiß, ja. Aber sehr entfernt.«

Gedankenverloren und ohne sich zu bedanken oder zu verabschieden, legte der Mann den Hörer auf die Gabel. Jetzt erst entdeckte er an dem kleinen Tisch in der Ecke den Jungen, der an einem Bild malte. Marga hatte ihn allein im Büro zurückgelassen.

Seit elf Jahren war er nun schon ehrenamtlich im Museum beschäftigt, und soweit er wusste, war in dieser Zeit noch nie etwas aus der Vitrine herausgenommen worden. Was, um alles in der Welt, hatte ihn vorhin veranlasst nachzusehen, was drin lag? Der Gesichtsausdruck des Kindes, der ihm einen Schauer über den Rücken gejagt hatte, oder seine Neugierde?

Wie hatte Bodo das nur wissen können? War der Junge ein Spökenkieker? Wenn es so war, bedeutete es, dass er selbst die Gabe hatte, einen solchen zu erkennen.

Ihn schauderte.

1980

Die zerbrechliche alte Dame im schwarzen Rock und der Bluse mit schneeweißen Spitzenrüschen saß meistens in einem ebenso zerbrechlichen Korbsessel mit völlig überflüssigen Schondeckchen auf den Armlehnen. Sie wirkte, als habe sie noch zehn Jahre Zeit, ehe sie ihren fünfundachtzigsten Geburtstag feierte, doch der war bereits letzte Woche gewesen.

Wenn Temperatur und Wetterlage es zuließen, saß sie neben ihrer Haustür auf einer gemütlichen Gartenbank und betrachtete ihre Nachbarschaft, die Straße und alles Übrige. Ihr entging nichts, was in ihrer unmittelbaren Umgebung geschah. Doch jetzt im Winter war es zu kalt, um draußen zu sitzen, also verbrachte sie ihre Tage im Sessel hinter der Gardine. Jeden Tag, nur heute nicht, da hatte sie etwas Wichtigeres zu tun. Sie hatte geglaubt, damit noch ein wenig Zeit zu haben, doch eine innere Unruhe trieb sie vom Fenster weg an den Stubenschrank.

Sie wollte unbedingt im Familientagebuch lesen, obgleich sie es in- und auswendig kannte.

Diesen ganzen Schmus, der am Anfang des Buches stand und der erklärte, warum alles so kommen musste, mochte sie nicht so besonders. Sentimentaler Kram, mit dem sie wenig anfangen konnte. Sie liebte mehr das Deftige, den eigentlichen Tathergang. Die Beschreibungen, wie die Menschen zu Tode gekommen waren, begeisterten sie immer wieder aufs Neue, obwohl die meisten Tagebucheintragungen für ihren Geschmack viel zu kurz gehalten waren. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie etwas detaillierter notiert worden wären.

Sie nahm das Buch, schlurfte zu einem Sessel neben dem Bücherregal und überblätterte die sentimentalen Seiten, bis sie den Eintrag von 1940 erreicht hatte. Ab hier wurde es für sie interessant. Ehe sie zu lesen anfing, zog sie an der Strippe ihrer Leselampe, die hinter dem Sessel stand, und rückte ihre Brille zurecht.

Seit über einem Jahr haben wir Krieg. Das Klaasohmfest fällt dieses Jahr aus, aber das hindert mich nicht daran, meine Pflicht zu tun. Onkel Georg und seine Familie sind den Entbehrungen entflohen und zeitig genug nach Amerika ausgewandert – auf Umwegen erreichen uns ihre Pakete. Zuletzt schickte er mir Brechnuss, habe mich gewundert, warum er glaubt, wir könnten sie gebrauchen. Ob er etwas weiß? Habe für den fünften Dezember genau das richtige Opfer gefunden. Karl Ottmann. Geschieht ihm recht, was macht er auch Urlaub, wo er doch wie alle anderen an der Front zu stehen hat, um zu kämpfen.

Es folgte ein mit einem anderen Stift geschriebener Text.

Die Brechnuss aus Amerika hat ihn vergiftet. Ich denke, ich habe Karl Ottmann einen Gefallen getan. Immer noch besser, zu Hause zu erfrieren, als in der Fremde an einer Russenkugel zu verrecken.

Sie verzog den Mund. Schade, über die Anwendung von Brechwurz hätte sie gern mehr erfahren. Ein Hinweis, ob und wie sehr das Opfer sich hatte quälen müssen, wäre schon schön gewesen. Sie konnte nur vermuten, dass die Wirkung des Giftes bei Karl Ottmann erst eingesetzt hatte, als er bereits draußen herumlief.

Es folgte ihr eigener Bucheintrag aus dem Jahr 1958, in dem sie mit wenigen Worten schilderte, wie Erwin Fürst an einer Stichverletzung erst Tage später auf See verstorben war. Sein Todestag war der achte Dezember. Aber tot war tot. Über diesen beschaulichen Gedanken hinweg schlief sie ein. Als sie wieder aufwachte, dämmerte es schon.

Die greise Dame schlug zufrieden das uralte, handgeschriebene, in Leder gebundene Buch zu. Sie legte es auf das niedrige Tischchen zu ihrer Linken und lächelte selig. Die innere Unruhe, die sie dazu getrieben hatte, das Buch aus dem Stubenschrank zu holen, war jetzt verflogen. Doch nicht lange, und sie würde zurückkehren. Warum nur hatte sie die Weitergabe des Buches und der Tradition so sehr hinausgezögert? Sie gab sich gleich darauf selbst die Antwort: Weil sie hoffte, noch einmal selbst am fünften Dezember zuschlagen zu können. Sie hatte ihren Gesundheitszustand überschätzt, das wurde ihr jetzt bewusst. Im Geheimen hatte sie es schon länger gewusst, es sich aber nie eingestanden. Heute war das anders; der Sensenmann stand vor ihrer eigenen Tür.

Sie hätte sich früher um einen Nachfolger kümmern sollen, einen, der das Familienerbe fortführen würde. Sie hatte zu lange gewartet. Da sie keine eigenen Kinder hatte, wollte sie wenigstens jemanden nehmen, der zur Sippe gehörte. Die Auswahl war groß. Ihre Geschwister, Cousins und Cousinen hatten schon dafür gesorgt. Aber sie brauchte jemand Bestimmten. Einen, der so tickte wie sie und der in der Lage war, das zu erledigen, was erledigt werden musste. Wie schon Generationen vor ihr. Die komplette Geschichte lag hier vor ihr auf dem Tisch, fein säuberlich niedergeschrieben in diesem Buch.

Ihre erste Wahl wäre ihr Bruder Paul gewesen, doch der war auch schon alt. Ihr Neffe Johann erfüllte alle Kriterien, lebte aber in der Schweiz. Gertrud war von allen am besten geeignet.

Sie hatte ihre Wahl getroffen. »Es gibt keinen Zweifel, die Legende wird weiterexistieren«, murmelte sie zufrieden, nahm einen Stift und machte ihren Eintrag ins Buch. »Werde Gertrud Kunkel zu meiner Nachfolgerin ernennen.« Sie klappte es zu und erhob sich mühsam aus ihrem Sessel. Dann ging sie in die Küche und setzte Wasser im Kessel auf. Als es kochte, goss sie sich eine Tasse Tee auf. Sie wartete drei Minuten, bis er kräftig genug war. Das Kluntje knisterte leise in der Tasse, als die heiße Flüssigkeit es zerbrach. Sie setzte sich an den Küchentisch, schlürfte genüsslich, erhob sich und ging zurück in die Wohnstube.

Oje. Sie hätte nicht so schnell aufstehen sollen, ihr Kreislauf spielte verrückt.

Die alte Dame taumelte zum großen Fenster, klammerte sich an der schweren Gardine fest und hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht daran, sodass der Stoff aus den Gardinenhaken riss. Sie verlor jeden Halt und stürzte rückwärts auf den Boden. Der Leinenstoff wölbte sich, als er sie unter sich begrub.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fuhr ein junger Mann auf seinem Fahrrad vorbei und warf einen Blick in das dunkle, gardinenlose Fenster. Irgendwo in der Ferne ertönte ein Nebelhorn.

Die alte Dame röchelte und rang nach Atem. Wenigstens bist du noch am Leben, dachte sie. So zügig, wie es ihre alten Glieder zuließen, kroch sie unter dem Stoff hervor.

Sie begriff, wie verfahren ihre Situation war, und schloss verzweifelt die Augen. In ihrem Kopf tobte ein Wirbelsturm aus Angst und Reue. Nicht die Angst vor dem bevorstehenden Tod; den Teufel scheute sie nicht. Sie hatte Angst, das Buch nicht mehr rechtzeitig an Gertrud weitergeben zu können. Sie hatte Angst, die falsche Person würde sie finden und die Tradition beenden.

Reue empfand sie, weil sie nicht rechtzeitig daran gedacht hatte, ihre Großnichte Gertrud in das Geheimnis einzuweihen.

Während sie versuchte, sich aufzuraffen, dachte sie an das, was sie ihrer Großnichte, der zukünftigen Hüterin des Familiengeheimnisses, alles anvertrauen und erklären musste.

Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Sie erinnerte sich noch lebhaft an den Tag, an dem sie das Buch erhalten hatte, um die Tradition fortzuführen. Sie hatte sich von Anfang an auf ihren großen Tag gefreut, niemals Entsetzen verspürt. Sie war eben schon immer ein böser Mensch gewesen.

Ihr letzter Blick galt dem Buch. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie musste ihrer Großnichte eine Mitteilung zukommen lassen. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte, wollte das Telefon im Flur erreichen und Gertruds Nummer wählen.

Sie schaffte es nicht.

EINS

Nur noch wenige Tage, dann würde er groß durchstarten. Klaasohmabend würde der Anfang seiner Erfolgsserie werden. Markus konnte es kaum erwarten, endlich eine Teufelsgeige zu tragen. Es würde sich voll cool anfühlen. Er lächelte seinem Spiegelbild über dem Waschbecken zu und überlegte, ob es nötig war, sich zu rasieren. Er hob das Kinn und beugte sich leicht vor.

Shit, war das ein Pickel? Den konnte er überhaupt nicht gebrauchen, er musste voll hip aussehen. Pickel ging gar nicht.

Er kniff die Augen zusammen und atmete erleichtert auf. Kein Pickel, und die Rasur von vor vier Tagen war noch vollkommen ausreichend. Unmusikalisch pfiff er vor sich hin.

»So vergnügt heute Morgen?«, fragte seine Mutter, als sie ihm das Frühstück vorsetzte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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