Fiese Friesen - Inselmorde zwischen Watt und Düne - Ocke Aukes - E-Book

Fiese Friesen - Inselmorde zwischen Watt und Düne E-Book

Ocke Aukes

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Beschreibung

Die Ostfriesischen Inseln! Sind sie nicht ein Urlaubsidyll hoch sieben? Aber Vorsicht! Unter den Friesen gibt es mehr als einen fiesen. Für jeden, der hier mörderische Absichten hegt, bietet die herrliche Landschaft vielfältige Möglichkeiten. Allein das Watt mit seinen unendlichen Weiten, dem unberechenbaren Seenebel und den bedrohlichen Gezeiten! Und im Sand von Düne und Strand sind die Spuren jedes Verbrechens schnell verwischt …

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Seitenzahl: 280

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Peter Gerdes (Hrsg.)

Fiese Friesen – Inselmorde zwischen Watt und Düne

Kurzkrimis

Zum Buch

Düne, Watt und Mord Über die Ostfriesen kursieren eine Menge Klischees. Vor allem über die ostfriesischen Insulaner. Wortkarg seien sie, spröde im Umgang, distanziert und nachtragend. Aber fies? Nein, das denn doch nicht! Weit gefehlt. Denn wenn man sie reizt, können auch Ostfriesen fies werden. Richtig fies. Und sie wissen die Möglichkeiten ihrer herrlichen Landschaft für allerlei Gemeinheiten zu nutzen. Allein das Watt mit seinen unendlichen Weiten, dem unberechenbaren Seenebel und den bedrohlichen Gezeiten! Oder die wandernden Dünen, deren Sand jedes Verbrechen samt Opfer verdeckt, aber auch im unpassenden Moment verräterisch wieder enthüllt. Nicht zu vergessen der Strand und die See, der „Blanke Hans“ mit seinen mörderischen Wogen, ein gewalttätiger Komplize, der jederzeit die Seiten wechseln kann. Morden im Norden ist eine hohe Kunst – und bietet Stoff für die schönsten Krimis. Überzeugen Sie sich selbst!

Peter Gerdes, geboren 1955 in Emden, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. 1999 übernahm er die Leitung des Festivals „Ostfriesische Krimitage“ und wurde 2018 CRIMINALE-Beauftragter des SYNDIKATS. Die Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden jeweils für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Mehr Infos unter: www.mordwesten.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Willowpix / istockphoto 

und natros / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7082-0

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Borkumer Bodensatz

Peter Gerdes

Schmidt muss weg

Ocke Aukes

Dein Karma findet dich … auch auf Juist!

Tatjana Kruse

Die Letzten

Christina Bacher

Norderneyer Trost

Andreas Scheepker

Loreley auf Morderney

Herbert Knorr

Sand zu Sand

Sandra Lüpkes

Willy’s Utkiek

Ulrike Barow

Der Frauenversteher

Klaus-Peter Wolf

Eine von uns beiden

Christiane Franke

Ostern auf Spiekeroog

Jürgen Ehlers

Wie zu Hause, nur anders

Christine Bonvin

Revival auf Wangerooge

Regine Kölpin

Der Schatz von Wangerooge

Ulrich Hefner

Kurzbiografien

Borkumer Bodensatz

Peter Gerdes

Es quietschte zwischen seinen Zähnen. Er schaute in seinen Kaffeebecher und verzog angewidert den Mund. Bodensatz! Da hatte jemand beim Füllen des Filters geschlampt. Grund genug, dem Schuldigen eine deftige Abreibung zu verpassen, fand Iko Freese. Blöd nur, dass er momentan allein lebte.

Er schlurfte in die Küche, spülte den Becher aus und füllte Kaffee nach. Dann widmete er sich dem Immobilienteil der Samstagszeitung. Mit geübtem Blick scannte er die schmalen Spalten. Immer auf der Suche nach Bodensatz. Rein geschäftlich hatte er nichts gegen Bodensatz. Im Gegenteil, er lebte sehr gut davon.

Ah, da war eine seiner eigenen Anzeigen. »Renditeobjekt im nördlichen Emsland, nahe Großwerft, gute Verkehrsanbindung.« Dazu die Höhe der Mieteinnahmen. Iko Freese grinste. Ja, das waren Zahlen! Dagegen wirkte der happige Kaufpreis wie ein Schnäppchen. Dabei war dieses Objekt nichts als ein größeres Einfamilienhaus, eingeklemmt zwischen Bahnlinie und Bundesstraße und ziemlich heruntergekommen. Aber wenn man jeden einzelnen Raum doppelt und dreifach an Leiharbeiter vermietete, die als halblegale Lohnsklaven auf der nahen Werft schufteten und Schiffsmonster zusammenschweißten, kam einiges an Miete zusammen. Man durfte nur keine Skrupel haben, auch für Kellerräume Wucherpreise zu verlangen! Es gab Leute, die hatten keine Wahl, die mussten alles nehmen. Bodensatz der Gesellschaft! Iko Freese pulte zwischen seinen Zähnen nach Kaffeekrümeln.

Was natürlich nicht in der Anzeige stand: Die Großwerft hatte große Probleme, weil sie aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Vielmehr auf den falschen Schiffstyp. Riesenpötte im Binnenland zu bauen hatte lange für Aufmerksamkeit gesorgt und Touristen angelockt; die Ems, dieser viel zu kleine Fluss, der die Werft mit der Nordsee verband, war viele Jahre lang gnadenlos vertieft worden, ganz egal, wie stark die Strömung dabei zunahm und was für Schlickmassen dadurch in sämtliche Häfen und ins Wattenmeer gespült wurden. Wo früher Menschen über Sandboden gelaufen und baden gegangen waren, erstreckte sich eine zähe Schicht aus klebrigem Sediment. Bodensatz. Iko Freese war das egal, er ging sowieso nicht gerne baden.

Aber der Markt für Riesenpötte war inzwischen zusammengebrochen, die Werft warf ihre Arbeiter auf die Straße, und die gammeligen Häuser, die man jahrelang für horrende Summen hatte vermieten können, waren plötzlich nicht mehr profitabel. Etliche Miethaie trennten sich von solchen Gebäuden. Dass die im Verkauf nicht viel einbrachten, störte sie nicht, hatten sich diese Häuser doch durch Wuchermieten längst amortisiert. Iko Freese kaufte billig ein – und verkaufte teuer. Natürlich an auswärtige Interessenten. Potenzielle Käufer aus der Region wussten, was Sache war, und ließen die Finger davon. Unbedarften Kunden jedoch konnte man mit Hilfe ehemaliger Einnahmen enorme Renditen vorgaukeln. Und ihnen den Schrott zu überzogenen Preisen andrehen. Ja, dachte Iko Freese, auch bei Kunden gab es einen Bodensatz. Zu seinem Glück.

Neulich hatte er einer Kundin gleich zwei dieser Schrottimmobilien angedreht. Als er daran dachte, prustete er einen Schluck Kaffee zurück in den Becher. Was für ein Opfer! Hatte ihm freimütig erzählt, dass ihre Eltern vor einiger Zeit gestorben seien und sie ihr Erbteil ausgezahlt bekommen habe, das sie gewinnbringend anlegen wolle. »So als Absicherung, auf der Bank bekommt man ja heute keine Zinsen mehr.« Sparbuch oder Mietshäuser, das war alles, was die kannte, hatte Iko Freese geschlussfolgert. Mitte 50 und schon so weltfremd. Fette Beute! Für die war der unterste Bodensatz gerade gut genug. Zwei Bruchbuden in Papenburg, eine davon eine bessere Brandruine, flüchtig übertüncht, die andere auf schwer belastetem Erdreich, geschätzte Entsorgungskosten deutlich über dem Kaufpreis. Die hohe Maklerkunst bestand darin, diese Informationen nicht zu verschweigen, sondern zu relativieren. Wie so oft hatte die Nähe zur Werft gezogen. Lage war eben alles!

Eifrig hatte die Frau nach dem Köder geschnappt. Ihre Danksagungen nach Vertragsabschluss waren ihm beinahe peinlich gewesen. Beinahe. Nach ihrem ersten verzweifelten Anruf hatte er schnell ihre Telefonnummer blockiert. Wie hieß dieses Opfer noch? Iko Freese rieb sich die Stirn. Er war doch sonst so gut mit Namen! Ach ja, Anke Breuer, Hebamme. Dort stand er ja. In der Zeitung, gleich links oben auf der Seite, die er gerade aufgeschlagen hatte. Was für ein Zufall, wie konnte das sein?

Ach so. Todesanzeigen. Sie war also inzwischen gestorben. Von ihr brauchte er wohl keine weiteren Anrufe zu befürchten.

Die Sonne kitzelte ihn hinterm Ohr, was ihn daran erinnerte, dass er noch zu arbeiten hatte. »Im Juli der Doofmann sein Häuschen verkauft!« Natürlich war nicht jeder Verkäufer doof und auch nicht jeder Käufer. Die Klugen aber mied Iko Freese. Er suchte nicht ganz oben und ebenso wenig in der Mitte, sondern unten. Ganz unten. Im Bodensatz.

Er blätterte den Anzeigenteil ein weiteres Mal durch, durchforschte ihn nach Neuem wie nach Ladenhütern. Beides konnte interessant für ihn sein. Da, Geschäftshaus in der Leeraner Altstadt, wie wäre es damit? Ach nein, die Adresse kannte er, tolles Objekt, prominent an einer T-Kreuzung gelegen, viel zu attraktiv, das war nichts für ihn. Eher schon das hier: Vier-Parteien-Mietshaus in Leer-Heisfelde, sichere Mieteinnahmen. Na klar, vom Amt! Aber darauf fuhren auch andere Interessenten ab, außerdem war der Preis noch zu hoch. Mit etwas Geduld würde der sinken bis runter in den Bodensatz. Das wäre der Moment, in dem er zuschnappen musste, nicht zu früh und nicht zu spät, das war der Trick.

Unvermittelt überlief es ihn heiß. Was war das denn? »Borkum – Nordseeinsel mit Hochseeklima! Appartementhaus mit vier Ferienwohnungen, Balkone und Terrassen, Grillplatz …« Dann die Preisvorstellung. Iko Freese schnappte nach Luft. Fehlte da eine Null? Der Preis war unfassbar günstig! Was war mit diesem Haus? Schimmel, Holzwurm, abgesacktes Fundament? Bestimmt war eine umfassende Sanierung nötig. Doch selbst wenn, war dieses Objekt dennoch ein Schnäppchen! Augenblicklich musste er dort anrufen. Falls er durchkam, denn bestimmt versuchten in diesem Moment Hunderte Interessierte, den Anschluss zu erreichen. Wenn nicht mehr. Wo stand die Telefonnummer?

Da stand keine. Nur eine E-Mail-Adresse: »Schreiben Sie uns, wir rufen zurück.« Iko Freese lachte höhnisch auf. Darauf konnte er lange warten! Bei diesem Preis wurde der Anbieter sicher komplett zugespamt, dieser … Wie war der Name? Bodenstab, na so was! Auf Borkum hießen doch eigentlich alle Akkermann.

Noch vor dem Duschen schrieb Iko Freese eine kurze Mail, in der er sein Interesse bekundete. Ohne Enthusiasmus und nur aus Prinzip, denn mit einem Rückruf rechnete er nicht. Daher war er ziemlich überrascht, als sein Handy klingelte, ehe er das Bad erreicht hatte. »Herr Freese? Danke für Ihre Mail. Bodenstab hier. Sie interessieren sich für das Haus?«

»Ja, äh … moin. Durchaus«, stotterte Iko Freese. »Es ist also noch verfügbar?« Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Nie die eigene Position schwächen! So trieb man bloß den Preis hoch, und das war das Letzte, was er wollte.

»Noch ja.« Dieser Bodenstab klang freundlich, aber bestimmt. »Es liegen eine ganze Reihe konkreter Angebote vor. Können Sie sich bestimmt vorstellen. Mir ist an einem schnellen Verkauf gelegen. Der Kaufpreis ist nicht verhandelbar. Besichtigung nur heute. Wie sieht es aus?«

»Selbstverständlich. Gerne.« Im Flurspiegel musterte Iko Freese seinen Bademantel und seine verstrubbelten Haare. »Ich müsste natürlich erst einmal schauen, wann die nächste Fähre …«

»Werfen Sie einen Blick in Ihre Mailbox«, unterbrach ihn Bodenstab. »Den Fahrplan der AG Ems habe ich Ihnen gerade geschickt. Wenn Sie den Katamaran nehmen, können Sie mittags hier sein. Wie wäre es um 12 Uhr vor dem Hotel Vier Jahreszeiten?«

Iko Freese konnte sein Glück kaum fassen. So hinfällig konnte dieses Borkumer Haus gar nicht sein, dass er sich daran nicht dumm und dämlich verdienen würde! Was der Herr Bodenstab offenkundig bereits war, sonst würde er solch ein Goldstück nicht verschleudern. Aber bitte schön, wenn einer unbedingt in sein Unglück rennen wollte – er würde ihn nicht daran hindern! Iko Freese sagte zu. Nachdem er den zugemailten Fahrplan kurz überflogen hatte, beeilte er sich, endlich unter die Dusche zu kommen.

Die Fahrt mit der Katamaranfähre erinnerte ihn an einen Pauschalflug nach Mallorca. Die »Nordlicht«war proppenvoll, die Gepäckablagen waren überfüllt, das Platzangebot in den Sitzreihen war begrenzt. Ein Samstag in der Hauptsaison, dachte Iko Freese, was konnte man anderes erwarten? Wenigstens musste man sich nicht anschnallen.

Die Fahrtzeit betrug nur eine gute Stunde; mit einer herkömmlichen Fähre wie der »Ostfriesland« hätte es mehr als doppelt so lange gedauert. Dafür hätte man sich an Oberdeck in der Sonne aufhalten und den Ausblick und die frische Luft genießen können, statt nur durchs Seitenfenster auf das schlickgraue Emswasser zu gucken, das der Katamaran mit seinen weit über 5.000 Pferdestärken zum Schäumen brachte. 70 Kilometer pro Stunde waren für ein Wasserfahrzeug sehr beachtlich. Iko Freese war das trotzdem zu langsam. Er konnte es kaum erwarten, seinen Deal unter Dach und Fach zu bringen. Aber als er nach dem Anlegen ungeduldig aufsprang, steckte er in einer Schlange fest, die kaum von der Stelle kam, weil sich das Kofferabteil direkt vor dem Ausgang befand und von den Urlaubern anscheinend keiner mehr wusste, wo er sein Gepäck verstaut hatte. Als Iko Freese endlich auf der Gangway stand, war er sich sicher, dass eine Überfahrt mit der normalen Fähre alles in allem auch nicht mehr Zeit in Anspruch genommen hätte. Wenigstens wartete die Inselbahn, bis alle eingestiegen waren. Diejenigen, die beim Kofferempfang am wildesten gedrängelt hatten, warteten mit.

Das Inselbahnfahren kannte Iko Freese von Langeoog; auf Borkum kam ihm die Tour deutlich länger vor. Dreimal so lang, schätzte er, als der Schmalspurzug endlich den Zielbahnhof erreicht hatte. Das Hotel Vier Jahreszeiten lag direkt am Bahnsteig. Iko Freese stellte sich neben den Haupteingang und wartete. Endlich wurde er angesprochen. »Herr Freese? Mein Name ist Bodenstab. Willkommen auf Borkum.«

Der Mann war unscheinbar, fand Iko Freese. Auffallend unscheinbar. Um die 50 Jahre, Größe unterdurchschnittlich, Haare dünn und angeklatscht, altmodische Goldrandbrille, schmale Schultern, Bäuchlein, gestreiftes Hemd, Steppweste und Cordhosen. Der absolute Spießer. Genau der Bodensatz, den Iko Freese suchte. Solche Typen rissen sich darum, Opfer zu sein. Den Gefallen tat er ihnen gerne.

Bodenstab kam ohne Umschweife zur Sache. Keine zehn Minuten brauchten sie vom Bahnhof bis zum Kaufobjekt. Nichts Sensationelles, dachte Iko Freese, solide Mittelklasse, absolut marktgängig. Kein Seeblick, dafür zentrumsnah. Wo war der Haken? Die Begehung des Gebäudes förderte keinen zutage. Da gerade Bettenwechsel war, konnten sie in alle Wohnungen hinein. Guter Standard, Möblierung annehmbar, Bäder fast neuwertig, registrierte Iko Freese. Überall wurde geputzt, aha, Fremdfirma. Bodenstab war gut organisiert. Warum wollte er solch eine Milchkuh schlachten?

»Ich will runter von der Insel.« Beiläufig beantwortete Bodenstab die ungestellte Frage. »Eigentlich war ich längst weg, dann sind meine Eltern kurz nacheinander gestorben und haben uns das Haus vererbt, da kam ich zurück. Meine Schwester wollte verkaufen, aber das brachte ich nicht über mich. Also habe ich sie ausgezahlt.« Er seufzte. »Mit einem Bankkredit. Damals waren die Zinsen höher. Trotzdem habe ich langfristig abgeschlossen, weil ich dachte, sie würden steigen.« Er lachte bitter. »Jetzt fressen die Zinsen mich auf. Ich dachte, das Haus würde mich ernähren statt umgekehrt.«

Iko Freese nickte mitfühlend. Verlogene Gesten wie diese waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Dieser Typ hatte schlicht gar keine Ahnung von Geld! Ebenso wenig wie von Immobilien. Ob er wohl grundsätzlich alles zum falschen Zeitpunkt tat?

»Wie sieht es aus?«, fragte Bodenstab geradeheraus. »Wollen Sie das Haus haben? Es gibt eine lange Liste von Interessenten, das können Sie sich bestimmt vorstellen bei dem günstigen Preis. War Absicht. Ich wollte nicht, dass irgendein Potti sich das Ding schnappt. Oder, noch schlimmer, so ein anonymer Investor mit ausländischem Geld. Sie sind Ostfriese, Ihnen verkaufe ich es gern. Allerdings müssen Sie sich sofort entscheiden.« Er streckte ihm die Hand entgegen. »Wie sieht’s aus?«

Iko Freese griff zu. War das zu fassen? Solch ein Superschnäppchen, weil der Verkäufer inselmüde und latent rassistisch war und von Geld keinen Schimmer hatte! Das waren die Geschichten, die er später einmal seinen Enkeln erzählen würde, auf der Terrasse seines Schlösschens mit Blick aufs Mittelmeer. Nichts davon besaß er momentan, weder Schlösschen noch Enkel oder Kinder, geschweige denn eine Frau. Aber bei so viel Glück war das nur eine Frage der Zeit.

Sie besprachen ein paar letzte Details – Zahlungsziel, Inventarübernahme, angepeilter Notartermin. Iko Freese spulte seine Routinen ab, nach außen ganz Profi, dabei hätte er am liebsten getanzt. Endlich! Endlich spielte er mit in der ersten Liga. Und das, ohne von seinen Prinzipien abzuweichen! Im Bodensatz lag das Gold. Hier hatte sich das mal wieder bewahrheitet.

»Kennen Sie Borkum eigentlich?« Bodenstab schien in aufgeräumter Stimmung zu sein. Dabei war nichts unterschrieben – aber ein Handschlag galt etwas unter Ostfriesen. Trotzdem wollte Iko Freese es vermeiden, sein Opfer zu verprellen. »Bestimmt nicht so gut wie Sie«, schmeichelte er. »Als Tourist kratzt man ja kaum an der Oberfläche.«

»Da haben Sie recht.« Bodenstab nickte. »Ich führe Sie gerne ein bisschen herum. Kommen Sie.«

Iko Freese war Sylt-Fan, für andere Inseln hatte er nur Verachtung übrig, außer es ging ums Geschäft. Solange sie durch den Ort liefen, fühlte er sich bestätigt. Alles sehr städtisch und in die Jahre gekommen, die zahlreichen Touristen wirkten ernüchternd normal. Wo waren die Reetdachhäuser, wo war der Glanz, wo war die Kirsche auf der Sahne?

Erst an der Strandpromenade fiel der Groschen. Was für eine Fläche, was für eine Weite! Dieser Sand, das sanft gekräuselte Wasser, dieser unglaubliche Himmel! Selbst die Massen von Badegästen trübten den Eindruck nicht. Sie verliefen sich einfach in diesem Überfluss an Landschaft, und das so nah am Zentrum. Wie großartig mussten erst die entfernteren Abschnitte sein! Diese Insel, entschied Iko Freese, hatte Potenzial. Hier gab es noch manchen Schatz zu heben.

Gegen Ende ihres Rundgangs steuerte er den Bahnhof an, aber Bodenstab hielt ihn zurück: »Ich bringe Sie mit dem Wagen zur Fähre. Borkum ist ja keine autofreie Insel.« Diesen Service ließ Iko Freese sich gefallen, auch wenn sich der Wagen als Kombi der unteren Mittelklasse entpuppte, alt und mit vollgerümpeltem Laderaum. Im Inneren roch es feucht und fischig. Iko Freese musste sich beherrschen, um nicht voller Abscheu das Gesicht zu verziehen. Schön gute Miene machen, ermahnte er sich. Noch liegt der Goldfisch nicht in der Pfanne.

Die Straße, die vom Ort fast schnurgerade zum Hafen führte, hieß Reedestraße. An ihr reihte sich ein Ferienhaus ans andere; Iko Freese wurde der Mund wässrig angesichts zahlreicher in die Jahre gekommener Objekte. Trotz der Bebauung offenbarte sich auch hier die großartige Insellandschaft. Er selbst konnte solchen Panoramen nicht viel abgewinnen, doch wusste er, dass andere Menschen bereit waren, sich diese Anblicke einiges kosten zu lassen.

»Schauen Sie, wir haben Niedrigwasser!« Bodenstab zeigte auf die grau-silberne Fläche, die auf der Fahrerseite in der Sonne glitzerte. Anscheinend passierten sie gerade eine Landenge, denn auch auf der anderen Seite waren Strand, Schlick und Wasser zu erkennen. »Guter Zeitpunkt für einen kleinen Wattspaziergang! Waren Sie schon mal im Watt?«

Iko Freese schüttelte den Kopf. Allein die Fernsehbilder von schlammbespritzten Menschen, die durch Schlickpfützen tapsten und nach Wattwürmern buddelten, waren ihm ein Gräuel.

»Noch nie? Das müssen Sie unbedingt nachholen!« Bodenstab brachte seinen Wagen unweit einer Bushaltestelle zum Stehen. »Ist ein unvergessliches Erlebnis. Da Sie demnächst praktisch Borkumer sein werden, wäre solch eine Bildungslücke unverzeihlich. Gehen wir ein paar Schritte hinaus!«

Iko Freese zögerte. Warum sollte er durch den Matsch waten? Das überließ er gerne den Leuten, die in seinem Haus Miete zahlten. Demnächst. Aber er wusste natürlich, dass das nicht die Antwort war, die Bodenstab von ihm erwartete. Und noch durfte er ihn nicht verärgern. Also unterdrückte er einen Seufzer und stieg aus.

Bodenstab hatte bereits Schuhe und Socken ausgezogen und krempelte seine Hosenbeine hoch. Widerstrebend tat Iko Freese es ihm gleich. Zum Glück trug er eine leichte Sommerhose, die sich gut hochkrempeln ließ. Der Boden war angenehm sandig und fühlte sich gut an unter seinen Fußsohlen. Aber der Gedanke, dass gleich halbflüssiger Modder zwischen seinen Zehen hindurchquellen würde, verursachte ihm eine Gänsehaut.

Daher war er erleichtert, als Bodenstab die Heckklappe öffnete und zwei Paar Gummistiefel herausholte. »Es gibt da draußen Muschelbänke, die man barfuß nicht betreten sollte«, erklärte er. »Außerdem züchten die Niederländer Pazifische Felsenaustern, die haben sich mit der Tidenströmung über die ganze Küste verbreitet und vermehren sich dank des Klimawandels prächtig. Wenn man in solch ein Ding hineintritt, kann man sich schwer verletzen. Da sind wir lieber vorsichtig.« Er zog seine Stiefel an und reichte Iko Freese das andere Paar. »Hoffentlich passen sie Ihnen. Die haben meinem Vater gehört.«

Iko Freese unterdrückte seinen Ekel, zog seine Socken wieder an und schlüpfte hinein. »Etwas zu weit«, stellte er fest.

»Besser als zu eng«, sagte Bodenstab. »Kommen Sie, am Spülsaum hat sich gerade eine Gruppe versammelt! Da ist ein Wattführer dabei. An denen können wir uns orientieren. So gehen wir kein Risiko ein.«

»Risiko?« Iko Freese blieb stehen. »Ist es gefährlich, ins Watt zu gehen? Können wir etwa einsinken oder ertrinken?«

»Unsinn.« Bodenstab winkte ungeduldig. »Wenn wir ein bisschen aufpassen, ist überhaupt nichts dabei.« Er lachte. »Ich werde doch nicht zulassen, dass Ihnen etwas zustößt! Jedenfalls nicht, ehe der Kaufvertrag besiegelt ist.«

Iko Freese lachte mit und marschierte weiter. Alles für den Vertrag, dachte er.

Die Wandergruppe hatte sich auf einer Salzwiese um ihren Wattführer versammelt, einen wahren Hünen, der ein Akkordeon auf seinen breiten Rücken geschnallt hatte. Wattwanderung mit Musik? So was gab es selbst auf Sylt nicht, dachte Iko Freese. Ein echtes Alleinstellungsmerkmal! Borkum stieg abermals in seiner Achtung.

Auf Anweisung des Hünen bückten sich einige der Wattwanderer, rupften Gräser ab, steckten sie in den Mund und kauten gehorsam. Hoffentlich verlangte Bodenstab das nicht von ihm! Ein ostfriesischer Makler war doch keine Milchkuh. Zum Glück schien Bodenstab nicht daran zu denken. In einem kleinen Bogen strebte er an der Gruppe vorbei. Wenige Schritte weiter standen sie im eigentlichen Watt.

Natürlich fand Iko Freese die Seeseite mit ihren weiten Stränden und der donnernden Brandung attraktiver als die dem Land zugewandte Inselseite. Aber als er auf dieser geriffelten Sandfläche stand, umgeben vom grandiosesten Nichts, das er je erblickt hatte, war er beeindruckt. Das hier war der Meeresboden! Nun ja, in Teilzeit, aber immerhin. Und er lief darauf herum! Sofort kam er sich noch bedeutender vor als ohnehin schon. Ob man dieses Gelände wohl parzellieren und verkaufen konnte? Per Ruckzuck-Geschäft, wie er vorhin selbst eines getätigt hatte? Nur eben an unwissende Binnenländer. Kurz und gut zwischen Ebbe und Flut! Darüber musste er mal in Ruhe nachdenken.

Bodenstab schritt flott aus; Iko Freese musste sich sputen, um mit ihm Schritt zu halten. Auf dem festen Sandboden kamen sie gut voran. Die Wattwandergruppe hatten sie bereits weit hinter sich gelassen. Leise wehten ein paar Akkordeonklänge zu ihnen herüber, bald aber waren außer dem Geräusch ihrer Schritte nur noch Möwenschreie zu hören.

»Wussten Sie, dass viele Borkumer früher auf Walfang gefahren sind?«, fragte Bodenstab. »Fischerei und Landwirtschaft waren nicht sehr einträglich, also zogen viele Männer los und blieben das ganze Jahr über auf See. Erst im Spätherbst kehrten sie zurück, die meisten jedenfalls. Dann war mächtig was los.«

Iko Freese hörte nur mit einem Ohr zu. Er kämpfte um sein Gleichgewicht; der Boden war schlickiger geworden und damit sehr viel rutschiger. »Kann ich mir vorstellen«, antwortete er angestrengt. »Große Wiedersehensfreude, bestimmt wurde viel gefeiert.«

Bodenstab grinste. »Gefeiert? Oh ja, allerdings. Aber die Wiedersehensfreude, die war eher einseitig. Die Walfänger haben nämlich ihre Frauen eingenordet, weil die in der Zwischenzeit zu selbstständig geworden waren. Da setzte es Prügel! Diese Tradition wird immer noch gefeiert, jedes Jahr einen Tag vor Nikolaus. Leicht abgemildert natürlich, ritualisiert. Nennt sich Klaasohm.«

Iko Freese war das völlig egal. Gerade überquerten sie einen flachen Sandbuckel, der mit glitschigem Schlick überzogen war wie ein Kuchen mit Zuckerguss, und er hatte alle Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Als es wieder abwärts ging, wurde es noch mühsamer. »Wie weit denn noch?«, keuchte er.

»Nur ein paar Schritte«, beruhigte ihn Bodenstab. »Über den kleinen Priel da vorne. Und bis zum nächsten. Der ist sowieso zu tief, da ist Schluss.«

»Priel?« Iko Freese kannte nur das Spülmittel. Und die Klebeblumen natürlich.

»Priele sind kleine Flüsse«, erklärte Bodenstab. »Man sieht sie nur bei Niedrigwasser. In ihnen fließt das Wasser bei Flut ins Watt hinein und bei Ebbe wieder heraus. Sie mäandern viel und ändern häufig ihren Verlauf.«

Von Mäanderschleifen hatte Iko Freese gehört. So nannte man es, wenn Flüsse in Schlangenlinien strömten statt geradeaus. Aus irgendeinem Grund neigten solche Schleifen dazu, ständig größer und weiter zu werden. Natur war eben irgendwie sinnlos.

Muschelschalen knirschten unter ihren Sohlen, wenn sie über Sand liefen; und wenn sie ein Schlickfeld durchqueren mussten, quietschte und quatschte es bei jedem Schritt. »Der Schlick wird immer mehr«, beschwerte sich Bodenstab. »Das kommt von den Flussvertiefungen. Dadurch wird die Strömung in Ems, Weser und Elbe schneller und trägt immer mehr Sedimente ins Watt. Die lagern sich hier als Bodensatz ab. Nicht mehr lange und alle Kleinlebewesen werden darunter erstickt sein.«

Typisch Umweltschützer, dachte Iko Freese, ständig am Meckern! Die Schiffe wurden eben größer, das war der Lauf der Zeit. Was wollte man dagegen machen? Etwa Großwerften und Handelshäfen ans tiefere Wasser verlegen? Na, das wäre doch …

Sie durchquerten den kleinen Priel, von dem Bodenstab gesprochen hatte, und säuberten ihre verklebten Stiefel im klaren Wasser. Der nächste, wesentlich breitere Priel tauchte hinter einem weiteren Sandrücken auf. Seine Wasseroberfläche war deutlich gekräuselt; Wind war aufgekommen, und als Iko Freese sich zur Insel umdrehte, sah er, dass eine Wolkenbank den Himmel verdunkelte. Die Wandergruppe mit ihrem Wattführer war nirgendwo zu sehen. Ebenso wenig die ganze Insel Borkum.

»Erstaunlich, oder?« Bodenstab grinste. »Man denkt, das Watt wäre flach wie ein Pfannkuchen, aber aus der Nähe betrachtet ist das gar nicht so. Ein kleiner Buckel reicht und schon ist man außer Sicht.«

Iko Freese schlang die Arme um seinen Oberkörper. »Wir sollten mal so langsam umkehren«, sagte er. »Nicht dass wir die Orientierung verlieren.«

»Keine Sorge«, sagte Bodenstab. »Ich weiß genau, wo wir sind. Weiter als bis hierher wäre ich sowieso nicht gegangen. Schauen Sie, dieser Priel ist die Grenze.«

Tatsächlich hatte der Priel die Ausmaße eines kleineren Flusses. Direkt vor ihnen beschrieb er eine enge Kurve; an deren Außenseite waren deutlich Sandabbrüche zu erkennen. »Sieht aus wie ein kleines Steilufer!«, staunte Iko Freese.

»Das ist die Luvseite«, erläuterte Bodenstab. »Oder auch der Prallhang. So nennen wir die Außenseite einer Prielschleife. Dort rauscht die Strömung am stärksten entlang, viermal am Tag, zweimal bei Flut und zweimal bei Ebbe. Jedes Mal werden dort feine Sandkörnchen abgetragen. Die sammeln sich an der Leeseite an, zusammen mit dem anderen Bodensatz. Dort, wo Sie gerade stehen. Nennt sich Gleithang.«

»Faszinierend.« Das meinte Iko Freese beinahe ehrlich. Physik war etwas Handfestes, dafür hatte er sich schon immer interessiert. Er trat näher heran. Die Strömung war deutlich zu sehen; sie schien schnell stärker zu werden. Das Sandabtragen an der Luvseite war gut zu beobachten. Iko Freese zog sein Smartphone heraus, um Fotos zu machen. Leider war die Handykamera nicht die beste, bei starker Vergrößerung wurden die Bilder sehr körnig. Lieber ein paar Schritte näher heran, dachte er, das Wasser ist ja seicht, wozu habe ich Stiefel an. Dann konzentrierte er sich ganz auf sein Motiv.

»Igitt!« Unbemerkt war er ein Stückchen eingesunken. Kaltes Seewasser schwappte über die Schaftkanten seiner übergroßen Stiefel und, wie es sich anfühlte, auch ein wenig von dem ekligen Bodensatz. Schnell machte er ein paar Schritte zurück. Vielmehr hatte er das vor, doch er kam nicht von der Stelle. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren, rang mit wedelnden Händen um seine Balance. Das Smartphone rutschte ihm aus den Fingern und fiel Bodenstab vor die Füße. Erneut versuchte Iko Freese, seine Beine aus dem weichen Modder zu befreien, verlagerte sein Gewicht erst auf den einen, anschließend auf den anderen Fuß. Jedes Mal sank er ein paar Zentimeter tiefer ein. Seine Stiefelschäfte waren komplett unterhalb der Wasseroberfläche, und er spürte, wie sich das Gemisch aus Bodensatz, Seewasser und feinen Sandkörnchen um seine Füße und Zehen legte, fest und lückenlos. Er bekam seine Füße einfach nicht aus den Stiefeln heraus. Und seine Stiefel nicht aus dem weichen Wattboden.

Hinter ihm bückte sich Bodenstab und hob das Smartphone auf. Gerade rechtzeitig, ehe eine kleine Welle den Fleck überspülte, wo das Gerät gelegen hatte. »Das Wasser steigt«, rief Bodenstab. »Nicht nachlassen! Sehen Sie zu, dass Sie da rauskommen! Los, kräftig!«

Iko Freese ackerte, rödelte und stampfte, was er nur konnte – mit dem Resultat, dass er immer tiefer einsank. »Helfen Sie mir!«, schrie er über seine Schulter. »Los, kommen Sie her! Sie müssen ziehen! Ich stecke hier drin wie einbetoniert. Alleine komme ich da im Leben nicht mehr raus!« Stöhnend und keuchend zerrte er weiter, während ihm das Wasser schon gegen die Oberschenkel schwappte. Es dauerte einige Sekunden, bis er bemerkte, dass Bodenstab sich nicht von der Stelle bewegte. Iko Freese drehte sich zu ihm herum, so gut es mit fixierten Füßen eben ging. »Was ist los, zum Teufel?«, schrie er. »Worauf warten Sie? Rufen Sie wenigstens Hilfe!«

Zwei Meter vor ihm plumpste etwas ins Wasser. Hilflos sah er zu, wie sein Smartphone auf den Grund des Priels sank. Zwei Meter! Es hätten genauso gut zweihundert sein können, so unerreichbar war es für ihn. »Warum?«, schrie er. Und noch einmal: »Warum denn?« Sein Brüllen ging in ein Schluchzen über.

»Warum?«, wiederholte Bodenstab, gerade laut genug, dass seine Stimme durch den zunehmenden Wind zu verstehen war. »Wegen meiner Schwester.«

»Wieso denn Ihre Schwester?«, jammerte Iko Freese. »Was habe ich denn mit Ihrer Schwester zu tun?«

»Sie hatten«, erwiderte Bodenstab. Er wartete einen Moment, bis Iko Freese anfing zu begreifen. »Meine Schwester hat Borkum verlassen, kaum dass sie volljährig war. Wegen Klaasohm! Sie konnte nicht ertragen, was hinter diesem Ritual steckt. Diese Verachtung und Geringschätzung von Frauen, sagte sie immer. Wir wollten ihr das natürlich ausreden. Ist doch nur Spaß, haben wir gesagt. Ist doch was zum Lachen! Nur die sieben Verkleideten dürfen Frauen verhauen, mit einem Kuhhorn auf den Po, und auch nur zu einer bestimmten Zeit. Bloß eine Tradition, muss man doch nicht ernst nehmen. Wer das nicht möchte, geht einfach nicht hin! Aber sie ist trotzdem von Borkum weggegangen.«

»Und deswegen lassen Sie mich hier im kalten Wasser zappeln?«, schrie Iko Freese. »Was kann ich denn dafür? Wie heißt Ihre Schwester überhaupt?«

»Anke«, sagte Bodenstab. »Anke, verwitwete Breuer.«

Iko Freese erstarrte. Eine Welle schlug ihm schmerzhaft in den Schritt. Gischt spritzte ihm ins Gesicht.

»Um keinen Preis wollte Anke zurück auf die Insel«, fuhr Bodenstab fort. »Auch nach dem Tod ihres Mannes nicht. Nicht einmal nach dem Tod unserer Eltern! Ließ sich ihren Anteil am Erbe auszahlen. Sie hatte sich als Hebamme selbstständig gemacht, was wohl nicht so einfach war, und wollte sich durch den Kauf zweier Mietshäuser finanziell absichern. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat sie sich an einen Makler gewandt, dem sie vertraute.« Er lachte bitter. »Dabei hat sie voll in den Bodensatz gegriffen! Aber so richtig. Da hätte sie sich lieber einmal im Jahr auf Borkum vertrimmen lassen.«

»Das können wir doch regeln!« Das Wasser reichte Iko Freese inzwischen bis zur Brust. »Ich nehme die Häuser zurück! Ich zahle Ihre Schwester aus! Alle Kosten übernehme ich!« Hol du mich bloß hier raus, setzte er in Gedanken hinzu, dann reden wir über die Details.

»Zu spät«, erwiderte Bodenstab. »Meine Schwester wollte sich nicht helfen lassen. Zu stolz, das war sie schon immer. Hat mir noch einen Brief geschrieben und dann Tabletten genommen. Vor drei Tagen haben wir sie beerdigt.«

Iko Freese machte Schwimmbewegungen. Als er etwas sagen wollte, bekam er Salzwasser in den Mund. Er röchelte und spuckte.

»Klaasohm«, sagte Bodenstab. »Das Ritual erzählt nur die halbe Geschichte. Dass die Walfänger jeden Dezember nach Hause kamen und ihre verwilderten Frauen an die Kandare genommen haben. Einige haben es dabei übertrieben, und das hat sich längst nicht jede Frau gefallen lassen. Die haben ihre Kerle betrunken gemacht, ihnen große Gummistiefel verpasst und sie ins Watt gelockt, unter irgendeinem Vorwand. Solche Typen fallen auf alles rein, wenn sie besoffen sind! Sie haben sie in solch einen Priel geschickt, schön am Gleithang, wo der Boden weich ist. Denn sie wussten genau, wenn einer einmal feststeckt und diesen Bodensatz in seinen Stiefeln hat, kommt er nie wieder raus. Das Einzige, was auf jeden Fall kommt, ist die Flut. Jede Borkumerin weiß das. Und jeder echte Borkumer auch.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück zu seiner Insel, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Schmidt muss weg

Ocke Aukes

Kennen Sie das Gefühl der Ratlosigkeit, wenn man jemandem helfen will, der sich einerseits gerne helfen lassen möchte, aber andererseits eine ganz andere Herangehensweise an die Lösung des Problems sieht als man selbst? Antje hatte dieses Problem. Ihre kleine Schwester musste gerettet werden, doch sollte es auf eine Weise geschehen, dass niemand Schaden erlitt – bis auf Schmidt. Der musste weg.

»Ich bringe ihn um«, verkündete Karin.

Antje wusste sofort, von wem sie sprach. Seit Jürgen Schmidt vor drei Monaten die Leitung der Filiale übernommen hatte und dadurch Karins Chef geworden war, ging die 17-Jährige nur noch mit Magenkneifen zur Arbeit.

Antje nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. »Was hat er denn heute wieder angestellt?«

»Das war so was von fies. Eins sage ich dir, wenn er das noch einmal macht, trete ich ihm so fest in die Eier, dass er es bis zum Gaumen spürt.« Leere Worte. Karin würde so etwas niemals tun.

Antje schob sie leicht von sich, die Hände auf Karins Schultern gelegt. Die stand mit geballten Fäusten und Tränen in den Augen da.

»Das tust du auf keinen Fall, hörst du, Schwesterchen? In einem halben Jahr ist alles vorbei. Das schaffst du.« In sechs Monaten war Karins Berufsausbildung abgeschlossen. »Wenn du erst dein Zeugnis hast, bekommst du überall mit Kusshand eine neue Stelle. Dann zeigst du Schmidt den Stinkefinger.«

Antje wäre eine Anzeige bei der Polizei lieber gewesen, aber davon wollte Karin nichts wissen. Wenn sie es nicht melden wollte, sollte sie es wenigstens so lange im Betrieb aushalten, bis sie den Lehrabschluss hatte. Bis dahin musste sie zusehen, so selten wie möglich mit Schmidt allein in einem Raum zu sein. Antje wusste, das war leichter gesagt als getan.

»Das sind 24 Wochen«, stöhnte Karin und lächelte ein wenig verkniffen, als sie auf Antjes ausgestreckten Mittelfinger schaute. »120 Arbeitstage. Das halte ich nie im Leben aus.«

Antje seufzte und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Was hat er überhaupt angestellt?«

»Sag ich doch, es war unheimlich fies.« Karin deutete mit Zeige- und Mittelfinger auf ihren geöffneten Mund, als müsse sie sich übergeben. »Ich war vorsichtig, Antje. Wirklich. Heute hat der Blödmann mich reingelegt. Nur gut, dass niemand dazugekommen ist. Oh Gott«, dabei fasste Karin sich an den Hals, »das war so was von ekelig.«

Antje nahm sie erneut in den Arm. Als sich Karin ein wenig beruhigt hatte, sagte Antje: »Jetzt erzähl schon, was ist vorgefallen?«

»Zuerst hat er mich in sein Büro gerufen und mit scheinheiligem Grinsen auf einige Aktenordner gezeigt. Die sollte ich in das untere Fach seines Regals einräumen. Scheiße. Ich blöde Kuh habe zu spät gemerkt, dass er mich damit in die Enge getrieben hat. Ich hocke also da unten und stelle die Ordner rein, da kommt er breitbeinig sitzend auf seinem Bürosessel angerollt. Pah, das ist so was von abstoßend. Er stoppt kurz vor meinem Gesicht und ich habe den Hosenschlitz direkt vor meinen Augen.« Karin schauderte und veränderte die Stimmlage. »Na, Fräulein Silber«, äffte sie Schmidt nach, »das gefällt Ihnen, nicht wahr? – Und dann dieses fiese Lachen. In dem Moment hätte ich am liebsten fest zugebissen. Muss er wohl geahnt haben, denn er rollte sofort zurück an seinen Schreibtisch.«

»Und das hat keiner von deinen Kollegen bemerkt?«