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Värmland im 19. Jahrhundert: Der Tagelöhner Jan schenkt seiner Tochter Klara Geborgenheit und Liebe. Als die Familie in finanzielle Not gerät, geht Klara nach Stockholm, um ihren Eltern Geld zu schicken. Doch nach und nach spricht sich eine bitterböse Wahrheit herum, die Jan den Verstand verlieren lässt. In seiner Scheinwelt wird Klara zur Kaiserin von Portugallien … Ein tiefgründiger Roman über Liebe und Verlust, der Lagerlöfs meisterhaftes Erzähltalent zeigt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Selma Lagerlöf
Reclam
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962384
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Ferdinand Hodler, »Das Lied aus der Ferne« (1906) – akg-images / André Held
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962384-9
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020773-4
reclam.de | [email protected]
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Nachwort
Zeittafel
Egal, wie alt Jan Andersson aus Skrolycka auch wurde, nie wurde er es müde, von dem Tag zu erzählen, an dem sein kleines Mädchen zur Welt gekommen war.
In aller Frühe war er aufgebrochen, um die Hebamme und andere Helferinnen zu holen; danach aber musste er dann den ganzen Vormittag und noch bis weit in den Nachmittag hinein auf dem Hauklotz im Holzschuppen sitzen und warten, warten.
Draußen regnete es in Strömen, und auch Jan Andersson blieb nicht ganz verschont von dem Regenwetter, obgleich er sozusagen unter Dach und Fach saß. Der Regen drang zwischen den undichten Wänden zu ihm herein, und jetzt eben schleuderte der Wind auch noch eine ganze Sturzsee in den offenen Schuppen.
»Ich wüsste ja gern, ob wohl irgendjemand meinen kann, ich freute mich über die Ankunft des Kindes?«, murmelte er, und zugleich stieß er mit dem Fuß so heftig nach einem kleinen Holzscheit, dass dieses auf den Hof hinausflog. »Etwas Schlimmeres hätte mir doch gar nicht passieren können. Katarina und ich haben schließlich nur geheiratet, weil ich bei Erik auf Falla nicht länger in der Knechtskammer hausen wollte. Das ist doch das größte Unglück, das mir hätte widerfahren können. Wir wollten die Füße unter den eigenen Tisch setzen, aber an Kinder hatten wir wirklich nicht gedacht.«
Er schlug die Hände vors Gesicht und seufzte tief. Die Kälte, die Feuchtigkeit und das lange angespannte Warten hatten seine Verstimmung noch gesteigert, aber die eigentliche Ursache waren diese Unannehmlichkeiten keineswegs. Es war ihm vollkommen Ernst mit seiner Klage.
›Arbeiten‹, dachte er, ›arbeiten muss ich alle Tage, vom Morgen bis zum Abend, aber bisher hatte ich dann wenigstens nachts meine Ruhe. Nun wird das Kind wahrscheinlich viel schreien, und dann bekomm ich auch da keine Ruhe mehr.‹
Bei diesem Gedanken überkam ihn noch größere Verzweiflung. Er ließ die Hände sinken und rang sie so heftig, dass die Gelenke krachten.
›Bis jetzt ist auch alles ganz gut gegangen, weil Katarina genauso viel arbeiten konnte wie ich. Aber jetzt muss sie ja daheim bleiben und sich um das Kind kümmern.‹
Er starrte in die zunehmende Dunkelheit und sah aus, als ob schon die Hungersnot über den Hofplatz geschlichen käme und ins Haus eindringen wollte.
»Ja, ja«, sagte er, und jetzt schlug er, wie um seine Worte zu bekräftigen, mit beiden Fäusten auf den Hauklotz. »Ja, ich sag’ nur so viel, wenn ich damals gewusst hätte, dass so etwas dabei herauskommen würde, als Erik auf Falla sagte, ich dürfte mir ein Haus auf seinem Grund und Boden bauen, und mir überdies auch noch alte Balken zum Bau überließ, also, wenn ich das damals gewusst hätte, dann hätte ich doch alles abgelehnt und wäre bis an mein Lebensende in der Knechtskammer auf Falla geblieben.«
Das waren starke Worte, das war ihm durchaus klar; aber er hatte keine Lust, sie zurückzunehmen.
»Wenn es je geschehen sollte …«, begann er wieder; und fast hätte er gesagt, es wäre ihm gar nicht unlieb, wenn dem Kind auf irgendeine Weise etwas zustieße, ehe es das Licht der Welt erblickte. Aber er kam nicht dazu, diesen Gedanken auszusprechen; denn eben jetzt drang ein piepsendes Stimmchen durch die Wand an sein Ohr, und da hielt er jählings inne.
Der Holzschuppen war an das Wohnhaus angebaut, und als er hinhorchte, drangen die piepsenden Laute immer wieder zu ihm heraus. Jan Andersson wusste natürlich sofort, was das bedeutete, und nun blieb er lange ganz stillsitzen, ohne ein Zeichen von Kummer oder Freude an den Tag zu legen.
Schließlich zuckte er kurz mit den Schultern und sagte:
»Ja, jetzt ist es also da, und jetzt werd’ ich doch wohl in Gottes Namen ins Haus und mich wärmen dürfen.«
Aber auch diese Erlösung wurde ihm nicht so schnell zuteil, denn er musste abermals Stunde um Stunde warten.
Der Regen strömte noch immer mit der gleichen Heftigkeit hernieder, der Wind nahm zu, und obgleich es noch nicht einmal Ende August war, war die Luft so rau wie an einem Novembertag.
Und um das Maß vollzumachen, verfiel Jan Andersson nach einer Weile noch auf einen Gedanken, der ihn noch niedergeschlagener machte.
Er fühlte sich allmählich missachtet und zurückgesetzt.
»Drei verheiratete Frauen sind außer der Hebamme bei Katarina drinnen«, sagte er halblaut. »Die hätten sich doch wirklich die Mühe machen können, oder wenigstens eine von ihnen, herauszukommen und mir zu sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.«
Er horchte nach der Hauswand hin und hörte, wie auf dem Herd Feuer gemacht wurde. Dann sah er die Frauen am Brunnen Wasser holen; aber keine schien ihn auch nur zu bemerken.
Nun schlug er wieder die Hände vors Gesicht und wiegte den Oberkörper hin und her.
»Mein guter Jan Andersson«, begann er, »woran hapert’s denn eigentlich bei dir? Warum geht bei dir alles schief? Warum bist du immer so niedergedrückt? Ach, warum hast du kein schönes junges Mädchen heiraten können, statt der alten Stallmagd Katarina bei Erik auf Falla?«
Er war ganz aufgelöst vor Kummer. Zwischen den Fingern quollen ihm sogar ein paar Tränen hervor.
»Warum bist du im Dorf so wenig geachtet, mein guter Jan Andersson? Warum wirst du immer zurückgesetzt? Du weißt, es gibt andere, die ebenso arm sind wie du und ebenso schwach bei der Arbeit, aber keiner wird so übersehen wie du. Woran hapert’s denn nur bei dir, mein guter Jan Andersson?«
Das war eine Frage, die sich Jan Andersson schon oft, aber immer vergeblich gestellt hatte. Er hatte auch gar keine Hoffnung, dass er je die Antwort darauf finden würde, und wenn er alles in allem betrachtete, so haperte es vielleicht überhaupt an nichts. Vielleicht war die richtige Erklärung, dass Gott und die Menschen ihn ganz einfach ungerecht behandelten?
Als er bei diesem Gedanken angekommen war, nahm er die Hände vom Gesicht und versuchte, eine kecke Miene aufzusetzen.
»Wenn du je wieder in dein eigenes Haus hineindarfst, dann wirst du nicht einen Blick auf das Kind werfen, mein guter Jan Andersson«, sagte er. »Du wirst nur stillschweigend an den Herd gehen und dich wärmen. – Oder wie wär’s, wenn du jetzt weggingst«, fing er wieder an. »Du brauchst ja gar nicht länger hier sitzen zu bleiben, jetzt, wo du weißt, dass alles überstanden ist. Wie wäre es denn, Katarina und den anderen Weibern drinnen zu zeigen, was du für ein Mann bist …«
Er wollte eben vom Hauklotz aufstehen, da erschien die Bäuerin auf Falla vor dem Schuppen. Sie verneigte sich überaus höflich und lud ihn ein, jetzt ins Haus hereinzukommen und sich das Kind anzusehen.
Wenn es nicht die Hausmutter auf Falla selbst gewesen wäre, die diese Einladung vorbrachte, dann steht nicht fest, ob Jan Andersson in seiner aufgebrachten Stimmung hineingegangen wäre. Aber mit ihr ging er natürlich, wenn auch, ohne irgendwelche Eile an den Tag zu legen. Er gab sich alle Mühe, die Miene und Haltung anzunehmen, die Erik auf Falla hatte, wenn er im Rathaus zur Urne schritt, um seinen Wahlzettel hineinzulegen, und es gelang Jan Andersson jetzt auch ganz gut, ebenso feierlich und finster auszusehen wie jener.
»Bitte, Jan!«, sagte die Hausmutter auf Falla, und damit machte sie die Tür weit auf. Zugleich trat sie zur Seite und ließ Jan vorausgehen.
Jan sah auf den ersten Blick, wie fein und sauber alles in der Stube gemacht worden war! Die Kaffeekanne stand zum Abkühlen auf dem Rand der Herdplatte, und der Tisch am Fenster war mit von der Hausmutter auf Falla mitgebrachten Kaffeetassen und einem schneeweißen Tuch gedeckt. Katarina lag im Bett, und zwei andere Frauen, die auch zur Hilfe da waren, drückten sich an die Wand, damit er einen freien Blick auf alle Veränderungen haben könnte.
Gleich vor dem Kaffeetisch stand die Hebamme mit einem Bündel auf dem Arm.
Jan Andersson drängte sich unwillkürlich der Gedanke auf, dass er hier ganz plötzlich die Hauptperson zu sein schien. Katarina sah ihn mit einem freundlichen Blick an, wie um zu fragen, ob er zufrieden mit ihr sei. Und die andern ließen ihn nicht aus den Augen und schienen auf sein Lob zu warten, für all die Mühe, die sie sich seinetwegen gemacht hatten.
Aber es ist nicht so leicht, frohen Herzens zu werden, wenn man einen ganzen Tag draußen gesessen und gefroren hat und schlechter Laune geworden ist. Jan schaffte es nicht, nicht mehr das gleiche Gesicht zu machen wie Erik auf Falla, und er blieb, ohne ein Wort zu sagen, mitten im Zimmer stehen.
Da machte die Hebamme einen Schritt auf ihn zu. Und die Stube war so klein, dass sie mit diesem einzigen Schritt ganz vor ihn hintreten und ihm das Kind in die Arme legen konnte.
»Hier kann Er ein kleines Mädchen sehen, das noch dazu ein Prachtmädel ist«, sagte sie.
Da stand nun der arme Jan und hielt zwischen seinen Händen etwas, das sich warm und weich anfühlte und in ein großes Tuch eingewickelt war. Das Tuch war so weit zurückgeschlagen, dass Jan das winzige, runzlige Gesichtchen und die verschrumpelten Händchen sehen konnte.
Er stand unsicher da und fragte sich, was denn die Frauenzimmer erwarteten, was sollte er denn bloß anfangen mit diesem Ding, das ihm die Hebamme in die Arme gelegt hatte. Doch dann erhielt er plötzlich einen Stoß, bei dem er und das Kind zusammenzuckten. Keine von den Anwesenden hatte ihm diesen Stoß versetzt, aber ob er von dem kleinen Mädchen zu ihm kam, oder von ihm zu dem kleinen Mädchen, das wusste Jan ganz einfach nicht.
Unmittelbar darauf fing das Herz in seiner Brust so heftig an zu pochen, wie es noch nie gepocht hatte, und in demselben Augenblick fror Jan nicht mehr und er war nicht mehr verdrießlich oder bekümmert oder verärgert, sondern alles war gut. Nur eines beunruhigte ihn noch: Er konnte nicht begreifen, warum es auf diese Weise in seiner Brust hämmerte und pochte, wo er doch an diesem Tag weder getanzt hatte, noch schnell gelaufen oder einen steilen Berg hinaufgeklettert war.
»Fühlt doch bitte einmal hier an meiner Brust«, bat er die Hebamme. »Ich finde, mein Herz schlägt so sonderbar.«
»Ja, Ihr habt tüchtig Herzklopfen«, sagte die Hebamme. »Habt Ihr das öfters?«
»Nein, das hatte ich noch nie«, beteuerte Jan. »Noch niemals auf diese Weise.«
»Ist Euch schlecht? Habt Ihr irgendwo Schmerzen?«, fragte die Hebamme besorgt.
Nein, nein, es sei sonst alles in Ordnung.
Da konnte die Hebamme nicht verstehen, was ihm fehlte, und sie sagte:
»Ich will Euch jedenfalls das Kind abnehmen.«
Aber da überkam Jan ein neues Gefühl. Das Kind, nein, das wollte er nicht hergeben.
»Nein, lasst mir das Kind!«, sagte er.
Und in diesem Augenblick mussten die Frauen in seinen Augen etwas gelesen und aus seiner Stimme etwas herausgehört haben, das sie froh machte, denn die Hebamme verzog den Mund, und die anderen brachen in lautes Lachen aus.
»Ei, Jan, habt Ihr noch nie irgendwen so liebgehabt, dass Ihr deshalb Herzklopfen bekommen habt?«, fragte die Hebamme.
»Nei–n«, antwortete Jan.
Und nun begriff er plötzlich, was ihm das Herz jetzt eben in Gang gesetzt und so stark zum Pochen gebracht hatte. Und damit nicht genug, er begann auch zu ahnen, woran es bei ihm Zeit seines Lebens gehapert hatte: Denn der Mensch, der sein Herz weder in Leid noch in Freude schlagen fühlt, kann doch eigentlich gar nicht als richtiger Mensch gelten.
Am nächsten Tag stand Jan aus Skrolycka mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm mehrere Stunden lang vor seiner Haustür.
Auch das war eine lange Wartezeit; aber jetzt war alles ganz anders als gestern. Jetzt stand er hier in guter Gesellschaft, und so wurde er weder müde noch verdrießlich.
Er konnte gar nicht beschreiben, welch ein wohliges Gefühl ihn überkam, während er vor der Tür stand und den warmen kleinen Körper an sich drückte. Es kam ihm vor, als sei er bisher auch sich selbst gegenüber immer widerwärtig und bitter gewesen, denn auf einmal empfand er nur Glück und Wonne in seinem Herzen. Noch nie hatte er gefühlt, wie geradezu beseligt man sein kann, einzig und allein dadurch, dass man jemanden so recht herzlich liebhat.
Jan hatte sich natürlich nicht ohne Absicht vor die Tür gestellt. Denn während er dort stand, musste eine wichtige Entscheidung gefällt werden.
Schon seit dem frühen Morgen hatten die Eheleute versucht, für das Kind einen Namen zu finden. Sie hatten aufs Reiflichste hin und her überlegt, sich aber noch immer nicht für einen von all den vielen Namen entscheiden können.
Schließlich hatte Katarina gesagt:
»Jetzt weiß ich mir keinen anderen Rat, als dass du dich mit dem Kind auf die Türschwelle stellst und dann die erste Frau, die vorüberkommt, nach ihrem Namen fragst. Diesen Namen müssen wir dann dem Mädchen geben, einerlei ob er grob oder fein ist.«
Aber das Häuschen lag etwas abseits, und es kam nicht oft jemand vorbei. Jan stand schon sehr lange vor der Tür, und noch immer hatte kein Mensch sich sehen lassen.
Auch an diesem Tag herrschte trübes Wetter; aber es regnete nicht, auch war es weder windig noch kalt, eher etwas schwül.
Wenn Jan nicht mit der Kleinen im Arm dagestanden hätte, so hätte er sicherlich die Hoffnung auf eine Vorübergehende schon längst aufgegeben, und er hätte zu sich selbst gesagt:
»Mein guter Jan Andersson, vergisst du denn, dass du ganz entlegen am Duvsee in Askedalarna wohnst, wo es nur einen einzigen richtigen Bauernhof gibt und sonst nur noch einige kleine Kätnerhäuschen und Fischerhütten? Wer sollte da denn einen vornehmen Namen haben, der dir für dein kleines Mädchen recht wäre?«
Da es sich aber jetzt um sein Töchterchen handelte, zweifelte Jan gar nicht an einem günstigen Ausgang. Er schaute zum Duvsee hinüber und wollte gar nicht sehen, wie verlassen und einsam der in seinem Bergkessel dalag. Es könnte ja doch sein, dass eine vornehme Dame mit einem schönen Namen von dem Hüttenwerk in Duvnäs auf diese Seite des Sees herüberruderte. Jan war beinahe sicher, dass es nur um des kleinen Mädchens willen so gehen werde.
Das Kind schlief die ganze Zeit, er konnte also unbesorgt vor der Tür stehen bleiben und warten. Schlimmer war es bei Katarina. Sie fragte immer wieder, ob denn niemand zu sehen sei. Denn jetzt könne er wohl nicht länger mit der Kleinen draußen bleiben.
Jan richtete seinen Blick auf den Storsnipa, der aus den Birkenwäldchen und den Ackerflecken in Askedalarna steil aufragte und wie ein Festungsturm Wache hielt, um alle Fremden fernzuhalten. Es wäre ja doch möglich, dass irgendeine vornehme Dame, die auf dem Berg gewesen war, um die schöne Aussicht zu betrachten, auf dem Rückweg die Richtung verfehlte und sich nach Skrolycka verirrte.
Er beruhigte Katarina, so gut er konnte. Es fehle ihnen nichts, weder ihm noch dem Kind. Da er nun so lange dagestanden habe, wolle er auch noch ein wenig länger warten.
Nirgends war ein Mensch zu sehen; aber Jan war fest überzeugt, dass sich alles klären würde, wenn er nur noch ein wenig wartete. Es konnte ja nicht anders sein. Er hätte sich auch gar nicht gewundert, wenn eine Königin in einer goldenen Kutsche durch Gebirge und Waldesdickicht gekommen wäre, um dem kleinen Mädchen in seinen Armen ihren Namen zu geben.
Wieder verging eine Weile; aber nun fühlte Jan den Abend herannahen, und da konnte er nicht länger draußen stehenbleiben.
Katarina konnte auf der Uhr in der Stube sehen, wie spät es war, und sie sagte wieder, er solle jetzt hereinkommen.
»Hab nur noch einen Augenblick Geduld!«, erwiderte Jan. »Ich glaube, ich kann dort drüben im Westen jemanden herankommen sehen.«
Den ganzen Tag hindurch war das Wetter trüb gewesen, aber in diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und ließ ein paar goldene Strahlen auf das Kind fallen.
»Es wundert mich gar nicht, dass du dir die Kleine ansehen willst, ehe du dich zur Ruhe begibst«, sagte Jan zur Sonne. »Sie ist es wert, dass man sie ansieht.«
Die Sonne brach immer heller hervor und warf einen roten Schein auf das Kind und das ganze Häuschen.
»Aha, du willst wohl Patin bei der Kleinen werden?«, fragte Jan aus Skrolycka.
Darauf gab die Sonne keine direkte Antwort; in rotgoldener Pracht leuchtete sie noch einmal auf, zog dann aber den Wolkenschleier wieder vor und war verschwunden.
Nun erklang Katarinas Stimme aufs Neue.
»Ist jemand dagewesen?«, fragte sie. »Mir kam es so vor, als ob du mit jemandem gesprochen hättest. Du musst jetzt hereinkommen.«
»Ja, jetzt komm ich«, sagte Jan und ging auch sofort hinein. »Eine furchtbar vornehme Dame ist eben vorbeigegangen. Aber sie hatte es sehr eilig; ich konnte ihr kaum guten Tag sagen, da war sie auch schon wieder verschwunden.«
»Ach je, das ist doch wirklich ärgerlich, wo wir nun so lange gewartet haben! Du hast sie wohl gar nicht nach ihrem Namen fragen können?«
»Doch, sie hieß Klara Fina Gulleborg, Klara Fina Gulleborg, so viel hab ich aus ihr herausgebracht.«
»Klara Fina Gulleborg! Das ist doch wohl ein zu vornehmer Name für das Kind«, sagte Katarina, erhob dann jedoch keinen weiteren Widerspruch.
Aber Jan aus Skrolycka war ganz bestürzt über sich selbst, weil er auf etwas so Großes verfallen war, wie die Sonne als Patin für sein kleines Mädchen zu nehmen. Doch in dem Augenblick, wo ihm das Kind in die Arme gelegt wurde, war er ein neuer Mensch geworden.
Als das kleine Mädchen aus Skrolycka zum Pfarrer gebracht werden sollte, um die heilige Taufe zu empfangen, benahm sich Jan, ihr Vater, sehr dumm; es fehlte nicht viel, so hätte er von seiner Frau und auch von den Paten heftige Schelte bezogen.
Erik auf Fallas Frau wollte das Kind über die Taufe halten. Sie fuhr mit der Kleinen im Arm zum Pfarrhaus, und Erik auf Falla ging selbst neben dem Wagen her und führte die Zügel; die erste Wegstrecke bis zum Hüttenwerk von Duvnäs war so schlecht, dass man sie kaum einen Weg nennen konnte, und Erik auf Falla wollte vorsichtig sein, wenn er ein ungetauftes Kind im Wagen fuhr.
Jan aus Skrolycka hatte dem Aufbruch aufmerksam zugesehen. Er hatte das Kind selbst aus dem Haus geholt, und niemand wusste besser als er, welch prächtige Leute jetzt das Kind übernahmen. Erik auf Falla war beim Fahren ebenso zuverlässig wie bei allem, was er tat, das wusste Jan sehr wohl, und die Hausmutter auf Falla hatte selbst sieben Kinder geboren und aufgezogen, das wusste Jan auch; deshalb hätte er sich also nicht im Geringsten beunruhigt zu fühlen brauchen.
Aber als die Taufgesellschaft verschwunden war und er sich wieder an seine Grabarbeit auf Erik auf Fallas Brachland gemacht hatte, überkam ihn plötzlich eine furchtbare Angst. Wie, wenn nun Erik auf Fallas Pferd durchging? Oder wenn der Pfarrer das Kind in dem Augenblick, wo es ihm von der Patin übergeben wurde, fallen ließe? Oder wenn die Hausmutter auf Falla das Kind in so viele Tücher und Decken gehüllt hatte, dass es erstickt war, wenn sie mit ihm am Pfarrhaus ankämen?
Jan sagte sich selbst, es sei sehr unrecht, wenn er sich solche Sorgen mache, da er ja Erik auf Falla und dessen Frau als Paten habe. Aber die Angst ließ ihn nicht los. Und plötzlich hielt er es nicht mehr aus; er stellte den Spaten weg und machte sich auf den Weg zum Pfarrhaus. Er nahm die Abkürzung über die Hügel und lief so schnell er konnte. Und richtig, als Erik auf Falla auf dem Wirtschaftshof der Pfarrei vorfuhr, war Jan Andersson aus Skrolycka der erste Mensch, den er erblickte.
Es ist ja ganz und gar nicht schicklich, dass Vater oder Mutter dabei sind, wenn die Kinder getauft werden, und Jan sah auch gleich, wie sich die Paten ärgerten, weil er zum Pfarrhof gelaufen war. Erik winkte ihn nicht zur Hilfe beim Pferd herbei, sondern spannte selbst aus, und die Hausmutter auf Falla nahm das Kind auf den Arm und ging, ohne ein Wort zu Jan zu sagen, die Anhöhe hinauf und in die Pfarrküche hinein.
Da die Paten Jan offenbar nicht sehen wollten, wagte er es nicht, näher herbeizukommen. Aber als die Nachbarsfrau an ihm vorbeiging, klang ein leises Piepsen aus dem Bündel heraus an Jans Ohr, und nun wusste er wenigstens, dass sein Kind unterwegs nicht erstickt war.
Er fühlte wohl, wie töricht er sich benahm, weil er nun nicht schnurstracks wieder heimging; aber jetzt war er ganz fest überzeugt, dass der Pfarrer das Kind fallen lassen werde, und so konnte er nicht anders, er musste dableiben.
Eine Weile wartete er auf dem Wirtschaftshof, dann ging er zum Wohnhaus und trat in den Flur.
Es ist so unpassend wie nur möglich, wenn der Vater des Kindes bei der Taufe mit zum Pfarrer kommt, vor allem, wenn er solche Paten für sein Kind hat wie Erik auf Falla und Erik auf Fallas Frau. Als nun die Tür zu der Amtsstube des Pfarrers aufging, nachdem eben die heilige Handlung begonnen hatte, und Jan Andersson aus Skrolycka sich in seinem schlichten Arbeitsanzug vorsichtig ins Zimmer hereinschob und also keine Möglichkeit mehr bestand, ihn wieder hinauszuschicken, da gelobten sich die beiden Paten in ihrem Herzen, sobald sie nach Hause kämen, Jan wegen seines unpassenden Benehmens ordentlich die Leviten zu lesen.
Alles ging bei der Taufe, wie es sich gehörte, ohne den kleinsten Zwischenfall, und Jan Andersson hatte durchaus keine Entschuldigung für sein Eindringen. Gerade vor Schluss der Handlung öffnete er die Tür wieder und schlich lautlos auf den Flur hinaus. Er sah ja, wie gut das alles ohne ihn ging.
Nach einer kleinen Weile kam Erik auf Falla mit seiner Frau auch auf den Flur heraus. Sie wollten wieder in die Küche gehen, wo die Hausmutter auf Falla das Kind aus allen überflüssigen Tüchern herausgeschält hatte.
Erik auf Falla ging voraus und hielt für seine Frau die Küchentür auf; doch im selben Moment stürmten zwei junge Katzen in den Flur herein, und gerade vor den Füßen der Hausmutter auf Falla kugelten sie übereinander; dadurch stolperte die Hausmutter auf Falla und wäre fast zu Boden gestürzt.
Sie konnte gerade noch denken: Jetzt stürz’ ich mit dem Kind hin, und es fällt sich zu Tode, und ich werde meines Lebens nie wieder froh, als sie von einer kräftigen Hand erfasst und aufrecht gehalten wurde.
Und als sie sich umsah, so war der Helfer in der Not niemand anderes als Jan aus Skrolycka, der im Flur geblieben war, so, als ob er gewusst hätte, dass man ihn hier brauchen würde.
Doch ehe sich die Hausmutter auf Falla von ihrem Schrecken erholt hatte und etwas zu Jan sagen konnte, war er verschwunden. Und als sie mit ihrem Mann nach Hause gefahren kam, grub er schon wieder auf der Brache um.
Nachdem das drohende Unglück verhindert worden war, hatte er gespürt, dass er nun ruhig nach Hause gehen konnte.
Und weder Erik noch seine Frau sagten etwas zu ihm wegen seines unpassenden Benehmens. Stattdessen lud ihn die Hausmutter auf Falla zum Kaffee herein, in dem lehmigen, schmutzbespritzten Anzug, in dem er da draußen auf dem herbstlich feuchten Brachland seine Arbeit verrichtete.
Als das kleine Mädchen aus Skrolycka geimpft werden sollte, hatte niemand etwas dagegen einzuwenden, dass ihr Vater Jan mitkam. Die Impfung sollte eines Abends Ende August vorgenommen werden, und als Katarina von zu Hause wegging, war es schon ganz dunkel. Sie war deshalb sehr froh, jemanden bei sich zu haben, der ihr über Zäune und Gräben und alle anderen Schwierigkeiten auf dem elenden Weg hinüberhalf.
Die Kinder sollten in Erik auf Fallas Haus geimpft werden, und die Hausmutter auf Falla hatte im Kamin ein Riesenfeuer angezündet, das ihrer Meinung nach neben einem dünnen Talglicht auf einem Tischchen, wo der Küster seine Arbeit verrichten sollte, zur Beleuchtung vollständig ausreichte.
Die Leute aus Skrolycka fanden es, wie alle anderen Anwesenden, ungewöhnlich hell im Zimmer, aber trotzdem schien die Dunkelheit wie eine grauschwarze Decke vor den Wänden zu hängen und das Zimmer kleiner erscheinen zu lassen, als es in Wirklichkeit war. Und in dieser Dunkelheit konnte man viele Frauen sehen, mit Kindern, die nicht älter als ein Jahr waren und die noch auf dem Arm getragen, gewiegt und auf jede Weise versorgt werden mussten.
Die meisten waren dabei, ihre Kleinen aus den Tüchern und Umhüllungen herauszuschälen. Dann zogen sie ihnen die bunten Kattunkittelchen aus und lösten die Bänder, mit denen die Hemdchen zusammengebunden waren, damit nachher, wenn der Küster zum Impftisch rief, der Oberkörper des Kindes leicht entblößt werden könnte.
Es war merkwürdig still im Zimmer, obgleich so viele kleine Schreihälse hier beieinander waren. Das gegenseitige Anstarren schien ihnen offenbar Vergnügen zu machen, und so vergaßen sie alles Lärmen und Schreien. Und die Mütter verhielten sich auch still, um besser hören zu können, was der Küster sagte, der die ganze Zeit über mit ihnen redete.
»Es gibt für mich wirklich nichts Angenehmeres, als wenn ich so zum Impfen umherziehe und mir dabei alle die hübschen Kinder ansehen kann«, sagte der Küster. »Nun wollen wir sehen, ob das ein feiner Jahrgang ist, den ihr hier bieten könnt.«
Der Mann war nicht nur der Küster, sondern auch der Schullehrer, und er hatte Zeit seines Lebens in diesem Kirchspiel gewohnt. Er hatte schon die Mütter geimpft und unterrichtet, war Zeuge ihrer Konfirmation und ihrer Hochzeiten gewesen, und nun sollte er ihre Kinder impfen. Das war das Erste, was die kleinen Weltbürgerinnen und Weltbürger mit dem Mann zu tun bekamen, der später eine so große Rolle in ihrem Leben spielen würde.
Am Anfang ging auch alles gut. Eine Mutter nach der anderen kam herbei, setzte sich auf den Stuhl neben dem Tisch und hielt ihr Kind so, dass der Lichtschein auf dessen nacktes linkes Ärmchen fiel. Und während der Küster immer weiterredete, setzte er die drei Schnitte in die glänzende weiße Haut, ohne dass das Kind einen Laut von sich gab.
Dann ging die Mutter mit dem Kind zum Feuer hinüber und hielt sich eine Weile in der Nähe der Flammen auf, um den Impfstoff eintrocknen zu lassen. Inzwischen dachte sie an das, was der Küster zu ihr und ihrem Kind gesagt hatte; nämlich, dass es groß und schön sei und dem Hof zur Ehre gereichen und ebenso tüchtig werden solle wie sein Vater und Großvater, ja vielleicht noch tüchtiger.
So ging es still und ruhig weiter, bis die Reihe an Katarina aus Skrolycka kam. Als sie mit dem Kind vortrat, schrie und wehrte sich die kleine Klara und schlug um sich. Katarina versuchte, sie zu beruhigen, und der Küster sprach sanft und freundlich mit ihr, aber Klara war und blieb von wilder Angst beherrscht.
Katarina musste sie wieder wegtragen und versuchen, sie zu beschwichtigen. Darauf wurde ein großer starker Junge geimpft, der nicht einen einzigen Schrei hören ließ; aber als Katarina dann mit der Kleinen wieder herbeikam, wiederholte sich der vorherige Auftritt. Sie konnte das Kind nicht dazu bringen, so lange stillzuhalten, dass der Küster auch nur einen einzigen Schnitt machen konnte.
Außer der kleinen Klara war kein Kind mehr zum Impfen da, und Katarina war ganz außer sich, weil sich ihr Kind so schlecht aufführte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, als plötzlich Jan ganz rasch aus der Dunkelheit bei der Tür hervortrat.
Er nahm das Kind auf den Arm, und Katarina stand von dem Stuhl auf, um ihm Platz zu machen.
»Ja, versuch du, ob’s bei dir besser geht!«, sagte sie mit leicht verächtlichem Ton in der Stimme, denn sie hielt den kleinen abgearbeiteten Knecht Erik auf Fallas, den sie geheiratet hatte, absolut nicht für irgendwie besser als sich selbst.
Aber ehe Jan sich setzte, streifte er seine Jacke ab, und nun zeigte es sich, dass er drüben in der Dunkelheit seinen einen Hemdsärmel weit hochgekrempelt hatte.
Er streckte den nackten Arm vor und sagte, er möchte auch selbst gern geimpft werden. In seinem ganzen Leben sei er erst einmal geimpft worden und er fürchte sich vor nichts so sehr wie vor den Pocken.
Als die kleine Klara den nackten Arm sah, wurde sie plötzlich ganz still und sah ihren Vater mit großen, klugen Augen gespannt an.
Sie sah auch aufmerksam zu, wie der Küster die drei roten Striche in den Arm schnitt. Dann sah sie von dem einen zum anderen und begriff, dass dem Vater nichts Schlimmes passierte.
Als Jan Andersson fertig war, wandte er sich an den Küster und sagte:
»Jetzt ist die Kleine ganz ruhig, nun könnt Ihr’s vielleicht noch einmal versuchen, Küster.«
Ja, der Küster versuchte es noch einmal, und diesmal ging es ausgezeichnet. Die kleine Klara saß die ganze Zeit mit derselben altklugen Miene da und stieß nicht einen einzigen Schrei aus.
Auch der Küster schwieg, bis er mit seiner Arbeit fertig war, dann sagte er:
»Wenn Ihr das Kind nur beruhigen wolltet, Jan, dann hätten wir ja nur so tun können, als wollten wir – – –«
Aber Jan ließ ihn nicht ausreden:
»Nein, nein, Küster, das wär’ nicht gegangen. So ein Kind wie dieses gibt es kein zweites Mal. Dieser Kleinen kann man unmöglich irgendetwas weismachen.«
An dem Tag, an dem das kleine Mädchen ein Jahr alt wurde, war ihr Vater auf Erik auf Fallas Brachland bei seiner Grabarbeit.
Er versuchte, sich an früher zu erinnern, als noch niemand dagewesen war, an den er bei der Feldarbeit denken konnte, damals, als er auch noch nicht das pochende Herz in der Brust gehabt und noch keine Sehnsucht verspürt hatte und nie beunruhigt gewesen war.
»Wie merkwürdig, dass ein Mensch auf diese Weise leben kann!«, sagte er und verachtete sich dabei selbst.
»Ja«, fuhr er fort, »nur darauf kommt es an. Wenn ich so reich wäre wie Erik auf Falla, oder so stark wie Börje, der dort drüben seinen Acker umgräbt, so wäre das gar nichts im Vergleich zu dem pochenden Herzen in meiner Brust.«
Er sah zu Börje hinüber, der ein ungeheuer starker Mann war und ungefähr doppelt so viel Arbeit bewältigen konnte wie er. Während nun Jan zu Börje hinübersah, fiel ihm auf, dass dieser an diesem Tage lange nicht so weit gekommen war wie sonst.
Sie bekamen von Erik Stücklohn, und Börje übernahm immer mehr als Jan; aber beide wurden trotzdem immer ungefähr zur selben Zeit fertig. An diesem Tag aber war Börje merkwürdig langsam vorwärtsgekommen, ja er hielt nicht einmal gleichen Schritt mit Jan, sondern war weit zurückgeblieben.
Aber Jan hatte auch seine ganze Kraft eingesetzt, um möglichst rasch zu seinem kleinen Mädchen heimzukommen. An diesem Tag sehnte er sich noch viel mehr nach ihr als sonst. Sie war abends meist schläfrig, und wenn er sich nicht beeilte, könnte sie möglicherweise schon fest eingeschlafen sein.
Als Jan fertig war, sah er, dass Börje sein Stück kaum halb fertig hatte. Das war in all den Jahren, die sie nun zusammen arbeiteten, noch nie vorgekommen, und Jan fand das so seltsam, dass er zu Börje hinüberging.
Börje stand in dem Graben und versuchte gerade mit großer Mühe, eine hartnäckige Erdscholle herauszuheben. Er war auf eine Glasscherbe getreten und hatte eine tiefe Wunde im Fuß davongetragen. Es war ihm nicht möglich, den Stiefel anzubehalten, und man kann sich ja vorstellen, wie schrecklich es sein muss, wenn man mit einem verwundeten Fuß den Spaten in die Erde hineinzwingen soll.
»Willst du nicht lieber aufhören?«, fragte Jan aus Skrolycka.
»Nein, ich muss heute fertig werden«, erwiderte Börje, »denn ich bekomm’ ja erst Korn von Erik auf Falla, wenn das ausbedungene Stück fertig ist. Und wir haben daheim kein Roggenmehl mehr.«
»Na, gut’ Nacht also!«, sagte Jan.
Börje gab keine Antwort. Er war so müde und erschöpft, dass er nicht einmal den gewohnten Abendgruß herausbrachte.
Jan aus Skrolycka ging bis zum Rand des Ackers, aber dort hielt er an.
»Was macht es dem kleinen Mädchen aus, ob du zu ihrem Geburtstag heimkommst«, sagte er zu sich. »Sie hat’s ebenso gut ohne dich; Börje aber hat sieben Kinder daheim und kein Essen für sie. Willst du sie hungern lassen, nur damit du zu Hause mit Klara Gulla spielen kannst?«
Er ging zu Börje zurück, stellte sich neben ihn und arbeitete mit ihm weiter; aber da er schon vorher recht müde gewesen war, ging es nicht besonders schnell vorwärts, und es war schon beinahe dunkel, als die beiden endlich fertig waren.
›Jetzt schläft Klara Gulla schon lange‹, dachte Jan, als er endlich den letzten Spatenstich tat.
»Nun gut’ Nacht!«, rief er Börje zum zweiten Mal zu.
»Gut’ Nacht und Dank für die Hilfe!«, erwiderte Börje. »Jetzt hol’ ich mir meinen Roggen. Ich werd’s dir schon ein andermal wettmachen, du kannst dich darauf verlassen.«
»Das ist wirklich nicht nötig. Gut’ Nacht!«
»Willst du nichts für deine Hilfe haben? Was ist denn los, dass du so großartig tust?«
»Ach, es ist bloß … heute ist der Kleinen ihr Geburtstag.«
»Was, und deshalb hast du mir hier beim Umgraben geholfen?«
»Ja, deshalb und auch noch wegen etwas anderem. Also dann, gute Nacht!«
Jan ging hastig fort, um nicht zu einer Erklärung über das »andere« verlockt zu werden; aber es brannte ihm auf der Zunge zu sagen: Heute ist nicht nur Klara Gullas Geburtstag, sondern auch der meines Herzens.
Aber es war gut, dass er das nicht mehr sagen konnte, denn Börje hätte ihn dann sicher für verrückt gehalten.
Als das kleine Mädchen ein Jahr alt war, nahm Jan Andersson sie am Weihnachtsmorgen mit in die Kirche zur Christmette.
Seine Frau meinte freilich, das Kind sei doch noch zu klein, um schon in die Kirche mitgenommen zu werden, auch fürchtete sie, es könnte sich wieder so ungebärdig anstellen wie damals beim Impfen.
Aber Jan setzte seinen Willen durch, weil es ja nicht gegen die Sitte verstieß, kleine Kinder mit zur Weihnachtsmette zu nehmen.
So machten sich die Leute aus Skrolycka mit Klara Gulla am Weihnachtsmorgen schon früh um fünf Uhr auf den Weg. Es war bedeckter Himmel und so finster wie in einem Sack, aber die Luft war nicht kalt, sondern fast mild und dazu vollkommen still, so wie es dort in der Gegend Ende Dezember eben häufig vorkommt.
Gleich zu Anfang ging es einen engen Pfad zwischen den Äckern und Gehölzen in Askedalarna entlang. Dann mussten die Wanderer dem steilen verschneiten Pfad über den Snipahügel folgen, und nun erst kamen sie auf ordentliche Wege.
Das große zweistöckige Wohnhaus auf Falla hatte in allen Fenstern brennende Kerzen; es winkte den Leuten aus Skrolycka zu wie ein Leuchtturm, und so konnten sie sich bis zu Börjes Haus hindurchfinden. Dort trafen sie mit ein paar Nachbarn zusammen, die sich am Abend vorher Fackeln zurecht gemacht hatten, mit denen sie sich nun den Weg erhellten; an diese schlossen sich die Leute aus Skrolycka an. Jeder Fackelträger ging an der Spitze einer kleinen Schar. Die meisten schwiegen, aber alle waren frohen Mutes. Sie kamen sich vor wie die Weisen aus dem Morgenlande, die beim Schein des Wundersterns dahinwanderten, um den neugeborenen König der Juden zu suchen.
Als die ganze Schar die Waldhöhe erreicht hatte, musste sie an einem großen Felsbrocken vorbei, den einstmals ein Riese drunten in Frykerud an einem Weihnachtsmorgen nach der Kirche von Svartsjö geschleudert hatte, der aber zum guten Glück über den Kirchturm geflogen und hier auf dem Snipahügel liegen geblieben war.
Als die Kirchgänger sich jetzt dem Stein näherten, lag er wie gewöhnlich auf der Erde; aber alle wussten, dass er während der Nacht auf zwölf goldene Pfeiler aufgehoben worden war und dass der Troll darunter gesessen und getrunken und getanzt hatte.
Es war wirklich kein Vergnügen, am Weihnachtsmorgen an so einem Felsbrocken vorbeigehen zu müssen, und Jan sah eifrig zu Katarina hinüber, ob sie auch das Kind fest an sich gedrückt hielt. Katarina schritt sicher und ruhig dahin, ganz wie sonst auch, und unterhielt sich halblaut mit einer Nachbarin. Sie schien gar nicht daran zu denken, was das für ein gefährlicher Ort war.
Hier auf der Höhe standen uralte wetterharte Tannen. Wenn man diese so im Fackelschein mit den großen Schneeklumpen auf den Zweigen sah, drängte sich unwillkürlich der Gedanke auf, dass mehrere von ihnen, die man vorher für Bäume gehalten hatte, eben Trolle waren, mit stechenden Augen unter den weißen Schneemützen und mit langen scharfen Krallen, die aus den dicken Schneefäustlingen hervorstachen.
Das konnte man ja ertragen, so lange sie sich ruhig verhielten, aber wie, wenn einer von ihnen den Arm ausstreckte, um nach den Vorübergehenden zu greifen? Für Erwachsene und alte Leute war es wohl nicht so gefährlich, aber eines hatte Jan doch immer gehört: Die Trolle hegten eine besondere Liebe zu winzig kleinen Menschenkindern, je kleiner, desto besser!
Es kam ihm vor, als halte Katarina die kleine Klara gar so sorglos. Ach, für die großen krallenbewaffneten Trollhände wäre es gar keine Kunst, ihr das Kind zu entreißen! Hier mitten an dieser gefährlichen Stellte traute Jan sich aber nicht, Katarina das Kind aus den Armen zu nehmen. Gerade das hätte das Trollpack doch auf falsche Gedanken bringen können.
Schon erhob sich zwischen den Trollbäumen ein Raunen und Rauschen. Es knarrte droben in den Zweigen, als ob sie versuchen wollten, sich in Bewegung zu setzen.
Jan wagte nicht, die anderen zu fragen, ob sie auch sähen und hörten, was er sah und hörte. Denn das hätte ja gerade die Frage sein können, die das Trollpack zum Leben erweckte.
Und da wusste er sich nur einen Rat. Er stimmte mitten im Walde ein Lied an.
Jan hatte eine schlechte Singstimme, und er hatte auch im Beisein anderer noch nie gesungen. Es fiel ihm sehr schwer, den Ton richtig zu treffen, und er wagte deshalb nicht einmal in der Kirche mitzusingen; aber jetzt musste er singen, komme es, wie es wolle.
Er sah, dass die Nachbarn sich über ihn wunderten. Die vor ihm gingen, stießen einander an und schauten sich nach ihm um; doch das durfte ihn nicht hindern, er musste weiter machen.
Gleich darauf flüsterte ihm indes eine der Frauen zu:
»Wartet ein wenig, Jan, ich werd Euch helfen!«