Klett Lektürehilfen - Naturlyrik - Günter Krause - E-Book

Klett Lektürehilfen - Naturlyrik E-Book

Günter Krause

4,7

Beschreibung

Literatur verstehen und interpretieren Die Natur ist ein beliebtes Motiv in der Lyrik, ob als Erlebnis- oder geheimnisvoller Bedeutungsraum, Ort der Sehnsucht oder der Erkenntnis. Durch alle Literaturepochen hindurch beschäftigen sich Dichter mit der Natur. Spannend ist dabei, wie sich das Bild im Laufe der Zeit ändert, der Mensch immer wieder neu seinen Vorstellungen anpasst. Mit Klett-Lektürehilfen - wissen, was wann passiert: dank ausführlicher Inhaltsangabe mit Interpretation - wissen, welche Themen wichtig sind: anhand thematischer Kapitel - auf wichtige Fragen die richtigen Antworten wissen: gut vorbereitet durch typische Abiturfragen mit Lösungen

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Klett Lektürehilfen

Naturlyrik

Für Oberstufeund Abitur

von Günter Krause

Günter Krause ist Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch, Ethik und Evangelische Religion in Hessen.

Dieses Werk folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ausnahmen bilden Texte, bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Auflage321|201620152014

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu §52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

© Klett Lerntraining, c/o PONS GmbH, Stuttgart 2014

Alle Rechte vorbehalten.

Redaktion: Günter Maier

Umschlagfoto: mauritius image (SuperStock), Mittenwald

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

ISBN 978-3-12-923989-6

Inhalt

Einleitung

Sturm und Drang (1773–1784) – Natur als Erlebnisraum

Klassik (1786–1805) – Natur als Symbol

Romantik (1795–1835) – Natur als Sehnsuchtsraum

Heinrich Heine (1797–1856) – Natur als Bild von der Natur

Poetischer Realismus (1850–1890) – Natur als Landschaftsraum

Jahrhundertwende – Natur als Verwandlungsraum

Expressionismus (1910–1924) – Natur und Weltuntergang

Moderne (vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart) – Natur als Mittel zur Erkenntnis

Verzeichnis der Autoren, Gedichttitel bzw. -anfänge und Quellen

Literaturhinweise

Prüfungsaufgaben und Lösungen

1 Das Naturbild der Nacht

2 Motiv der Abenddämmerung

3 Ein Dichter in zwei Epochen

4 Motiv des Baums

5 Natur und Liebe

Einleitung

Im Begriff „Natur“ werden seit der Antike Bedeutungen wirksam, die sowohl von der griechischen Naturvorstellung (vgl. griech. physis ‚das Gewordensein, Naturanlage, Naturordnung, Naturkraft‘) als auch vom lateinischen Ursprung des Wortes „natura“ (von lat. nasci ‚geboren, hervorgebracht werden‘) herrühren. Das Bedeutungsfeld umfasst so weitreichende Merkmale wie Hervorbringen, Zeugen, Wachsen und Werden wie auch all das durch Geburt und Erbe Tradierte. Entsprechend zu den ursprünglichen Ableitungen lassen sich in Naturbetrachtung und naturphilosophischem Denken die inneren wesensmäßigen Gesetze und Kräfte erkennen sowie die Gesamtheit aller in der äußeren Natur vorfindlichen Erscheinungen. Es geht aber nicht nur um die Natur im Ganzen, sondern auch um die Natur des Menschen im Besonderen, um sein Wesen, die natura humana. Im Verhältnis zur Natur hat der Mensch immer auch sich selbst befragt, sein Wesen, seine Herkunft und Bestimmung.

Je nach den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen verändern sich aber die Einstellungen zur Natur. Der Zusammenhang von Mensch und Natur wird immer da betont, wo seine ursprünglichen Kräfte, Sehnsüchte und Ziele, die von gesellschaftlichen Normen und Werten nicht überlagert sind, zur Sprache kommen. Diese zeigen sich überall dort, wo die Selbstgewissheit produktiver Entfaltungsmöglichkeiten der inneren Natur des Subjekts in den Vordergrund rückt und eine Freiheit behauptet wird, die sich gegen die bestehenden Gesellschaftsordnungen wehrt, weil sie Gesellschaft und Kultur als widernatürlich empfindet. Insofern ist die Berufung auf Natur immer auch eine deutliche Kritik am Vorfindlichen. Die kritische Funktion zeigt sich sowohl in der Rückbesinnung auf das Naturrecht als auch in der Betonung der Natürlichkeit des Menschen. Das geschieht ebenso in der Medizin, in der Ethik und in Überlegungen zu einer gesunden Ernährung. Das Bewusstsein vom Natürlichen ist in der modernen Gesellschaft, besonders seit den ökologischen Krisen und den Ereignissen der Naturzerstörung, wieder in der öffentlichpolitischen Diskussion gegenwärtig. Mit der Erkenntnis, dass die ehemalige Naturlandschaft in eine Kulturlandschaft umgewandelt worden ist, wird diese nun auf ihre ökologische Qualität und Schutzwürdigkeit hin befragt.

Wendet man sich vor diesem Hintergrund der Naturlyrik, also den Gedichten, in denen von Natur die Rede ist, zu, dann wird schnell ersichtlich, dass es nicht die Natur als solche ist, die im Mittelpunkt steht, sondern der Mensch. Es geht um die Einstellung des Menschen zur Natur, um seine Empfindungsfähigkeit, um die Kontemplation und Spontaneität, aber auch um die Bewertung der Natureinstellung. Von letzterer ist oftmals auch die Wirkung eines Gedichts abhängig.

Damit hängt zusammen, dass sich das Naturthema mit anderen Themen verbindet, wie der Liebe, der Politik, der Gemeinschaft, Freundschaft und der Frage nach der Funktion von Lyrik in der Gesellschaft. Durch diesen erweiterten Horizont erhält das Naturgedicht in verstärktem Maß gesellschaftliche Bedeutung. Was für Lyrik im Allgemeinen gilt, trifft auch auf das Naturgedicht zu: Es lässt sich nicht festlegen auf den eindeutigen Ausdruck für einen Sachverhalt oder ein Phänomen, sondern bleibt die durch Sprachfiguren geformte und komprimierte Aussageweise eines lyrischen Ich.

Die hier vorgelegten Einzelinterpretationen sind so formuliert, dass sie die formalen Strukturen aufdecken, in denen die jeweiligen Anschauungen von Natur gestaltet sind. Durch die Form wird der Inhalt genau zu der Aussage, die dem Leser begegnet. In ihr zeigt sich auch die Art und Weise, in der der Autor seine subjektive Haltung gegenüber der Natur und der Gesellschaft, in der er lebt, zum Ausdruck bringt.

Die Deutungen sollen den Zugang zu den Gedichten erleichtern, indem sie Aufbau, Formgesetze und Gestalt erläutern. Eine genaue Analyse des Metrums erfolgt nur dann, wenn diese einen Erkenntnisgewinn für den Sinnzusammenhang des jeweiligen Gedichts mit sich bringt. Das Metrum ist als Grundgerüst eines Wechsels von betonten und unbetonten Silben zu verstehen, das dem Text eine klangliche Stütze gibt. Abweichungen vom metrischen Schema stellen dies nicht grundsätzlich in Frage; besondere und auffallende Abweichungen verraten im Gegenteil einen gestalterischen Akt. Das Gedicht lebt dann vom Spannungsverhältnis zwischen Metrum (als Baugerüst) und Rhythmus (als überlagernde lautliche Sinneinheit) und erhält aus dieser Spannung heraus seinen ästhetischen Reiz.

Die Kriterien für ein solches Interpretieren sind Verständlichkeit, Überprüfbarkeit und Plausibilität. In keinem Fall ist Vollständigkeit intendiert. Jedes Gedicht birgt in sich weitere Nuancen des Verstehens, andere Perspektiven und tiefere Sinnhorizonte. Die Interpretation lässt sich vereinfacht in die folgende dreigliedrige Stufenabfolge unterteilen:

1. Entstehungsdatum, Autor und Thema des Gedichts; allgemeiner Eindruck und Deutungshypothese

2. Form- und Strukturbeschreibung (lineare Vorgehensweise)

3. Gesamtdeutung (gesellschaftliche und biographische Bezüge; epochenspezifische Zuordnungen)

Die kurze Übersicht über wesentliche Merkmale der Epoche am Anfang jeden Kapitels gibt eine Art Rahmen vor, in den das Gedicht literarhistorisch eingeordnet werden kann. Der Fokus der Deutung ist jedoch eindeutig auf Erscheinungsweise und Funktion der Naturdarstellung gerichtet.

Sturm und Drang (1773–1784) – Natur als Erlebnisraum

Epochenspezifische Merkmale

Harmonie von schöpferischer Natur und schöpferischem Subjekt

Subjekt als Naturwesen

Emanzipatorisches Selbstgefühl des Individuums

Natur als Bürge für Freiheit

Die literarische Produktion hatte im 18. Jahrhundert entweder die Funktion der sittlichen Bildung im Sinne der Aufklärung oder die Funktion des heiteren lustvollunernsten Spiels im literarischen Rokoko. Von beidem distanziert sich die jetzt entstehende neue Auffassung von Dichtung, die später nach dem Titel eines 1776 gedruckten Schauspiels des deutschen Dramatikers Friedrich Maximilian von Klinger (1752–1831) den Epochenbegriff des Sturm und Drang erhalten soll. Literatur lässt sich nicht mehr in den Dienst außerästhetischer Wertvorstellungen stellen. Für die junge Generation der Stürmer und Dränger ist sie Ausdruck der Selbstverwirklichung; in ihrem Mittelpunkt steht das unmittelbare Erleben des autonomen Subjekts. Indem sich die Dichter gegen die tradierten gesellschaftlichen Werte und Normen stellen, verfügen sie aber noch nicht über neue Werte. Sie weigern sich, Urteile über Lebensformen zu fällen. Bürgerliche Pflichten mit ihrem einengenden Kodex sowie die Nützlichkeitsmoral werden abgelehnt. Literatur dient den Autoren dazu, mit Lebenskonzepten und Entwürfen des Zusammenlebens zu experimentieren. Sie gilt als Forschungsfeld der Moral; es gibt nichts, das fremdbestimmt und festgelegt oder durch bürgerliche Regeln eingeengt ist.

Diesen von der Autonomie geprägten Zielen entsprechen die Themen, die im Sturm und Drang behandelt werden. Im Vordergrund stehen Freundschaft, Liebe und Familie. Ihr gemeinsames Band ist die Natürlichkeit. Diese erscheint dabei im Sinne von Unberührtheit, was durchaus gesellschaftlich zu verstehen ist: unberührt von den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft.

Neu ist das Thema der Einzigartigkeit subjektiver Empfindungen, die das dichterische Individuum nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten suchen lässt. Diese Empfindungen richten sich vor allem auf die Natur in ihrer Ursprünglichkeit; dazu gehört auch die sentimentale Reise, die zu Entdeckungen reizte und neue, unbekannte Gefühle entstehen lassen sollte.

Das 18. Jahrhundert hat die Natur als Heiligtum verehrt. Um sich dennoch in ihr einzurichten, entstehen Gärten und Parklandschaften, also eine gestaltete Natur, die einerseits den Aufenthalt in ihr erlaubte, andererseits der wilden und fremden Natur das Unheimliche nahm. Im Sturm und Drang nun schweifen die Gedanken des Dichters wie auch die seiner literarischen Figuren frei und lustvoll-unbekümmert, ohne vorgegebene Wege und Richtungen, in der Natur. Emphase, Unmittelbarkeit, Ausrufe geben dem inneren Erleben Ausdruck. Man glaubte so, dem Wesen des Menschen, seiner unverstellten Natur, am nächsten kommen zu können.

Der ideengeschichtliche Begriff dafür ist der des Genies. In ihm bündeln sich Erfahrungen und ideelle Vorstellungen von Individualität, Originalität, Selbstbestimmung, eigenständigem Erleben, Unabhängigkeit, Naturverbundenheit. Bereits Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), der Dramatiker der deutschen Aufklärung, hatte den Begriff des Genies verwendet, um damit das französische Theater in Frage zu stellen und anstatt Konvention, Einförmigkeit und Hofmanier den Menschen in seiner Natürlichkeit, seinem Charakter und seiner Leidenschaft zu zeigen.

Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) vollendet in der Straßburger Zeit zusammen mit Johann Gottfried Herder (1744–1803) die Deutung des Dichters und Künstlers als Genie und schreibt diesem ein besonderes Ingenium (natürliche Begabung) und die Kraft des Schöpfers zu. Im Genie verdankt alles sich selbst, es ist durch keine Nachahmung gebunden und eifert keinem Vorbild nach. Insofern ist der Dichter gottgleich, in ihm zeigt sich das dem Menschen innewohnende Göttliche. Das Genie ist der Inbegriff der Fülle des Herzens. Das Subjekt vereinigt in sich alles Lebendige, das Unverbildete und das Ganze der Kunst ohne die Schnörkel des Rokoko und ohne die Üppigkeit des Barock; es ist leidenschaftlich, ungekünstelt, sinnenfroh-genießend und natürlich; es überspringt die Grenzen der Fremdbestimmtheit und missachtet die Vorschriften und Regeln der Dichtkunst zugunsten eines unmittelbaren Ausdrucks subjektiv erlebter Erfahrungen.

Im Gegensatz zu der einseitigen Betonung der Vernunft in der Aufklärung wird im Sturm und Drang ein ganzheitliches Menschenbild vertreten. Geist, Seele und Leib werden als Einheit verstanden. Vernunftfähigkeit und Empfindungsfähigkeit des Menschen gehören zusammen. Im Rückgriff auf den französischen Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der die Natur gegen die Kultur und ihre Konventionen in Schutz nimmt, betonen die Stürmer und Dränger das Naturwesen des Menschen, der sich von den künstlichen Schranken zwischen den Menschen befreien soll: Ständehierarchie, Verstellung und Lüge behindern den Einzelnen in seiner freien Entfaltung. Damit gewinnen diese Ideen gesellschaftskritischen Aufforderungscharakter.

Entsprechend zu der veränderten Wahrnehmung und Bewertung der Emotionen verändert sich nun auch der Blick auf die Liebe und Natur. Die individuelle Gefühlskraft wird in der jungen Sturm-und-Drang-Generation als Naturmacht erlebt, die Liebe als spontan, sinnlich und frei; die Naturbilder der Gedichte dieser Zeit verdanken sich der überquellenden Hingabe, der ungebundenen Imagination. Das empfindende Subjekt genießt das Glücksgefühl der Liebe in einem reinen, freien Entzücken und drückt dies im Jubel des Überschwangs naturhaften Erlebens aus. Diese grandios-erlebte Einheit mit der Natur und das genussvolle Liebesempfinden kommen im Gedicht „Maifest“ des jungen Goethe in einer programmatisch-dichterischen Gestalt zum Ausdruck (siehe S. 147). Der Blick auf die Natur ist von jeder Zweckorientierung frei. Die schöpferischen Kräfte einer freien Natur, ihre „herrlich leuchtende“ Erscheinung, denen das empfindsame Subjekt sich anvertraut, spiegeln sich in den Bildern aus der Natur wider.

Gedichte, in denen die Ansprüche auf Authentizität, Originalität und Emotionalität umgesetzt worden sind, werden als Erlebnislyrik oder Erlebnisdichtung bezeichnet, die ihren Ursprung im Sturm und Drang hat. Der Begriff legt den Eindruck nahe, als gehe das einzelne Gedicht jeweils auf eine bestimmte biographische Wirklichkeit zurück, die man für das volle Verständnis dieses Gedichts aufschlüsseln müsste. Dahinter steht die Vorstellung, dass ein Gedicht umso wertvoller ist, je mehr persönliche Erlebnisse und Empfindungen in ihm verarbeitet worden sind. Auch dem Leser sind mitunter solche Gedichte lieber, da sie ihm selbst ein gefühlsmäßiges Erleben oder Nachempfinden ermöglichen. Im Gegensatz dazu lassen sich folgende Einwände formulieren: Die jeweils genauen Umstände der Textproduktion lassen sich kaum hinreichend prüfen. Heutige Leser wissen oft nicht, was ein Dichter wie Goethe wirklich preisgeben wollte, was nicht. Gerade an den Gedichten der Sturm-und-Drang-Zeit ist zu beobachten, dass die verwendeten Bildkomplexe und Wortfelder in ihrem Bedeutungsspielraum so allgemein sind (Glück, Lust, Natur, Flur, Gesang, Liebe, Welt, Herz, Abend, Mond, Erde, Duft, Nacht), dass ein besonderer Situationsbezug gar nicht erkennbar ist. Ein weiterer Einwand wiegt schwerer: Mit dem Begriff „Erlebnislyrik“ reduziert man den Inhalt eines Gedichts auf Empfindungen und seelische Zustände des Subjekts. Damit verbaut man sich von Anfang an die Einsicht, dass Gedichte auch von anderen „Erlebnissen“ ihren Ausgangspunkt nehmen können: von Gedanken und Reflexionen, von der Beschäftigung mit Kunst und Politik, vom ernsthaften Spiel mit der Sprache und dem künstlerischen Material. Auf keinen Fall sollte der Begriff der Erlebnislyrik als ein Wertekriterium verwendet werden. Der biographische Bezug kann immer nur ein Teil der Deutung sein, niemals aber die gesamte Analyse von Form und Inhalt überflüssig machen oder gar ersetzen.

In den drei nachfolgenden Gedichten spielt der für Goethe typische Entwicklungsgedanke eine Rolle. Entwicklung lässt sich in besonderem Maße mit dem Naturelement des Wassers und seinen Konnotationen verbinden. In der Darstellung eines Flusses gipfeln Vorstellungen vom Naturstoff Wasser, von Wolken und Himmel, von Bewegung und Ruhe, von Flüchtigkeit und Beständigkeit, von Licht und Farbe. All diese Elemente formieren zusammen mit Erde und Felsen, Gebüsch und Tierreich das Landschaftserleben, in dem sich die Naturerfahrung des Menschen ausspricht und ihrer selbst bewusst wird. Leonardo da Vinci nennt die Felsen das „Skelett der Erde“, und die Flüsse sind in diesem leibmetaphorischen Sinne die Adern des Erdleibs, die als Bach oder gewaltiger Fluss dahinströmen und dem Ozean entgegeneilen. Das Element des Wassers – zusammen mit Feuer, Luft und Erde – bildet den lebendigen Organismus der Erde.

In Goethes Haltung gegenüber der Natur geht es um Faszination, Erstaunen, Anschauung, Mitfühlen, sinnlich-konkretes Erleben der natürlichen Dinge. Er sucht die Natur in ihrer immer tätigen Lebendigkeit (natura naturans) zu erschließen; das Subjekt, das die Natur wahrnehmen will, ist selbst ein Teil dieser Natur. In der Einheit der lebendigen Produktivität erschließt sich sowohl die Natur als auch der Mensch in seiner Unabgeschlossenheit und Entwicklungsfähigkeit. Das Lebendige der Natur wiederzugeben ist für Goethe eine ständige Herausforderung. Im Experiment sucht er die lebendige Natur, die dem mit ihr verbundenen, sinnlich-leiblich betroffenen Subjekt begegnet, die erfahren, gegenständlich begriffen, angeschaut, im Zusammenhang des Ganzen reflektiert und schließlich im Erstaunen als solche bewundert werden soll. In der kleinen Schrift „Anschauende Urteilskraft“ definiert Goethe eine Wissensform, die typisch für seine spezifische Art der Naturforschung ist, nämlich „daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten“ (Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, S. 30 f.). Goethes Naturauffassung entstammt also einem partizipierenden Bewusstsein.

Die im Jahr 1772/73 entstandene Hymne „Mahomets-Gesang“ ist ein frühes Beispiel für die Darstellung der lebendigen Natur. Im Mittelpunkt steht das faszinierende Naturschauspiel eines Flusses. Der Lauf des Wassers von der Quelle hinab ins Tal und zum Ozean hin versinnbildlicht die Lebensstationen des Religionsgründers Mohammed. Die Namensform „Mahomet“ war zu Goethes Zeiten gebräuchlich.

Johann Wolfgang Goethe

Mahomets-Gesang

Seht den Felsenquell

Freudehell,

Wie ein Sternenblick!

Über Wolken

5

Nährten seine Jugend

Gute Geister

Zwischen Klippen im Gebüsch.

Jünglingsfrisch

Tanzt er aus der Wolke

10

Auf die Marmorfelsen nieder,

Jauchzet wieder

Nach dem Himmel.

Durch die Gipfelgänge

Jagt er bunten Kieseln nach,

15

Und mit frühem Führertritt

Reißt er seine Bruderquellen

Mit sich fort.

Drunten werden in dem Tal

Unter seinem Fußtritt Blumen,

20

Und die Wiese

Lebt von seinem Hauch.

Doch ihn hält kein Schattental,

Keine Blumen,

Die ihm seine Knie’ umschlingen,

25

Ihm mit Liebesaugen schmeicheln;

Nach der Ebne dringt sein Lauf

Schlangewandelnd.

Bäche schmiegen

Sich gesellig an.

30

Nun tritt er

In die Ebne silberprangend,

Und die Ebne prangt mit ihm,

Und die Flüsse von der Ebne

Und die Bäche von Gebürgen

35

Jauchzen ihm und rufen: Bruder,

Bruder, nimm die Brüder mit,

Mit zu deinem alten Vater,

Zu dem ew’gen Ozean,

Der mit weitverbreit’ten Armen

40

Unsrer wartet;

Die sich, ach, vergebens öffnen,

Seine Sehnenden zu fassen;

Denn uns frißt in öder Wüste

Gier’ger Sand,

45

Die Sonne droben

Saugt an unserm Blut,

Ein Hügel

Hemmet uns zum Teiche.

Bruder,

50

Nimm die Brüder von der Ebne,

Nimm die Brüder von Gebürgen

Mit, zu deinem Vater mit!

Kommt ihr alle! –

Und nun schwillt er

55

Herrlicher, ein ganz Geschlechte

Trägt den Fürsten hoch empor,

Und im rollenden Triumphe

Gibt er Ländern Namen, Städte

Werden unter seinem Fuß.

60

Unaufhaltsam rauscht er über,

Läßt der Türme Flammengipfel,

Marmorhäuser, eine Schöpfung

Seiner Fülle, hinter sich.

Zedernhäuser trägt der Atlas

65

Auf den Riesenschultern, sausend

Wehen über seinem Haupte

Tausend Segel auf zum Himmel

Seine Macht und Herrlichkeit.

Und so trägt er seine Brüder,

70

Seine Schätze, seine Kinder

Dem erwartenden Erzeuger

Freudebrausend an das Herz.

Ein begeistert-schwungvoller Rhythmus beherrscht den ersten Leseeindruck. Ein vorwärtsdrängender, den Leser mitreißender Sprachduktus trägt einzelne Stimmungslaute und Bilder, deren Zusammenspiel das Naturerleben unmittelbar zum Ausdruck bringt. Es ist von Anfang an auf Teilhabe, mitschaffendes und mitaufnehmendes Wahrnehmen gerichtet: „Seht den Felsenquell“ (Z. 1).

Die Sprechweise des lyrischen Ich ist durch keine Vorgabe gehemmt, sie äußert sich so, wie sie der inneren Anteilnahme entspricht. Der Sprecher vollzieht innerlich bewegt einen elementaren Naturvorgang mit, das immer gewaltigere Anschwellen eines von der Quelle sich ausbreitenden Stromes. Die einzelnen Verse folgen dem metrischen Schema des Trochäus. Die jeweils neu einsetzende Anfangsbetonung gibt die Begeisterung über das Schauspiel der Natur wieder. Die Verszeilen haben verschieden viele Hebungen und entsprechend unterschiedliche Längen. Dieselbe Vielfalt ist im Strophenbau zu beobachten: Die Strophen weisen unterschiedliche Länge ohne irgendeine Parallelität auf. Insgesamt gleicht sich also die äußere Form dem Nuancenreichtum der Natur sowie der von ihr beherrschten Stimmung an. Dem entspricht auch die hier verwendete Form der Hymne, der Definition nach ein Lobgesang zu Ehren der Götter und Heroen, der im vorliegenden Kontext auf den besonderen Menschen Mohammed übertragen wird.

Die einzelnen Stationen des Flusslaufes sind dem Biographieschema des Lebensweges, der Entwicklung des Propheten, angepasst. Der Fluss entspringt aus einer Felsenquelle; aber sogleich wird auf die kosmische Weite („Wie ein Sternenblick!“, Z. 3) und die göttliche Herkunft („Nährten seine Jugend / Gute Geister“, Z. 5 f.) verwiesen. Zwar spielt sich seine Existenz auf der Erde ab, doch bleibt die Sehnsucht nach dem Himmel bestimmend für den folgenden Weg („Jauchzet wieder / Nach dem Himmel“, Z. 11 f.). Das Mitreißen der Bruderquellen ist analog zur Jüngerschaft des Religionsstifters zu deuten. Die lebensspendende Wirksamkeit („Und die Wiese / Lebt von seinem Hauch“, Z. 20 f.) ist dem geistigen Neubeginn des Lebens verwandt. Das Vorwärtsdrängen („Nach der Ebne dringt sein Lauf“, Z. 26) und Anschwellen des Flusses („Und nun schwillt er / Herrlicher“, Z. 54 f.) verheißt die Ausbreitung des Glaubens und die Entstehung einer neuen Zivilisation („Und im rollenden Triumphe / Gibt er Ländern Namen, Städte / Werden unter seinem Fuß“, Z. 57–59). Das unbeirrbare Fortschreiten und die Überwindung der Hindernisse ist die „Schöpfung / Seiner Fülle“ (Z. 62 f.). Am Ende steht die Vereinigung mit dem Göttlichen.

Die Dynamik dieser Entwicklung im Leben des Propheten kommt durch die Verben zum Ausdruck, die von mitreißender Bewegtheit und freudig-vorwärtstreibender Energie gekennzeichnet sind: tanzen, jauchzen, jagen, fortreißen, dringen, prangen, schwellen, emportragen, rauschen, wehen. Die einzelnen Lebensstationen zeigen ihre Pracht in den Attributen und Komposita: freudehell, Sternenblick, jünglingsfrisch, schlangewandelnd, silberprangend, Flammengipfel, freudebrausend. Der Ausdruck von Subjektivität und Innerlichkeit, verbunden mit dem Pathos eigener Verherrlichung, Preisung der Autonomie und Rückführung aller Energien auf die in ihm liegende Schaffenskraft sind typische Merkmale des Genies. Diese Kraft ist vorwärtsdrängend, selbstständig und doch zugleich dem Ursprung verbunden. Die Bewegung ins Lineare hinaus (der Fluss) erhält dadurch eine Parallelbewegung des vertikalen Hinab und Hinauf (verbunden mit dem Göttlichen in der Jugend strebt der Prophet am Ende wieder dem Göttlichen zu). Seine schöpferisch-geniale Kraft stammt aus dem intensiven Bezug zur göttlichen Natur.

Die im Gedicht zugrunde gelegte Naturauffassung geht auf einen dynamischen Naturbegriff zurück. Natur ist nicht gleichbedeutend mit dem Gesamtbestand sämtlicher Naturerscheinungen; vielmehr ist sie der Inbegriff der generativen Prozesse, die diesen Bestand erst ermöglichen. Die Haltung, mit der das lyrische Ich ihr begegnet, ist die der teilnehmenden begeisterten Anschauung. Wird solchermaßen Natur als ein produktives Prinzip begriffen, dann heißt das für die künstlerische Nachahmungspraxis: Nachvollzug des produktiven Vorgangs. Die sich daraus ergebende Konsequenz für den Stellenwert der Dichtung, insbesondere der Lyrik, ist nun, dass jedes Kunstwerk gleichbedeutend neben die Natur rückt. Lyrik bekommt den Charakter der Natur selbst.

Goethes Gedicht „Es schlug mein Herz“ ist wohl 1771 entstanden. Die Originalfassung existiert nicht mehr. Aus Friederike Brions Nachlass, der das Gedicht übersandt wurde, stammen die ersten zehn Zeilen. Es ist erstmalig 1775 veröffentlicht worden, die 2. Fassung in den Schriften 1789 und den Werken 1810. Dort erhielt es den Titel „Willkommen und Abschied“. Über den biographischen Situationsbezug hinaus ist es vor allem in Hinsicht auf die Naturvorstellung von Bedeutung.

Johann Wolfgang Goethe

Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde!

Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.

Der Abend wiegte schon die Erde,

Und an den Bergen hing die Nacht.

5

Schon stund im Nebelkleid die Eiche

Wie ein getürmter Riese da,

Wo Finsternis aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah.

Der Mond von einem Wolkenhügel

10

Sah schläfrig aus dem Duft hervor,

Die Winde schwangen leise Flügel,

Umsausten schauerlich mein Ohr.

Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,

Doch tausendfacher war mein Mut,

15

Mein Geist war ein verzehrend Feuer,

Mein ganzes Herz zerfloß in Glut.

Ich sah dich, und die milde Freude

Floß aus dem süßen Blick auf mich.

Ganz war mein Herz an deiner Seite,

20

Und jeder Atemzug für dich.

Ein rosenfarbes Frühlingswetter

Lag auf dem lieblichen Gesicht

Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter,

Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht.

25

Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!

Aus deinen Blicken sprach dein Herz.

In deinen Küssen welche Liebe,

O welche Wonne, welcher Schmerz!

Du gingst, ich stund und sah zur Erden

30

Und sah dir nach mit nassem Blick.

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,

Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Vier Strophen von jeweils acht Zeilen mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen im Kreuzreim bilden die Grundform des Gedichts. Das metrische Gerüst wird von einem vierhebigen Jambus erzeugt, der allerdings rhythmisch frei je nach Gefühlslage gestaltet ist und so jegliche Eintönigkeit unterläuft. Ebenso tragen die Ausrufe, die sich in der Interpunktion auffällig zeigen, zu einer beinahe schon spontanen und aktionsreichen Handlung bei.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein Sprecher, der des Nachts zu seiner Geliebten aufbricht und dabei alle Widrigkeiten, die sich ihm in den Weg stellen, mit großem Mut überwindet. Danach folgen Ankunft und Beisammensein mit der Geliebten, bevor der Abschied ausführlich geschildert wird.

Aufbruch, Weg zur Geliebten, Begegnung und Abschied werden in einem den Sprecher und das Liebeserlebnis sowie die äußere Natur umgreifenden, die einzelnen Teile miteinander verbindenden Bildkomplex eingefangen. Dies soll im Einzelnen mit dem Schwerpunkt auf der Naturdeutung verdeutlicht werden.

Die Aufbruchstimmung des jungen Mannes wird gleich zu Anfang des ersten Verses erkennbar. Die innere Triebfeder seiner Handlung ist das Herz. Die Bedeutung dieses Wortes ist über das Gedicht hinaus für die gesamte Epoche wichtig. Es wird in dem Briefroman des jungen Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) an unzähligen Stellen genannt; es ist der Inbegriff des fühlenden Subjekts, der Mittelpunkt seiner Person, von dem Denken und Handeln, Empfinden und Verstehen ausgehen. Vom Pietismus beeinflusst, der gefühlvollen Bewegung des protestantischen Glaubens, hat „Herz“ die Bedeutung von ‚Schau der Innerlichkeit‘. In ihm erreichen Vorstellungen wie Unschuld, Güte, Liebe, Sanftmut, Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe ihren Höhepunkt. Im vorliegenden Gedicht ist es in Z. 1 der Impuls für die Liebessehnsucht, die sich unmittelbar in Handlung umsetzt: „Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde!“ Zwischen Gefühlsregung und Tun gibt es keinen Unterschied, wie es durch das Fehlen eines Verbs zum Ausdruck kommt; das lyrische Ich schreitet unmittelbar zur Tat: „Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht“ (Z. 2).

Zeitpunkt des Aufbruchs ist der Abend. Dieser und die hereinbrechende Nacht werden mit menschlichen Handlungsweisen beschrieben, die sich auf kosmische Dimensionen beziehen: „Der Abend wiegte schon die Erde, / Und an den Bergen hing die Nacht“ (Z. 3 f.). Einem zeitlich relativ eingegrenzten Bereich wie dem Abend wird eine Eigenschaft übertragen, die ihn in die Lage versetzen, die gesamte Erde wie ein Kind zu wiegen. Das zweite Bild ist von einer raumzeitlichen Reduzierung gekennzeichnet: Der gesamte Bereich der Nacht erscheint als an die Berge gebunden. Die Tatsache, dass die vertrauten Proportionen gesprengt sind, lässt die Schrecknisse der Nacht wie Dämonen heraufziehen. Die Finsternis bekommt Züge des Unheimlichen und Schrecklichen, indem sie wie eine Person agiert: „Wo Finsternis aus dem Gesträuche / Mit hundert schwarzen Augen sah.“ (Z. 7 f.)

Aus den folgenden Zeilen ist allerdings zu erschließen, dass die Dämonisierung der Natur nur den Zweck verfolgt, den Mut des jugendlichen Helden auf dem Weg zu seiner Geliebten umso deutlicher herauszustellen: „Doch tausendfacher war mein Mut“ (Z. 14). Der überschwänglich wirkende Komparativ von „tausendfach“ entspricht der übersteigerten Erlebnisfähigkeit des Sprechers. Umso klarer tritt dem Leser die Aussage vor Augen: Die Dämonen der Nacht werden vom Mut des Liebenden überwunden. Die Zeitform der Verben unterstützt diese Deutung, denn das gesamte Geschehen wird im Präteritum geschildert und insofern aus der Außensicht auf Vergangenes gezeigt. Das legt nahe, dass der Sprecher trotz seiner inneren Unruhe und dem heftig verspürten Liebesweh die Distanz der Erinnerung zu dem Geschehen aufbaut. Er vergegenwärtigt sich die überstandene Gefahr und damit auch das bereits abgeschlossene Gesamtgeschehen. Dieses Wechselspiel aus Nachempfinden und Distanz, Innensicht und Außensicht durchzieht das Gedicht im Ganzen.