Klippensturm - Ian Bray - E-Book

Klippensturm E-Book

Ian Bray

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Beschreibung

Tosende Brandungen. Eine tödliche Theateraufführung. Ein Polizist, der nie mehr ermitteln wollte.

Winter hält Einzug im beschaulichen Fischerort Cadgwith und Stürme peitschen über die Küste hinweg. Während es im Dorf ruhig wird, beginnen in der Kirche die Vorbereitungen für die alljährliche Theateraufführung. »Dinner for One« steht auf dem Spielplan und der ehemalige Polizist und leidenschaftliche Maler Simon Jenkins soll die Kulissen malen. Doch dann wird eines Abends die Bühne zum schrecklichen Tatort, als die Leiche des Requisiteurs aufgefunden wird – durchbohrt von einem Speer. Alle Mitglieder der Laienschauspielgruppe stehen unter Verdacht, doch niemand scheint ein Motiv zu haben. Und was hat es mit der mysteriösen Tatwaffe auf sich? Als weitere Menschen zu Tode kommen und die Polizei im Dunkeln tappt, bleibt Jenkins keine andere Wahl, als erneut zu ermitteln ...

»Viel Lokalkolorit mit Pub-Besuchen und Folkmusik macht den Krimi zu einem spannenden Urlaubsbegleiter.« Rheinische Post über »Klippentod«

Lesen Sie auch die anderen Bände der atmosphärischen Cornwall-Krimireihe unabhängig voneinander:
Band 1: Klippentod
Band 2: Klippengrab
Band 3: Klippenrache

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 693

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ian Bray, geboren 1954, ist das Pseudonym des deutschen Krimiautors Arnold Küsters. Wenn er sich nicht gerade spannende Mordfälle ausdenkt, ist er als freiberuflicher Journalist im Einsatz. Cornwall wurde vor vielen Jahren zu seinem liebsten Reiseziel, und Cadgwith hat es ihm ganz besonders angetan. Daher verbringt er dort nicht nur regelmäßig seinen Urlaub, sondern verlegt neuerdings auch seine Kriminalfälle in das beschauliche Fischerdorf.

Klippentod in der Presse:

»Viel Lokalkolorit mit Pub-Besuchen und Folkmusik macht den Krimi zu einem spannenden Urlaubsbegleiter.« Rheinische Post

»Ein spannender Schmöker zum Wegträumen, garniert mit genau dosiertem Herzklopfen.«WDR 4 Bücher

»Spannend, und mit viel Liebe zu den Figuren erzählt.« Allgemeine Zeitung

»Spannender Cornwall-Schmöker« Niers-Magazin

Außerdem von Ian Bray lieferbar:

Klippentod

Klippengrab

Klippenrache

www.penguin-verlag.de

Ian Bray

Klippensturm

Ein Cornwall-Krimi

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Copyright © 2025 der Originalausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Redaktion: Ralf Reiter

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Arcangel Images/Nic Skerten

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31406-4V001

www.penguin-verlag.de

Amazing grace, how sweet the sound / That saved a wretch like me!

Amazing Grace

Figuren und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären damit rein zufällig. Die im Buch beschriebenen Handlungsorte entsprechen weitgehend den tatsächlichen Gegebenheiten. Abweichungen sind allein der Fantasie des Autors geschuldet.

I.

Der Ostwind ließ seine Ohren schmerzen. Eine derart bissige Wetterfront hatte er zuletzt bei den Dreharbeiten in Nepal erlebt. Damals hatte er nur mit Mühe die Kameraoptik eisfrei halten können, und die billigen Ohrenschützer, die er sich vor dem Flug noch schnell im Supermarkt besorgt hatte, waren ihr Geld nicht wert gewesen. Bei dem Gedanken zog er den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern.

Was Jan heute Schmerzen bereitete, war aber nicht allein der schneidend kalte Dezemberwind, der ihm den Heimweg erschwerte. Nein, aus einem offenen Fenster der kleinen Kirche drangen zusätzlich die jammervollen Klänge eines Dudelsacks. Amazing Grace, soweit er die Melodie deuten konnte. Dadrin versuchte Curtis sich wieder einmal an dem Kirchenlied, das um einiges älter war als die grauen Mauern der Methodistenkirche. Was seine wöchentlichen Mühen anging, war da buchstäblich noch Luft nach oben.

Curtis Stills war ein harmloser Zeitgenosse, der das kompakte Steinhaus am Ortsrand von Ruan Minor seit Wochen als Proberaum für seine musikalischen Ambitionen nutzte.

Die hohen Töne klirrten in der Kälte wie brechende Eiszapfen. Jan hätte jetzt viel für die nutzlosen Ohrenschützer gegeben, die er nach Ende der Dreharbeiten in einer Tonne am Flughafen von Kathmandu versenkt hatte.

Der hochgewachsene Pensionär war versucht, sich die Ohren zuzuhalten, während er sich seinem Zuhause näherte. Sein Cottage grenzte dummerweise – jedenfalls was den Dudelsackquäler betraf – unmittelbar an den Kirchenbau. Mit den Methodisten hatte Jan längst seinen Frieden gemacht, an harte Winter in Cornwall und Curtis’ regelmäßige Probenabende hingegen würde er sich wohl nie gewöhnen.

Jan Morgan legte im Vorraum seines Häuschens die wattierte Jacke ab und machte sich daran, das Abendessen zuzubereiten. Beim Zwiebelschneiden hob er den Kopf. Der Dudelsack war mit einem Mal verstummt. Dafür hatte der Wind deutlich an Stärke zugenommen und war emsig dabei, Papier und Laub um die Häuserecken zu jagen.

Während er darauf wartete, dass sein Curry gar wurde, setzte sich Jan in seinen Lieblingssessel nahe der Haustür und blätterte oberflächlich durch die aktuelle Ausgabe der Ruan Minor Gazette. In der Mitte der Broschüre fand er, was er suchte.

Ruan Minors Laientheatergruppe The Cadgwith Company kündigte für den Februar ihre neue Produktion an. Neben Szenischen Lesungen aus ausgesuchten Werken Daphne du Mauriers stand als Höhepunkt Dinner for One auf dem Programm der wie üblich kurzen Spielzeit. Die finalen Proben sollten in der kommenden Woche beginnen.

Jan hob amüsiert eine Augenbraue. Du Maurier und dieser Sketch, welch skurrile und zugleich mutige Mischung. Wobei, dachte er, es wohl eher der Mut der Verzweiflung war. Es blieb abzuwarten, wie das Publikum, mithin das Dorf, reagieren würde. Die Zusammenstellung dieses abendfüllenden Programms erschien ihm jedenfalls alles andere als schlüssig.

Angereichert war der Artikel mit einem Foto des aktuellen Teams. Neben Curtis Stills waren Margaret Bishop, Mary Morgan, Brian Kernow und andere abgebildet. Etwas versteckt im Hintergrund entdeckte er Luke, natürlich mit der unvermeidlichen Wollmütze und dem breiten Lächeln – als übe er bereits für seinen Auftritt auf dem roten Teppich des London Film Festival.

Er schüttelte den Kopf. Hatte es Margaret Bishop, vermeintlich lebenslange erste Vorsitzende des Verschönerungsvereins von Ruan Minor und Cadgwith, am Ende also doch geschafft, auch hier dabei zu sein. An ihr führte – mal wieder – kein Weg vorbei, dachte er mit einem Hauch Hochachtung vor so viel Chuzpe. Ihre Dickfelligkeit und Penetranz waren legendär.

Er erinnerte sich noch gut daran, wie Bishop sich ihren Platz auf der Laienbühne gesichert hatte. Im Pub hatten vor einiger Zeit die abenteuerlichsten Geschichten die Runde gemacht, auf welche Art und Weise sie die Konkurrenz ausgestochen hatte. Selbst vor übler Nachrede soll sie nicht haltgemacht haben. Die eine Aspirantin könne sich niemals Text merken, habe das schon in der Schule nicht gekonnt. Die andere hätte sich wegen ihres Sprachfehlers schon längst in Behandlung begeben sollen. Wie gesagt, Gerüchte und Pubtratsch.

Margaret Bishop bekam eben am Ende des Tages immer das, was sie wollte. Jan musste lächeln. Davon wusste auch ihr Ehemann David ein Lied zu singen. Was der Bedauernswerte dann auch ab und an bei einem Bier oder zwei im Pub unten am Hafen tat. Wobei David Bishop aber niemals auch nur den leisesten Zweifel daran aufkommen ließ, dass er seine Frau liebte. Über die Ehejahre habe er schlichtweg gelernt, wann er seinen Ohren eine Auszeit gönnen musste.

Jan schreckte aus seinen Gedanken auf und warf die Broschüre achtlos auf den Beistelltisch. Sein Curry! Er stürzte alarmiert in die Küche, aber dort simmerte das indische Gericht immer noch auf kleiner Flamme leise und verlockend duftend vor sich hin.

II.

»Nächste Woche bitte etwas mehr Textsicherheit, ihr Lieben. Dann wird das sehr gut.«

Susan Brocklebys Bitte klang so matt wie die einer Lehrerin kurz vor der Pensionierung, die allen Unfug und alles Unvermögen schon einmal gesehen und erlitten hatte und die dennoch jedes Mal aufs Neue bemüht war, ihre Klasse das nicht merken zu lassen und stattdessen Optimismus zu vermitteln. Was ihr allerdings von Spielzeit zu Spielzeit schwerer fiel. Gleichwohl wollte die Mittvierzigerin ihr ambitioniertes Ziel nicht aus den Augen verlieren, das Niveau der Laienspielschar auf das nächste Level zu heben.

Die Schauspielerei war schon in der Schule Susan Brocklebys Leidenschaft gewesen, und auch später an der Uni in Nottingham. Die Theatergruppe dort war der passende Ausgleich für ihr Studium der Volkswirtschaft gewesen. An der Universität hatte sie auch ihr Talent für Regiearbeit entdeckt.

»Also, ich kann meine Texte.«

Margaret Bishop hatte wie stets wenig Lust auf Kritik – die der selbst ernannten Regisseurin ohnehin nicht zustand, wie sie ihren Freundinnen gegenüber stets zu betonen wusste.

Susan Brockleby war das hinterbracht worden, und sie hatte es schweigend zur Kenntnis genommen. Ebenso wie den genüsslich kolportierten Zusatz, sie sei vor gerade einmal dreieinhalb Jahren hergezogen: Stellt euch vor, irgendwo aus Leicestershire oder Derbyshire. Die gute Susan Brockleby hat noch viel zu lernen. Vor allem, was die Verhältnisse im Dorf betrifft.

»Frühzeitig textsicher sein kann nie schaden, meine Liebe.«

Susan schob ihre Unterlagen zusammen. Sie hatte bereits beim ersten Vorbereitungstreffen gespürt, dass die Neue im Team eine Herausforderung sein würde.

»Schließlich kommt es nicht nur auf jeden Halbsatz im Dialog an, sondern auch auf die Interaktion, die Mimik und das Timing. Und das Leichte muss hart erarbeitet werden, damit es am Ende auch leicht erscheint. Gerade was deine Rolle als Miss Sophie betrifft. Wir müssen uns alle quälen. Wir werden dem Sketch, der dir so am Herzen liegt, anders nicht gerecht. Und unserem Publikum. Und dafür spielen wir ja, für den Applaus. Aber ich muss dir, Margaret, ja nicht erklären, wie man Wirkung erzielt in der Öffentlichkeit.«

Das hatte sie sich dann doch nicht verkneifen können. Die Angesprochene ließ nicht erkennen, ob sie den Seitenhieb verstanden hatte.

»Mein Onkel hat übrigens noch mehr von dem Zeugs.« Curtis Stills war zu den beiden Frauen an den schmalen Tisch getreten, der als sakraler Bestandteil des Betraums der Methodistenkirche ausgedient hatte und nun als Regiepult seine zweite Karriere erlebte. Er deutete auf das sorgfältig zusammengelegte Tigerfell, das wichtigste Requisit im Stück.

Die Regisseurin schüttelte sanft lächelnd den Kopf. »Ein echter Glücksfall.« Sie fuhr mit der Hand erschrocken zum Mund. »Verzeih bitte, so habe ich das nicht gemeint. Der Tod deines Onkels ist natürlich alles andere als ein Glücksfall. Ich meine nur, es ist ein Glück, dass wir das Fell nutzen können. Im Augenblick glaube ich nicht, dass wir noch weitere seiner Erbstücke aus Afrika benötigen.« Sie wies in den Raum. »Hier ohnehin nicht. Für die restlichen Proben reicht das Fell vollkommen. Für die Aufführungen in der Dorfhalle müssen wir allerdings möglichst bald die Dekoration abstimmen. Da könnten wir durchaus noch ein paar Dinge aus dem Nachlass gebrauchen. Kerzenleuchter, Bilder, Geschirr.«

Margaret Bishop steckte mit einer unwirschen Handbewegung ihren Autoritätsradius ab. »Wir haben den Künstler doch im Dorf. Marys Bekannter kann die Kulissen malen. Curtis, du brauchst dich also nicht zu kümmern. Meine Nichte Mary sorgt außerdem für die Tischdeko.«

»Mary macht doch das Catering. Da hat sie sicher genug zu tun«, versuchte die Regisseurin zu intervenieren. »Und ich weiß nicht, ob wir Simon Jenkins damit behelligen sollten.« Susan holte Luft. Das tat sie immer, wenn sie ihre Autorität vor der Klasse unangefochten wissen wollte. »Eine gemalte Bühnendeko kommt nicht infrage. Schließlich sind wir kein Bauerntheater.«

»Lass das mal meine Sorge sein. Ich habe einen kurzen Draht zu Mr. Jenkins. Meine Bitte wird er nicht abschlagen. Und Mary muss nur in ihren Schrank greifen, und schon ist die Tafel gedeckt.«

Curtis Stills sah zwischen den beiden Frauen hin und her. Zwei streitbare Alphatiere in der Theatertruppe; besser, er geriet da nicht zwischen die Fronten. Auch wenn er in diesem Stück lediglich der Requisiteur war.

»Ich denke, für heute sind wir durch. Ich übe dann noch ein bisschen Dudelsack und schließe später ab«, versuchte er den sich anbahnenden Machtkampf zu entschärfen.

»Du hast recht. Das war’s für heute.« Susan Brockleby wandte sich zu Brian Kernow um, der die Unterhaltung stumm von seinem Stuhl aus verfolgt hatte. »Ich finde, dass du die genau richtige Besetzung bist. Der Saal wird toben. Da bin ich sicher.«

Der pensionierte Dozent für französische Geschichte deutete ein Kopfnicken an. Er steckte bereits tief in seiner Rolle als James der Butler. »Zu gütig, Madam.«

Susan lachte und bemerkte, dass Bishop unbeeindruckt tat und nach ihrer Handtasche griff.

»Bis kommenden Donnerstag. Ich schalte schon mal die Heizung aus.« Mit kurzen energischen Schritten verließ die künftige Miss Sophie den Betsaal.

Nachdem sich auch die anderen verabschiedet hatten, holte Stills das Instrument aus dem Nebenraum, der üblicherweise als Sonntagsschule diente, schulterte es und begann den Balg des Dudelsacks mit seiner Atemluft zu füllen.

Die ersten Töne klangen wie gewohnt eher kläglich. Er hatte erst vor ein paar Wochen mit dem Spielen begonnen, kurz nach der Beerdigung von Mortimer Gilbert. Das Instrument erinnerte ihn an die Nachmittage in seiner Kindheit, an denen Platten mit Dudelsackmusik aufgelegt worden waren.

Seine Lust am Üben hielt sich an diesem Abend jedoch in Grenzen, und er setzte das Mundstück mehrmals ab. Ihm fehlte immer noch die Kraft für das kontinuierliche Betätigen des Balgs. Statt sich auf die Musik zu konzentrieren, gingen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf: Die beiden Frauen, die ihm in ihrem Streit wie dumme Gänse erschienen. Die nicht enden wollende Arbeit, die mit der Nachlassregelung einherging.

Normalerweise konnte Curtis bei den Proben die Welt um sich herum völlig ausblenden. Dann verwandelte sich der kalte Raum in eine sattgrüne Wiese im warmen Sommerlicht. Und er genoss das freie Spiel in der Natur, die leichte Brise, und sein Herz war voll Sehnsucht nach … Ja, wonach sehnte er sich? Er klemmte den Blasebalg fester unter den Arm. Darüber würde er später nachdenken, nun war Üben angesagt. Und es wurde in der Kirche nicht wärmer.

Als er das Mundstück erneut aufnehmen wollte, hielt er inne. Es war ihm, als habe er einen Luftzug gespürt. Er sah sich um. Die Außentür war geschlossen, und die zweite Tür im Nebenraum lag auch im Schloss. Jedenfalls meinte er sich daran zu erinnern.

Er konzentrierte sich wieder auf das Spiel. Ein Viertelstündchen noch, dann würde er in die Wärme seiner Wohnung fliehen.

Amazing Grace, how sweet the sound. That saved a wretch like me. Welch Gnade, wie süß dieser Klang, der einen armen Sünder wie mich errettete!

Mit dem Kirchenlied hatte er seinen inneren Frieden gefunden, damals, als er das Stück das erste Mal in der Gefängniskapelle von Wandsworth gehört hatte. Ein Dudelsack und volle Kirchenbänke, die Akustik hatte ihn umgehauen.

III.

Am nächsten Vormittag schloss Margaret Bishop die Dorfhalle hinter sich ab. Susan hatte sich in den Finger geschnitten, wenn sie dachte, dass der Raum ohne Kulissen auskommen würde. Ganz im Gegenteil. Die Zuschauer sollten das Gefühl haben, nicht nur Teil der Aufführung zu sein, sondern sozusagen mitten im Theaterstück zu sitzen, im Speisesaal eines ehrwürdigen Herrenhauses. Ein paar Ölschinken an der Wand, ein festlich gedeckter Tisch, mehr brauchten sie nicht auf der Bühne.

Was jedoch die Wände des Saals betraf, das war etwas völlig anderes. Sie hatte längst ihre eigenen Vorstellungen. Jenkins würde das schon hinbekommen. Der Ex-Polizist sah sich schließlich als ernst zu nehmenden Künstler. Und so jemandem stand es gut zu Gesicht, sich auch als Kulissenmaler hervorzutun. Da gab es doch berühmte Beispiele.

Entschlossen wandte sie sich ab. Sie würde hinunter in den Dorfladen gehen und Mary in ihr Vorhaben einweihen. Hatte sie erst ihre Nichte überzeugt, war der Rest kein Problem. Jenkins fraß Mary aus der Hand.

In der Kurve der schmalen Dorfstraße Richtung Cadgwith blieb sie stehen und warf einen Blick hinüber zur Kirche. 1888 war als Baujahr über dem gotisch anmutenden Kirchenfenster eingemeißelt. Das blau gestrichene Tor zum winzigen Vorplatz und dem Eingang stand weit offen. Bishop zog verärgert die Brauen zusammen. Musste man sich denn um alles kümmern? Stills hatte das Gelände gestern Abend wieder einmal nicht ordentlich verlassen. Der Ex-Knacki würde nie lernen, was Disziplin und Ordnung bedeuteten.

Sie ging hinüber, um das doppelflügelige Törchen zu schließen. Außerdem würde sie überprüfen, ob auch die beiden Kirchentüren ordentlich verschlossen waren.

Die Vorsitzende des Verschönerungsvereins rüttelte unter dem kleinen Vorbau am Zugang zum eigentlichen Betraum. Abgeschlossen, stellte sie zufrieden fest. Als sie jedoch die Klinke der zweiten Tür herunterdrückte, die etwas versteckt im hinteren Teil des Baus lag, gab diese nach. Margaret Bishop nickte grimmig. Hatte sie es doch gewusst.

Verärgert stellte sie im Raum hinter dem Saal ihre Handtasche ab, um nun auch alle Fenster und Türen zu kontrollieren. Was sie sah, ließ sie mitten in der Bewegung innehalten.

Curtis Stills hatte die Kirche nicht verlassen, ebenso wenig der Dudelsack. Er lag zusammengesunken auf dem Boden. Daneben lag Stills. Auch aus dem Requisiteur war alles Leben entwichen. Dafür ragte der kurze dünne Schaft einer Lanze aus seinem Brustkorb. Als sei Curtis der unförmige Fuß einer Stehlampe, der der Schirm abhandengekommen war.

Sie war entsetzt und fasziniert zugleich.

»Curtis? Ist alles in Ordnung? Mach keine Witze«, flüsterte sie.

Aber Margaret Bishop wusste, dass sie keine Antwort mehr bekommen würde. Der Requisiteur war tot. Mit einem Speer erlegt wie eine Antilope.

Sie taumelte voller Dramatik einen Schritt zurück. Ihre Hände griffen ins Leere, dennoch ließ sie sich zurückfallen, ohne den Blick von der grotesken Szene zu wenden. Zielsicher landete sie auf einem der Stühle, die wie Büßer aufgereiht hinter ihr an der Wand standen.

Sie hatte sich schnell gefasst und ließ neugierig den Blick über den Toten schweifen. Hatte ein Stich mit einer Lanze nicht deutlich mehr Blut zur Folge? Sie würde Jenkins fragen. Der Ex-Polizist hatte in London bis zu seinem Unfall in einer Spezialeinheit der Metropolitan Police gearbeitet, er musste so etwas doch schon gesehen haben.

Als ihr klar wurde, dass sie gerade mitten in einem Tatort saß, schrak sie auf. Nicht dass man sie am Ende noch für die Mörderin des bedauernswerten Curtis Stills hielt. Vorsichtig stand sie auf und wischte mit einem Papiertaschentuch sorgfältig über die Sitzfläche. Dann bewegte sie sich rückwärts Richtung Ausgang, nahm ihre Handtasche an sich, was ihr sofort das Gefühl von Sicherheit zurückgab. Sie wischte auch über die Abstellfläche der Tasche. Dann zog sie die Tür ins Schloss und bearbeitete mit einem frischen Tuch sorgfältig den Griff. Sie hatte mit der Tat nichts zu tun, sie hatte den Toten lediglich gefunden.

Margaret stürmte über das schmale Asphaltband hinunter nach Cadgwith. Sie hatte keinen Blick für die wenigen, dick vermummten Einwohner, die ihr neugierig hinterhersahen.

Außer Atem schob sie die Tür zum Dorfladen auf, den Mary im Winter nur stundenweise geöffnet hatte.

»Du siehst aus, als sei der Leibhaftige hinter dir her. Hier bist du in Sicherheit, Tantchen. Und es ist warm«, frotzelte ihre Nichte.

Margaret stützte sich mit den Armen auf der Theke ab und rang nach Luft. »Hast du Gin da?«

Mary schüttelte verwundert den Kopf. »Was ist los mit dir? So kenne ich dich gar nicht, Tante Margaret.« Ihr ging allmählich auf, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

»Eine Lanze. Stills. Oben.« Die Worte kamen stoßweise. Margaret war zu sehr mit Atemholen beschäftigt.

»Beruhige dich erst mal. Eins nach dem anderen. Was ist passiert? Tee?« Mary versuchte, sich vom Entsetzen ihrer Tante nicht anstecken zu lassen.

Es dauerte noch mehrere Atemzüge, bis sie sich wieder im Griff hatte. »Curtis. Du weißt, unser Mann für die Requisiten. Er liegt oben in der Kirche, mit einer Lanze in der Brust.«

»Oh, mein Gott.« Mary griff zu ihrem Mobiltelefon. »Wir müssen den Rettungswagen rufen.«

Margaret winkte ab, nun wieder sichtlich gefasst. »Lass das deinen Bekannten machen. Wir gehen rüber ins Pub. Ich brauch jetzt einen Gin Tonic. Stills ist nicht mehr zu helfen, mir dagegen schon.«

IV.

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt, Detective Inspector. Ich habe in dem Stück Dinner for One die Hauptrolle der Miss Sophie. Ehrlich gesagt ist sie mir wie auf den Leib geschn…«

»Sie haben gestern Abend also geprobt. Wer war noch anwesend? Und wie lange ging das Treffen?« Detective Inspector Chris Marks unterbrach Bishop unwirsch, die, unbeeindruckt von seinen Einwänden, wie eine Telefonverkäuferin ihren Text abzuspulen versuchte.

»Das habe ich Ihnen doch …« Sie unterbrach sich. »Wir waren nur die kleine Besetzung. Die szenischen Lesungen sollen zu einem späteren Termin geprobt werden. Also die aus den Romanen von Maurier, die sind ja längst nicht so aufwendig. Im Raum waren Brian Kernow, im Stück mein Butler James. Wobei ich anmerken möchte, dass er nicht meine erste Wahl ist.« Als sie bemerkte, dass Marks kurz davorstand, endgültig die Geduld zu verlieren, kam sie auf seine Frage zurück. »Natürlich unsere – wie soll ich sagen? – Regisseurin, und selbstverständlich das Mordopfer.« Bishop rückte ihre Strickjacke zurecht, als verlange die Rolle der Miss Sophie eine tadellose Haltung nicht nur dem Personal, sondern auch der Ordnungsmacht gegenüber.

Marks hakte nach, auch wenn er die Antwort aus der bereits durchgeführten Befragung von Kernow und Brockleby schon kannte. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen. »Die Lanze. Haben Sie eine Idee, woher sie stammen könnte? Gehört sie vielleicht zu Ihrem Theaterfundus?«

Margaret Bishop suchte mit dem Blick nach ihrer Handtasche, die sie nach dem Besuch im Pub achtlos auf dem ersten Tisch in Marys B&B-Frühstücksraum abgestellt hatte. Ihre unaufdringliche Gegenwart schien ihr neue Kraft zu geben. »Detective Inspector, bei allem Respekt, Sie können von einer Hauptdarstellerin doch nicht allen Ernstes verlangen, dass sie einen Überblick über den Fundus hat. Das hat mich auch nicht zu interessieren. Es reicht, wenn die nötigen Accessoires rechtzeitig zur Hand sind. Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich habe keine Ahnung.«

»Wann haben Sie die Kirche verlassen?«

»Auch das wissen Sie doch schon. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr.«

»Und dann? Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Es gab Tage, an denen hasste Marks seinen Job. Warum musste er manchen Zeugen alles aus der Nase ziehen? Marys Tante war eine jener Sorte Zeugen, die eine polizeiliche Befragung als Bühne für ihre Selbstdarstellung nutzten und kaum etwas zur Wahrheitsfindung beizutragen hatten.

»Ich habe die Heizung abgestellt und dann die Probe verlassen. Eine echte Probe war es ja nicht, Detective Inspector, eher eine Abstimmung der Abläufe.« Sie richtete den Blick nach innen, als müsse sie sich erst mühsam erinnern. »Unsere Regisseurin«, sie betonte das Wort auf eine Weise, dass Marks ahnte, was sie von ihr hielt, »wollte das so. Na ja. Anschließend bin ich nach Hause gegangen und habe auf meinen Mann gewartet. David kam kurz nach mir aus dem Pub, vom Treffen seiner Seekartenfreunde.«

»Sie wussten, dass Mr. Stills noch üben wollte?«

Bishop nickte.

»Und dennoch stellen Sie die Heizung ab?«

»Selbstverständlich. Wir leben in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Und das Dudelsackspielen ist Stills’ Privatvergnügen.«

»Und warum sind Sie heute Vormittag in die Kirche gegangen?«

»Wissen Sie, ich kam aus der Dorfhalle und habe auf dem Weg nach Cadgwith gesehen, dass das Gatter zum Kirchhof offen stand. Stills ist … war die meiste Zeit eher unzuverlässig. Ich wollte sichergehen, dass alle Türen abgeschlossen sind.«

Marks nickte knapp, um ihr zu bedeuten, fortzufahren.

»Und dann lag er da.«

»Haben Sie etwas verändert?«

»Natürlich nicht.«

»Was haben Sie gedacht, als sie Mr. Stills gefunden haben?«

»Der Stehlampe fehlt der Schirm.«

»Ich verstehe nicht.«

»Na ja, der Körper als Fuß, die Lanze als Stange fürs Kabel und die Birnenfassung.«

Marks wollte nicht glauben, was er da hörte. Bishop war offenbar völlig übergeschnappt, oder der Fund der Leiche hatte sie schwer traumatisiert. »Soso.«

»Sie kennen doch sicher solche Stehlampen. Klobiger Fuß, dünner Schaft aus Holz und oben ein Schirm wie ein Hut. Waren in meiner Jugend sehr modern.«

Marys Tante stand tatsächlich noch unter Schock. »In welchem Verhältnis standen Sie zu Mr. Stills?«

»Verhältnis kann man das weiß Gott nicht nennen. Er ist vor ein paar Jahren im Dorf aufgetaucht. Damals, im Winter, hat man ihn kaum gesehen. Er lebt in einer kleinen Wohnung oberhalb von Poltesco, in Kuggar. Lebte … Curtis Stills hat alle möglichen Jobs gemacht, auch bei den Fischern ausgeholfen. Aber er war eher ein Lebenskünstler und Müßiggänger. Mehr weiß ich nicht. Doch, mir fällt ein, er hat eine größere Erbschaft gemacht. Viel hat er nicht darüber erzählt. Nur dass er sich nun keine Sorgen mehr machen muss.«

Marks hatte sich ein paar Notizen gemacht. »Mehr wissen Sie nicht?«

»Was denken Sie? Ich spioniere niemandem hinterher. Ich weiß nur, dass er meist hilfsbereit und einigermaßen gesellig war. Wenn es aber um Familie oder Herkunft ging, war er eher schweigsam.«

»In der Theatergruppe war er der Requisiteur?«

»Irgendwer muss den Job ja machen. Für unser Stück war er allerdings ein Glücksfall. Er hat das Tigerfell samt Kopf besorgt. Sein Onkel hat ihm diesen Mottenfänger vererbt, hat er erzählt. Dabei fällt mir ein, wir müssen es vor der Premiere reinigen lassen. Ich werde nicht mit diesem verstaubten Stück auf einer Bühne sein.«

Gute Güte, dachte Marks, die Frau ist ja schlimmer als eine Primadonna. »Wo der Onkel wohnte und wie er heißt, wissen Sie nicht?«

»Mortimer Gilbert. Er bewohnte ein Herrenhaus in Richtung der Straße nach Porthleven. Ich kann’s Ihnen zeigen.«

»Nein, danke. Das erledigen wir schon.« Das fehlte noch, dass Marys Tante das Gefühl bekam, Teil des Ermittlerteams zu sein. Mary Morgan und Simon Jenkins stießen zu ihnen. Sie hatten in der Küche nebenan einen Tee getrunken.

»Möchtet ihr etwas trinken? Tee vielleicht?«, fragte Mary. »Ich kann auch schnell ein paar Sandwiches machen.«

Während Margaret nickte, war sich Marks nicht sicher. »Danke dir. Du hast sicher genug damit zu tun, dass ich meine Befragungen in deinen Frühstücksraum verlegt habe.«

»Keine Ursache. Im Augenblick habe ich ohnehin keine Gäste. Erst über Weihnachten und zum Jahreswechsel wird es wieder etwas voller.«

Sie verschwand in Richtung Küche, und schon war das Hantieren mit diversen Utensilien zu hören.

Marks stand auf. »Ich mache mich besser auf den Weg. Es gibt noch jede Menge Fragen zu klären.«

Simon nickte. »Ich begleite dich hinaus, Chris.« Margaret war anzusehen, dass es ihr nicht recht war, dass sich die beiden draußen ohne sie über den Fall unterhalten würden.

Simon begleitete Marks den schmalen Weg vom B&B hinunter auf die Dorfstraße.

»Marys Tante ist eine echte Zumutung.« Marks sah Simon von der Seite an. »Wie hält sie das nur aus?«

»Sie hat starke Nerven.« Simon lächelte. »Margaret ist nicht immer so schlimm. Nur wenn sie Publikum hat. Dann ist sie nicht zu bremsen. Ich weiß nicht, was dahintersteckt. Vermutlich eine gehörige Portion Minderwertigkeitskomplex.«

»Ist auch egal.« Der DI nickte. »Nach allem, was wir bisher wissen, war Stills vorbestraft. Drogen, Betrug, Urkundenfälschung. Drei Jahre Haft in unserem schönen Wandsworth. Dort ist er aber nicht weiter aufgefallen. Sein Leben ist schon früh aus dem Ruder gelaufen. Unter anderem war er Mitglied von Jugendbanden oben in Brighton. Die Eltern haben sich beide den goldenen Schuss gesetzt, in einem Auto. Curtis war damals gerade erst eingeschult worden. Er kam zu Pflegeeltern, dann ins Heim. Das Übliche. Einzig sein Onkel, der Bruder von Curtis’ Vater, hat sich um ihn gekümmert. Das sind die wenigen Informationen, die wir bisher zusammentragen konnten und die noch überprüft werden müssen.«

»Das ist doch schon mal ein Anfang. Der Onkel muss einen guten Einfluss auf ihn gehabt haben. Hier im Ort ist Stills jedenfalls nicht weiter aufgefallen. Wie Margaret gesagt hat, ein Lebenskünstler und Müßiggänger.«

»Wir werden uns in Kuggar umhören. Mal sehen, was die Nachbarn dort zu berichten haben.«

Simon rief sich in Erinnerung, was Mary ihm bereits über das Theaterprojekt erzählt hatte. »Der Onkel hat ihm das Tigerfell vererbt? Klingt, als sei der ein Exzentriker gewesen. Wer hat denn schon ein echtes Tigerfell zu Hause herumliegen? Mary meint, dass Curtis von ihm auch noch anderes bekommen hat.«

»Ich werde DS Bley darauf ansetzen.«

»Wie geht es ihr?« Simon wusste, dass die Polizistin lange mit sich gerungen hatte, ob sie weiterhin als Detective Sergeant in Helston arbeiten wollte.

Marks nickte. »Sie hat zugesagt, vorläufig wieder Dienst zu tun. Mit der Option, jederzeit aussteigen zu können.« Er schaute in den dunkelgrauen Himmel. »Bisher habe ich den Eindruck, dass sie stabil ist und uns auf Dauer erhalten bleibt. Das hilft uns, denn DS Temple wird auf absehbare Zeit nicht zurückkehren. Sie ist nach Abschluss ihres Profiler-Lehrgangs in den USA zunächst in Liverpool hängen geblieben. Dort war eine Stelle frei, die ihrem Anspruch mehr entgegenkam als das, was wir ihr hier hätten bieten können.« Er hob die Schultern wie ein vom Alltag wundgescheuerter Optimist, der am Ende erkennt, viel zu viel gewollt zu haben.

»Ich habe Temple als überaus ehrgeizig in Erinnerung.« Simon wollte seinem Freund Mut machen. »Sie wird zurückkommen, Chris. Lass sie ein paar Erfahrungen sammeln. Das wird eines Tages auch euch zugutekommen.«

Marks stellte den Mantelkragen auf. »Ich vergesse immer, dass es hier deutlich kälter ist als in Helston.«

Jenkins deutete zur Bucht hinaus. Dort schlugen die Wellen ungeduldig an die Felsen, als machten sie sich bereit für den längst fälligen Angriff auf den Hafen. »Der Wind wird in den kommenden Stunden deutlich zunehmen, und es wird noch ungemütlicher werden. Luke hat erzählt, dass die Fischer ihre Boote auf die Dorfstraße ziehen werden. Mit dem Ostwind ist nicht zu spaßen. Sturm ist angesagt.«

»Was macht deine Wirbelsäule?«

»Ich war vergangene Woche zum Check in der Klinik. Es wird nicht besser. Aber die Pillen machen die Schmerzen erträglich.« Jenkins blieb stehen und sah Marks an. »Das Leben hat damals entschieden, dass ich diesen Weg gehen muss. Und ich gehe ihn. Alles andere liegt nicht in meiner Hand.«

»Deinen Gleichmut möchte ich haben.« Chris Marks wusste, dass die Wirbel in Simons Nacken brisant waren. Eine falsche Bewegung, und sein Freund könnte querschnittsgelähmt bleiben. Der Unfall im Dienst damals in London hatte sein Leben von einem Tag auf den anderen unberechenbar gemacht.

»Das ist kein Gleichmut, das ist meine realistische Sicht auf die Dinge. Jammern bringt mich nicht weiter.«

Marks nahm das hin. »Wer mordet mit einer Lanze? Und woher stammt sie? Ist das ein zufälliges Tatwerkzeug, oder steckt eine Botschaft dahinter?« Er ahnte, was Simon entgegnen wollte. »Ist noch zu früh, ich weiß. Die KTU arbeitet noch daran.«

»Das Spezifische der Lanze zu identifizieren, wird sicher nicht das Problem sein.«

»Der Täter muss die Waffe mitgebracht haben. Bishop ist sie im Proberaum nicht aufgefallen. Und das wäre sie bestimmt, denn der Dame entgeht nichts.«

»Dann könnt ihr von Vorsatz ausgehen.«

Simon war versucht gewesen, von wir zu sprechen, hatte aber im letzten Augenblick die Kurve gekriegt. Er war schon lange kein Polizeibeamter mehr und wollte im Grunde auch nichts mehr mit Ermittlungen zu tun haben. Aber es fiel ihm dennoch schwer, sich zurückzuhalten. Zumal Chris ihn seit dem Mord an Victoria Bowdery bei Bedarf gerne als inoffizielles Mitglied des Ermittlerteams sah – weil er Simons Fähigkeiten schätzte, aber auch, weil er als Polizeibeamter und Außenstehender kaum die Chance hatte, all die Dinge zu erfahren, die Simon sozusagen im Vorbeigehen aufsammelte.

Das Denken der Menschen in Ruan Minor und Cadgwith war seit jeher von Misstrauen der Obrigkeit gegenüber geprägt. Sie führten das gerne auf ihre Vorfahren zurück, die nicht selten als Piraten ihr karges Auskommen in dieser ebenso kargen Gegend an der südwestlichsten Spitze Englands gehabt hatten. Ihr Credo: London ist weit, und unsere Probleme lösen wir selbst. Die Polizei hat hier nichts zu suchen.

»Was hältst du von der ganzen Sache?«

»Nichts. Ihr seid die Ermittler. Ich lebe hier als Künstler, und das soll sich nicht ändern.« Mit einem Seitenblick bemerkte er die Veränderung in Marks’ Gesicht. »Schon gut. Ich halte die Augen offen. Den Rest müsst ihr erledigen.«

V.

DS Bley hatte den Wagen an der schmalen Zufahrt zu Horsley Hall abgestellt. Das hohe schmiedeeiserne Zufahrtstor war geschlossen. Die Polizistin stellte sich auf die Zehen, aber es war nichts zu erkennen. Große Rhododendren verdeckten den Blick auf das repräsentative Haus, in dem Curtis Stills’ Onkel Mortimer Gilbert bis zu seinem Tod gelebt hatte – ein nicht nur mit Blick auf Stills’ bescheidene Behausung in Kuggar luxuriöses Anwesen etwas abseits der Straße nach Porthleven.

Sie drückte den Klingelknopf, der in dem steinernen Torpfosten eingelassen war.

»Ja, bitte?«, klang es blechern aus dem Lautsprecher der Schließanlage.

»DS Annie Bley. Bei mir ist mein Kollege DC Allan Easterbrook. Wir haben ein paar Fragen.«

Statt einer Antwort summte der Türöffner.

»Schickes Häuschen«, brummte der Detective Constable, als er mit Bley dem mit Kies bestreuten Weg folgte. »Wir hätten aber auch den Wagen nehmen können.«

»Der kleine Fußweg wird uns guttun«, entgegnete sie und musterte den Kollegen kritisch.

Easterbrook wusste, was sie meinte, sagte aber nichts.

Die schwarz lackierte Haustür schwang auf, noch ehe sie das Portal des viktorianischen Baus aus behauenem Sandstein erreicht hatten.

»Kommen Sie herein«, meinte die etwa fünfundvierzig Jahre alte Frau mit einladender Geste. »Wir gehen in die Bibliothek. Folgen Sie mir bitte.«

Die beiden Ermittler kamen der Aufforderung nach und nutzten die Gelegenheit für eine schnelle Einordnung der Umgebung. Die Wände im Eingangsbereich waren in einem hellen Grün gestrichen. Auf der Anrichte in dem großzügigen Flur flankierten zwei silberne Kerzenleuchter mehrere gerahmte Fotografien, die Szenen aus Afrika zeigten. Menschen standen vor ihren Hütten, eine Herde Elefanten, das Ende einer Großwildjagd mit einem stolzen Weißen. Darüber hing das gemalte Porträt eines ernst auf sie blickenden Mannes, das im frühen 19. Jahrhundert entstanden sein mochte.

»Mein Ururgroßvater mütterlicherseits«, erklärte die Frau mit einer Stimme, die zu einer Fremdenführerin gepasst hätte. Sie war es offenbar gewohnt, das Ölbild zu kommentieren.

Die Bibliothek von Horsley Hall war im hinteren Teil des Hauses untergebracht. Als sie die breite dunkle Eichentreppe passierten, deutete sie nach oben. »Die Schlafräume und Bäder. Mein Vater hat sie noch kurz vor seinem Tod sanieren lassen.«

Sie betraten die Bibliothek durch eine zweiflügelige Tür. Deren reiche Schnitzereien ließen keinen Zweifel, dass man nun einen bedeutsamen Raum betreten würde. Detective Constable Easterbrook ließ den Blick schweifen, als sei er als Tourist auf Besichtigungstour. Es roch nach altem Papier und Leder. Eine Bibliothek mit deckenhohen Regalen, die sich über alle vier Wände erstreckten, unterbrochen lediglich von zwei Fenstern und einem mächtigen Nashornschädel, der über einem offenen Kamin hing. Im Kamin lag kalte Asche; die Wärme kam aus den Heizkörpern unterhalb der Sprossenfenster.

»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Die Frau deutete auf die schweren Chesterfield-Sessel. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee vielleicht? Das Wetter ist nicht gerade einladend. Es sieht nach Schnee aus. Die Bücher sind übrigens nicht sehr wertvoll, wenn Sie mich fragen. Sie sind von meinen Vorfahren nicht nach Themen oder besonderen Schwerpunkten gesammelt worden. Ihr wohl wichtigstes Kriterium war: Hauptsache Ledereinband. Na ja, mein Fall sind die Schinken nicht. Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Faye Gilbert.« Sie nickte ihnen zu.

Die Frau plapperte, als müsse sie ihre Nervosität übertünchen.

»Ich würde gerne …«

DS Bley unterbrach ihren Kollegen. »Wir haben lediglich ein paar Fragen.«

»Mir war klar, dass Sie kommen würden. Ich habe es vorgestern Abend in den Nachrichten gehört. Wie schrecklich.«

»Wann haben Sie Ihren Cousin das letzte Mal gesehen?«, fragte Bley und nickte dem DC zu, der seinen Notizblock gezückt hatte.

»Wenn ich mich recht entsinne, war das vor gut vier Wochen.«

»Was war der Anlass?«

»Ich habe Curtis angerufen und gefragt, ob er etwas von den Sachen meines Vaters möchte. Die beiden standen sich sehr nahe. Und ich wollte vermeiden, dass er sich übergangen fühlt. Er hat sofort begeistert zugestimmt. Wie gesagt, die beiden hatten ein besonderes Verhältnis. Beinahe wie Vater und Sohn.« Gilbert schickte ihrer Erklärung ein angedeutetes Lächeln hinterher.

»Wie aufmerksam und fürsorglich von Ihnen.«

»Curtis war ein netter Bursche. Er hat es im Leben nicht immer leicht gehabt. Schon als Kind nicht. Wir haben uns zwar nicht oft gesehen, aber wir haben uns gemocht. Wie grausam er gestorben ist. Ich kann es immer noch nicht glauben. Er hat doch niemandem etwas getan.« Sie zog ein Papiertaschentuch hervor und begann es in den Händen zu kneten.

»Gehörte zu den Erbstücken auch ein Tigerfell?«

Gilbert nickte. »Das alte Mottending? Ja, ja. Und noch mehr. Speere zum Beispiel, und eines dieser traditionellen Gewänder. Mein Vater hat die Sachen aus Afrika mitgebracht. Er hat sie sehr geliebt, und deshalb war es nur richtig, dass Curtis sie erbt.«

»Welche Beziehung hatte Ihr Vater zu Afrika, wenn ich fragen darf?« DS Bley registrierte, dass es in Gilberts Augen glitzerte.

»Dad hat lange Jahre in verschiedenen afrikanischen Staaten gearbeitet, als Mitarbeiter der Britischen Botschaft. Durch seinen Unternehmergeist auch abseits des Jobs ist er zu einem gewissen Wohlstand gekommen, wie Sie sehen. Horsley Hall hat er günstig gekauft, da war ich gerade mal zehn.« Sie zuckte nachlässig mit den Schultern. »Er hat einiges an Geld in den Kasten gesteckt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich meinen Vater in dieser Zeit nur selten zu Gesicht bekommen. Ich war regelrecht eifersüchtig auf den verdammten Kontinent. Er hat mir den Vater genommen, habe ich gedacht.« Sie lächelte. »Aber das ist lange vorbei. Ich habe längst meinen Frieden mit Afrika gemacht.«

»Sie sagen, dass auch Speere in der Erbmasse sind. Wie viele sind das?«

Faye Gilbert neigte den Kopf zur Seite, wie es Menschen tun, die sich nicht sicher sind. »Das weiß ich nicht genau. Ich hatte alles in der Garage zusammengestellt und nicht wirklich auf die Menge geachtet. Es könnte schon ein halbes Dutzend gewesen sein. Vielleicht waren es auch mehr. Warum fragen Sie?«

»Gibt es davon Fotos?«, wollte Bley wissen. Sie hatten der Presse lediglich mitgeteilt, dass Stills getötet worden war, ohne aber die Tatwaffe zu nennen.

Gilbert stand auf und setzte sich sofort wieder. »Es müssen in einem der Fotoalben Abbildungen sein. Aber auch die hat Curtis an sich genommen.«

»Sie wollten nichts von diesen Erinnerungen behalten?« Allan Easterbrook runzelte die Stirn.

»Afrikanische Kunst oder Kultur war für mich nie sonderlich interessant, wie gesagt. Ich mag den Kontinent vor allem wegen der Natur und der Tierwelt. Ich mag eher moderne Kunst, und das auch nur am Rande. Meine Freizeit widme ich den Naturwissenschaften. In den Tiefen der höheren Mathematik kann ich mich regelrecht verlieren. Naturgesetze und Berechenbarkeit sind meine Leidenschaft. Die Erinnerungsstücke sind … waren bei Curtis besser aufgehoben.«

Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Der Ledersessel kommentierte die zur Schau gestellte Lässigkeit mit einem Knarzen. Gilberts Tochter wirkte in diesem Augenblick wie das Mädchen, das sich in dem viel zu großen Lieblingsmöbel seines Vaters umständlich zurechtrückt. Chesterfields waren für ältere Herren mit Zigarre und Whiskyglas gemacht.

Easterbrook nickte, als sei ihm diese Leidenschaft nur allzu bekannt. Der Detective Constable hatte Bley in einem seltenen Moment der Vertrautheit gestanden, dass sein Herz für alte Messingplaketten schlug, die ursprünglich einmal Teil von Zaumzeug gewesen waren. Sie kannte die nur aus Pubs, in denen sie als Deko über dem Tresen oder an offenen Kaminen hingen. Dass es Menschen gab, die ernsthaft solche Plaketten sammelten, war ihr bis dahin nicht bewusst gewesen. Aber dieser Tick passte zu Allan, ebenso wie der kitschige Teebecher auf seinem Schreibtisch, der zu einem der Dienstjubiläen der Queen auf den Markt gekommen war.

»In der Garage zusammengestellt, sagten Sie?«

»So war der Abtransport einfacher für Curtis.« Sie stellte die Beine wieder parallel auf den Boden. »Nun ja. Ich werde das Haus verkaufen. Wir schauen gerade nach einem passenden Notartermin. Es ist für mich allein einfach zu groß. Der Unterhalt für das alte Gemäuer würde mich außerdem ein Vermögen kosten. Und das Geld habe ich nicht. Ein, zwei Nummern kleiner tut es ja auch.«

Easterbrook nickte verständnisvoll.

Bley blieb sachlich. »Es gibt keine finanziellen Rücklagen?«

»Mein Vater hat seinen Besitz aufgeteilt. Curtis hat das Geld geerbt, ich das Haus. Er hat diese Entscheidung lange vor seinem Tod getroffen. Und sie ist richtig.« Ihr Blick schweifte durch den Raum, als nähme sie bereits Abschied von den Büchern. »Ich schätze mal, Dad wollte damit etwas gutmachen. Er hat seinen Bruder und vor allem seine Schwägerin nicht sonderlich gut behandelt. Am Ende haben sie sich regelrecht gehasst. Sein Bruder hat damals Schmuck meiner Mutter geklaut, um sich von dem Geld Heroin zu kaufen.«

»Ihre Mutter lebt schon lange nicht mehr?«

Gilbert nickte. »Brustkrebs. Fast zwanzig Jahre her.«

»Was arbeiten Sie, Mrs. Gilbert?«

»Ich habe als Krankenpflegerin gearbeitet. In Truro. Aber im Augenblick bin ich krankgeschrieben. Meinen Bandscheiben macht die Arbeit auf der Station zu schaffen. Das Lagern der Patienten ist auf die Dauer Schwerstarbeit. Ich soll mir einen neuen Job suchen, sagen die Ärzte. Der Verschleiß ist enorm.«

»Verstehe.« DC Easterbrook war voller Mitgefühl.

»Ich denke, wir haben im Augenblick keine weiteren Fragen. Wobei, eine vielleicht doch noch: Haben Sie eine Idee, wer Ihren Cousin auf dem Gewissen haben könnte?«

In der Frau ging eine überraschende Veränderung vor. Die Krankenpflegerin brach in Tränen aus.

»Nein. Ich habe in meinem Leben schon manche Menschen sterben sehen, und ich habe gedacht, dass mir der Tod nichts ausmacht. Aber seit vorgestern weiß ich, dass der Schutzmechanismus nur für den Umgang mit Fremden gilt. Mein professioneller Umgang mit dem Sterben hilft mir jetzt überhaupt nicht. Ich muss immer wieder an Curtis denken und wie schrecklich der Moment gewesen sein muss, als er seinem Mörder begegnet ist. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer so etwas tut.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Nun bin ich ganz allein.«

»Sie haben keinen Partner?« DC Easterbrook klang ernsthaft besorgt.

Sie schüttelte den Kopf. »Mein Schichtdienst, wissen Sie. Gift für jede Beziehung. Außer ein paar flüchtigen Begegnungen war da nichts. Und dabei wird es wohl auch bleiben. Mein Traum vom Ritter auf dem Schimmel wird wohl ewig ein Traum bleiben.«

DS Bley wusste nur zu gut, wovon die Frau sprach.

Faye Gilbert wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Sie wissen sicher, dass Curtis im Gefängnis war. Drei Jahre in Wandsworth. Das alte Muster: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Unter anderem hat er mit harten Drogen gehandelt. Gott sei Dank hat er die Kurve gekriegt. Genutzt hat es ihm nichts. Aber, das will ich eigentlich sagen, es kann doch sein, dass damals, also in seiner wilden Zeit, Dinge passiert sind, die nun zur Eskalation geführt haben.«

»Was meinen Sie? Sie klingen, als wüssten Sie mehr.«

Faye Gilbert beugte sich vor. »Genaues weiß ich auch nicht. Nur dass er in jener Zeit oft in London war und dort auf großem Fuß gelebt hat. Er hat mir einmal anvertraut, dass er dort einen Gönner hat, dem er viel verdankt.«

»London?« DS Bley wurde hellhörig.

»Er ist zu der Zeit dicke Schlitten gefahren. Wohl nicht seine eigenen Autos. Er hat Andeutungen gemacht, dass sie einer, wie er sagte, wichtigen, einflussreichen Person gehörten. Jemandem mit sehr viel Geld.«

»Einen Namen hat er nicht genannt?« Bleys Nackenhaare hatten sich aufgerichtet.

»Ich kann mich nicht erinnern, nein.«

London war der Sehnsuchtsort und die Basis vieler Kartelle der Organisierten Kriminalität. Menschen-, Drogen- oder Organhandel, Waffen oder Immobilien. Es gab keine Spielart, die nicht dort Fuß gefasst hatte. Bley wusste, dass deren Tentakel nicht selten bis nach Cornwall reichten. »Bitte denken Sie noch einmal nach.«

Faye Gilbert sah an ihr vorbei zu einem der Bücherregale, als vermutete sie die Antwort dort als Lesezeichen in einem der in Schweinsleder gebundenen Folianten.

Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, schüttelte sie den Kopf. »So gerne ich Ihnen helfen möchte, ich weiß es wirklich nicht. Ich war damals nur froh, dass er nicht auch noch uns in seine kriminellen Geschäfte hineingezogen hat. Wie gesagt, ein liebenswerter Kerl, damals aber auch unberechenbar.«

»Hat Ihr Cousin damals erwähnt, in welchem Gewerbe«, Easterbrook markierte das Wort mit den Fingern mit Gänsefüßchen, »er unterwegs war? Vielleicht ergeben sich für uns ja daraus Anhaltspunkte.«

Auf Faye Gilberts Gesicht erschien zum ersten Mal so etwas wie ein Lächeln. »Nein, tut mir leid. Ich würde Ihnen ja gerne helfen, Detective Constable.« Sie beschrieb mit der Hand einen Bogen, der das ganze Haus umfassen sollte. »Ich bin froh, dass das alles bald Geschichte ist und damit der Weg frei, endlich neu anzufangen.«

Auf dem Weg ins Präsidium gab DC Easterbrook seine ersten Theorien zum Besten. »Das klingt nach einem Fall Organisierter Kriminalität. Curtis Stills wird jemandem auf die Füße getreten sein, der nun zurückgeschlagen hat. Vielleicht hat Stills Dinge ausgeplaudert, versehentlich oder nicht, die nicht für öffentliche Ohren bestimmt waren. Oder er ist ein Kollateralschaden, im Sinne des Wortes zwischen die Fronten rivalisierender Gangs geraten. Oder es hatte jemand eine Rechnung mit ihm offen aus Knastzeiten. Es gibt alle möglichen Ansätze.«

Er drückte sich zufrieden in das Polster des Dienstwagens. Seine Überlegungen reichten für wochenlange Ermittlungen, die er in Ruhe von seinem Schreibtisch aus erledigen würde. Zu wissen, was ihn erwartete, beruhigte ihn ungemein. Stabilität war eine nicht zu unterschätzende Größe in seinem Dienstalltag.

»Aber warum erst jetzt?« Bley verfolgte mit den Augen einen großen grauen Helikopter, der in niedriger Höhe auf den Royal-Navy-Stützpunkt Culdrose zuflog.

»Das ist doch ganz einfach.« Easterbrook hatte einige Mühe, nicht überheblich zu klingen. »Seine Verbindungen von damals haben spitzgekriegt, dass ihr Buddy geerbt hat.«

Möglich, dachte Bley. »Bin gespannt, ob DI Marks schon das Ergebnis der KTU zur Lanze vorliegen hat. Außerdem sollte er sich um das Thema Erbschaft kümmern. Ab welcher Summe lohnt sich ein Mord?«

»Also, wenn du mich fragst, ich würde schon bei …« Easterbrooks Stimme brach schlingernd ab, als er sah, dass Bley die Augenbrauen hob.

Die restliche Fahrt verlief schweigend. In die Stille mischte sich nur das Klickgeräusch des Blinkers, wenn Annie Bley abbiegen musste.

VI.

Mary stützte den Kopf in die Hände und sah nachdenklich aus dem großen Fenster des Frühstücksraums hinaus auf die Bucht. Die graue See war aufgewühlt, die hohen Wellen trugen dichte Gischtkämme und rollten unermüdlich auf den Kies. Die Fischer hatten ihre Boote weit hinauf in den Naturhafen gezogen, bis dicht an die Straße. Das Wasser würde diesmal bis an die Giebelfront des alten Maschinenhauses reichen, im schlimmsten Fall bis an die Mauern von The Old Cellars. Vereinzelt waren Möwen unterwegs. Sie nutzten die Windböen, um hastig von einer Felswand zur anderen zu wechseln. Der Winter würde hart werden. Die ersten Herbststürme waren bereits heftig gewesen, und die Temperaturen waren unerwartet schnell gefallen.

Sie hatte den Dorfladen nur noch stundenweise geöffnet. Um diese Zeit verirrten sich kaum noch Touristen nach Cadgwith, und für die Kunden aus dem Ort, die nur schnell die Dinge kaufen wollten, die sie beim Großeinkauf in einem der Supermärkte in Helston vergessen hatten, lohnte der Aufwand kaum.

Der späte Herbst und der beginnende Winter waren die Zeit, in der Mary ein wenig Muße hatte. Die Gästezimmer und die übrigen Räume ihres B&B waren hergerichtet, einzig die lästige Buchhaltung wartete. Zeit genug, um sich Gedanken über die Zukunft und das Leben im Dorf zu machen. Die Buchungen für das kommende Jahr waren zahlreich und versprachen ein weiteres erfolgreiches Jahr als Pensionswirtin.

Marys Gedanken wanderten zum Mord an Curtis Stills. Die Tat lag nun schon beinahe eine Woche zurück, und ganz Ruan Minor und Cadgwith standen immer noch unter Schock. Je mehr man über das Opfer sprach, umso klarer wurde, dass ihn niemand wirklich gekannt hatte. Er war zwar Gast im Pub gewesen und auch Kunde in Claires Laden oben in Ruan Minor, er hatte bei den Fischern ausgeholfen, aber er hatte zu der schweigsameren Sorte Mensch gehört. Er war da, aber er fiel nicht weiter auf. Eine Haltung, die er sich wohl in seiner Zeit im Gefängnis angeeignet hatte – das war Simons Erklärung gewesen. Meist hatte Curtis allein auf einer der Bänke auf der schmalen Landzunge gesessen, die den Hafen von der winzigen, steinigen Bucht trennte und die die Dorfbewohner in einem Anflug von angeborenem Understatement gerne als ihren Strand bezeichneten.

Sie selbst hatte ein paarmal Stills’ Dienste in Anspruch genommen, damals, als sie nach ihrer Rückkehr aus Deutschland ihr Elternhaus zum B&B umgebaut hatte. Curtis hatte schnell und ohne viele Umstände die ihm aufgetragenen Arbeiten erledigt und auch nicht versucht, den vereinbarten Lohn am Ende neu zu verhandeln. Sie war mit seiner Arbeit sehr zufrieden gewesen. Aber auch sie musste sich eingestehen, dem Menschen Curtis Stills damals nicht nahegekommen zu sein.

Mary hatte ihn erst wieder wahrgenommen, als er sich auf den Aufruf der Theatergruppe in der Ruan Minor Gazette gemeldet hatte. Bei den Besprechungen hatte er sich nicht sonderlich hervorgetan und auch keine Rolle für sich reklamiert. Er kümmere sich gerne um die Requisiten und würde Luke bei dessen Arbeit als Beleuchter zur Hand gehen. Ein durch und durch praktisch veranlagter Zeitgenosse, der sich allein schon dadurch verdient gemacht hatte, dass er das Tigerfell für den Einakter besorgt hatte.

»Jemand zu Hause?«

Simons warme Stimme holte sie in die Wirklichkeit ihres gemütlich eingerichteten Frühstücksraums zurück.

»Ich habe dich gar nicht kommen hören.« Sie stand auf und begrüßte ihn mit einer kurzen Umarmung. »Du bringst Kälte mit.«

»Kein Wetter für einen langen Spaziergang.« Er legte seine Tasche ab, die er an einem Riemen über die Schulter getragen hatte.

»Etwas Warmes?«

Er nickte und zog die dicke Jacke aus, die wohl einmal einem Fischer gehört hatte und die er schon bald nach seinem Umzug nach Cadgwith in einem der Wohltätigkeitsläden in Helston gekauft hatte. Während Mary in der Küche werkelte, zog Simon aus der Tasche einen Linoldruck hervor, den er erst am Vortag hergestellt hatte. Er würde neben das Foto ihres Vaters passen, das Mary vor einiger Zeit aufgehängt hatte. Vorausgesetzt, ihr gefiel die Arbeit.

Während er auf den Tee wartete, breitete sich in ihm eine wohlige Zufriedenheit aus, genährt von dem Feuer im Kamin, den Mary eher selten benutzte.

»Oha, ein neues Werk?«, meinte sie mit einem Seitenblick, als sie mit einem Tablett mit zwei dampfenden Bechern, Milchkännchen und Zuckerdose zurückkehrte und es auf dem Tisch abstellte.

»Ich dachte, das würde sich gut neben dem Foto deines Vaters machen.«

Mary nahm den in Blau gedruckten Linolschnitt in die Hand und begutachtete ihn mit dem geschulten Blick einer Restauratorin und studierten Kunst- und Kulturhistorikerin.

»Sei nicht allzu streng mit mir.« Simon lächelte.

»Unsinn.« Sie sah vom Blatt zu Simon. »Das ist gut. Und das Thema passt.« Sie legte den Druck auf den Tisch zurück. »Zu meinem Vater und zur Jahreszeit. Die Boote auf der Dorfstraße, weil sie bei östlichem Wind und Sturm nicht auslaufen können. Was ich besonders gelungen finde, ist die Perspektive, die du gewählt hast. Es wirkt so, als blicke der Betrachter von innen durch das Bullauge eines der Fischerboote auf die Szene. Sehr schön.« Sie hob ihren Becher. »Die Arbeit passt perfekt in dieses Zimmer. Mein Vater hätte sicher seine Freude daran gehabt. Und auch die Gäste werden sie lieben.«

»Dein Vater muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein.«

»Ein echter Fischer. Ehrlich, und wenn es sein musste, auch unnachgiebig. Er hatte so große Hände. Als Kind habe ich immer gedacht, ich könnte mich in ihnen verstecken.«

Ihm gefiel diese Vorstellung.

»Ich habe eben an Curtis denken müssen. Ein furchtbarer Tod. Erstochen mit einer Lanze. Hat sich Chris bei dir gemeldet?«

Simon verneinte. »Er wird gerade eine Menge zu tun haben. Und ich wüsste nicht, wie ich ihm helfen könnte. Vor allem will ich das auch gar nicht. Na ja.«

Sie hob entschuldigend die Hände. »Ich weiß. Du bist nicht länger Bulle und willst dich auch nicht kümmern. Ich werde das schon noch lernen.« Und kannst es doch nicht sein lassen, setzte sie in Gedanken hinzu. Simon konnte nicht aus seiner Haut. Aber das wollte er nicht zugeben. Schon in der Reha, kurz nach dem Unfall, sei ihm klar geworden, dass der Beruf des Detective Sergeant für ihn passé war. Und doch gaben seine Gedanken über das Leben und das Verbrechen zu erkennen, dass er sich daran niemals würde halten können.

»Was sagt denn die dörfliche Gerüchteküche?«

Eine nur oberflächlich beiläufige Frage, bemerkte sie. Also doch. Da war es wieder, das Interesse des Ermittlers. Sie verkniff sich ein Schmunzeln. »Du kennst die Leute. Sie nutzen jedes Thema, um den Alltag ein wenig interessanter zu gestalten. Da kommen Gerüchte und Tratsch gerade recht.«

»Du hast mich ertappt«, gestand er schmunzelnd.

Sie erwiderte sein Lächeln. »Tantchen ist gerade das It-Girl im Dorf. Sie lässt kaum eine Gelegenheit aus, um ihre Beteiligung an dem Fall hervorzuheben.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Mit Pietät und Mitgefühl hat das nichts zu tun. Besonders drastisch ist ihre Schilderung der Lanze.«

»Wir mussten in London den Mord an einem Diplomaten aufklären. Der Mitarbeiter eines Unternehmens, das seltene Erden in Simbabwe schürft und dem eine zu enge Verbindung zu lokalen Stammesfürsten nachgesagt wurde, war nach dem Besuch einer Wohltätigkeitsparty im Hyde Park erstochen aufgefunden worden. Ermordet mit einem Speer. Daran habe ich denken müssen, als Chris mir ein Foto der Tatwaffe geschickt hat. Sie gleicht dem Speer aus London.«

»Du vermutest einen Zusammenhang?«

»Nein. Wir haben damals die Tat recht schnell aufgeklärt. Ein Eifersuchtsdrama, bei dem es außerdem um jede Menge Schwarzgeld ging. Der Täter stammte aus der erweiterten Familie des Opfers. Was ich sagen will, ist, dass die Herkunft der Tatwaffe aus der Kirche für mich ziemlich eindeutig geklärt ist. Wenn es dich interessiert?«

»Sicher.«

»Der Speer ist ein sogenannter Assegai. Entworfen hat ihn ein Zulukönig vor gut zweihundert Jahren. Das Besondere ist die lange breite Klinge, wobei der Holzschaft vergleichsweise kurz ist. Das hat den Vorteil, dass der Speer sich besonders gut als Stoßwaffe eignet. Für die damalige Zeit und den Süden Afrikas eine revolutionäre Entwicklung auf dem Waffensektor. Und heute ein sehr begehrtes Sammlerobjekt.«

»Könnte das ein Hinweis auf den Täter sein?«

»Eher nicht, wenn es denn stimmt, dass Stills die Waffe von seinem Onkel geerbt hat. Die große Frage bleibt also vorerst: Wie ist der Mörder in den Besitz des Speeres gelangt?«

»Er ist Curtis aus der Wohnung gestohlen worden. Oder er hat ihn, ohne es zu wissen, an seinen späteren Mörder verkauft.«

»Beides ist möglich.« Simon drehte nachdenklich den Becher auf der Tischplatte. »Aber das darf mich nicht wirklich umtreiben.«

Mary wechselte das Thema. »Ich hatte eigentlich vor, noch ein Stück über den Küstenpfad zu gehen und mir den Wind um die Nase wehen zu lassen. Aber angesichts des Wetters lasse ich das besser. Schau dir die Wolkengebirge an, und wie früh es dunkel wird. Am besten lege ich noch ein paar Scheite auf und verziehe mich mit einem Buch auf die Couch.«

»Ich wollte sowieso gleich gehen. Im Atelier wartet noch ein bisschen Arbeit auf mich.« Er trank den Becher leer.

»So habe ich das nicht gemeint, Simon.«

»Ich weiß.«

»Dann bleib doch noch. Ich mach uns noch einen Tee.«

Jenkins schüttelte den Kopf. »Ein anderes Mal gerne.« Als er aufstand und nach seinem Gehstock griff, zuckte er kaum merklich zusammen.

»Schmerzen?«

»Das Wetter tut mir nicht gut. Geht aber schon wieder.«

»Das ist gut.« Sie hütete sich davor, zu viel Mitgefühl und Sorge zu zeigen. Sie wusste, dass Simon wenig mehr verabscheute als allzu viel – wenn auch gut gemeinte – Rücksicht auf seine Behinderung.

»Hat Susan Brockleby schon entschieden, wann und ob die Proben weitergehen?« Er hängte sich seine Tasche um.

»Die Truppe will unbedingt weitermachen, auch um an Curtis zu erinnern.« Sie stand auf und begleitete Simon zur Tür.

VII.

DI Chris Marks nickte seiner Mitarbeiterin zu, die ihm im Büro gegenübersaß. »Die KTU hat bestätigt, dass es sich bei der Tatwaffe um diesen ganz besonderen Speer handelt. Simon Jenkins hatte also recht mit seiner Vermutung.«

»Das ist ein nettes Detail, das uns aber nicht weiterhilft.« DS Bley blätterte durch eine dünne Mappe vor und zurück. »Nicht ein Fingerabdruck. Weder auf dem Speer noch an der Tür. Sauber abgewischt. Gefunden wurden die Abdrücke der Schauspieler, einer Putzfrau und jede Menge alte Abdrücke, die von allen möglichen Menschen stammen können. Nichts Konkretes. Keine Fremdspuren an der Leiche, nicht nur die Türklinken wurden sorgfältig abgewischt, auch einer der Stühle. Auf dieses Detail kann sich die KTU keinen Reim machen und ich mir auch nicht.«

»Der Täter kann ja nicht durch die Luft gekommen sein.« Marks war ungehalten. Seit dem Vortag hatte er mit den Vorboten einer Erkältung zu tun. Der Hals kratzte, die Nase war verstopft, und er hatte Kopfschmerzen, die von Stunde zu Stunde lästiger wurden. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Einen Mord aufklären mit triefender Nase war nicht das, was er sich für die anstehende Adventszeit wünschte.

»Im gesamten Kirchenraum gibt es keine verdächtigen Spuren.« Bley legte den Schnellhefter auf ihren Knien ab. »Und es gibt im Ort niemanden, der etwas Verdächtiges bemerkt hat. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Bei diesen Temperaturen ist niemand aus freien Stücken spätabends auf der Straße unterwegs. Einzig der Kameramann, der direkt hinter der Kirche wohnt, hat angegeben, er habe sich gewundert, dass das Dudelsackspiel früher als üblich aufhörte. So können wir zumindest in etwa den Todeszeitpunkt festlegen. Seine Zeitangabe deckt sich mit den Ergebnissen der Leichenschau.«

Marks versuchte sich zu konzentrieren. Um sein Denken hatte sich ein dicker Wattebausch gelegt, der offenbar gewillt war, länger dort zu bleiben.

»In Stills’ Wohnung gab auch nichts sonderlich Auffälliges«, fasste er den mageren Bericht der KTU aus dem Gedächtnis zusammen. Marks spürte, dass sein Versuch, über die Berichte ins gemeinsame Brainstorming zu kommen, wenig Erfolg haben würde. Im Grunde sollte er sich auf die Couch verziehen, Medikamente schlucken, bei einer Flasche Whisky Musik hören und auf Besserung warten.

Bley blätterte erneut durch den Schnellhefter. »Ein paar afrikanische Masken, offenbar kein Touristenkitsch, Musik-CDs unterschiedlichster Stilrichtungen, drei Taschenbücher, ein paar DVDs, meist Pornos, und das, was ein männlicher Single in seiner Wohnung hat. Sein Vauxhall hat auch schon bessere Zeiten erlebt. Der Wagen ist übrigens auf seinen Onkel zugelassen.«

»Onkel Mortimer hatte wirklich einen Narren an seinem Neffen gefressen. Wo gibt es so etwas heute noch, dass sich die Familie tatsächlich um die Familie kümmert?«

Sie zuckte mit den Schultern, als spräche ihr Vorgesetzter über etwas völlig Unbekanntes. »Die Kollegen von der Kriminaltechnik haben auch keine Einbruchsspuren gefunden.«

»Hm. Entweder hat Stills einen zweiten Schlüssel an Mr. oder Mrs. Unbekannt verliehen, oder der Einbrecher war ein Profi.«

»Gehen wir also davon aus, dass die Tatwaffe aus der Wohnung entwendet wurde?«

»Eine andere Erklärung gibt es wohl nicht, oder? Hat seine Cousine nicht ausgesagt, dass Stills alles mitgenommen hat?«

Sie nickte. »So hat sie das uns gegenüber angegeben, ja, Sir.«

»Sind die Nachbarn und auch der Vermieter befragt worden? Hat vielleicht jemand einen Fremden mit einem sperrigen Gegenstand das Haus verlassen sehen? Hat jemand in der Nähe herumgelungert? Sind Stills und sein Mörder vielleicht gemeinsam und mitsamt dem Speer aus dem Haus gegangen?«

»Kollege Easterbrook hat mit allen infrage Kommenden gesprochen. Niemand hat etwas Verdächtiges bemerkt.«

»Ungewöhnlich in so einer kleinen Siedlung wie Kuggar, oder?«

»Ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen.«

»Gibt es in der Gegend CCTVs?«

Sie blätterte in ihren Aufzeichnungen. »Gibt es, allein schon wegen der Campingplätze in der Gegend. Die Kollegen warten noch auf das Material. Dauert also noch.«

»Ist Stills’ Mobiltelefon schon ausgewertet worden?« Marks warf einen Blick zur Wanduhr.

»Müsste längst vorliegen. Ich warte auch schon ungeduldig«, antwortete Bley.

»Wir werden mit der Gefängnisleitung in Wandsworth sprechen müssen. Vielleicht finden wir Motiv und Hinweise auf den Täter dort.«

»In Cadgwith werden wir jedenfalls nicht weit kommen. Stand jetzt, gibt es dort niemanden, der ihm ans Fell wollte. Vielleicht stoßen wir in der Liste der Häftlinge oder Zellengenossen auf etwas.«

»Dann sollten Sie mit der Arbeit beginnen. Wenn Sie Hilfe brauchen, nehmen Sie Easterbrook dazu.«

DS Annie Bley verließ sein Büro mit einer allzu deutlichen Körpersprache. Sie würde alles tun, um möglichst ohne den Detective Constable voranzukommen. Marks hatte damit gerechnet, denn Allan Easterbrook war nicht unbedingt der beliebteste Kollege. Zwar akribisch, dazu aber bequem und ohne große Karriereambitionen. Er genoss die Arbeit an seinem Schreibtisch, den er nur dann verließ, wenn im Zuge der Ermittlungen ein Pub in Sicht war für ein Mittagessen oder ein frisches Pint.

Der Detective Inspector schwang mit seinem Drehstuhl herum und sah aus dem Fenster. Die Kälte hatte die Welt draußen fest im Griff. Sogar die bleiche Wintersonne wirkte wie erstarrt.

Und wie erstarrt war auch das Verhältnis zwischen ihm und Bley. Nachdem sie sich aufgrund der Ereignisse um die vier Frauen des Cadgwith-Ruderclubs nähergekommen waren und er die Hoffnung gehegt hatte, zu ihr ein weitgehend normales Verhältnis aufbauen zu können, waren sie nun wieder bei null angelangt. Die Auszeit hatte Bley zwar gutgetan, aber ihre Einstellung ihm gegenüber hatte sich nicht geändert. Wobei er kapiert hatte, dass das nicht allein an ihm lag, sondern vor allem an Bleys Sicht auf Männer im Allgemeinen. Und auch das konnte er nachvollziehen. Trotzdem wünschte er sich ein bisschen mehr Wärme im Miteinander. DS Annie Bley war immer auf den jeweiligen Fall fokussiert, Emotionen leistete sie sich keine. Ein Eigenschutz, der ihr nicht nur in ihrem Beruf zugutekam.

Marks sah auf seine Armbanduhr. Louise müsste bald Feierabend haben – wenn ihr nicht noch ein Notfall dazwischenkam. Er hatte die Anästhesistin schon geraume Zeit nicht mehr gesehen. Sie hatte in den vergangenen Wochen ständig Sonderschichten übernommen, ebenso freiwillig wie gezwungenermaßen. Die Personaldecke in ihrer Klinik in Penzance war so dünn wie überall im Land. Es gab kaum Bewerber um freie Stellen, und auch die Lage auf dem Ausbildungssektor war alles andere als rosig.

Mehr als ein Telefonat ab und an war in dieser Zeit nicht drin gewesen. Und selbst dann waren ihre Gespräche mehr von Müdigkeit geprägt als von fröhlichem Gedankenaustausch. Aber auch sein Zeitplan war immer wieder durcheinandergeraten, darin unterschied sich sein Beruf nur wenig vom Arbeitsethos und der Unplanbarkeit eines Klinikjobs. Sie hatten sich fest vorgenommen, das spätestens um Weihnachten herum zu ändern. Wobei sie beide zugleich wussten, dass das nicht mehr als ein frommer Wunsch war. Bei der Polizei brachte nicht selten der sogenannte Weihnachtsmord alle Advents- und Festtagspläne durcheinander, und auch in der Klinik mussten dann verstärkt Notfälle versorgt werden; nicht selten Opfer von Ehedramen, verursacht durch zu hohe Erwartungen an den vermeintlich schönsten Tagen im Jahr.

DI