Klippentod - Ian Bray - E-Book
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Klippentod E-Book

Ian Bray

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Beschreibung

Wenn die tosende Brandung dunkle Geheimnisse an Land spült

Nie wieder ermitteln – das hatte sich der ehemalige Polizist Simon Jenkins einst geschworen, als er in das ruhige Fischerdorf in Cornwall zog. Zu schwer wogen die Ereignisse aus seiner Vergangenheit. Daher weist er auch die verzweifelt klingende Victoria ab, als sie ihn eines Nachts anruft und um Hilfe bittet. Doch dann wird die junge Frau am nächsten Tag tot am Fuße einer berüchtigten Klippe aufgefunden. Jenkins macht sich schwere Vorwürfe – hätte er sie womöglich von einem Sprung abhalten können? Alles deutet auf Selbstmord hin, nur Victorias beste Freundin Mary ist sicher, dass es Mord gewesen sein muss. Auf ihr Bitten hin beginnt Jenkins, hinter dem Rücken der Polizei zu ermitteln. Und dann wird eine weitere Leiche gefunden …

»Viel Lokalkolorit mit Pub-Besuchen und Folkmusik macht den Krimi zu einem spannenden Urlaubsbegleiter.« Rheinische Post

Lesen Sie auch die anderen Bände der atmosphärischen Cornwall-Krimireihe unabhängig voneinander:
Band 2: Klippengrab
Band 3: Klippenrache
Band 4: Klippensturm

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Seitenzahl: 634

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Ian Bray, geboren 1954, ist das Pseudonym eines deutschen Krimiautors. Wenn er sich nicht gerade spannende Mordfälle ausdenkt, ist er als freiberuflicher Journalist im Einsatz. Cornwall wurde vor vielen Jahren zu seinem liebsten Reiseziel, und Cadgwith hat es ihm ganz besonders angetan. Daher verbringt er dort nicht nur regelmäßig seinen Urlaub, sondern verlegt neuerdings auch seine Kriminalfälle in das beschauliche Fischerdorf.

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Ian Bray

KlippenTod

Ein Cornwall-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Penguin Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlag: Bürosüd, München Umschlagmotiv: Mauritius Images / Mandy Stegen; www.buerosued.de Redaktion: Ralf Reiter E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 9783641235918www.penguin-verlag.de

Wenn das Herz nicht mitmacht, kommt man nie an

– Ray Davies

It’s good to touch

– John Lennon

Figuren und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären damit rein zufällig. Die im Buch beschriebenen Handlungsorte entsprechen weitgehend den tatsächlichen Gegebenheiten. Abweichungen sind allein der Fantasie des Autors geschuldet.

Prolog

Es war einer jener Tage, an denen die See überraschend ruhig und wie glattes Leinen vor der Küste lag. Eine Erinnerung an den Sommer und eine unerwartete Gelegenheit, bevor die Herbsttage das Meer rau und erste Stürme die Fahrt unmöglich machten. Die winzige Bugwelle unterstrich die Leichtigkeit, mit der das Boot durch das grau schimmernde Wasser schnitt. Das gleichmäßige Tuckern des Außenborders hatte ausreichend Platz in der Stille. Selbst die Möwen, die für gewöhnlich alles und jeden lautstark kommentierten, blieben stumm. Auf einer Felsnase saßen aufgereiht fünf Kormorane und spreizten ihr Gefieder, als bewachten sie als schwarze Wächter den Eingang.

Der Motor erstarb, während der Rumpf zwischen die Felsen glitt. Die Wände der domartigen Höhle verstärkten das Schmatzen der eintauchenden Ruderblätter. Geradezu andächtig musterte der Mann das mächtige Deckengewölbe aus aufgefalteten Felsen. Immer wieder schön.

Den Erzählungen nach hatten Piraten von hier aus einen langen Stollen bis hinüber zur Kirche St. John ins Gestein getrieben. Jedenfalls waren in regelmäßigen Abständen Nischen für Fackeln oder Talglichter in den Felsen gemeißelt worden. Zudem bot die Höhle angeblich Seehunden Schutz. Die Touristen hörten gerne solche Geschichten.

Er hatte wenig Mühe, das Boot festzumachen. Es schaukelte, als er das schwere Bündel über die Bordwand auf den felsigen Boden zog. Das untere Teil landete platschend im Wasser, aber das kümmerte ihn nicht. Ohne zu zögern, zerrte er seine Fracht tiefer in die Dunkelheit hinein. Weiter hinten gab es ein natürliches, gut hüfthohes Plateau, das ausreichend Platz bot für das, was er vorhatte.

Er legte sie dort ab wie auf einem Altar. Eine Weile blieb er neben dem reglosen Körper hocken, sah in ihr Gesicht und dachte an nichts.

Dann stand er auf und stieg in sein Boot.

Auf dem Rückweg reckte er den Kopf in den Fahrtwind, schloss die Augen und schmeckte die salzige Luft. Der Wind frischte auf. Bald würde die Flut einsetzen.

I.

Das leise Fauchen eines Feuerzeugs.

»Hi, ich bin’s.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verhalten.

»Ja? Bitte?«

Im Hintergrund plärrte ein Fernseher. Eine überdrehte Moderatorin pries begeistert ein Produkt an.

»Ich … ich möchte zu Ihnen kommen. Wenn es keine Umstände macht.« Ein tiefes Inhalieren von Zigarettenrauch.

Die Stimme ließ kaum Rückschlüsse auf das Alter oder das soziale Umfeld zu. Jung oder jung geblieben, wohl keine sonderlich gute Schulbildung. Dem Akzent nach stammte sie aus der Gegend. Die Frau machte ungewöhnliche Pausen und verschleppte die Endungen, als sei sie beim Sprechen noch mit anderen Dingen beschäftigt. Vielleicht war sie auch nicht mehr ganz nüchtern. Oder sie legte einfach keinen Wert auf eine deutliche Aussprache.

»Wollen Sie etwas kaufen? Ich fürchte, im Augenblick kann ich Ihnen nichts anbieten.«

»Was Sie so machen, ist … ehrlich, nicht so mein Ding. Ich … nun … ich muss Sie sprechen.«

Die kratzige Stimme hatte unversehens eine andere Färbung angenommen. Der präzise ausgesprochene letzte Satz duldete keinen Widerspruch.

»Wer sind Sie, bitte?«

Die Frau hatte gerade mal ein halbes Dutzend Sätze gesprochen, und schon nervte sie. Er stellte sich vor, wie sie beim Telefonieren durch eine Illustrierte blätterte oder den Lack auf ihren Fingernägeln begutachtete.

Statt einer Antwort hörte er ein tiefes Inhalieren und ein Ausatmen. Der Fernsehton verstummte mit einem Mal.

»Sie kennen sich doch aus … wenn jemand verschwunden ist, meine ich. Plötzlich, sozusagen auf Nimmerwiedersehen. Das ist doch richtig, oder?«

»Hören Sie, ich weiß wirklich nicht, was ich für Sie tun könnte. Ich kenne nicht mal Ihren Namen.«

»Vic«, antwortete die Frau ungehalten, als sei das Wissen um ihren Vornamen Allgemeingut. »Kann ich kommen? Jetzt gleich? Ist echt … dringend.«

Natürlich, nun erkannte er die Stimme. Sie gehörte der Enkeltochter des alten Bowdery. Er sah sie hin und wieder im Dorf, meist stand sie dann am Hafen und schäkerte mit den Fischern, immer mit einer Kippe im Mund. Eine lebensbejahende Frau, der es auch nichts auszumachen schien, allein im Pub zu sitzen und Bier zu trinken. Er kannte sie nur flüchtig und hatte erst wenige Worte mit ihr gewechselt.

»Das ist keine gute Idee«, er räusperte sich, »Vic. Ich bin im Augenblick sehr beschäftigt.« Er spürte den dringenden Impuls aufzulegen.

»Ich habe Sie schon … öfters gesehen … ich meine, im Pub. Sie waren doch mal Polizist? Also, da müssen Sie doch wissen, was zu tun ist.« Sie zog wieder an ihrer Zigarette, als wollte sie ihm ausreichend Raum lassen für die Bestätigung ihrer Feststellung. Als die jedoch nicht kam, sprach sie weiter. »Ich kann das nur mit Ihnen besprechen. Echt. Alles. Wirklich. Davon hängt viel für mich ab. Sie müssen mir … zuhören. Bitte.«

»Wenn Sie Hilfe suchen, Victoria, ist die Devon and Cornwall Police in Helston die richtige Adresse. Rufen Sie die Nummer 101 an, wenn es kein Notfall ist. Oder sonst 999. Am Telefon sitzen Experten, die wissen, was zu tun ist. Nette Menschen, die Ihnen gerne zuhören. Die Telefonnummern sind Tag und Nacht besetzt. Geht es denn um einen akuten Notfall?« Sollte sie doch endlich sagen, was sie wollte, oder auflegen.

»Ein … Notfall?« Da war wieder das nachlässige Verschlucken der Wort- und Satzenden. Hatte sie womöglich zu viele Tabletten geschluckt? »Ein Notfall?«, wiederholte sie. Ihr Auflachen war rau und dick ausgepolstert mit Lebenserfahrung. »Das ganze verdammte Leben ist ein einziger Notfall.«

»Victoria, ich weiß jetzt wirklich nicht …«

»Bitte, bitte, es ist wichtig.« Sie klang jetzt wie ein bettelndes und zappeliges Kind.

»Ich glaube, wir sollten das Gespräch besser …«

»Ich komm schnell ins Atelier, ja? Dauert nicht lang. Es geht um meine Mum.«

»Ihre Mutter?«

»Ich habe Bilder gesehen. Solche Bilder. Meine Mutter und … O Gott.«

Stille, die sich aufschaukelte. Er wünschte, der Fernseher würde wieder plärren.

»Jetzt … habe ich Angst. Bitte.«

»Vic …« Wenn es denn sein musste, sollte sie halt vorbeikommen.

Es klickte in der Leitung.

Nun gut, dann eben nicht, Victoria, dachte er. Die Welt war voll von Spinnern, die es darauf anlegten, ihre Probleme zu denen anderer zu machen, eine Bühne zur Selbstdarstellung suchten, verrückt waren, gewalttätig oder einfach nur aus Boshaftigkeit Zeit stahlen. Offenbar war man selbst hier nicht vor ihnen sicher.

Achselzuckend sah er auf die Uhr. Es wurde Zeit, hinunter in die Bucht zu gehen.

II.

Der Gehstock kippte um, rutschte die Bordwand entlang und fiel klappernd auf den nassen Kies.

Die eine Hand an der Reling, angelte er mit dem Fuß nach dem Stock. Der Schmerz ergoss sich wie flüssiges Blei vom Hals das Rückgrat entlang über den Rücken bis tief hinein in die Beine.

Zentimeter für Zentimeter zwang er sich nach unten, bis die Finger den Stock zu fassen bekamen und er ihn aufheben konnte.

Das Wasser hatte sich weit aus dem kleinen Naturhafen zurückgezogen, die Ebbe stand fast auf dem Höhepunkt. Die See war ruhig, die Dünung träge. Am Horizont fuhr ein Containerschiff von einem der großen Häfen entlang der Südküste Richtung offene See.

»Die Scorpio wird gleich einlaufen.«

Simon Jenkins stützte sich auf seinen Stock und wandte sich um. »Bestes Wetter für Seehecht, Barsch und Makrele. Und Tintenfisch.«

»Hm.« Der schmale Küchenhelfer des Pubs stand kaum zwei Meter entfernt. Er kippte den Plastikkorb um und ließ die Fischabfälle mit einem Platschen auf den Boden fallen.

Und als hätten sie den Tag über nur auf diesen einen Moment gelauert, stürzten sich die Möwen von den umliegenden Felsen auf die Gräten, Fischköpfe, Innereien und die aufgebrochenen Schalenreste langbeiniger Krabben und Hummer. Im Nu entbrannte ein kreischender Streit um die besten Happen, aufmerksam beobachtet von einigen Dohlen, die das Gezeter gewohnt waren und wie unschlüssig in der Nähe umherstolzierten.

»Hoffe, sie haben ausreichend Hummer und Krabben an Bord.« Der junge Mann verzog das sommersprossige Gesicht und strich die Schürze glatt, die von seiner fettigen, blutigen Arbeit zeugte. Die Geste hätte missbilligender nicht sein können. »Alle wollen immer nur Schellfisch.« Er hob den Kopf und blinzelte in die Sonne. Sein schwarz gemustertes Halstuch trug er als Stirnband.

»Ein paar John Dory wären aber auch nicht schlecht«, bemerkte Jenkins.

»Hm.«

Ohne weiter nachzufragen, was es denn mit den hässlichen Heringskönigen auf sich habe, stapfte der Rotschopf in seinen für die dünnen Beine viel zu großen Gummistiefeln zum Cadgwith Cove Inn zurück, das nur einen Steinwurf entfernt vom Hafen lag.

Das hell gestrichene Haus war bei Weitem das markanteste Gebäude an der winzigen Dorfstraße. Schon wenige Meter hinter dem Pub drängte sich das mit Büschen und Bäumen dicht bewachsene Tal Richtung Wasser.

Die Bucht war an der schmalsten Stelle keine hundert Meter breit. Sie wurde von Felswänden flankiert, die aufgefaltet oder wie von mächtiger Hand aufgeschichtet aussahen. Über ihre gezackten, scharfkantigen Verwerfungen hatten Flechten und Moose über die Jahre eine fleckige Leinwand aus verschieden starken Grün-, Ocker-, Kupfer- und Brauntönen gespannt.

Je nachdem, wie das Licht stand, waren die Möwen, die auf den Vorsprüngen hockten, mal hingetupftes Deckweiß, mal dicke Flecken.

Auf der einen Seite der Bucht markierte das bereits vor langer Zeit nutzlos gewordene, schwarz geteerte Wachhäuschen der Sardinen-Späher das Ende der Felsen. Auf der anderen Seite thronten zwei Holzbänke auf der natürlichen Hafenbegrenzung.

Simon Jenkins ging bis ans Wasser, warf einen Blick aufs Meer und sah sich um. Er liebte mittlerweile diesen kleinen Hafen, der kaum Platz bot für das knappe halbe Dutzend Boote der Berufsfischer. Die wenigen Freizeitboote drängten sich in eine Nische am Rand, unterhalb einer ehemaligen Fischerkate, die als Ferienhaus genutzt wurde.

Der Hafen bot stets ein unaufgeräumtes Bild: An einer Wand stapelten sich ausrangierte Hummerkörbe, Reusen, daneben standen große blaue Kunststoffwannen, in denen Netze oder Taue gelagert wurden, auf dem Boden lagen schwere, rostige Ketten, die Führungsrollen für die Winde hatten hier ebenfalls ihren Platz, hier und da auch ein wenig Unrat. Aber schließlich war es der Arbeitsplatz der Fischer und keine pittoreske Kulisse, die allein für das Vergnügen der Touristen da war. Im Sommer wanderten viele von ihnen über den Küstenpfad die Hügel hinunter ins Dorf, flanierten neugierig auf der schmalen Straße, die großspurig New Road hieß, kauften Souvenirs, machten Fotos oder setzten sich in eines der beiden Lokale.

Jenkins genoss den immer gleichen Rhythmus: Die bunten Fischerboote, die kaum die Bezeichnung Kutter verdienten, liefen in der Regel am frühen Nachmittag mit ihrem Fang unter Vollgas auf den Strand auf. Mit einem Stahlseil wurden sie dann unter Knirschen und Ächzen über den groben Kies zu ihren Liegeplätzen gezogen. Die elektrisch betriebene Winde war in einem Gebäude aus Bruchsteinen untergebracht, das die Bezeichnung Maschinenhaus gewiss nicht verdiente und eher einem aufgegebenen Bootsschuppen glich.

Oben vom Küstenpfad oder den Bänken aus betrachtet sah das Spektakel aus wie ein Puppenspiel, das eigens für die Touristen, die die Aufführung zufällig genossen oder eigens dafür hergekommen waren, einstudiert worden war.

Nur einen Teil ihres Fangs verkauften die Fischer direkt vor Ort. Der Rest ging, gewogen und in Transportkisten auf Eis gepackt, in großen Lieferwagen auf die Reise, bis hin zu den teuren Feinschmeckerlokalen im fernen London.

Gerade schoben sich ein paar dünne Schleierwolken vor die Sonne. Jenkins suchte mit den Augen den Horizont ab. Die Linie zwischen dem dunkelblauen Wasser und dem Hellblau des Himmels verschwamm im Dunst.

Die Scorpio ließ doch noch auf sich warten. Aber er hatte keine Eile.

Längst nicht mehr.

Jenkins fasste den Gehstock fester. Der rutschige Kies machte ihm das Gehen nicht eben leicht. Ein Pint Ale wäre jetzt nicht schlecht. Im Vorübergehen klopfte er mit dem Stock wie zum Abschied gegen die Bordwand seines Bootes. Er würde die Kraken vorerst doch noch nicht verkaufen.

III.

»Ist ein Paket für mich angekommen?«

»Ein Paket?« Mary Morgan zog die Nase ein wenig kraus.

Simon Jenkins nickte und trat bis dicht vor die Theke. »Müsste längst da sein.«

Er gab Zeiten, zu denen er oft den Tag über nicht zu Hause war, jedenfalls soweit seine Gesundheit das zuließ. Daher hatte er recht bald nach seiner Ankunft in Cadgwith mit der Besitzerin des kleinen Dorfladens vereinbart, dass der Bote seine Post bei ihr deponierte.

Jenkins lächelte Mary erwartungsvoll an. Sie half mittlerweile fast täglich im Laden ihrer Tante aus, der neben Postkarten, den üblichen Souvenirs wie Schneekugeln mit Leuchttürmen, kunsthandwerklich einigermaßen geschickt zusammengebauten Fischkuttern und Segelbooten aus Treibholz, Tageszeitungen, Broschüren zur Geschichte der Gegend und Wanderkarten auch selbst gemachte Cornish Pasties anbot.

»Ich seh mal nach.« Mit einem kurzen Nicken verschwand sie im angrenzenden Raum.

Im Shop, über dessen Eingang das blaue Holzschild mit dem weißen Schriftzug The Watch House hing, roch es nach der für diese kleinen Läden so typischen Mischung aus Papier, Druckerschwärze und diversen Süßigkeiten. Jenkins überflog gerade die Schlagzeilen von Daily Mail, Sun und Daily Telegraph, als er ein Rumoren und leises Fluchen hörte. Etwas Hartes fiel polternd zu Boden.

»Tut mir leid.« Mary Morgan versuchte auf dem Weg zur Ladentheke vergeblich eine störrische Locke aus der Stirn zu pusten. »Eilt es sehr? Die Post ist für heute nämlich noch nicht durch.« Sie sah auf ihre Uhr. »Wesley ist normalerweise die Pünktlichkeit in Person. Eigentlich müsste er längst hier sein.«

»Ich schaue morgen wieder vorbei.« Er wandte sich ab. Auf einen Tag mehr oder weniger kam es nicht an.

»Warten Sie«, hielt sie ihn zurück. »Ich kann Wesley auch zu Ihnen schicken. Wenn Sie also nachher daheim sind?«

»Danke, nicht nötig.« Simon Jenkins legte zwei Finger an die Stirn. »Schönen Tag noch.«

Mary versuchte erneut die widerspenstige Locke aus der Stirn zu pusten. »Bevor ich es vergesse: Hat meine Tante Sie erreicht?« Erwartungsvoll lächelnd stützte sie sich mit den Händen auf der Theke ab.

»Ihre Tante?« Er wusste den plötzlichen Themenwechsel nicht einzuordnen.

»Margaret Bishop. Meine Tante.« Sie sah ihn an, als erwarte sie irgendeine Art von Gegenwehr. »Wegen der Ausstellung.«

Richtig, Morgans Tante war zugleich auch die Vorsitzende des örtlichen Verschönerungsvereins. »Äh, nein …«

Mary krempelte die Ärmel ihres Flanellhemdes hoch, als gelte es eine gehörige Fuhre Postpakete abzuladen. »Die jährliche Gartensafari. Tante Margaret meint, dass eine Ausstellung Ihrer Bilder sehr gut ins Programm passen würde. Ein Anlass für kultivierte Diskussionen. Und? Sind Sie dabei?«

Die Frage klang wie die Bestätigung einer längst beschlossenen Sache. »Ich glaube, dass das keine gute Idee ist.«

»Schade.«

»Ich weiß nicht recht …«

»Die Leute finden es schön, dass nun ein weiterer Künstler im Dorf wohnt. Und für Sie wäre die Gartensafari eine gute Gelegenheit, die Menschen besser kennenzulernen. Das gibt es ja hier nicht allzu oft.« Sie ließ den Blick ihrer dunkelblauen Augen ungeniert über ihn gleiten, verweilte aber nicht länger als nötig auf seinem Gehstock.

»Ich glaube nicht, dass ich genug gutes Material habe, um eine ansprechende Ausstellung zu gestalten.« Er klang etwas hölzern, aber das war ihm recht. Der Gedanke an eine Schau seiner Arbeiten behagte ihm nicht. Und was die angeblichen »Künstler« betraf, war er nicht sicher, ob er sie überhaupt kannte und welche Art Kunst sie tatsächlich fabrizierten. Schlimmstenfalls ging es um das Herstellen von historisch anmutenden Stickereien, Trockenblumenkränzen oder Fensterbildern. Er hatte an sich nichts gegen Kunstinteressierte, aber sich von aus der Zeit gefallenen Komiteemitgliedern anhören zu müssen, dass seine Bilder das kulturelle Leben Cadgwiths »insgesamt doch durchaus« bereicherten? Lieber nicht.

»Die Leute freuen sich.« Mary Morgan begann einen Stapel Flyer und ein paar Wanderführer von der einen Seite der Theke auf die andere zu räumen, als wollte sie ein Ausrufezeichen setzen. Außerdem rückte sie den Behälter zurecht, in dem üblicherweise der Eisportionierer aufbewahrt wurde.

Jenkins wandte sich zum Gehen. »Guten Tag.« Mag sein, dass er ihr unrecht tat, aber er fühlte sich von Mary Morgan und besonders ihrer Tante vereinnahmt.

In den Moment flog bimmelnd die Ladentür auf.

»Victoria. Vic …« Der irische Küchenhelfer des Pubs stand abgehetzt und schwer atmend in der Tür. Sein Gesicht war noch blasser als sonst. Seine Sommersprossen leuchteten wie Sprenkel frischen Blutes. In den Augen standen Aufregung und Schrecken.

»Sie haben sie gerade gefunden. Die Enkelin vom alten Bowdery. An den Klippen. Abgestürzt. Bei der Teufelspfanne.«

Den letzten Satz rief er bereits über die Schulter in den Laden. Er wollte die Nachricht offenbar schnellstens im Ort verbreiten.

»Vic. Um Gottes willen.« Mary band eilig ihre Schürze ab, warf Jenkins einen irritierten Blick zu. »Ich muss da hin.«

Jenkins spürte, wie sich seine Rückenmuskeln Stück für Stück zusammenzogen und der Schmerz langsam wuchs. Der frömmelnde Kalenderspruch bewahrheitete sich einmal mehr: Der Tod macht nie Pause und ist überall. Wie töricht anzunehmen, dass das Leben hier im winzigen Cadgwith andere Schicksale gebar als im Moloch London.

Erst im Juli war ein Junge beim übermütigen Klettern auf den Felsen in der Bucht tödlich abgestürzt. Auch jetzt noch trauerten alle im Dorf mit den Angehörigen des Sechzehnjährigen. Auf den Stufen zum steinigen Strand stand eine Saftflasche als provisorische Vase, in der stets frische Blumen steckten. Jenkins hatte im Pub gehört, dass demnächst eine Bank auf dem schmalen Felsstück aufgestellt werden sollte, das die Bucht in zwei Hälften trennte – mit einer Inschrift, die an das Unfallopfer Toby erinnerte.

Und nun Victoria. Die Nachricht ließ die Unruhe auflodern, die ihr Anruf schwelend in ihm zurückgelassen hatte. Sie hatte am Telefon unbeholfen geklungen, vor allem aber lästig. Warum hatte sie ihn angerufen? Worüber hatte sie mit ihm reden wollen? Er hatte entschieden, dass es nichts Dramatisches gewesen sein konnte, sonst hätte sie nicht so abrupt aufgelegt. Er war erleichtert gewesen, sie losgeworden zu sein. Dann aber war er zunehmend nachdenklich geworden.

In Cadgwith wusste sicher mittlerweile jeder, dass er Polizist gewesen war. Und natürlich ahnte er, dass es auch hier hinter den Fassaden Dinge gab, über die man besser nur hinter vorgehaltener Hand sprach. So galt Victoria Bowdery nicht gerade als Vorbild von Tugend und Anstand. Sie setzte ihre grünen Augen gerne und bewusst ein, um den Männern den Kopf zu verdrehen. Es gab einige im Dorf, die ihr Verhalten als übergriffig bezeichneten.

Jenkins gab nicht viel auf das Geschwätz. Das war auch nicht der Grund, warum er sie abgewimmelt hatte. Er wollte einfach nichts mehr an sich heranlassen, was auch nur im Entferntesten nach Polizeiarbeit aussah.

Und nun war Victoria Bowdery tödlich abgestürzt, ohne dass er sich um sie und ihre Not gekümmert hatte.

»Ich begleite Sie.«

Sein Unmut darüber, dass ihn der Verschönerungsverein wie selbstverständlich zu vereinnahmen suchte, war mit einem Mal verflogen. Er hätte jetzt einfach nach Hause gehen können. Seine aktive Zeit als Polizist war längst vorbei, es war nicht sein Fall. Punkt. Die Einsatzkräfte waren sicher längst vor Ort. Die Nachricht vom Tod einer Dorfbewohnerin ging ihn nichts an.

Wenn es nicht ausgerechnet Victoria gewesen wäre.

Ihr Anruf erschien ihm nun in einem völlig anderen Licht. Zudem war etwas in Mary Morgans Blick, das ihn beunruhigte, ein kurzes Aufblitzen, das er nicht einordnen konnte.

Auf dem Weg zur Unglücksstelle sortierte er seine Gedanken. Sein Gehirn hatte auf »Ermittlung« umgeschaltet, ohne dass er sich dagegen hätte wehren können. Weit mehr als zwanzig Jahre Polizeiroutine hatten sich in das Denken eingebrannt und brachen sich nun unvermittelt Bahn. Es war, als habe sich in seinem Kopf eine Tür, die er schon lange verschlossen wähnte, einen Spalt weit geöffnet.

»An der Teufelspfanne« konnte nur bedeuten, dass ein Fischer die Leiche entdeckt hatte. Hobbyboote waren um diese Jahreszeit kaum noch unterwegs, und vom Küstenpfad aus gab es keinen Zugang hinunter zum Fuß der Klippen. Die Felsen fielen steil zum Meer hin ab. Es war Flut. Das Geräusch der anrollenden Brandung klang dunkel bis hinauf zu ihnen.

Es hatte in der Nacht heftig geregnet, und der schmale Pfad oberhalb der Klippen war an einigen Stellen schlüpfrig. Die Luft roch nach feuchter Erde und nassem Gras. Jenkins setzte seinen Stock sorgsam und gezielt ein. Die beiden kamen nur langsam voran.

Sosehr Simon Jenkins auch in seinem Gedächtnis kramte, er wusste in der Tat nicht viel über Victoria Bowdery. Er wusste nur, dass sie dazugehörte. Und sicher hatte sie es mit ihrem zweifelhaften Ruf nicht leicht gehabt.

Er lebte erst knapp ein Jahr in Cadgwith und hatte sich vom Dorfleben in der ersten Zeit weitgehend ferngehalten. Die Arbeit am Haus und das Herrichten des Ateliers hatten seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft erfordert. Vor allem aber hatte er ungestört über sein Leben nachdenken wollen.

Jenkins wusste auch, dass Victoria bei ihrem Großvater William Bowdery wohnte und dass der als Sonderling galt. Ein verbitterter Fischer auf dem Altenteil.

Das Geschwätz über Victoria Bowdery begann im Pub immer dann, wenn der Alte das Cove Inn nach einem seiner ohnehin seltenen Besuche verlassen hatte. Dann wurde einmal mehr kolportiert, dass Victoria nach ihrer Mutter kam. Dass ihr Vater ein notorischer Säufer gewesen war und »seine Tochter im Suff gemacht« hatte. Und dass sie als Kind besser in einem Heim aufgehoben gewesen wäre.

Wenn das Ale oder der Whisky an solchen Abenden besonders ausgiebig floss, erzählten sie sich an der Theke mit wohligem Unterton, dass »der alte Bowdery die kleine Victoria nach dem Tod seines versoffenen Sohnes und dem Verschwinden seiner männergeilen Schwiegertochter« bei sich aufgenommen hatte, »weil er an dem Kind etwas gutmachen« wollte.

Welche Bilder mochte sie gesehen haben, von denen sie am Telefon gesprochen hatte? Welche Rolle spielte ihr Großvater? Und warum hatte sie so abrupt aufgelegt?

Jenkins und Mary erreichten endlich den Unglücksort und blieben in einiger Entfernung zur Absperrung stehen. Die Absturzstelle lag tatsächlich nicht weit von der Teufelspfanne entfernt. Dort hatten sich bereits ein paar Schaulustige aus dem Dorf eingefunden und reckten neugierig die Hälse. Sie sogen jede Bewegung, jeden Blick der Polizisten und jedes Zusammenstecken der Köpfe gierig auf. Sie würden später sicher viel zu erzählen haben. Schau mal einer an, dachte Jenkins beim Anblick der bunt zusammengewürfelten Gruppe, wer an einem Dienstag doch alles Zeit findet, der Polizei bei der Arbeit zuzusehen. Und dabei auf ein paar Informationen, Gerüchte oder Zusammengereimtes hoffte, das man anschließend im Dorf als Neuigkeiten weitergeben, diskutieren und ausschmücken konnte.

»Wir sollten besser wieder umkehren. Hier können wir doch nichts mehr tun.« Er berührte Mary leicht am Arm. Das Gehen den Pfad hinauf hatte ihm sichtlich Mühe bereitet.

Das blau-weiße Absperrband, das im Wind knatterte, die Uniformen, die Gruppe Schaulustiger und die Polizeifahrzeuge im Hintergrund lösten in ihm ein unerwartet beklemmendes Gefühl aus, das ihm zusätzlich den Atem zu nehmen drohte. Er wollte weg von diesem Ort, so schnell es ging. Vor seinem inneren Auge erschienen plötzlich grelle Farben: rote Blitze, dicke schwarze Wolken, pulsierendes blaues Licht. Jenkins schloss die Augen, um den Druck im Kopf abzumildern.

»Ich muss es wissen.« Mary bemerkte seine Berührung gar nicht, sondern hielt den Blick unverwandt auf die Absturzstelle gerichtet, an der sich ein Polizist postiert hatte. Wie durch einen Tunnel ging sie ohne zu zögern weiter. Die Umstehenden bildeten zu Jenkins’ Erstaunen wie selbstverständlich eine Gasse.

»Victoria Bowdery?« Mehr brachte sie nicht heraus.

»Wir können zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Angaben machen. Bitte gehen Sie zurück, Madam.« Der junge Constable nickte ernst, aber nicht unfreundlich.

»Es heißt, dass sie es ist. Es gibt keinen Zweifel.«

Mary blickte sich um. Ausgerechnet Holder. Kein Wunder, dass der Frührentner bei den Schaulustigen stand. Holder, der ganz in der Nähe der Absturzstelle an der Steilküste in einem reichlich vernachlässigten Cottage lebte, an dessen Gartenpforte der Name Whiff Cottage prangte, galt im Dorf als Tratsch- und Lästermaul. Außerdem stellte er jedem Rock nach, vor allem wenn seine Trägerin jung war.

»Ein guter Ort, um sich den Hals zu brechen.«

»Das kann nicht sein. Victoria ist nie gerne hier oben gewesen. Schon als Kind nicht. Vic hatte Angst vor dem Ort, vor dem Donnern, wenn die Wellen bei schlechtem Wetter gegen die Felsen schlagen. Das war ihr unheimlich. Die Tote muss jemand anderes sein.« Mary schüttelte in verzweifelter Hoffnung den Kopf. »Es muss eine Touristin sein. Jemand, der sich nicht auskennt und die Gefahr unterschätzt hat.«

Holder trug sein schütteres, ehemals blondes, nun nahezu graues Haar zu einem dünnen Zopf gebunden. Spielerisch ließ er ihn durch eine Hand laufen. »Sie wird ausgerutscht sein. Bei dem Boden.« Er machte ein bekümmertes Gesicht und sah zum Himmel hinauf. »Das Wetter wird schlechter. Du warst doch mit ihr befreundet …« Holder zupfte ein paar lose Blätter und Ästchen aus den Büschen, die den Rand der Klippen markierten, und behielt sie in der Hand. Als sei es seine Aufgabe, auf dem Küstenpfad für Ordnung zu sorgen. »Jan und Jocelyn haben sie gefunden«, setzte er ungefragt hinzu. »Als sie ihre Hummerkörbe kontrolliert haben.«

Mary ignorierte Holder, der sichtlich enttäuscht war, dass sie nicht auf seine Bemerkungen einging, und wandte sich noch einmal an den Constable. »Sie wissen doch sicher mehr. Bitte. Ist es Victoria Bowdery?«

»Sind Sie Angehörige? Madam, Sir?« Der Polizist blieb bestimmt, aber freundlich und sah Jenkins an, der Mary gefolgt war.

»Nein. Aber ich kenne Victoria, seit wir klein waren.« Tränen standen in ihren Augen.

»Tut mir leid, Madam.« Der Polizist drehte sich zu den übrigen Schaulustigen um und breitete die Arme aus. »Gehen Sie doch bitte. Es gibt hier wirklich nichts zu sehen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit.«

Ohne viel Murren folgten die Umstehenden zögernd der Anordnung. Was sie gesehen hatten, würde auf jeden Fall für eine ausführliche Erörterung bei einer Tasse Tee oder einem Ale reichen. Jenkins hörte eine Frau beim Weggehen zu ihrer Nachbarin sagen: »Jetzt hat die arme Seele endlich Ruhe.« Sie bekreuzigte sich.

Jenkins sah Holder hinterher, der sich inzwischen leutselig bei einer Frau mittleren Alters eingehakt hatte. Er hatte sie schon ein paarmal im Dorf und im nahen Mullion gesehen. Wenn er sich recht erinnerte, betrieb sie mit ihrem Mann eine Farm etwas oberhalb der Steilküste.

Auf dem Weg zurück ins Dorf blieb Mary Morgan immer wieder stehen. Als müsste ihre Freundin auf einem der Boote heimkehren, starrte sie auf das Meer hinaus, dessen Farbe seit dem Morgen von Dunkelblau in trübes Bleigrau gewechselt war. Ein paar Möwen ließen sich vom stärker aufkommenden Wind tragen.

»Es kann nicht Victoria sein. Sie wäre niemals so nahe an die Klippen herangegangen. Sie hatte eine irrsinnige Angst vor dem Wasser. Früher haben die alten Leute den Kindern Schauergeschichten über die Teufelspfanne erzählt«, bekräftigte Mary noch einmal, als sie an der Stelle stehen blieb, wo der Weg in steile Stufen mündete, die hinunter zur Dorfmitte führten. Sie sah auf die offene See hinaus, als würden mit der Flut die alten Geschichten zurückkehren.

»Unfälle passieren. Und immer dann, wenn man es am allerwenigsten erwartet.« Jenkins stützte sich auf seinen Stock. Er dachte an das Telefongespräch vom Vortag. »Sie müssen damit rechnen, dass es doch Victoria ist.« Aus Verzweiflung gesprungen, führte er den Gedanken stumm weiter.

Aber Verzweiflung worüber? Jenkins kniff die Augen zusammen. Er mochte seine These selbst nicht. Ein Selbstmord wäre zwar möglich, warum dann aber erst so lange Zeit nach den damaligen Ereignissen? Nach allem, was er wusste, hatte Vics Mutter ihre Tochter verlassen, als sie noch ein Kind gewesen war. Aber manche Erlebnisse waren derart traumatisch, dass die Erinnerung daran lange im Innersten verschüttet blieb und es unter Umständen viele Jahre brauchte bis zu einer Reaktion des Unterbewusstseins.

Jenkins atmete schwer. Die Anstrengung tat ihm nicht gut, und er erinnerte sich an jene Einsätze, bei denen er schlechte Nachrichten hatte überbringen müssen. Hilflos mit anzusehen, wie Eltern oder Freunde verzweifelt versuchten, das Unabänderliche so lange wie möglich von sich fernzuhalten …

Und wieder hatte er diese grellen gelben und roten Farben vor Augen, das Blaulicht, das Gefühl der Ohnmacht. Die Knöchel der Hand, mit der er den Stock umfasste, wurden weiß.

»Wenn es wirklich Victoria ist, dann war es kein Unfall.«

»Was?« Jenkins steckte zu tief in seinen Gedanken, um Marys Äußerung auf Anhieb zu verstehen.

»Wenn Victoria tot ist, war es kein Unfall.«

»Sie wissen, was das bedeutet? Warten wir besser ab, was die Polizei am Ende dazu sagt.«

»Noch mal: Victoria hatte Angst vor der Teufelspfanne.«

»Das mag ja sein …«

»Aber?«, kam es so verzweifelt wie angriffslustig zurück.

Jenkins blieb die Antwort schuldig. In seiner Erinnerung suchte er längst nach dem Punkt, an dem er Victorias Anruf hätte ernst nehmen müssen. Aber da war nichts gewesen. Er hätte nichts bemerken können.

Oder doch?

Er hatte es vergeigt. Ein Mensch könnte vielleicht noch leben, wenn er sich nur gekümmert hätte.

IV.

Wie fast immer zur Folk Night am Dienstagabend war das rund 300 Jahre alte Pub voll. In dem dunklen Holzboden hielt sich der Geruch verschütteten Ales, an der Theke drängten sich die Gäste, zwischen den Hockern und niedrigen Tischen war kaum ein Durchkommen. Selbst auf dem Hof standen die Zuhörer, um durch das offene Fenster den Musikern zuhören zu können. Die Geräuschkulisse war beachtlich für den niedrigen, etwas klein geratenen Gastraum. Jemand stimmte gerade seine Gitarre, eine junge Frau übte ein paar Bogenstriche auf der Violine. Dazwischen hin und her geworfene Bemerkungen. Lachen. Ein Bodhran-Spieler aus St. Ives packte seine irische Trommel aus und probierte ein paar Schläge.

Jenkins drückte sich mit einigem Geschick an den Tischen und niedrigen Hockern vorbei, ehe er die Bank erreichte, die gegenüber der Theke an der Wand verlief.

»Ein Pint?«

Jenkins schüttelte den Kopf und hob dankend die Hand. »Lieber ein Wasser. Erst mal.«

»Bist doch sonst nicht so trinkfaul«, neckte Graeme Mathieson, schlug ihm auf die Schulter und stand auf. »Bist schon ein seltsamer Vogel. Hängst den ganzen Tag am Hafen rum, malst, starrst aufs Wasser. Wenigstens spielst du passabel Mundharmonika. Ein Ex-Bulle aus London! Spezialeinheit, heißt es. Und dass keiner so richtig schlau aus dir wird.« Er grinste nun breit. »Hauptsache, du bist dienstagabends dabei. Aber ein komischer Kauz bist du schon ein bisschen. Na ja.« Mathiesons Gesicht wurde plötzlich ernst. »Schrecklich, der Unfall. Fällt einfach von den Klippen. Arme Victoria.«

»Das Leben ist manchmal grausam.« Was hätte Jenkins auch sagen sollen? Ihm wollte zwar die Abfolge der Ereignisse nicht aus dem Kopf gehen – erst Victorias mysteriöser Anruf, dann der Absturz, der nach Marys Überzeugung kein Unfall sein konnte –, aber alle anderen Überlegungen und Schlussfolgerungen versuchte er weit von sich zu schieben. Die Antwort auf die Frage Unfall oder Freitododer gar mehr? war Polizeiarbeit und nicht mehr seine Angelegenheit. Schon lange nicht mehr.

»Hm.« Mathieson gab sich mit der kurzen Antwort zufrieden und setzte seinen Weg zur Theke fort.

Jenkins beobachtete amüsiert, wie der gebürtige Schotte und Angestellte einer Sicherheitsfirma eine der Seilschlaufen als Halt nutzte, die wie in der U-Bahn in regelmäßigen Abständen von der Decke hingen.

Als Jenkins und Mary nach ihrer Rückkehr von der Absturzstelle um die Ecke des Hauses gebogen waren, in dem unten der winzige Shop Cadgwith Cove Crab unter anderem frisches Krabbenfleisch und oben eine winzige Galerie Kunsthandwerk anbot, hatten gerade ein paar Männer Victorias Leiche auf den Betonplatz am Hafen gelegt und mit einem Stück Segeltuch abgedeckt. Für ihre Bergung war eigens eines der langen Ruderboote aus dem Schuppen des Pilot Gig Club geholt worden, der sich neben dem Dorfladen befand.

Mary hatte Victoria natürlich sofort erkannt. Mit starrem Blick hatte sie in das bleiche Gesicht geschaut, in dem Strähnen nassen Haars und Seegrasreste klebten. Die Augen der Toten waren nur halb geschlossen, und so sahen sie aus, als seien sie auf etwas jenseits der Wasserlinie gerichtet.

Jenkins hatte Marys Zittern bemerkt, als ihre Jugendfreundin in das gemeinschaftliche Kühlhaus der Fischer getragen wurde. Dort sollte der Körper so lange bleiben, bis der Leichenbestatter ihn abholen würde.

Jenkins hatte den Leichnam unbewusst nach ungewöhnlichen Wunden abgesucht, soweit dies auf die Distanz möglich war. Für den ehemaligen Polizisten war schnell klar, dass der leblose Körper nur Verletzungen aufwies, wie sie bei einem Sturz aus dieser Höhe zu erwarten waren. Abschürfungen, Platzwunden, vermutlich massive innere Verletzungen, Quetschungen und Knochenbrüche. Es hatte ihn daher auch nicht gewundert, dass lediglich ein Detective Constable die Bergung der Toten beaufsichtigt hatte. Demnach bestand für die Polizei kein Zweifel, dass es sich um einen Unglücksfall handelte. Derartige Fälle kamen immer wieder vor, die meisten ereigneten sich in der Touristensaison – diesmal mit dem Unterschied, dass die Rettungsstaffel der nahe gelegenen Royal Naval Air Station Culdrose nicht gerufen worden war.

Um ganz sicherzugehen, hatte Jenkins sich vorgestellt und den Detective nach seinem Eindruck gefragt. Der DC hatte den ehemaligen Kollegen mit einer Mischung aus professioneller Distanz und gehörigem Misstrauen beäugt und ihm nicht mehr als eine hochgezogene Augenbraue gegönnt.

Jenkins wiederum hatte dem DC angesehen, was der dachte: Der bärtige Typ, der am Stock ging und in seinen abgetragenen Klamotten und mit dem Haar, das deutlich über den Kragen wuchs, eher wie ein Lebenskünstler aussah, dieser Typ sollte einmal ein Kollege gewesen sein?

Erst als er merkte, dass sein Gegenüber den Polizeijargon beherrschte, war er aufgeschlossener geworden. »Kein Zweifel«, hatte er gesagt, »der Fall ist klar und für uns abgeschlossen. Die Bedauernswerte ist im Dunkeln vom Weg abgekommen und abgestürzt. Haben Sie ihre dünnen Schühchen gesehen? Hätte sich der Körper nicht zwischen zwei Felsen im Wasser verfangen, wäre sie vermutlich von der Ebbe fortgespült und von den Schrauben eines Kreuzfahrt- oder Containerschiffes geschreddert worden.«

Mary Morgan hatte die Einschätzung des Detective Constable schweigend mit angehört und Jenkins wortlos stehen gelassen, um in Richtung ihres Cottages zu verschwinden.

Das Stühlerücken, um für Mathiesons Rückkehr Platz zu machen, brachte Jenkins in die Gegenwart der Folk Night zurück.

»Dein Wasser.« Graeme reichte ihm das Glas, als sei er froh, eine verdammt üble Brühe loszuwerden.

Jenkins musste lachen. Wenn jemand ein schräger Vogel war, dann Graeme Mathieson. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, ein frisches Pint zu ordern oder sein Glas mit Genuss auszutrinken, saß er meist schweigend da, hatte den Kopf gegen seine Gitarre geneigt, lächelte in die Saiten hinein und wartete, bis er an der Reihe war. Er sang oft Beatles-Klassiker. Diesmal stimmte er Yesterday an, und seine weiche Stimme ließ viele der Gäste mitsummen.

Neben Graeme saß Dan. Der sprach nicht viel, jedenfalls nicht in seiner Freizeit, und vor allem nicht, wenn er Musik hören konnte. Er ließ selten eine Folk Night aus. Dan betrieb von Mullion aus ein winziges mobiles Friseurgeschäft und war damit die fahrende Klatschzentrale der Region. Da er seinen Kunden stets das Gefühl gab, verschwiegen zu sein, bekam er bei der Arbeit mit Schere, Kamm und Bürste immer den neuesten Tratsch mit, ohne dass die Gefahr bestand, dass jemand mithörte. Die Kunden schworen auf seine Verschwiegenheit und vernahmen mit Vergnügen und manchmal auch mit wohligem Schauer die neuesten Gerüchte – und merkten nicht, dass sie bei dieser Gelegenheit selbst zu Lieferanten für den Klatsch wurden, den Dan für den nächsten Kunden bereithielt.

»Auch eins? Geht auf mich«, meinte er, als Graeme geendet hatte und der Applaus verebbte. Dan hob sein Glas, das schon halb leer war, und schlug sich auf den Bauch. »Ist äußerst nahrhaft. Könntest ein paar Kilos gebrauchen. Du siehst aus wie eine halbe Makrele.« Er lachte dröhnend.

»Na gut.« Jenkins lehnte sich zurück und beobachtete Dan, der sich bis zum Tresen durchkämpfte und bei der Bestellung ein paar Worte mit Bekannten wechselte, unter ihnen Barbara Thompson, von der Jenkins wusste, dass sie im nahen Lizard einen kleinen Antikshop betrieb. Außerdem bemerkte er Tim Hurst, BBC-Journalist im Ruhestand, und seine Frau. Ein Pärchen – der Funktionskleidung nach Touristen – wartete in der Tür zum Flur auf den Beginn der Musik. Um diese Jahreszeit kamen nur noch wenige Fremde in die Gegend.

Dan jonglierte geschickt zwei Pints an den übrigen Gästen vorbei zu ihrem Platz. »Cheers.« Er trank bereits. Nach einem satten »Ah« wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Kanntest du Victoria gut?«, fragte Jenkins.

»Alle kannten sie.« Dan zwinkerte Barbara Thompson zu, die ihr Weinglas lächelnd in seine Richtung hob. »Ab und an hab ich ihr die Haare gemacht. Warum fragst du?«

»Und stimmt es, was die Leute sagen?«

»Keine Ahnung, was du meinst.«

»Dass sie gerne geflirtet hat und so.«

»Man soll über Tote nicht schlecht reden.« Der Friseur unterdrückte einen Rülpser. »Vor allem, wenn es um einen solchen Fall geht.«

»Also stimmt es?«

»Einmal Bulle, immer Bulle, was?«

Den Spruch kannte er zur Genüge und wollte ihn nicht kommentieren. »Das war nicht die Antwort auf meine Frage, Dan.«

Mathieson stupste Jenkins an und deutete auf Dave J. Hearn, den alle nur Dave Windows nannten. »Es geht weiter.« Der gelegentliche Fensterputzer war der inoffizielle Chef der Folk Nights und sah gerade auffordernd in die Runde.

Jenkins hatte den Eindruck, dass Dan froh war, nicht antworten zu müssen.

Wie stets an solchen Abenden spielten sie abwechselnd und in unterschiedlichen Besetzungen, vor allem Blues und Folk, aber auch ein paar Popsongs. Mal war es das Banjo, das markant hervortrat, dann wieder die Fiddle, die eine oder andere Gitarre oder auch Tims Gesang.

Bei seinen ersten Folk Nights hatte Jenkins die Bluesharp nur zögerlich eingesetzt, aber mittlerweile fand er zu fast jedem Song die passende Begleitung oder spielte gar ein kleines Solo. Seine Spielfreude hatte ihm bei den Musikern schnell Anerkennung und Respekt eingebracht.

Er verzichtete an diesem Abend darauf, Dan noch einmal auf Victoria anzusprechen. Er würde schon noch eine andere Gelegenheit finden, um mehr über sie und ihr Leben im Dorf zu erfahren. Er wollte Mary Morgans Schmerz verstehen und sie in ihrem Zweifel nicht allein lassen. Die beiden Frauen verband offenbar eine gemeinsame Geschichte, die tiefer ging als das normale Miteinander in einem Dorf.

Nachdem der Wirt Last Order ausgegeben hatte, packte Jenkins seine Harps zusammen. Statt den direkten Weg nach Hause zu wählen, machte er einen Umweg über den Todden. So wurde die Felsnase genannt, die die beiden natürlichen Buchten Cadgwiths voneinander trennte. Der Nachthimmel war wolkenlos, und der Mond übergoss die Küste mit einem silbrigen Licht, das mit der ruhigen See zu einem glänzenden Spiegel ineinanderfloss. Irgendwo hinter dem Horizont lag Frankreichs Küste und noch weiter, jenseits des Atlantiks, Amerika.

Am Ende des Todden zog Jenkins spontan eine Harp hervor und spielte seine Version von Fields of Athenry, das Lied über die irische Hungersnot von 1848 und die Deportation eines verzweifelten Getreidediebs runter nach Australien.

Der Song traf ziemlich genau das Gefühl aus Wehmut, Stolz, Sehnsucht und Heimat, das er mit Cadgwith verband.

Der Wind schlief, und die Töne wehten weit über das Wasser. Es schien, als lausche die See und auch die Natur ringsum der sanften, melancholischen Melodie.

Danach schaute der ehemalige Polizist und praktizierende Künstler Simon Jenkins noch lange aufs Wasser. Das Bild stimmte, beschied er: das Meer als Quell allen Lebens und als feindliches Element. Die See als Symbol und Symbiose von Sehnsucht und Tod.

Er wäre gerne noch länger geblieben, aber die zunehmende Kühle trieb ihn heim. Außerdem wartete in seiner Küche die Medizin für die Nacht.

V.

Jenkins war vom Atelier hinüber in die Küche gewechselt. Er brauchte dringend eine Pause und einen Tee. Sein Rücken schmerzte vom langen Stehen an der Staffelei.

Er wollte gerade das heiße Wasser über den Teebeutel im Becher gießen, als es klopfte. Verwundert hob er den Kopf. Er bekam so gut wie nie Besuch, schon gar nicht um diese Uhrzeit. Er stellte den Wasserkocher auf die Anrichte zurück und griff nach dem Stock. Normalerweise kam er im Haus ohne Gehhilfe zurecht, aber seit er Mary Morgan auf die Klippen begleitet hatte, war der Schmerz im rechten Bein stark.

Er hatte den Türknauf kaum in der Hand, als es das zweite Mal klopfte, diesmal ungeduldiger.

»Oh, hallo, ich vermute mal, Ihre neuen Farben. Ich habe mir gedacht –« Es war Mary Morgan. Kaum hatte er die Tür geöffnet, hielt sie ihm ein großes Paket entgegen.

»Hm.« Unerwarteter Besuch machte ihn stets erst einmal wortkarg.

»Ich bin dann wieder weg.« Die Ankündigung widersprach ihrer abwartenden Haltung.

»Danke.« Er versuchte mit dem unhandlichen Paket zurechtzukommen. Der Stock war im Weg. »Sie hätten sich die Mühe nicht machen müssen. Aber danke.«

»Oh, keine Ursache.« Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch, und in ihre Augen hatte sich etwas Aufmunterndes geschlichen. »Ich glaube, Sie könnten ein wenig Hilfe gebrauchen. Soll ich nicht …?«

»Geht schon, danke.« Jenkins ärgerte sich, dass er eine so unbeholfene Figur machte.

Mary wippte leicht auf den Fußballen und steckte die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. »Dann einen schönen Abend noch.« Und als wollte sie den Abschied hinauszögern, deutete sie hinter sich. »Schönen Garten haben Sie.«

Jenkins ahnte längst, dass das Paket nur ein Vorwand war. »Ich wollte mir gerade einen Tee machen.« Er wies mit dem Kopf Richtung Küche. »Wenn Sie wollen …«

Sie nickte freudig und wirkte doch verlegen wie ein junges Mädchen.

Nachdem er das Paket neben dem Küchentisch auf den Boden gestellt hatte, schaltete er erneut den Wasserkocher ein. Er wollte die Farben nicht hinüber ins Atelier tragen, sonst hätte sie das vielleicht als Aufforderung verstanden, ihm zu folgen. Seine Werkstatt war für Fremde tabu. Niemand durfte seine Arbeiten sehen, bevor sie fertig waren. Vor allem nicht diese eine, an der er schon seit Monaten arbeitete, ohne wirklich voranzukommen. Das Motiv wehrte sich mit aller Macht gegen seine Vollendung.

Mary blieb an der Küchentür stehen. »Echt schön haben Sie es.«

Jenkins sah sich um, als nehme er den Raum zum ersten Mal bewusst wahr. Ein alter Tisch vom Trödler, vier Stühle. Das Buffet stammte aus der gleichen Epoche. Eine Küchenzeile, ein altes Regal mit Tellern und Bechern. Bilder, zum Teil eigene Arbeiten, andere vom Flohmarkt oder aus einem der Charity Shops in Helston.

»Setzen Sie sich doch.« Er nahm eine Teekanne aus dem Regal und maß die nötige Menge Blätter ab. Teebeutel mochte er ihr dann doch nicht anbieten.

»Der Stuhl könnte ein bisschen Leim vertragen.« Mary hatte sich an den Küchentisch gesetzt und war gleich wieder aufgestanden. Mit einer Hand bewegte sie die Lehne prüfend hin und her.

»Ist mir bisher nicht aufgefallen.« Jenkins klang ungewollt etwas schnippisch, als er heißes Wasser auf die Blätter goss.

»Oh, tut mir leid. Alte Angewohnheit von mir.« Sie setzte sich wieder.

Jenkins kam mit der Kanne und zwei Bechern an den Tisch. »So war das nicht gemeint. Ich habe völlig vergessen, dass Sie sich ja auskennen.« Er hatte Mary bisher zwar nur als Verkäuferin im Dorfladen kennengelernt, wusste aber von seinem Kumpel Luke, dass sie nach einer Schreinerlehre und einem Studium der Kunstgeschichte eine Zeit lang als Restauratorin in Deutschland gearbeitet hatte. Und dass sie seit ihrer Rückkehr nach Cadgwith im Haus ihrer verstorbenen Eltern eine kleine Frühstückspension betrieb.

»Einmal Schreinerin, immer Schreinerin. Aber im Ernst, ein bisschen Leim und ein paar Schraubzwingen, und das gute Stück ist wieder wie neu.« Sie klopfte dem Stuhl aufmunternd auf die Lehne wie ein Arzt einem Patienten auf die Schulter.

Unversehens waren die beiden in ein Gespräch vertieft über die Möbelepochen im Vereinigten Königreich und im übrigen Europa.

»Stühle sind die schönsten und wichtigsten Möbel im Leben eines Menschen.« Sie drehte den Becher in ihrer Hand.

Jenkins hob die Kanne. »Noch Tee?« Er hatte glatt die Zeit vergessen.

Mary war bei näherer Betrachtung eine überaus bemerkenswerte Frau. Ihr Blick war offen, das Gesicht fein geschnitten und gleichmäßig. Ihm gefielen die Leidenschaft, mit der sie über ihre Arbeit als Restauratorin sprach, und der Humor, mit dem sie von ihren Erlebnissen in Deutschland erzählte oder von den Begegnungen mit Pensionsgästen. Sie lachten besonders über die Dummheit eines deutschen Pärchens, das in Marys Nachbarschaft ein Ferienhäuschen gemietet und den elektrischen Wasserkocher auf den Gasherd gestellt hatte, um Teewasser zuzubereiten.

Eine selbstbewusste und bodenständige Frau, die ihre ganz eigenen Ansichten über das Leben hatte und sich nicht scheute, Dinge klar und deutlich auszusprechen. Sie war niemand, den man allzu leicht auf seine Seite ziehen konnte.

Mary wechselte abrupt das Thema. »Das war kein Unfall. Victoria ist niemals ausgerutscht.« Sie schüttelte heftig den Kopf und nickte, als er ihr nachgoss.

»Was macht Sie so sicher?« Er stellte die Kanne ab.

Sie umfasste den Becher mit ihren schlanken Händen, als suche sie Halt bei der Formulierung einer Antwort. Ihr Blick war nach innen gerichtet. »Sie konnte nicht schwimmen. Auch so’n Ding. Am Meer groß geworden und sich nicht ins Wasser trauen. Die Jungs aus dem Dorf haben sie damals gehänselt: ›Dumme Kuh, stell dich nicht so an.‹ Als sie älter war, hat sie jedes Mal ihr T-Shirt hochgezogen, wenn die Sprüche kamen, und es herrschte Ruhe. Dann konnten sie nicht schnell genug aus dem Wasser kommen und sich neben sie legen.«

Jenkins betrachtete sie, während sie sprach. Ihm fiel erneut ihr kräftiges, fast schwarzes Haar auf, das sie nachlässig zu einem lockeren Zopf gewunden hatte. Das betonte ihre hohen Wangenknochen, die gerade Nase und die schön geschwungenen Lippen. Die hellen Karos ihres Flanellhemdes, das sie lässig über der ausgeblichenen Jeans trug, brachten nicht nur ihre schlanke Figur zur Geltung, sie unterstrichen auch das tiefe Dunkelblau der Augen.

»Wie gut haben Sie sie gekannt?«

»Wann immer es nur ging, waren wir als Kinder im Dorf unterwegs, eine regelrechte Bande. Wir sind über die Felder gerannt, haben uns in der alten Kirche versteckt, im Heu getobt, Höhlen gebaut, am Strand nach Schätzen gesucht. Wir haben nichts ausgelassen, was Kinder so tun, die auf dem Dorf groß werden. Einmal ist Vic in den Turm von St. John gestiegen und hat wie wild die Glocke geläutet. Das hat vielleicht einen Aufruhr gegeben.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Sie hat besonders gerne die Vögel beobachtet. Vic wollte so schwerelos sein wie die Möwen. Wir haben viel gelacht und uns stundenlang Geschichten von guten Feen und Meerjungfrauen erzählt.« Sie seufzte. »Nur die eingestürzte Höhle hat ihr Angst gemacht. Ich weiß noch, dass ihre Mutter sie oft als Dummkopf gescholten und dann gelacht hat. Die eingefallene Höhle heiße doch bloß Teufelspfanne, weil in dem kreisrunden Loch die Gischt manchmal so aussieht, als würde das Wasser kochen. Und dass sie keine Angst zu haben brauche, weil es gar keinen Teufel gibt.«

»Sie waren bestimmt sehr glücklich.« Er musste an seine eigene Kinder- und Jugendzeit denken. Er war in einer Kleinstadt in Devon aufgewachsen und konnte sich nur an wenig erinnern. Daran, dass die Häuser grau und viele Männer ohne Arbeit gewesen waren. An die sonntäglichen Ausflüge an die Küste, bei denen sein Vater regelmäßig davon erzählt hatte, wie von dort aus die Maschinen gestartet waren, vor allem nachts, um die Nazis zu bombardieren. Ein schwermütiger Mann, besonders nach reichlich Bier. Und er konnte sich an den Bolzplatz erinnern, auf dem er mit seinen Freunden abgehangen hatte. Alles in allem nichts, woran es sich wirklich zu erinnern lohnte.

»Das stimmt. Vic und ich waren für eine gewisse Zeit unzertrennlich wie Schwestern.«

»War Victoria beliebt im Dorf?«

»Ob sie von den anderen Kindern gemocht wurde?« Sie zog die Stirn in Falten. »Sagen wir mal so: Meist wurde sie in Ruhe gelassen.« Sie musste erneut lächeln. »Und wenn es mal Probleme gab, haben sich die anderen blutige Nasen geholt.«

Jenkins konnte sich gut vorstellen, wie Mary sich mit erhobenen Fäusten schützend vor Victoria gestellt hatte.

»Und zu Hause?«

»Ihre Familie?« Marys Gesichtszüge wurden unvermittelt hart. »Victoria hat eine Menge Dreck erlebt. Der Vater säuft sich tot, die Mutter ist verantwortungslos, treibt sich mit Männern rum und ist irgendwann nicht mehr da. Sie kennen sicher die Geschichten, die man sich im Dorf über die Familie erzählt. Einzig ihr Großvater hat sich um sie gekümmert. Seit sie neun war, hat sie bei ihm gelebt.«

»Dann stimmt es also, was die Leute sagen.«

»Alle haben sie mit dem Finger auf die Bowderys gezeigt, mit Genuss die ›Verhältnisse‹ kommentiert. Die Familie hat ja auch ständig neuen Stoff für ein schnelles Gespräch bei einer Tasse Tee unter Freundinnen geliefert.« Sie schnaubte verächtlich bei dem Gedanken. »Dabei waren die meisten selbst nicht viel besser.«

Er sah sie fragend an.

»In der Vergangenheit muss es hier ziemlich heftig zur Sache gegangen sein. Sodom und Gomorra. Hört man immer wieder mal. Na ja, auch so ein Gerücht.«

Die Vorstellung eines farbenprächtigen Sittengemäldes des idyllischen Fischerdorfes amüsierte ihn, aber er blieb ernst. »Was ist Ihrer Meinung nach passiert?« Jenkins goss sich ebenfalls nach. »Sie glauben immer noch, dass sie gewaltsam zu Tode gekommen ist, oder?«

Mary antwortete, ohne zu zögern. »Ja, das glaube ich.«

»Wer sollte so etwas tun?« Das Telefongespräch lastete zunehmend schwerer auf ihm. Er hatte nicht verstanden, dass es ein Hilferuf gewesen war. Zu seiner aktiven Zeit wäre ihm dieser Fehler nicht unterlaufen.

Sie zuckte mit den Schultern. »Sie waren doch Polizist. Finden Sie es heraus.«

Eine einfache Feststellung, eine ebenso einfache Aufforderung. Er antwortete zögernd. »Wie soll das gehen? Nein. Ich bin ich schon lange nicht mehr im Dienst. Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mit meinem früheren Leben abgeschlossen. Die Polizei geht von einem Unfall aus. Wir sollten es dabei belassen. Es gibt demnach keinen Hinweis auf ein Fremdverschulden.«

»Es war kein Unfall.« Sie stellte ihren Becher eine Spur zu hart ab.

»Menschen tun manchmal Dinge, die für andere nicht nachvollziehbar sind.« Seine ohnehin weiche Stimme klang noch eine Spur sanfter, und sein Blick suchte in ihren Augen nach Zustimmung. »Vielleicht …«

Mary unterbrach ihn unwirsch. »Sie meinen, sie hat sich umgebracht? Mit einem Sprung von den Klippen? Niemals. Warum sollte sie das tun, um Gottes willen?« Mary schob ihren Becher heftig von sich.

»Solche Dinge passieren.« Seine Argumentation bröckelte zusehends.

Sie fing seinen Blick auf. »Victoria ist in den vergangenen Jahren vielleicht ein wenig eigenbrötlerisch geworden, aber das war sie als Kind schon. Sie hat gerne oben auf dem Todden gesessen und aufs Dorf geschaut. Die Menschen sehen von hier aus wie Marionetten in einem Puppenspiel, hat sie mir gesagt. In ihrem Zimmer unter dem Dach hat sie gerne die Puppen so aufgebaut, wie die Leute im Dorf gestanden und sich unterhalten haben. Sie mochte die Vorstellung, wie die Menschen hin und her gegangen, in ihre Autos gestiegen sind oder auch nur in der Bucht aufs Wasser geschaut haben. Sie mag ein wenig seltsam gewesen sein und – was Männer anging – auch kein Kind von Traurigkeit, aber ich bleibe dabei: Victorias Tod ist kein Unfall.« Sie stand entschieden auf und sah auf ihn hinab. Jenkins hätte sich nicht gewundert, wenn er ihre Hand auf seiner Schulter gespürt hätte. »Bitte, helfen Sie mir, die Wahrheit zu finden.« Sie machte eine Pause. »Bitte.«

»Vielleicht war sie an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr weiterwusste.« Er wollte sie nicht verletzen, aber noch vorsichtiger konnte er sich nicht ausdrücken.

»Selbstmord? Niemals. Es gab nicht den geringsten Grund.« Sie rückte entschieden den Teebecher zur Seite, blieb aber stehen.

»Depressionen verhindern oft den klaren Blick.«

»Warum sollte Vic depressiv gewesen sein?«

»Bei ihrer Lebensgeschichte, so wie Sie sie schildern, nicht ungewöhnlich.« Er wollte ihr nicht von Vics Anruf erzählen. Die Begebenheit gab noch nicht genug her, noch nicht. Stattdessen fuhr er fort. »Nur mal angenommen … Depressionen sind eine furchtbare Sache. Viele denken, dass ein Selbstmord egoistisch ist, dass sich der Kranke keinen Deut um die Hinterbliebenen schert. Dabei bin ich mir sicher, dass ein Mensch, der an diesem Punkt angelangt ist, denkt, seine Lieben seien ohne ihn besser dran. Diese seelische Krankheit hat nichts mit Egoismus zu tun.«

»Sie wollte ihrem Großvater nicht länger zur Last fallen? Gut. Dass eine erwachsene, gut aussehende Frau es vorzieht, mit ihrem Großvater zu leben, ist schon ungewöhnlich. Aber das reicht mir nicht als Erklärung. Dass Victoria ihren geliebten Großvater durch ihren Tod ›entlasten‹ wollte – nein, das ist Unsinn. Absolut.« Ihre Augen wurden eine Spur dunkler.

Er rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Ich will den Gedanken nur zu Ende bringen: Depressionen sind unerbittlich, und aus meiner Zeit als Polizist weiß ich, dass es viele gibt, die der Krankheit sehr, sehr nahekommen. Vielleicht weil ein Familienmitglied daran erkrankt ist, sie Freunde oder geliebte Menschen verloren haben.«

»Ich will das nicht glauben.«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit.« Jenkins war nicht sicher, ob er diesen Punkt ansprechen sollte. Andererseits steckten sie schon zu tief in der Diskussion.

»Was meinen Sie?« Sie fuhr sich übers Haar und setzte sich doch wieder.

»Ich will niemanden verdächtigen.« Er freute sich, dass sie wohl doch noch nicht gehen wollte, zögerte aber, bevor er weitersprach. »Und es klingt nach Kaffeesatzleserei, aber es wäre eine Hypothese, eine, die nicht leichtfertig beiseitezuschieben ist: Was, wenn es Victorias Großvater ist, der unter Depressionen leidet, und er das Gefühl hat, sie nicht länger beschützen zu können? Er sie aus … Verzweiflung über die Klippen gestürzt hat?«

Mary schüttelte heftig den Kopf. »Mord? Opa Bowdery ist mit der Zeit immer verbitterter geworden, was ich so mitbekommen habe. Ein wahrer Fischer, jede Faser. Er war viel lieber auf dem Meer als eine einzige Stunde zu Hause. Die Tiefe des Meeres hat er nie als Gefahr gesehen. Für ihn war die See der Schoß der Natur.« Sie nickte wie zur Bestätigung. »Depressionen? Ich habe davon nichts bemerkt. Aber ich habe ihn zugegebenermaßen in letzter Zeit nicht oft gesehen. Und das Geschwätz der Leute hat mich auch nicht interessiert. Was in der Zeit passiert sein mag, in der ich nicht in Cadgwith war, darüber weiß ich nicht wirklich etwas. Aber Mord? Bowdery bringt seine Enkelin um? Niemals.«

Jenkins spürte, dass sie an dieser Stelle nicht weiterkamen, deshalb wechselte er das Thema. »In den vergangenen Tagen und Nächten hat es viel geregnet. Der Küstenpfad ist so glitschig wie Schmierseife. Wie schnell rutscht man da aus. Ein unbedachter Schritt, und schon verliert man unweigerlich den Halt. Holder hat so unrecht nicht.«

»Holder, pah. Was weiß der schon? Säuft und macht den Frauen schöne Augen, der alte Gockel.« Sie schüttelte sich.

»Er könnte in der Nacht etwas gehört haben. Sein Garten grenzt doch unmittelbar an den Küstenpfad.«

»Helfen Sie mir, Victorias Tod aufzuklären?«

Jenkins sah den hoffnungsvollen Blick und die Anspannung in Marys Augen. Und er musste sich eingestehen, dass sie recht hatte. Er beschäftigte sich längst mit dem Fall.

»Ja?« Die kurze Frage bot kaum Raum für den geballten Schmerz über den Verlust ihrer Jugendfreundin.

»Ich denke darüber nach.«

»Und ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie einfach stehen gelassen habe im Hafen. Das ist nicht meine Art.«

Er wollte antworten »Ich weiß«, aber er schwieg.

Obwohl in diesem Augenblick ein leichter Nieselregen einsetzte, blieb Mary auf dem Heimweg einen Augenblick stehen, wo der kleine Hafen unmittelbar an die Dorfstraße grenzte.

Simon Jenkins. Sie konnte nur schwer einschätzen, wie alt er war. Anfang, Mitte vierzig vielleicht. Ein klassisch schöner Kopf mit vollem Haar, kräftigem Kinn und dunklen, nahezu schwarzen Augen. Schlank, hochgewachsen, eine leicht gebückte Haltung. Und das Humpeln natürlich. Er hatte etwas Jungenhaftes an sich, wenn er – selten genug – lächelte. Und auch etwas Schüchternes, das sie ihm nicht zugetraut hätte als ehemaligem Polizisten. Und doch strahlte er etwas Solides und Zuverlässiges aus. Mary fühlte sich in seiner Gegenwart angenehm sicher. Nicht, dass sie sich in Cadgwith unsicher fühlte. Im Gegenteil. Es war bloß dieses überraschende Gefühl, an das sie nicht gewöhnt war. Sie fragte sich, ob ihm seine Behinderung peinlich war oder ob sie der Grund dafür war, warum er so schüchtern, aber auch ein wenig hilflos und, ja, ungeschickt erschien.

Den Kopf voller Gedanken, setzte sie den Weg fort. Zum Schluss lief sie, denn der Regen wurde plötzlich stärker. Zu Hause machte sie Tee und rief Barbara Thompson an. Die Antiquitätenhändlerin hatte ihr einen Sekretär aus der Zeit Edward VII. angeboten. Zunächst hatte sie Bedenken gehabt, aber dann beschlossen, dass er doch einen Platz in ihrem B&B finden würde – vorausgesetzt, der Preis stimmte. Vielleicht konnten sie schon für den nächsten Tag einen Termin zur Besichtigung des Jugenstilmöbels vereinbaren.

»Der Sekretär ist ein echtes Schnäppchen.«

»Auf dem Foto sieht er gut aus.« Eine Zierleiste fehlte. Das Furnier würde sie an einigen Stellen ausbessern müssen, den Rest gründlich überarbeiten. Insgesamt überschaubar.

»Übermorgen bei Mrs. Brown? Zum Tee?«

»Müsste ich schaffen.«

»Die alte Dame macht umwerfend gute Scones«, lockte Barbara. »Vielleicht trennt sie sich auch von dem einen oder anderen Stück Silber.«

»Warum nicht.«

»Du klingst nicht sonderlich begeistert. Geht es dir nicht gut?«

Mary kannte Barbara von früher. Vor vielen Jahre hatten sie sich aus den Augen verloren und erst wiedergetroffen, als sie in ihrem Shop nach Einrichtungsdingen für das B&B gestöbert hatte. Sie waren schnell miteinander ins Gespräch gekommen. Beide verband ihre Liebe zu alten Möbeln der Jahrhundertwende. Außerdem war Barbara jemand, der einen offenen Blick auf das Leben und die Menschen hatte. Das hatte Mary sofort gefallen. Seither kam sie regelmäßig in den kleinen Antiquitätenladen. Ihr B&B war zwar weitgehend komplett eingerichtet, aber für die eine oder andere Vase, eine Decke, Silberbesteck oder diesmal eben den Sekretär ließ sich allemal ein Plätzchen finden. Außerdem schätzte sie die ungezwungenen, kreativen Begegnungen mit Barbara als kleine Auszeit vom Alltag zwischen B&B und der Arbeit im Shop.

»Du sagst ja nichts. So schlimm?«

»Was? Ja … nein … ich … mir geht Victorias Tod nicht aus dem Kopf. Ich bin davon überzeugt, dass sie ermordet wurde.«

»O mein Gott, Mary. Sag so was nicht. Wie kommst du darauf? Das ist ja furchtbar.«

Mary erzählte ihr, dass sie mit Simon Jenkins an der Absturzstelle gewesen war. Und auch, was er über den Fall dachte.

»Siehst du, er hat sicher recht mit seiner Einschätzung. Er war Polizist.«

»Er hat mir jedenfalls versprochen, sich umzuhören.«

»Das ist doch nett von ihm. Er ist sowieso ein attraktiver Mann, trotz seiner Gehbehinderung.«

»Es geht um den Mord an Vic.« Mary wusste auch nicht so recht, warum sie das so ausdrücklich betonte.

»Habe ich etwas anderes gesagt?«, neckte Barbara.

»Wenn, dann findet er es heraus.« Sie überhörte Barbaras Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

»Hast du mit der Polizei über deinen Verdacht gesprochen?«

»Ich habe das den Beamten schon am Unglückstag gesagt. Und ich habe noch einmal die Kripo angerufen. Sie sehen keinen Ermittlungsbedarf. Es gibt keinen Hinweis auf ein Fremdverschulden. Entsprechende Spuren oder Hinweise gäbe es keine, bis auf die Verletzungen durch den Sturz. Vic hat die ganze Nacht zwischen den Felsen im Wasser gelegen. Da ist nicht viel übrig geblieben. Sie haben sich zwar im Dorf umgehört und mit ihrem Großvater gesprochen, aber auch das hat nichts ergeben.«

»Merkwürdige Geschichte. Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr kann ich mir vorstellen, dass du recht haben könntest. Ein Mord in Cadgwith – wie spannend. Wo es ansonsten doch nur tote Fische und Hummer zu beklagen gibt.«

»Ich kann darüber nicht lachen, Barbara.«

»Oh, ich wollte dich nicht verletzen.« Barbaras Ton wurde sachlich.

»Schon gut.« Mary schloss für einen Moment die Augen. Sie war müde.

Nachdem sie noch einmal die Besichtigung des Möbels und den Nachmittagstee bei Mrs. Brown bestätigt hatte, beendeten sie das Gespräch. Mary überlegte kurz, ob sie noch die fälligen Abrechnungen erledigen sollte, verschob die lästige Arbeit aber auf einen anderen Abend.

Der Regen hielt die ganze Nacht über an. Außerdem kam Wind auf, der erst gegen Morgen nachließ.

VI.

Jenkins lag auf dem Sofa und bewegte sich so wenig wie möglich. Er war zu lange unterwegs gewesen, und zu allem Übel hatte er am Morgen vergessen, seine Medizin einzunehmen. Wenn er ehrlich zu sich war, hatte er sie nicht einfach nur vergessen. Er hatte sie nicht einnehmen wollen. Er hasste das Sortiment Pillen und Tabletten, das auf der Anrichte stand. Es erinnerte ihn jeden Tag daran, dass er für den Rest seines Lebens von ihnen abhängig sein würde.