Kohärenz - Ralph Edenhofer - E-Book

Kohärenz E-Book

Ralph Edenhofer

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Beschreibung

In einer fernen Zukunft hat die Menschheit sich hunderte Lichtjahre weit ins Weltall ausgebreitet und viele tausend Kolonien gegründet. Bewusstseinstransfers ermöglichen lichtschnelle Reisen zwischen den Sternsystemen ebenso wie theoretisch unbegrenzte Lebensdauer. Es herrscht allgemeiner Wohlstand. Doch die Expansion hat einen Preis. Um den Frieden zu wahren, wurde die Kohärenz etabliert, die technologische und kulturelle Gleichschaltung aller Kolonien. Dies durchzusetzen, ist Aufgabe der Revisoren, die über die Macht verfügen, ganze Systeme zu vernichten. Einer von ihnen ist Leron, der über die neu gegründete Kolonie Ilada wacht. Doch als er sich in die Siedlerin Telaris verliebt, wird eine Ereigniskette in Gang gesetzt, die nicht nur Lerons Überzeugungen infrage stellt, sondern das Leben vieler Millionen Menschen bedroht. Denn eines steht fest: Die Kohärenz muss gewahrt bleiben!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kohärenz

Ralph Edenhofer

Inhalt

Prolog: Ankunft

Kapitel 1: Revisor Primus

Zwischenspiel: Rekonditionierung

Kapitel 2: Gefährdungsvermerk

Zwischenspiel: Petition

Kapitel 3: Die Mission

Epilog: Neubeginn

Anhang

 

Hinweis des Autors:

Ich habe in diesem Buch zahlreiche Fachbegriffe und eigene Wortschöpfungen verwendet. Die werden alle innerhalb des Textes erklärt, aber nicht immer schon bei der ersten Verwendung. Für alle, die bereits vor der internen Erläuterung wissen wollen, worum es geht, habe ich am Ende des Anhangs hinter dem Personenverzeichnis ein Glossar mit kurzen Beschreibungen beigefügt. Bei der jeweils ersten Verwendung eines Sonderbegriffes im Text ist der Glossareintrag verlinkt. Wer dem Link folgt, kommt anschließend mit der Zurück-Funktion des Ebook-Readers wieder an die Textstelle, von der er/sie in den Anhang gesprungen ist.

Ende des Hinweises. Viel Spaß beim Lesen.

 

 

Prolog: Ankunft

 

Tag 238 im Jahr 59.067 der Kohärenz, Sternsystem USC 3170-8772-0981Bevölkerung: 0

Gäbe es auf dem dritten Planeten des Sternsystems einen aufmerksamen Beobachter, hätte er vor drei Jahren und 244 Tagen das Aufleuchten eines schwachen neuen Lichtpunktes zwischen den Myriaden Sternen entdecken können, die scheinbar reglos und unveränderlich über die Schwärze des Weltalls verteilt waren. Im Gegensatz zu allen anderen war dieser eine Punkt seit seinem Erscheinen stetig heller geworden – oder zumindest hätte es so ausgesehen – bis er beinahe so strahlend gleißte wie der Zentralstern des Systems selbst, um den der Planet seine Bahn zog.

Dann, von einem Moment auf den anderen, erlosch das Leuchten, als das Fusionstriebwerk abgeschaltet wurde und das Objekt in die Umlaufbahn des Planeten einschwenkte. Es war nicht sonderlich groß. Es hätte schon eines guten Teleskopes bedurft, um es detailliert in Augenschein zu nehmen. Etwa sechshundert Meter lang, bestehend aus einem komplexen Gitter von Karbonstreben, zwischen denen das soeben verstummte Triebwerk, die Nutzlast und die riesigen, nun beinahe leeren Tanks befestigt waren.

Eine Weile geschah nichts, während das Objekt um den Planeten kreiste. Zumindest nichts, was mit bloßem Auge sichtbar gewesen wäre. Abseits des winzigen Ausschnitts, den ein Mensch innerhalb des elektromagnetischen Spektrums wahrnehmen konnte, war die Aktivität allerdings unübersehbar. Mit Radar und verschiedenen Lasern scannte es den Planeten und seine Monde. Das hatte es bereits während des Anflugs getan, doch nun, im stabilen Orbit, verfeinerte es die bisherige Analyse. Nach fünf Umläufen lösten sich, eine nach der anderen, mehrere Sonden aus dem Karbonrahmen, zündeten kleine Triebwerke und nahmen Kurs auf verschiedene Ziele.

Eine der Sonden strebte zum innersten der Monde des Planeten, setzte dort eine Armee winziger Nanoroboter aus, die umgehend damit begannen, seine felsige Oberfläche in ihre atomaren Bestandteile zu zerlegen und diese sorgfältig zu sortieren nach Metallen, Silizium, Kohlenstoff und zahlreichen anderen chemischen Elementen.

Eine weitere Sonde landete auf dem fünften Mond, dessen äußerste Schicht größtenteils aus Eis bestand, gewann dort Wasser und löste einen Teil davon in Wasserstoff und Sauerstoff auf, den es in mitgebrachte Tanks füllte.

Die dritte und größte der Sonden flog nicht von der Oberfläche des Planeten fort – sofern man die oberste Wolkenschicht des Gasriesen als ‚Oberfläche‘ bezeichnen mochte –, sondern senkte sich auf sie herab, drang tief in die wirbelnden Gasmassen ein und filterte winzige Spuren von Helium-3 aus seiner Atmosphäre.

Die Früchte ihres Tuns brachten die Sonden zurück zu dem Objekt im Orbit, um anschließend sofort wieder auszuschwärmen und ihre Arbeit fortzuführen, während Assemblernaniten damit begannen, aus den gesammelten Rohstoffen neue Module zu erstellen und die Basisstation zu erweitern. So wurden nach und nach die Tanks wieder gefüllt oder, sofern sie nicht mehr benötigt wurden, zu anderen Strukturen umfunktioniert, der Gitterrahmen umgestaltet und weitere Sonden gebaut, die ihrerseits noch mehr Rohstoffe aus allen Ecken des Sternsystems herbeischafften.

Mehrere Jahre lang wuchs das Objekt Schritt für Schritt zu einer Orbitalstation. Irgendwann, nachdem ein steter Nachschub aller benötigten Materialien gesichert war, fügten die Assembler der Station eine rotierende Sektion mit luftgefüllten Habitaten hinzu. Darin platzierten sie einige menschengroße, mit Nährflüssigkeit gefüllte Wannen und begannen damit, während der zurückliegenden Reise tiefgefrorene Zellkulturen aufzutauen und wachsen zu lassen. Währenddessen empfing die Kommunikationseinheit der Station über ihre riesige Parabolantenne mehrere umfangreiche Datenpakete. Mit einem Teil der enthaltenen Informationen programmierte sie die Zellen, so dass sie individuelle Eigenschaften ausbildeten. Der Rest der Daten wurde zwischenzeitlich in einem Speicher abgelegt und einer der Sätze schließlich, als aus den Zellkulturen menschliche Körper herangewachsen waren, in das Gehirn eines von ihnen hochgeladen.

 

 

Kapitel 1: Revisor Primus

 

Tag 87 im Jahr 59.082 der Kohärenz, Sternsystem USC 3170-8772-0981Bevölkerung: 1

Das Erwachen war jedes Mal der unangenehme Teil. Egal, wie oft Leron zwischen den Systemen der Union reiste, daran würde er sich wohl niemals gewöhnen können.

Er hielt die Augen noch eine Weile geschlossen, atmete die Nährflüssigkeit ein und wieder aus, die den Körper vollständig umhüllte und sowohl seine Lunge als auch die Verdauung mit allem versorgte, was sie für ihre uneingeschränkte Funktion benötigten. Langsam fiel die Desorientierung von ihm ab. Sensorische Inputs gelangten in sein Bewusstsein. Minimale Strömungen über seiner Haut. Ein Zucken in einem Finger – er konnte noch nicht mit Sicherheit sagen, in welchem. Er nahm sich Zeit. Es gab keinen Grund zur Eile.

Ganz langsam ließ er seinen Geist in das Fleisch einsickern, prüfte erste Muskeln, zunächst sanft, dann fordernder. Ballte die Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder. Spürte, wie das Blut im Takt des Herzens durch seine Extremitäten strömte, der endlich erwachte Kreislauf in Fahrt kam.

Schließlich gab er sich einen Ruck und schlug die Augenlider auf. Zum ersten Mal fiel Licht durch die bislang ungenutzten Pupillen, formte undeutliche Muster auf der Netzhaut, die Stück für Stück an Kontur gewannen, jedoch nicht aufhörten zu wabern und zu flackern. Er drückte seine Arme nach unten, presste die Hände auf den Boden der Wanne, in der er lag, und stemmte sich hoch, bis sein Gesicht die Oberfläche der Flüssigkeit durchstieß. Zügig richtete er sich weiter auf, erst in eine sitzende Position, dann beugte er sich über den Rand der Wanne und öffnete den Mund. Der erste Schwall der Nährflüssigkeit ergoss sich freiwillig aus seiner Kehle. Er kniete sich hin, senkte den Kopf weiter herunter und keuchte, bis auch die hintersten Winkel seiner Lunge befreit waren. Der erste Atemzug füllte seine Luftröhre … und führte zu dem obligatorischen Hustenanfall. Zuckend und röchelnd verkrampfte Leron seine Finger um den Rand der Wanne.

Etwas war anders als sonst.

Niemand kam, um ihm zu helfen.

Irgendwann ließ der Anfall nach. Mit tiefen Atemzügen sog Leron die Luft in sich hinein und entließ sie wieder aus seinen Lungen. Sobald das funktionierte, stand er endgültig auf und stieg aus der Wanne heraus. Mehrere Minuten lang verweilte er auf dem Rand des Gefäßes hockend und prüfte punktuell die Funktionalität seines Körpers. Zunächst die Sensorik, sehen, hören, riechen. Dann die Motorik, Arme, Beine, Hals. Zuletzt testete er seinen Animus, löste eine Reihe standardisierter Rechen- und Kognitionsaufgaben, weckte Erinnerungen an ausgewählte Stationen seines bisherigen Lebens aus seinem Gedächtnis, Kindheit, Ausbildung, frühere Missionen. Alles machte einen guten Eindruck. Er war einsatzbereit.

Auch das Speicherimplantat in seinem Gehirn meldete Funktionsbereitschaft. Das integrierte Funkgerät empfing jedoch kein Signal. Der Controller, die Künstliche Intelligenz, die die Station leitete, befand sich noch im Basismodus und sendete nicht. Er musste sie erst aktivieren.

Schließlich erhob er sich und sah sich um. Vierundzwanzig weitere Wannen standen um diejenige herum, die er soeben verlassen hatte. In jeder davon lag ein menschlicher Körper. Sein Blick fiel auf den Nächstgelegen, unmittelbar neben ihm. Es war eine Frau. Die schulterlangen blonden Haare umrahmten ihr ebenmäßiges Gesicht und wogten in der Strömung der Nährflüssigkeit leicht hin und her. Ein Lächeln umspielte Lerons Lippen, als seine Augen weiter wanderten, über die wohlgeformten Brüste zu ihrer Scham und den Schenkeln. Er verspürte ein ungewohntes Verlangen. Schaute sich um. Der Basic Controller folgte stur festgelegten Routinen. Er würde ihn weder an irgendetwas hindern, noch jemand anderem Bericht erstatten.

Er wandte sich wieder der Frau zu, beugte sich vor, tauchte die Hand in die Flüssigkeit, hielt inne. Was er gerade tat, verstieß definitiv gegen den Kodex. Aber außer ihm selbst war niemand da, der die Einhaltung des Kodex überwachte. Er senkte die Finger weiter, bis sie die Wange der Frau berührten, strich sanft über ihre Haut, über den Kiefer und den Hals, das Brustbein … Ruckartig zog er den Arm aus der Wanne. Was tat er da? Er war ein Revisor. Und nicht nur irgendeiner. Er war erkoren worden, Revisor Primus zu sein. Wegen seiner Verdienste für die Union ebenso wie seiner Integrität. Wenige Minuten nach dem Erwachen in seinem neuen Amt gleich gegen den Kodex zu verstoßen und seine moralischen Grundsätze infrage zu stellen, derentwegen man ihn für diesen Einsatz ausgewählt hatte, war keine gute Idee. Selbst wenn er sich niemand anderem gegenüber rechtfertigen musste, würde die Verfehlung ihn selber belasten. Und spätestens bei der nächsten Rekonditionierung, wenn all seine Erinnerungen geprüft wurden, würde er in Erklärungsnot kommen.

Mit einem Seufzen ließ er noch einmal den Blick über den Körper der Frau schweifen, dann wandte er sich ab und tapste über den nassen Boden zu den Spinden an der Wand. Sein Name war auf dem äußerst Linken angebracht.

Auf der Innenseite der Spindtür befand sich ein Spiegel. Leron betrachtete den Körper, in den sein Animus hochgeladen worden war. Auf den ersten Blick entsprach er exakt demjenigen, den er soeben verlassen hatte. Nein, nicht soeben. Auch wenn es sich für ihn so anfühlte, als wäre keine Zeit vergangen, hatte die Reise von seinem vorherigen Einsatzort hierher mehr als achtundzwanzig Jahre gedauert. So lang war das Datenpaket unterwegs gewesen, mit dem sein Animus transferiert worden war. Ein vergleichsweise kurzer Trip. Er hatte schon erheblich längere absolviert.

Er strich mit dem Finger über die Wange und das Kinn. Seinen letzten Körper hatte er nur vier Jahre verwendet, die übliche Amtszeit eines Revisors, bevor er versetzt wurde. Die Alterungserscheinungen waren minimal gewesen. Nur selten trug er bei einem Einsatz Verletzungen davon, die bleibende Spuren oder gar Narben hinterließen. Dennoch war es ein gutes Gefühl, einen neuen, vollkommen unbenutzten Körper zu haben.

Er nahm den bis auf das Revisorenabzeichen am Kragen schmucklosen Overall in die Hand, woraufhin das Kleidungsstück sich automatisch bis zu den Fußknöcheln über ihn ausbreitete und die Feuchtigkeit von seiner Haut aufsaugte. Unwillkürlich schaute er auf den benachbarten Spind. Auch darauf stand ein Name: Telaris. Leron konnte nicht verhindern, dass sein Blick wieder zu der Wanne mit der Frau zurückkehrte.

Telaris.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die Gedanken aus seinem Geist. Schlüpfte in die Schuhe, die sich ebenso wie der Overall automatisch um seine Füße schmiegten, schloss den Spind und verließ den Raum durch die einzige Tür.

Die Einsamkeit war ungewohnt. Normalerweise wurde er spätestens beim Verlassen des Klonlagers von einem Assistenten in Empfang genommen, der mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut war und ihn bei der Erledigung seiner alltäglichen Belange unterstützte. Hier würde er ohne diese Hilfestellung auskommen müssen, zumindest für den Beginn seiner Amtszeit. Je nachdem, wie schnell das System sich entwickelte, sogar für die vollen vier Jahre. Momentan jedenfalls musste er sich allein zurechtfinden. Nicht einmal der Controller stand ihm zur Seite. Wenigstens das würde er in Kürze ändern.

Es war sein erster Einsatz als Revisor Primus. Von daher war er noch nie zuvor in einer Primarstation mit derart geringer Ausbaustufe gewesen. Alles war für eine Besatzung von fünfundzwanzig Personen ausgelegt, nicht hunderte, tausende oder gar Millionen, wie in den etablierten Systemen.

Die geradezu winzigen Ausmaße der Station sorgten dafür, dass die Krümmung der ringförmigen Rotationssektion deutlich erkennbar war. Schon nach rund zwanzig Metern wurde der Blick auf den Boden des zentralen Korridors durch die Decke verstellt. Seine Augen vermittelten Leron den Eindruck, er würde permanent bergauf gehen, doch das war lediglich eine optische Täuschung.

Nach weniger als einer halben Minute Fußmarsch erreichte er sein Ziel, auch ohne ortskundigen Assistenten. Der Eingang zum Revisorium war deutlich gekennzeichnet. ‚Zutritt nur für Revisoren‘, mahnte ein Warnschild, ‚widerrechtlicher Eintritt wird streng geahndet.‘ Eine nette Umschreibung für ein Strafmaß bis hin zur spontanen Dekorporierung inklusive Löschung des Animus.

Leron betätigte den Öffner und betrat die Schleuse. Sie war gerade so groß, dass eine einzelne Person darin stehen konnte. Sobald der Zugang sich hinter ihm wieder geschlossen hatte, legte er seine Stirn in die Vertiefung der inneren Tür. Der Scanner stülpte sich über seinen Schädel und begann mit der Analyse der Hirnstruktur. Als seine Identität eindeutig bestätigt worden war, gab das Gerät ihn wieder frei und gewährte ihm den Zutritt.

Der Raum bot gerade genügend Platz für die beiden Liegesessel. Auf einem davon ließ Leron sich nieder. Das in der Kopfstütze integrierte Interface legte sich um seinen Hinterkopf sowie die Schläfen und verband sich mit seinem Gehirn. Vor seinem geistigen Auge erschien das Initiationsmenü für CC, den Central Controller. Er gab den Befehl zum Start des Programms.

„Willkommen, Revisor Leron“, begrüßte ihn die Künstliche Intelligenz. „Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.“

„Alles in Ordnung. Danke der Nachfrage. Wie ist der Status?“

„Den Logdateien des Basic Controllers nach zu urteilen, läuft die Erschließung des Systems bislang zufriedenstellend. Alle notwendigen Rohstoffe liegen in ausreichender und gut zugänglicher Menge vor. Neben den drei Gasplaneten gibt es weitere vier mit fester Oberfläche und eine Wasserwelt in der habitablen Zone. Der Zentralstern zeigt weder übermäßige Strahlungs- noch Materieauswürfe. Die Planetenbahnen sind ebenfalls stabil. Gefährliche Asteroiden oder Kometen konnten bislang nicht entdeckt werden. Alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Kolonisierung sind gegeben.“

Das Display in Lerons Sichtfeld zeigte eine schematische Ansicht des Sternsystems. Der innerste Planet war ein Felsbrocken. Dann kam eine Wasserwelt. Als drittes dann der Gasriese, um den die Primarstation kreiste. Es folgten ein weiterer Gasriese, zwei kleine Eiswelten, noch ein Gasriese und weit außen noch ein letzter Eisklumpen. Dazu eine ansehnliche Zahl von Monden und kleineren Himmelskörpern, die größtenteils in den Lagrangepunkten L4 und L5 der Gasriesen gefangen waren. Insgesamt ein System, das sich sehen lassen konnte und erhebliches Potenzial besaß.

„Sehr gut.“ Leron war zufrieden. „Ist der Annullator einsatzbereit?“

„Ja. Die aktuelle Bestückung besteht aus vier Fusionssprengköpfen. Ausreichend, um die Primarstation und erste planetare Siedlungen im Ernstfall sicher zu vernichten. Die Raketen sind startklar. Die Erweiterung des Arsenals ist bereits in die Wege geleitet.“

„Welche Position schlägst du vor?“

„Vorerst empfehle ich den Lagrangepunkt L1 von Planet C. Zumindest, solange die Primarstation noch den Großteil der Bevölkerung beherbergt. Ich gehe davon aus, dass das Populationszentrum sich irgendwann auf Planet B, den Wasserplaneten, verschieben wird. Dann kommt entweder ein stellarer Orbit zwischen B und C infrage oder der L2-Punkt von Planet B.“

„Einverstanden. Starte den Annullator!“

Ein minimales Ruckeln des Sessels zeigte das Abkoppeln an. Leron wählte das Bild einer der Außenkameras und beobachtete das Geschehen. Der Annullator war, wie alles andere auch, noch von überschaubarer Größe, ein unscheinbarer Zylinder von etwa vierzig Metern Länge und rund zehn Metern Durchmesser. Er würde parallel zur Kolonie wachsen, um weitere Raketen mit Fusionssprengköpfen erweitert werden, stets bereit, alle Siedlungen mitsamt jeglichem menschlichen Leben im gesamten System zu vernichten. Doch in der Frühphase der Besiedlung war die Gefahr gering, dass dies erforderlich sein würde. Dennoch war die Einsatzbereitschaft des Annullators jederzeit sicherzustellen, um eingreifen zu können, sobald die Kohärenz infrage gestellt würde.

„Der Annullator wird seine Position in etwas mehr als acht Stunden erreichen“, unterbrach CC Lerons Gedanken. „Soll ich Sie unterrichten, soweit alles bereit ist?“

„Mach das!“

Leron entzog sich dem Scanner und erhob sich von dem Liegesessel. Er verließ das Revisorium durch die Schleuse. Seine erste Aufgabe war erledigt. Nun hieß es warten, bis der Annullator seine Position bezogen hatte. Dann würde er die nächsten Schritte einleiten.

Er verspürte Hunger und suchte die Stationskantine auf. Normalerweise war dies ein belebter Ort, an dem die Besatzung nicht nur ihren Hunger stillte, sondern wo man sich traf, Besprechungen abhielt und gemeinsam Zeit verbrachte. Es fühlte sich falsch an, hier völlig allein zu sein. Wiederum wurde Leron bewusst, dass er der einzige lebende Mensch im Umkreis vieler Lichtjahre war. Nicht mehr allzu lange, aber zumindest noch für einige Stunden.

Er bestellte ein einfaches Menü, holte wenige Sekunden später den gefüllten Teller aus dem Servierschacht und setzte sich auf den nächstbesten Stuhl.

Während er die Mahlzeit zu sich nahm, kehrten seine Gedanken zurück zu der Frau in der Wanne neben derjenigen, in der er erwacht war. Telaris. Irgendetwas an ihr faszinierte ihn. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm etwas Ähnliches schon einmal widerfahren wäre. Aber dies war ja auch sein erster Einsatz als Revisor Primus.

Zwischen zwei Bissen kontaktierte er über die nun aktive Funkverbindung die Künstliche Intelligenz. „CC, gib mir die Personaldaten der Kolonisten!“

„Befürchten Sie eine Gefahr?“ Die Computerstimme klang besorgt.

„Nein. Ich möchte lediglich wissen, mit wem ich es zu tun habe, sobald sie erwachen.“

„In Ordnung.“

Die Daten wurden in Lerons Kortexspeicher eingespielt. Er überflog die Akten. Die meisten der Kolonisten stammten von Varinia, dem System, von dem aus die Saatsonde hierher geschickt worden war, rund dreizehn Lichtjahre entfernt. Nur zwei von ihnen waren allerdings so alt, dass sie den Start des unbemannten Raumschiffes vor mehr als 360 Jahren selber miterlebt hatten. Die anderen waren zumeist erheblich jünger, typisch für Kolonisten.

An einem Datensatz verweilte Lerons Aufmerksamkeit länger. Telaris stammte ebenfalls von Varinia. Sie war dort vor achtundfünfzig Jahren geboren worden und mit fünfundvierzig hierher aufgebrochen. Die dreizehnjährige Übertragung war ihre erste interstellare Reise. Sie hatte Biologie und Raumfahrttechnik studiert. Eine perfekte Grundlage für die Auswahl als Primarkolonist. Auch der Rest ihres Werdegangs ließ darauf schließen, dass sie den Großteil ihres Lebens gezielt auf diesen Einsatz hingearbeitet hatte.

Die Bilder, die ihrer Akte beigefügt waren, zeigten sie in verschiedenen Altersstufen. Anscheinend hatte sie in ihrem fünfundvierzig Jahre währenden Leben noch nie den Körper gewechselt. Interessant. Viele Menschen transferierten ihren Animus regelmäßig in einen jüngeren Klon, sobald sie das Erwachsenenalter erreicht hatten. Für Leron hatte die Frage sich bislang nicht gestellt. Als Revisor verbrachte er nirgends mehr als vier Jahre, eine Amtszeit, bevor er in ein anderes System versetzt wurde. Dabei erhielt er automatisch jedes Mal einen neuen Körper, da nur der digitalisierte Animus transferiert wurde. Wie es sich wohl anfühlen mochte, den eigenen Leib dem Altern auszusetzen? Er konnte Telaris ja irgendwann einmal danach fragen. Aber nicht sofort. Es wäre ihm ein wenig peinlich zuzugeben, wie intensiv er ihre Vita studiert hatte. Als Revisor hatte er natürlich jedes Recht, ihre Akte einzusehen, aber … Nun ja, vielleicht ergab es sich einmal unverfänglich während eines Gesprächs. Zumindest, falls zwischen einer Kolonistin und einem Revisor überhaupt ein unverfängliches Gespräch möglich war. Bei seinen bisherigen Einsätzen hatte Leron es selten erlebt, dass die gesellschaftliche Distanz zwischen ihm und den Bewohnern eines Systems gering genug gewesen wäre, um sich auch nur halbwegs zugehörig zu fühlen. Von daher machte er sich keine allzu große Hoffnung, Telaris näherzukommen … oder versuchte wenigstens, sich keine Hoffnung zu machen.

Nach dem Essen machte er einen Rundgang durch die Station. Sie war, wie er bereits festgestellt hatte, von überschaubarem Ausmaß. Alles war für eine Besatzung von fünfundzwanzig Personen ausgelegt. Die Erweiterung war zwar schon in Arbeit, aber noch nicht zugänglich. Nun, da CC aktiviert war, ließ Leron sich von der KI den Weg zeigen, auch wenn er bereits nach der kurzen Zeit, in der er sich hier aufhielt, einen groben Überblick besaß.

Mit dem Fahrstuhl verließ er das rotierende Ringhabitat und wechselte in die Nabe. An seinem Ziel nahm die Schwerelosigkeit ihn in Empfang. Er war einigermaßen geübt darin, sich in der Mikrogravitation fortzubewegen, und hangelte sich sicher zur Aussichtskanzel – noch der einzigen ihrer Art. Weitere, und vor allem größere, würden bald fertiggestellt.

Der Gasriese, um den die Primarstation kreiste, war ein mittelgroßer Vertreter seiner Art. Die obersten Wolkenschichten zeigten nur wenig Struktur, zumindest für das menschliche Auge. Lediglich einige blasse Kringel, deren Farbe sich minimal vom Ocker des Hintergrundes absetzte, ließen erahnen, dass dort unten gewaltige Stürme tobten.

So wandte Leron sich bald von dem Planeten ab und betrachtete stattdessen den sternengesprenkelten Weltraum. Er könnte CC um eine Karte bitten und herausfinden, ob sich unter den Myriaden Lichtpunkten welche befanden, die er bereits besucht hatte. Aber was brachte das? Vielleicht könnte er Telaris zeigen, wo er schon überall gedient hatte. Falls sie sich dafür interessierte. Falls sie sich überhaupt für ihn interessierte.

Er schüttelte den Kopf. Was war nur mit ihm los? Derartige Gedanken kannte er bislang nicht. Wenigstens nicht mit einer solchen Beharrlichkeit. War er zu lang allein gewesen? War es an der Zeit, den Dienst zu quittieren und doch sesshaft zu werden? Nein, ein Leben als einfacher Bewohner einer der Kolonien konnte er sich nicht vorstellen. Als ehemaliger Revisor würde er niemals vollkommen zur Gesellschaft gehören. Dafür war die Kluft zwischen ihm und den gewöhnlichen Bürgern der Union zu groß. Und selbst wenn er sich inkognito in einem System ansiedelte, in dem er noch nie selber gedient hatte, würde früher oder später irgendjemand Details über seine Vergangenheit herausfinden. Informationen und Gerüchte verbreiteten sich, bedingt durch die riesigen interstellaren Entfernungen, nicht schnell durch die Union, aber auf Dauer konnte man so etwas nicht geheim halten. Er war bereits Veteranen im Ruhestand begegnet. Keiner von ihnen hatte auf ihn übermäßig glücklich gewirkt. Ohne den Respekt, den die Menschen dem Amt entgegenbrachten, war ein Revisor nur noch ein Ausgestoßener. Das würde Leron nicht ertragen. Von daher war der Gedanke ans Aufhören irrelevant.

Er ließ sich von CC Nachrichten aus den anderen Systemen der Union anzeigen, die in den fünfzehn Jahren seit der Ankunft der Saatsonde eingetroffen waren. Das meiste war nur Klatsch und Tratsch, der ihn nicht interessierte. Ein Senator war nach mehr als tausendjähriger Amtszeit wegen fortschreitender Defitation aus dem Gremium ausgeschieden und ein Nachfolger berufen worden. Leron kannte ihn nicht. Zwei weitere Systeme hatten die Ein-Billionen-Einwohner-Grenze überschritten. Leron hatte in keinem davon gedient.

Lediglich eine der Meldungen erregte seine Aufmerksamkeit. Das Giledi-System war annulliert worden, eine mehrere zehntausend Jahre alte Kolonie mit über vierzig Milliarden Bewohnern. Die Annullation lag bereits vierundneunzig Jahre zurück, aber die Nachricht hatte eine Weile benötigt, um in die abgelegenen Grenzregionen der Union zu gelangen.

Leron war zugegebenermaßen nicht übermäßig überrascht. Die Giledianer waren schon immer ein aufrührerischer Haufen gewesen, die gern die Grenzen der Kohärenz austesteten. Anscheinend waren sie nun endgültig zu weit gegangen. Er selber hatte noch nie dort gedient, aber vor langer Zeit einmal mit einem Revisor zusammengearbeitet, der auf Giledi stationiert gewesen war. Die Geschichten, die er erzählt hatte, waren haarsträubend. Wenn das alles der Wahrheit entsprach, hätte Leron vermutlich bereits damals weniger Langmut an den Tag gelegt. Nun hatte auch jemand anderes befunden, dass Giledi eine Gefahr für die Kohärenz darstellte. Leron fühlte sein Urteilsvermögen bestätigt. Übermäßige Milde nutzte niemandem, sondern gefährdete lediglich die Existenz weiterer Systeme, wenn kontroverses Gedankengut sich von solchen Unruheherden aus verbreitete. Die Annullation würde den anderen Systemen der Union hoffentlich eine Warnung sein, die Kohärenz nicht ebenfalls infrage zu stellen.

„Der Annullator ist in Position und meldet Einsatzbereitschaft“, unterbrach CC Lerons Gedanken.

„Gut.“ Leron erhob sich von seinem Platz und machte sich auf den Rückweg in die Rotationssektion. „Dann lade die Animi der Kolonisten in die Körper hoch.“

„Animustransfers sind eingeleitet.“

Leron benötigte nur wenige Minuten, bis er wieder im Klonlager angekommen war. Die ersten Leiber zeigten bereits leichte Bewegungen. Automatisch ging er zu der Wanne, in der er selber wenige Stunden zuvor erwacht war. Oder um genau zu sein, zu der daneben.

Telaris war wach. Sie hatte die Augen noch geschlossen und lag in der Nährflüssigkeit, aber ihre Finger krümmten sich rhythmisch und sie wiegte sanft den Kopf von einer Seite zur anderen. Leron glaubte, ein Lächeln auf ihren Lippen ausmachen zu können. Eine eher ungewöhnliche Reaktion auf die Strapazen des Transfers.

Plötzlich schlug sie die Augen auf. Starrte ihn an. Konnte das sein? Oder bildete er sich das nur ein? Eigentlich sollte sie noch reichlich desorientiert sein und eine Weile benötigen, bevor sie ihre Sinnesorgane benutzen konnte. Immerhin war es ihre erste interstellare Reise. Und da sie noch nie den Körper gewechselt hatte, sogar ihr erster Animustransfer überhaupt.

Einen Moment lang verharrten ihre Blicke aufeinander. Dann tasteten ihre Hände an den Seiten der Wanne entlang zum Rand. Leron griff in das Wasser, legte seinen Arm um ihren Oberkörper und half ihr, sich in eine sitzende Position aufzurichten. Sie riss den Mund auf, um ihren ersten Atemzug zu nehmen, doch die Flüssigkeit in ihrer Lunge verhinderte das. Für einen Moment blitzte Panik in ihren Augen auf. Aber sobald Leron sie mit sanftem Druck nach vorn beugte und ihr auf den Rücken klopfte, ergoss sich ein Schwall aus ihrer Luftröhre. Sie hustete keuchend, gefolgt von weiteren Rinnsalen, die ihr über die Lippen flossen.

„So ist es gut“, redete er ihr zu. „Erst raus mit der Flüssigkeit, dann atmen.“

Ob es an seinen gutgemeinten Ratschlägen lag oder sie sich von selbst beruhigte, vermochte er nicht zu sagen, aber sobald die Lungen von der Nährlösung befreit waren, wurde ihre Atmung gleichmäßiger. Sie blinzelte mehrmals, dann hob sie den Kopf und sah ihn an.

„Ist mein erstes Mal“, hauchte sie.

Er erwiderte ihr verlegenes Lächeln. „Meins nicht. Aber ich kämpfe auch jedes Mal damit.“

Sie stützte ihre Hand auf seinen Arm, als sie versuchte, sich aus der sitzenden Position weiter zu erheben. Ihre Wangen zuckten, sobald ihr nackter Fuß den kalten Boden berührte. Erst jetzt schien ihr aufzufallen, dass sie vollkommen unbekleidet war, und hob die Arme, um ihre Blöße zu bedecken. Doch gleich darauf entspannte sie sich mit einem minimalen Kopfschütteln und schaute sich um.

„Sind wir die Ersten?“, fragte sie, als ihr Blick auf die übrigen Wannen fiel, aus denen erst nach und nach vereinzelt Hände und Köpfe auftauchten.

Leron nickte. „So sieht’s aus.“

Sie musterte ihn, ließ die Augen über seinen Overall gleiten, bis sie auf dem kleinen Abzeichen am Kragen verharrten. Das zaghafte Lächeln verschwand von ihren Lippen. Unbeholfen tapste sie einen Schritt zurück. Erneut hob sie die Hände und legte sie über Brüste und Scham, während sie ihn weiterhin anstarrte.

Mit einem innerlichen Seufzen wandte Leron sich von ihr ab und deutete auf den Spind neben dem seinen. „Da drin finden Sie Kleidung. Sobald Sie sich einigermaßen eingerichtet haben, helfen Sie bitte den anderen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Klonlager.

Er hätte es wissen müssen. Es war eine dumme Idee gewesen, den Kolonisten zur Hand gehen zu wollen. Ihre Aufgabe war es, ein neues Sternsystem zu besiedeln und die seine war es, darauf achtzugeben, dass sie dabei die Kohärenz wahrten. Und wenn sie es nicht taten, dann würde er sie allesamt in einer nuklearen Apokalypse vernichten. Freundlichkeit und helfende Gesten vermochten den Graben, der dadurch unvermeidlich entstand, nicht zu überbrücken.

Mit zusammengepressten Lippen kehrte er zurück ins Revisorium, ließ sich auf einem der beiden Sessel nieder und forderte einen Statusbericht des Annullators an. Außer der Position hatte sich seit seiner letzten Abfrage nichts verändert. Wie zu erwarten gewesen war.

Die folgenden Stunden verbrachte Leron mit dem Studium der Logbücher des Systems seit dem Eintreffen der Saatsonde. Ihm war durchaus bewusst, dass die Beschäftigung keinem anderen Zweck diente, als sich selbst von den Gedanken an die junge Kolonistin abzulenken. Der Erinnerung an seine Hand auf ihrer nackten Haut …

Sofort aufhören!

Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Diagramme, Tabellen und Statistiken zu richten, die CC ihm präsentierte. Immer wieder blendete er die Bilder der stationsinternen Überwachungskameras in sein Sichtfeld. Beobachtete, wie die übrigen Kolonisten der Reihe nach erwachten, sich gegenseitig aus den Wannen halfen, ankleideten und schließlich das Klonlager verließen, um die Station zu erkunden. Jedes Mal, wenn dabei Telaris in sein Blickfeld geriet, spürte er zunächst einen leichten Stich. Doch mit der Zeit ließen die Reaktionen nach und er fand zu seiner üblichen Professionalität zurück. Der Animustransfer in einen neuen Körper verursachte gelegentlich kleinere Störungen. Vermutlich war seine seltsame Fixierung auf die Kolonistin lediglich ein temporärer Defekt. So etwas konnte vorkommen und würde bald wieder vergehen, so dass er sich anschließend wieder uneingeschränkt seinen Aufgaben widmen konnte.

In der Tat fiel es ihm von Stunde zu Stunde leichter, seine Gedanken zu ordnen und sich zu konzentrieren. Erst als der Hunger immer weiter zunahm – es war normal, dass ein frisch erwachter Körper in den ersten Tagen erhöhten Nährstoffbedarf aufwies –, verließ er die Klausur und begab sich wieder in die öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten der Station.

Den übrigen Bewohnern erging es offenbar nicht anders. Sie waren vollzählig in der Kantine versammelt und der Raum war im krassen Gegensatz zu der Einsamkeit bei Lerons erstem Besuch hier erfüllt von Leben und angeregten Gesprächen. Doch innerhalb weniger Atemzüge verstummten die Diskussionen, sobald seine Anwesenheit bemerkt wurde. Vierundzwanzig Augenpaare richteten sich auf ihn, die Blicke beherrscht von einer Mischung aus Furcht und Erwartung.

Leron war diese Reaktion von seinen früheren Einsätzen wohlvertraut. Die übliche Weise, wie ein neuer Revisor begrüßt wurde.

Forsch trat er aus dem Türrahmen in den Raum und baute sich auf. „Willkommen auf der Primarstation, meine Damen und Herren. Ich bin Leron, der Revisor Primus. Der Basic Controller hat in den fünfzehn Jahren seit Ankunft der Saatsonde alle für das Wachstum der Kolonie notwendigen Rohstoffe in ausreichender Menge erschlossen und bereits weitere Kolonisten angefordert. Der Ausbau der Station geht gut voran. Der erfolgreichen Etablierung der Kolonie steht derzeit nichts im Weg.“

Ein dunkelhäutiger Mann trat auf ihn zu, blieb eine gute Armeslänge entfernt stehen und nickte ihm etwas unsicher zu. „Das sind erfreuliche Nachrichten, Revisor Primus. Ich bin Asan. Die Kolonisten …“ Mit einer ausholenden Geste wies er auf die hinter ihm stehenden Personen. „… haben mich zum ersten KonsulIladas gewählt.“

Leron hob die Augenbrauen. „Ilada?“

Asan setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. „Der Name, den wir für das Sternsystem ausersehen haben.“

„Ilada … Ein guter Name“, stellte Leron fest. Er ließ den Blick über die Runde schweifen. „Ich bin froh, hier bei Ihnen zu sein und Sie auf den ersten Schritten begleiten zu dürfen, das Sternsystem Ilada für die Union zu erschließen. Ich bin sicher, wir werden gut zusammenarbeiten.“

Die steifen Gestalten entspannten sich ein wenig angesichts seiner Worte. Anscheinend hatte er den richtigen Ton getroffen.

„Da bin ich ebenfalls sicher“, pflichtete Asan ihm bei, dessen freundlicher Gesichtsausdruck nun auch die Augen erreichte.

Der Reihe nach kamen die übrigen Kolonisten auf Leron zu und stellten sich vor. Sie alle waren ihm bereits aus den Akten bekannt, die er in den vergangenen Stunden studiert hatte.

Als zuletzt Telaris vor ihm stand, kehrte für einen Moment das flaue Gefühl in seiner Magengrube zurück. Aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle.

„Bitte entschuldigen Sie meine Reaktion vorhin“, flüsterte sie so leise, dass nur er es verstehen konnte.

„Das war doch vollkommen verständlich“, winkte er ab. „Wer will schon nach einem Animustransfer als Erstes der Person gegenüberstehen, die über Leben und Tod der gesamten Kolonie bestimmt.“ Die Kälte in seinen Eingeweiden wich einem wohligen Kribbeln, als sie sein Schmunzeln erwiderte. „Aber seien Sie unbesorgt! Ich bin hier, um Ihnen zur Seite zu stehen und Sie zu unterstützen, wo immer ich kann. Wir alle haben ein gemeinsames Ziel: Ilada zu einem prosperierenden Mitglied der Union zu machen. Nicht wahr?“

Sie zögerte einen Augenblick, doch schließlich überwand sie ihre Unsicherheit. „Ja, das stimmt wohl.“ Sie musterte ihn. „Haben Sie bereits einmal eine Kolonie so kurz nach der Gründung begleitet?“

Leron schüttelte den Kopf. „Nein. Dies ist mein erster Einsatz als Revisor Primus. Ich bin genauso gespannt wie Sie auf das, was hier vor uns liegt. Die ersten Schritte in ein völlig unerschlossenes System zu wagen, ist auch für mich ziemlich aufregend.“

Das Lächeln breitete sich über ihr gesamtes Gesicht aus. „Dann seien Sie herzlich willkommen, mit uns die Planeten und anderen Himmelskörper von Ilada zu erkunden, Revisor Primus.“

„Es …“ Er stockte kurz. Aber warum eigentlich nicht? „Es würde mich freuen, wenn Sie mich Leron nennen. Das macht es etwas einfacher, finde ich.“

„Sehr gern, Leron.“ Ihr Strahlen ließ sein Inneres schmelzen. „Ich bin Telaris. Aber das wissen Sie ja sicherlich schon.“ Sie ergriff seine Hand … und erstarrte angesichts des eigenen Übermuts. „Entschuldigung. Das war unange…“

Er hielt sie davon ab, sich zurückzuziehen, und legte auch die zweite Hand um die ihre. „Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Telaris.“

Gebannte Blicke verfolgten die beiden. Zu gern hätte Leron weiter Telaris’ Haut auf der seinen gespürt, doch das wäre dann wirklich in höchstem Maß unangemessen gewesen. Also ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.

Er rieb sich die Hände. „So! Und nun habe ich Hunger. Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen weiter Gesellschaft leisten.“

„Aber natürlich, Revisor …“ Asan hielt inne, als er Lerons tadelnden Blick auf sich spürte. „… Leron.“ Auf ein freundliches Nicken hin entspannte der Konsul sich. „Auch wir haben bisher noch nicht viel zu uns genommen. Ich denke, ein gemeinsames Mahl ist eine gute Gelegenheit, dass wir alle uns besser kennenlernen. Und Sie sind selbstverständlich immer in unserer Mitte willkommen.“

An der Ausgabe des Nahrungssynthetisierers bildete sich eine Schlange. Leron lehnte es ab, vorgelassen zu werden, und stellte sich hinten an. Als er seine Mahlzeit bekommen hatte und einen Sitzplatz suchte, war er zutiefst erfreut darüber, dass ausgerechnet gegenüber von Telaris noch ein Stuhl frei war – möglicherweise nicht ganz zufällig. Ihr einladendes Lächeln war ihm Zeichen genug, sich willkommen zu fühlen.

Der Kodex forderte, dass die Revisoren eine angemessene Distanz zu den übrigen Bewohnern eines Sternsystems einhielten. Aber was angemessen war, lag in Lerons eigenem Ermessen. Und da er für die nächsten zwei Jahre der einzige Revisor in Ilada sein würde, konnte ihm dabei auch niemand hineinreden.

Tag 205 im Jahr 59.082 der Kohärenz, Sternsystem IladaBevölkerung: 25

Rote Schlieren versperrten die Sicht durch die Cockpitverglasung des Shuttles. Doch der Steuercomputer lenkte es so ruhig durch die Atmosphäre von Ilada II, dem vom Zentralstern gesehen zweiten Planeten des Systems, dass kaum ein Ruckeln zu spüren war. Je mehr das Fluggerät an Geschwindigkeit verlor, umso klarer wurde der Ausblick auf die watteartige Oberseite der dichten Wolkenschicht, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte. Dann tauchte das Shuttle in die weiße Masse ein, so dass innerhalb weniger Sekunden nur noch undurchdringlicher Nebel zu sehen war. Kurz darauf bildeten sich erneut Schlieren auf den Fenstern, doch dieses Mal war es nicht das vom Atmosphäreneintritt komprimierte Plasma, sondern Wasser, das in dicken Tropfen auf die Scheiben prasselte. Windböen zerrten am Rumpf des Shuttles, aber der Autopilot hatte wenig Mühe damit, die Naturgewalten zu kompensieren.

„Da ist die Insel.“ Hoyd, der Kolonist, der neben Leron saß, deutete nach vorn.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis auch Leron das Ziel der Reise entdeckte. Vage Schemen erschienen hinter den Regenschwaden. Komplexe Streben ragten zwischen Dunst und Gischt hervor. Dann tauchte die Landeplattform auf. Die höchsten Wellen, die gegen die Tragestruktur aus stählernen Pontons prallten, reichten fast bis an ihre Unterseite. Die gesamte Konstruktion wirkte wie ein Spielball der entfesselten Elemente, als wollte der Planet sich gegen die Inbesitznahme durch die Invasoren zur Wehr setzen. Aber sein Schicksal war bereits mit der Ankunft der Saatsonde besiegelt gewesen. Die Expansion der Union ließ sich von Wind und Wasser nicht aufhalten.

Trotz der miserablen Sichtverhältnisse setzte das Shuttle sicher auf und krallte sich mit den Halteklammern auf dem schwankenden Untergrund fest.

Während Leron noch fasziniert durch die Fenster nach draußen schaute, erhob Hoyd sich zügig von seinem Sitz und schlüpfte in einen dick gefütterten Mantel.

„In dreißig oder vierzig Tagen haben wir hier einen Hangar, wenn der Ausbau der Insel wie geplant voranschreitet.“ Er griff nach der Atemmaske in dem Staufach neben seinem Sitz. „Aber bis dahin müssen wir noch ins Freie, um die Container zu erreichen.“

Leron nickte zögerlich. Er wusste, worauf er sich eingelassen hatte. Zumindest theoretisch. Nun, im unmittelbaren Angesicht des wütenden Sturms jenseits der Hülle des Fluggeräts überkamen ihn Zweifel, ob es so eine gute Idee gewesen war, Ilada II in diesem frühen Stadium der Kolonisation zu besuchen. Er hatte seine Füße schon auf Dutzende Planeten gesetzt. Doch die meisten von ihnen waren bereits lange Zeit erschlossen gewesen und verfügten über eine funktionierende Wetterkontrolle oder eine Infrastruktur, durch die der Aufenthalt unter freiem Himmel vermieden werden konnte.

Nun würde er zum ersten Mal eine ungezähmte Welt betreten, bis auf die Installation der schwimmenden Insel unberührt von Menschenhand. Neuland.

Ungewohnte Emotionen wallten in ihm auf. Neugier, Abenteuerlust und ja, auch Furcht. Doch er war sicher, die Kolonisten würden niemals zulassen, dass er sich in ernsthafte Gefahr begab. Sollte er hier sterben, bevor in eineinhalb Jahren der zweite Revisor eintraf, würde CC automatisch den Annullator aktivieren und alle Bewohner Iladas töten.

Schwungvoll erhob er sich, zog die für ihn bereitliegende Thermojacke an und setzte seine eigene Maske auf. Ein Raumanzug war nicht notwendig. Der Außendruck betrug etwas weniger als zwei Bar und die Temperatur lag knapp oberhalb des Gefrierpunkts. Lediglich die künstliche Atemluftversorgung war unabdingbar, da die Atmosphäre größtenteils aus Stickstoff, Kohlendioxid und Wasserdampf bestand und nur minimale Spuren von Sauerstoff enthielt.

Er folgte Hoyd in die Ausstiegsschleuse, wo nach dem Schließen der inneren Tür der Druck langsam erhöht wurde, bis das Außenniveau erreicht war.

„Können Sie die beiden nehmen?“ Der Kolonist deutete auf zwei der Kisten, die an den Wänden standen. „Dann muss ich nur einmal raus.“

„Natürlich.“ Leron war schließlich nicht als Tourist hier, sondern hatte den festen Vorsatz, sich nützlich zu machen. Seine Finger legten sich um die Griffe.

„Bereit?“ Selbst unter der Maske war das Grinsen in Hoyds Gesicht unverkennbar.

Leron beschränkte seine Antwort auf ein Nicken. Gebannt starrte er auf den Spalt am oberen Ende der Ausstiegsrampe, der sich stetig verbreiterte. Kälte drang in die Schleusenkammer. Und Regen. Sturzbäche von Regen. Noch bevor die Rampe sich komplett geöffnet hatte, war Leron vollständig von Flüssigkeit benetzt. Niemals zuvor in seinem Leben war er einer derartigen Witterung ausgesetzt gewesen.

Jeder einzelne Schritt erforderte einen Kraftakt, um gegen den Orkan zu bestehen. Die Schutzbrille seiner Atemmaske kam kaum hinterher, das Wasser von ihrer Oberfläche abzusaugen. Nur mit Mühe konnte er durch die Schlieren hindurch den Kolonisten vor ihm ausmachen und versuchte, den Anschluss nicht zu verlieren. Die Schwerkraft betrug etwas weniger als ein G, daher war das Gewicht der beiden Kisten in seinen Händen das geringere Problem im Vergleich zu den Urgewalten, die auf ihn eindrangen.

Irgendwann spürte er eine Hand auf seinem Arm, die ihn zu sich zog. Dann erstarb das Tosen, seine Sicht klärte sich und gab den Blick frei auf Telaris, die ihn unter ihrer Atemmaske fröhlich anstrahlte.

„Willkommen auf Ilada II, Revisor“, begrüßte sie ihn.

Sobald sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stellte er die Kisten auf den Boden des Korridors, und schüttelte das Wasser von sich ab. Obwohl er vom Shuttle bis hierher nur wenige Meter zurückgelegt hatte, war er völlig außer Atem. Die Anzeige in seiner Schutzbrille zeigte, dass das Innere des Gebäudes von der gleichen sauerstofflosen Atmosphäre erfüllt war, die ihn bereits empfangen hatte, also ließ er, wie alle anderen, die Maske auf.

„Was für ein urgemütliches Fleckchen.“

„Nicht wahr?“, erwiderte Telaris vergnügt. „Der schönste Ort im ganzen Universum.“

Erst als er sie genauer in Augenschein nahm, bemerkte Leron, dass sie keinen Scherz gemacht hatte. Er hatte in der Primarstation viel Zeit mit ihr verbracht. Sie aßen regelmäßig zusammen und er hatte sich von ihr die ersten Schritte des Terraformings erklären lassen. Doch nun, wo sie hier war und die graue Theorie in die Tat umsetzte, war sie kaum wiederzuerkennen. Ihr unbändiger Tatendrang, der sich auf der Station in Form von Ungeduld und vorsichtiger Hoffnung gezeigt hatte, manifestierte sich nun als pure Lebensfreude. Jeder ihrer Bewegungen, jedem Lachen war anzusehen, dass sie sich voll und ganz in ihrem Element befand. Dass sie um nichts auf der Welt an einem anderen Ort sein wollte als dem unwirtlichen, wilden Ozean von Ilada II.

„Na? Was habt ihr uns Schönes mitgebracht?“ Sie stürzte sich förmlich auf die Kisten und öffnete sie noch im Korridor.

Unter dem Deckel befanden sich hunderte durchsichtige Behälter mit blaugrüner Flüssigkeit. Telaris hob einen von ihnen heraus und begutachtet ihn eingehend. Die Miene, die sie dabei zur Schau trug, erinnerte Leron an die einer jungen Mutter, die ihr neugeborenes Baby vor sich hielt.

„Na, ihr Süßen …“, murmelte sie, als wollte sie Lerons Assoziationen bestätigen. „Seid ihr bereit für die Arbeit?“

„Ich bringe sie in den Pool“, merkte Hoyd an, der sich mittlerweile von dem Mantel befreit hatte. Eine weitere Kolonistin, Nissa, ging ihm zur Hand, wobei sie den Blickkontakt zu Leron tunlichst vermied.

Ein markerschütterndes Krachen ließ Hoyd und Leron gleichzeitig innehalten und sich besorgt umsehen.

„Nur ein Blitzeinschlag“, winkte Telaris ab. „Das passiert bei dem Wetter minütlich. Manchmal noch häufiger. Man gewöhnt sich daran.“

Leron versuchte, seine unruhigen Blicke in Richtung der Konstruktion, die ihn umgab, vor den anderen zu verbergen. Doch schließlich legte auch er die Schutzkleidung ab und half dabei, die Ladung des Shuttles an ihren Bestimmungsort zu bringen. Die Räume und Korridore, die er durchschritt, waren vollkommen schmucklos und rein zweckmäßig ausgestattet. Verschiedene Gerätschaften türmten sich an den Wänden. Das leichte Schwanken des Bodens unter seinen Füßen erinnerte ihn permanent daran, dass nur die fragile Struktur der künstlichen Insel ihn von dem mehrere hundert Kilometer tiefen Ozean trennte, der den Planeten vollständig umhüllte.

„Da wären wir“, verkündete Telaris, als sie einen Saal betraten, dessen Ausmaße im krassen Gegensatz zur Enge der sonstigen Räume standen. Die Einrichtung bestand aus wassergefüllten Becken verschiedener Größe, getrennt nur von schmalen Stegen, auf denen keine zwei Personen nebeneinander laufen konnten. „Nissa, bringst du die Neuankömmlinge in ihr neues Zuhause? Ich kümmere mich solange um unsere mehrzelligen Gäste.“

Während die Angesprochene sich stumm an die Arbeit machte und die Inhalte der Behälter aus den Kisten in die Wasserbecken schüttete, hielt Telaris zielstrebig auf eine Tür zu, die sich als Eingang zu einer Schleuse entpuppte. Sobald die Tür geschlossen war, ging die Sauerstoffanzeige in Lerons Atemmaske nach oben, bis sie weniger als eine halbe Minute später im grünen Bereich ankam.

Erleichtert entledigte er sich des Geräts, gleichzeitig mit Hoyd und ihrer Gastgeberin.

„Immer rein in die gute Stube!“, forderte Telaris die beiden Männer auf und öffnete die gegenüberliegende Schleusentür.

Sie betraten einen Wohnraum, der kaum heimeliger eingerichtet war als die Korridore, die sie bereits gesehen hatten. Doch im Vergleich zur Enge des Shuttles, in der Hoyd und Leron die vergangenen acht Tage auf dem Weg von der Primarstation hierher verbracht hatten, war es der reinste Luxus.

„Hier sind eure Kabinen.“ Sie wies in zwei kleine Räume mit minimalistischer Ausstattung. „Sind erst vor wenigen Tagen fertiggeworden und noch unbenutzt.“

Die Insel wurde, wie die Primarstation im Orbit um den Gasriesen Ilada III, ständig von Nanoassemblern erweitert. Im Gegensatz zu der Raumstation entnahm die Insel die Rohstoffe für ihr Wachstum direkt dem Meer, hauptsächlich in Form von gelöstem Eisen, das aus dem Wasser gefiltert und in Nanofabriken zu Stahl weiterverarbeitet wurde.

„Habt ihr Hunger?“ Sie musterte die beiden Männer abwechselnd.

Auf die Bejahung ihrer Frage hin bereitete sie aus dem Nahrungssynthetisierer, einer einfacheren Version des Geräts auf der Raumstation, drei schlichte, aber nahr- und schmackhafte Mahlzeiten.

Das Tischgespräch drehte sich hauptsächlich um den neuesten Tratsch von der Primarstation. Sensationen gab es hierbei nicht zu berichten – kein Wunder bei einer Besatzung von derzeit nur vierzehn Personen. Alle anderen waren irgendwo im System unterwegs, um es zu erkunden oder, so wie Nissa und Telaris hier auf Ilada II, seine Kolonisierung voranzutreiben. Den Großteil der Konversation bestritt Hoyd. Leron lauschte stumm.

„Ich kümmere mich erst mal um das Shuttle“, verkündete Hoyd schließlich, sobald er sich gesättigt hatte. „Bevor das nicht wieder aufgetankt und bereit für die Rückreise ist, habe ich eh keine Ruhe.“ Er erhob sich, setzte die Atemmaske auf und verschwand in die Schleuse.

Einen Augenblick herrschte angespannte Stille, als Leron und Telaris allein zurückblieben. Sie hatten sich seit rund dreißig Tagen nicht mehr gesehen. So lang hielt sie sich schon auf dem Wasserplaneten auf.

„Und?“, beendete er das Schweigen. „Wie kommt ihr voran?“

„Gut.“ Das strahlende Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück, sobald die Arbeit thematisiert wurde. „Wir produzieren Tauchroboter und erkunden jeden Winkel des Planeten. Bei einer Wasserwelt wie dieser ist das eine hehre Aufgabe.“

Er schaute sie neugierig an. „Schon was Interessantes gefunden?“

„Nichts Unerwartetes“, erwiderte sie. „Wir arbeiten gerade daran, Tauchsonden herzustellen, die bis zum Grund des Ozeans vordringen können. Ist nicht ganz einfach, bei dem Druck, der da unten herrscht. Mehrere zehntausend Bar an den tiefsten Stellen. Da kristallisiert das Wasser zu exotischen Formen von Eis. Daraus besteht der Großteil des Meeresbodens.“

„Aha.“ Sein Versuch, nicht völlig unwissend zu wirken, scheiterte kläglich. „Und sonst?“

„Keine einheimischen Lebensformen oder etwas in der Art, falls du darauf hinauswillst.“

Das hatte Leron auch nicht erwartet. In dem Fall hätten Nissa und Telaris mit Sicherheit schon längst Alarm geschlagen und die übrigen Kolonisten in helle Aufregung versetzt. Aber die Wahrscheinlichkeit für einen derartigen Fund war minimal. Die Union bestand aus mehr als vierzigtausend bewohnten Systemen, verstreut über hunderte von Lichtjahren. In keinem einzigen davon war bislang einheimisches Leben gefunden worden. Allem Anschein nach war die Menschheit allein im Universum. Oder zumindest in der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Ursprungs, der Erde. Denn so gewaltig die Union auch sein mochte, umfasste sie doch nur einen winzigen Bruchteil der Milchstraße. So blieb wenigstens die Hoffnung bestehen, irgendwann auf außerirdische Lebensformen zu stoßen, und seien es nur primitive Vorstufen von Bakterien. Doch in Ilada erfüllte sich diese Hoffnung offenbar nicht.

„Aber deshalb haben wir ja unsere eigenen kleinen Freunde gezüchtet“, fuhr Telaris fort. „Die Algen, die ihr mitgebracht habt, sollten perfekt an die Bedingungen hier angepasst sein. Wenn die Tests in den Laborbecken erfolgreich sind, entlassen wir sie in den Ozean. Falls wir beim Design der Algen keine Fehler gemacht haben, sollten sie sich rasend schnell vermehren und Sauerstoff produzieren.“

„Und wie lang wird es dauern, bis ich keine Maske mehr aufsetzen muss, wenn ich dich hier besuche?“ Leron hatte sich schon wenige Tage nach seinem Erwachen dem allgemeinen Duzen angeschlossen. Es kam ihm albern vor, als einziger das förmliche ‚Sie‘ zu verwenden. Zu seinem eigenen Erstaunen hatte er sich rasch daran gewöhnt. Das ganze Miteinander der Primarkolonisten war viel ungezwungener, als er es jemals in einem der etablierten Systeme erlebt hatte. Und er musste zugeben, dass er die Nähe zu den anderen genoss. Besonders zu einem – oder besser: einer – von ihnen.

Telaris lachte. „Bis eine atembare Atmosphäre entsteht, werden Jahrhunderte vergehen. Und das nur, wenn alles optimal verläuft. Ansonsten eher Jahrtausende.“

„Dann komme ich später noch einmal vorbei.“ Er grinste sie an.

Ihre Miene wurde schlagartig ernst. „Ich weiß gar nicht …“ Sie druckste ein wenig herum, bevor sie schließlich den Mut fasste, die Frage auszusprechen, die ihr auf dem Herzen lag: „Wie alt bist du eigentlich?“

Für einen Moment war Leron verunsichert. Es war unüblich, dass er mit Kolonisten über sein Leben redete. Aber im Prinzip sprach nichts dagegen.

„Ich wurde im Jahr 55.766 der Kohärenz geboren“, antwortete er.

Überraschung breitete sich über ihr Gesicht aus, eventuell sogar ein Hauch von Entsetzen. „55.766? Das … Du bist über dreitausend Jahre alt?“

„Das kann man so nicht sagen“, räumte er ein. „Ich habe davon nur 261 Jahre aktiv verbracht. Die restliche Zeit war ich auf Reisen.“

„Wow!“ Sie war sichtlich beeindruckt. „Ich weiß ja, dass ihr Revisoren viel unterwegs seid, aber dreitausend Jahre … Wow!“

Er hob die Schultern. „Nicht alle Reisen sind so kurz wie die letzte, die mich hierher geführt hat. Da war ich nur achtundzwanzig Jahre unterwegs. Manche meiner Animustransfers erstrecken sich über mehr als hundert Lichtjahre. Besonders die zur Rekonditionierung. Dafür muss ich zu einer der Zentralwelten reisen, meistens nach Japhos. Entsprechend der Distanz ist das Datenpaket mit meinem Animus dann mehr als hundert Jahre unterwegs.“

„Rekonditionierung?“ Sie runzelte die Stirn.

„Nach üblicherweise zehn Einsätzen muss jeder Revisor sich einer eingehenden psychischen und moralischen Prüfung unterziehen. Dabei wird jedes Neuron seines Animus einzeln umgedreht. Auf diese Weise stellt die Union sicher, dass wir uneingeschränkt loyal sind.“

„Und wann bist du das nächste Mal dran?“

„In dreieinhalb Jahren.“ Er presste kurz die Lippen aufeinander. „Nach dem Einsatz hier in Ilada.“

Das verschmitzte Schmunzeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. „Na, dann lass dir besser nichts zu Schulden kommen!“

Abwehrend hob er die Hände. „Mein Gewissen ist rein.“

„Sicher?“ Sie beäugte ihn argwöhnisch. „Ich habe noch nie erlebt, dass ein Revisor sich derart unter die Bewohner gemischt hat wie du. In Varinia, wo ich aufgewachsen bin, waren die Revisoren immer total entrückt. Das war schon ein Erlebnis, wenn man einen von denen mal von weitem gesehen hat.“

„Nun ja. Varinia hat ja auch ein wenig mehr als fünfundzwanzig Einwohner. Da fällt es leichter, sich von den Leuten zu distanzieren, zumindest von der breiten Masse. Aber hier? Soll ich mich die ganze Zeit nur mit dem Central Controller unterhalten? Ich glaube kaum, dass so etwas von mir verlangt wird. Die Union ist sich der besonderen Ansprüche eines Einsatzes als Revisor Primus natürlich bewusst. Deshalb werden die üblicherweise so gelegt, dass danach eine Rekonditionierung fällig ist. Und außerdem werden nur verdiente Revisoren mit solchen Aufgaben betraut. Ich musste immerhin einundfünfzig Einsätze absolvieren, bevor ich hierher geschickt wurde.“

„Bis sie dir so weit vertrauen, dass du auch hier den roten Knopf drücken würdest, wenn die heilige Kohärenz in Gefahr ist.“

Die beinahe schon familiäre Nähe, die Leron gespürt hatte, schwand von einem Augenblick zum nächsten. Stattdessen öffnete sich zwischen ihm und Telaris der Graben, der ihm aus einundfünfzig Einsätzen so vertraut war.

„Entschuldige.“ Sie schaute verlegen auf den Boden.

Er holte tief Luft. „Nein. Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast ja recht. Das ist meine primäre Aufgabe. Darauf aufpassen, dass die Kohärenz gewahrt bleibt. Und einschreiten, sobald sie in Gefahr gerät.“

Sie hob die Augen, suchte die seinen und sah ihn an. „Und uns alle töten. Alles vernichten, was wir hier mühsam aufbauen.“

„Das ist nur die allerletzte Option“, wehrte er ab. „Vorher gibt es noch unzählige andere Möglichkeiten, eine Gefährdung der Kohärenz zu beseitigen. Die Annullation wird nur in den seltensten Fällen angewandt. Wenn alle anderen Maßnahmen gescheitert sind.“

„Aber im Extremfall würdest du es tun.“ Sie klang beinahe anklagend.

„Ja.“ Er begegnete ihrem Blick. „Das würde ich. Das ist die Aufgabe eines Revisors.“ Er stand von seinem Stuhl auf, marschierte zwei Schritte weit und wieder zurück. „Ich weiß, dass solche Maßnahmen radikal sind. Aber sie sind notwendig. Die Wahrung der Kohärenz ist die einzige Möglichkeit, Schlimmeres zu verhindern. Im Zweifelsfall die Auslöschung der gesamten Menschheit. So etwas wie die Divergenzkriege darf sich niemals wiederholen.“ Mühsam beruhigte er sich ein wenig. „Die Kohärenz und die Maßnahmen zu ihrer Wahrung mögen grausam erscheinen, aber sie sind notwendig, um das Weiterbestehen der Menschheit zu gewährleisten.

---ENDE DER LESEPROBE---