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Koller ist nicht nur ein Name, sondern auch ein Zustand. Und der wird fast zum Dauerzustand, als Chris und Koller aufeinanderprallen: Koller will immer mit dem Kopf durch die Wand und denkt sowieso, alles sei ganz einfach. Chris denkt zu viel nach und spricht zu wenig aus. Chris weiß noch nicht einmal, wie Koller mit richtigem Namen heißt, da sitzen sie schon nebeneinander in einem klapprigen Polo II und fahren los. Was ein Kurztrip an die Ostsee werden soll, wächst sich zu einem Roadtrip aus, der sich gewaschen hat: über Ludwigsburg, das überflutete Ahrtal, das sagenumwobene Hannahhausen, den Acker eines blutrünstigen Treckerfahrers – bis die beiden schließlich das Kaff am Meer erreichen, das Kollers Refugium ist, und wo das Vorhaben, einen Fischteich neu anzulegen, gleichermaßen Scheitern und Erlösung verspricht. Koller ist keine Liebesgeschichte, aber eine Geschichte über Liebe. Über die Suche nach Zugehörigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung. Rasant und mit entwaffnender Direktheit erzählt Annika Büsing von Menschen, die herausfinden müssen, was sie wirklich vom Leben wollen und warum sie den Erwartungen anderer entkommen müssen, um es zu erreichen.
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Seitenzahl: 212
Annika Büsing
KOLLER
RomanSteidl
Cover
Titel
DER ERSTE TAG
DER ZWEITE TAG
DER DRITTE TAG
DER VIERTE TAG
ÄNNE
DER FÜNFTE TAG
DER SECHSTE TAG
ELLA
ULLA
DER SIEBTE TAG
Impressum
Das Meer riecht genau richtig nach Meer. Nicht zu salzig und nicht zu ölig, nicht nach Fisch und nicht nach Lunge. Das Ziehen der Wolken, das einsame Geschrei der Vögel, das Rauschen der Flut, es erhebt dich und trägt dich davon. Wo wir sitzen, ist es trocken und warm. Es liegt Geborgenheit im Wind.
Ich blicke auf seine Füße und bin überrascht, dass ich sie okay finde. Er sieht mich nicht an. Er raucht und blickt aufs Meer. Wir haben fünf Tage zusammen verbracht. Ich kenne seinen Geruch am Morgen. Wir haben uns nur ein einziges Mal geküsst. Seitdem warte ich darauf, dass es mich davonspült, so wie Krebse und Muscheln vorne im Saum. Aber das passiert nicht. Meine Furcht ist ohne Grund. Das erkenne ich jetzt, wenn ich ihn ansehe.
Von Leipzig aus ist es weit zum Meer. Vier Stunden mit dem Auto. Minimum. Und so fühlte sich das auch an. Ich war an einem Ort, der weit weg ist vom Meer. Und je weiter ich vom Meer weg bin, desto unablässiger denke ich daran. Ich denke so sehr daran, dass ich denke, das Meer denkt an mich. Es zieht mich an wie der Mond das Wasser. Und weil man aus der Stadt so schlecht herausgezogen werden kann, weil Häuser und Brücken und Schallschutzmauern widrige Hindernisse bilden, die wir nicht umfließen können, weil wir klotzige, klobige, sehr wenig anpassungsfähige Lebewesen sind, deshalb spüre ich das Ziehen des Meeres nur als Kloß im Hals und als Reißen in den Gliedern.
Ich aß gelangweilt zu Mittag, und ich saß im Park herum und beobachtete ein dickes Kind, das mit einem Stock ein Loch in die Erde pulte. So ist das Leben: Wir pulen mit einem Stock in der Erde herum, bis die Mutter kommt, uns den Stock wegnimmt und uns sagt, dass wir vor dem Essen die Hände waschen sollen. Ich war müde.
Abends war ich wieder im Park, und da stand er herum wie fahrendes Volk. Mir ist klar, dass man nicht herumstehen kann wie etwas, das fährt, und man kann es doch. Er konnte es. Er war barfuß und trug ein T-Shirt, das weit war, weit wie die Welt, wenn nicht Häuser und Brücken und Schallschutzmauern im Weg stehen. Narr und König haben etwas gemeinsam: Was sie tun, tun sie für jene, die ihre Augen auf sie heften. Ich heftete meine Augen auf den König.
Er hatte mich noch nicht entdeckt. Er war bei sich. Es schien, als gäbe es dort eine Menge zu tun. Während seine Freunde auf dem Rasen saßen und teuren Wein aus billigen Bechern tranken, während sie den Ort, an dem sie auftraten, zu ihrem machten, indem sie ihre Handballen in den Rasen drückten, während sie die Köpfe schräg hielten und lachten, währenddessen war er bei sich. Allein.
Meine Opferbereitschaft ist legendär. Alle wollen meinen Rat, nie hört jemand auf mich. Am Ende lässt sich nur feststellen, dass es klug war, mich zu fragen. Man sagt: Wählst du den Richter, wählst du das Urteil. Und manchmal wählen wir einen sehr strengen Richter, um hinterher das Gefühl zu haben, nochmal davongekommen zu sein. Wir erzählen nachher von unserem Erlebnis mit dem Richter. Mein Gott, sagen wir, mein Gott! Wie kann man denn nur so streng sein! Und wir ergötzen uns daran, dass wir überlebt haben. Alles halb so wild, alles halb so wild.
Und jetzt war da der Eine, dem es ernst war mit meinem Urteil. Er hob seinen Blick und sah mich an. Zwischen uns lagen gute zwanzig Meter, doch ich spürte ihn bereits auf meiner Haut. Er wusste, dass ich gekommen war. Der König, der Narr, der Richter, es war wie beim Kartenlegen: alles Schicksal oder Mogelei.
Wir sahen uns an. Später sagte er, er habe Angst gehabt, dass ich wegsehen würde. Falsch gedacht. Und weil ich so stark und schön war, löste er sich von der Gruppe, um mich zu erobern. Er kam zu mir, mit langen, leichten Schritten, jemand, der sein Ziel fest vor Augen hat.
Es passiert. Wir sprechen miteinander. Ich sehe in deinen Augen, dass es dir ernst ist um mein Urteil.
»Hallo!«, sagst du.
»Hallo!«, sage ich.
Du musterst mich. Wir stehen in der Abendsonne herum. Ich weiß, dass du etwas sagen wirst, und bete, dass es mich überrascht und nicht langweilt. Ich habe verlernt, mich auf Menschen einzulassen. Sie hören nicht auf mich. Sie kommen und fressen mich auf. Niemals wird sich das ändern. Wir sind Tiere. Doch deine taubenblauen Narrenaugen sagen mir: Hab Mut!
»Ich würde dir ein Kaugummi anbieten, aber ich glaube, das magst du nicht.«
Ich schweige. In meinem Schweigen liegt eine Frage. Und du beantwortest sie.
»Du hast hier eine steile Falte!«
Du streckst die Hand aus, ziehst sie dann aber zurück und zeigst stattdessen auf deine eigene steile Falte. Die zwischen den Augen meinst du.
»Die sagt dir, dass ich kein Kaugummi mag?«
»Keine Ahnung. Stimmt es?«
»Es stimmt.«
Du lachst ein bisschen. Es ist ein Kieksen.
»Pfirsich«, sagst du. »Zu hundert Prozent künstlicher Geschmack. Keine Überraschungen. Findest du das bescheuert?«
Ich schüttele den Kopf.
»Vielleicht solltest du doch eins nehmen«, sagst du und nimmst meine Hand in deine und schüttelst eine Kaugummikugel aus einem Plastikröhrchen in meine Handfläche. Leuchtend orange ist sie und glänzend. Zuckerkristalle. Gehirnrinde. Ich sehe meine Zukunft voraus. Ich stecke die Kaugummikugel in den Mund. Zuckerkristalle. Gehirnrinde. Das löst irgendetwas: einen Nerv oder eine Weltanschauung.
Jetzt sind wir am Meer. Geborgenheit im Wind. Du hast keinen Zweifel daran gelassen, dass du bei mir sein willst. Du bist mutig. Ich mag deine Füße. Vielleicht wäre das ein Kompliment, das Bewegung in die Sache bringt.
Im Park in Leipzig kauen wir eine Weile Kaugummi. Deine Fingernägel sind pink. Das ist ein Statement. Wärest du eine fünfzehnjährige Schülerin, wäre es Konformismus. Aber du bist ein Narr. Es ist deine Art zu sagen, dass dich alle mal am Arsch lecken können.
»Man kann damit Blasen machen«, konstatierst du.
Zum Beweis machst du eine Kaugummiblase. Es ist das Eindrucksvollste, was ich seit einer Weile gesehen habe. Zum Vergleich: Ich habe Häuser gesehen, die von Menschen gebaut wurden, und Kinder, die von Menschen gezeugt wurden, und Hunde, die von Menschen dressiert wurden, und Autos, die von Menschen vollgetankt wurden. Und ich blicke diese Dinge an, eins nach dem anderen, und ich lasse sie zerplatzen. Und dann sagen sie: Wie kann man nur so streng sein! Ich bin wie Gott, nur umgekehrt. Ich negiere die Schöpfung. Nichts davon ist gut.
Ich fasse dir ins Gesicht – wir sind schon weit gekommen – und reibe das zerplatzte Kaugummi von deiner Nase. Hier war mein Zutun nicht nötig. Kaugummiblasen zerplatzen von selbst. Sie haben kein Gewicht in der Welt.
»Löst sich meine Falte?«, frage ich.
»Zeig mal!«, sagst du.
Ich schließe meine Augen. Du bist sehr nah mit deinem Pfirsich-Atem. Du fasst mir ins Gesicht. Streichst sacht mit dem Daumen über die steile Falte, die mich als Kaugummihasser ausweist.
»Wird besser«, flüsterst du.
Ich öffne die Augen. Etwas in deinem Blick sagt: Hab Mut! Aber du bist ein Narr mit einer Kaugummiblase.
Keine Kompromisse machen bedeutet, einsam zu bleiben. Man kann es mit Blumen dekorieren, aber das Ergebnis bleibt gleich. Deine Freunde sind Bohemiens, keine Hasardeure, keine Spieler. Sie haben studiert und wollen die Welt verändern, sobald sie den Wein ausgetrunken haben. Du siehst auf sie herab. Und brauchst sie, um nicht davonzufliegen. Du sagst, du willst mir zeigen, wie die Sonne hinter den Bäumen untergeht, so als hättest du den Sonnenuntergang erfunden, die Bäume und die Grashalme. Ich nehme die Bierdose mit, die du mir gegeben hast. Du läufst neben mir. Die Sonne geht unter. Und siehe, es ist alles sehr gut.
Du spuckst das Kaugummi in einem hohen Bogen durch den Park. Ich halte dir meine Dose hin, aber du schüttelst den Kopf.
»Wenn ich noch mit dir rummachen will, muss ich klar im Kopf bleiben«, sagst du.
Keine Ironie. Kein Witz. Keine Kompromisse. Hinter den Bäumen bleiben wir stehen. Das Licht fällt dir ins Gesicht. Ich denke an nichts, an Schönheit, an den Klumpen Lehm, von dem es heißt, dass Gott den ersten Menschen daraus geformt hat. Das ist unsere Bestimmung. Wir versuchen in jedem Klumpen Lehm Gottes Willen zu sehen. Bei dir fällt es mir leicht.
Sonst wäre ich nicht mit dir nach Klütz gefahren, ein Kaff unter der Sonne, am Meer, das im Wind liegt, wo ich geborgen sein kann. Vielleicht haben Käffer das so an sich, sie sind immer jemandes Refugium. Du sagst, hier hast du deine halbe Kindheit verbracht. Du sprichst wieder von deiner Oma. Ihren Koi-Karpfen. Ich kann dir nicht folgen. Bis du es mir zeigst.
Aber vielleicht sollte ich doch ganz vorne anfangen.
Wir standen hinter den Bäumen. Und wir warteten, bis die Sonne untergegangen war, bis zum letzten Strahl. Du sagtest mir deinen Namen. Ich spürte den Körper unter der Weite deines Shirts. Ich wusste, dass du atmest. Es gibt einfache Dinge wie atmen, essen, sie scheinen uns ganz selbstverständlich. Das ist ein Irrtum. Sie sind es nicht. Sie sind eine Anstrengung, ein Wunder. Ich trank das Bier aus. Du fragtest: »Schläfst du bei mir?«
Ich schlief bei dir. Und darüber gibt es nur drei Dinge zu sagen: Zwei Zimmer, ein Bett, du hast mich nicht angefasst. Weil du es mir vorher versprochen hattest. Es war deine Art zu sagen, dass ich dir vertrauen kann. Ich habe es geglaubt. Das hätte auch ein Irrtum sein können.
Ich erinnere mich genau an den Geruch der Bettwäsche, an das Licht, wie es durch die Vorhänge fiel am Morgen. An der Wand hing ein Bild von dir. Ich glaube, du warst glücklich, als es geschossen wurde. Ich dachte, nur sehr eitle Menschen würden sich Bilder von sich selbst an die Wand hängen. Aber du hängtest es als Erinnerung auf: daran, dass man manchmal glücklich ist, ohne jeden Grund.
Nun ist es so, dass bei jemandem zu schlafen, den man nicht kennt, eine intime Angelegenheit ist. Vielleicht ist bei jemandem schlafen schon intim. Schlafen an sich. Als ich bei dir schlief, gab es die Idee mit Klütz noch nicht. Es gab die Idee, dass wir uns ausziehen würden, einen fremden Körper küssen.
»Seltsam«, sagtest du, »ich dachte, heute ist ein verlorener Tag.«
Wir gingen langsam durch sich leerende Straßen. Ein Junge auf einem BMX-Rad übte Tricks unter einer Straßenlaterne. Irgendwo bellte ein Hund. Deine Freunde waren weitergezogen zu Silja nach Hause, noch mehr Rotwein trinken, später Gin. Dann raus in die Clubs. Wir nicht. Keine Kompromisse. Du erzähltest mir, dass Silja eine Heilpraxis hat, in der sie Chirotherapie anbietet.
»Und das ist interessant, weil …?«
»Es ist nicht interessant.«
Wie viele Siljas gibt es auf der Welt? Aus wie vielen Klumpen Lehm sind Heilpraktikerinnen geworden?
»Meine Oma«, sagtest du und erzähltest zum ersten Mal von ihr, »meine Oma hat Koi-Karpfen gezüchtet. Und als sie gestorben ist, war da plötzlich ein Teich mit Fischen, und meine Eltern wussten nicht im Geringsten, was sie damit anfangen sollten. Sie waren vollkommen hilflos. Sie waren beinahe empört, so als wollten sie sagen: Man kann uns doch keinen Teich mit Fischen drin vererben. Das war so, als hätten sie ein Atommülllager geerbt.«
Du lachtest. Und es war kein Kieksen. Es war ein Kopfschütteln. Wir sind erwachsene Menschen, und doch reden wir über unsere Eltern, wenn wir darüber verhandeln, ob wir uns ineinander verlieben oder miteinander ins Bett gehen werden.
»Was dann?«, fragte ich.
»Sie haben den Teich trockengelegt.«
Da sah ich ihn das erste Mal in deinem Gesicht, den Ernst. Ich würde ihn in den kommenden Tagen noch öfter sehen. Du bist ein ernster Narr, manchmal melancholisch, aber immer unerbittlich gegen jede Form von Stolz.
»Es waren 36 Fische in dem Teich. Rund 36 000 Euro. Sie haben geatmet. Hat sie alles nicht interessiert.«
»Was ist dein Vater von Beruf?«
»Mein Vater ist Bauingenieur.«
»War es seine Mutter, die gestorben ist?«
»Das ist eine wichtige Frage. Es war die Mutter meiner Mutter.«
»Und du mochtest sie?«
»Ja, sehr.«
»Wo warst du bei dem Koi-Karpfen-Massaker?«
»Am Strand mit meiner Schwester.«
Ernst. Keine Kompromisse. Ich stellte keine Frage.
Dann waren wir bei dir zu Hause.
Ich wachte neben dir auf. Damit hatte ich einen Schritt gemacht. Früher haben sie immer gesagt: »Chris muss mutiger werden.« Mir leuchtete das nicht ein. Muss, muss, Zungenkuss. Ich überlege, was das Mutigste ist, was ich je gemacht habe. Ich glaube: neben dir aufwachen.
Ich stand leise auf und ging pinkeln. Danach besah ich deine Bude. Ich wusste, dass du nicht wirklich Koller heißt, aber deine Wohnung passte zu dem Namen. Irgendjemand hatte ihn dir verpasst, er wird gewusst haben, warum.
»Ich bin Koller«, hattest du gesagt, als hinter den Bäumen die Sonne unterging.
Auf dem Bild an der Wand sahst du aus wie der, der du gewesen warst, bevor dir jemand deinen Spitznamen gab. Während ich dich betrachtete, standst du plötzlich hinter mir.
»Das war an der Ostsee«, sagtest du.
Dein Atem streifte meinen Nacken. Wir sahen beide auf das Bild an der Wand. Ein glücklicher junger Mann, lachend auf einem Gartenstuhl, in einer Pose zwischen Zurücklehnen und Aufstehen. Ich drehte mich zu dir um. Du küsstest mich. Ich kannte das nur hart und klar, doch dein Kuss war weich und trüb. Er ließ keine klaren Absichten erkennen, er floss über vor Gefühl. Mit dem Daumen strichst du über die Falte zwischen meinen Augen. Dann zimmerten wir ein Frühstück hin: Eier, Brot, eine Kanne Kaffee. Du sahst verschlafen aus, trugst noch immer das T-Shirt vom Abend zuvor.
»Ich muss dich mal was Ernsthaftes fragen«, sagtest du kauend. »Wie dringend willst du ans Meer?«
»Sehr dringend«, sagte ich.
»Dann sollten wir das angehen«, sagtest du. »Meiner Oma, die, von der ich dir erzählt habe, gehörte ein Haus in Klütz. Wir können dahin, wenn du willst.«
Ich schwöre, ich hatte nie mit auch nur einem Wort erwähnt, dass ich mich nach dem Meer sehnte. Aber vielleicht war das Kollers Masche. Ich wusste nichts von ihm. Außer, dass seine Oma Koi-Karpfen gezüchtet hatte und dass sein Vater einem bürgerlichen Beruf nachging. Koller selbst hatte so gar nichts Bürgerliches an sich. Er sah aus wie einer vom Zirkus und klang manchmal wie einer, der Seminare über Hegel leitet. Er war wahnsinnig hübsch, auf eine Weise hübsch, die mich vollkommen irritierte, weil ich Menschen grundsätzlich unförmig und abstoßend finde. Wir haben kein Fell, keine Federn, wir sind überzogen mit Haut und meistens viel zu fett. Das war das Zweite, was sie immer gesagt haben: »Chris muss mehr essen.« Was ich alles musste.
»Also, willst du?«, fragte Klütz-Koller mit dem Bauingenieur-Vater.
Und weil ich Ja sagte, packte er sehr bald eine Tasche. Ich hatte meine Sachen im Hotel, wir holten sie auf dem Weg. Ich brach die Mission ab, wegen der ich überhaupt nach Leipzig gekommen war. Es war ein ohnehin weitgehend sinnloses Unterfangen gewesen. Ich werde an anderer Stelle davon berichten, wenn es besser passt. (Versprochen)
Koller packte nicht systematisch, ich würde sagen: Er packte malerisch. Er hielt Sachen in der Hand, betrachtete sie, legte sie wieder weg, nahm etwas anderes, nahm dann doch wieder das Erste, dann endlich entschied er, die Sache einzupacken, wie in einem stillen Zwiegespräch zwischen Maler und Leinwand.
»Ich hab nur eine Badehose«, sagte er. »Du kannst sie nehmen.«
»Und du?«
»Und ich?«
»Badest nackt?«
»Worauf du einen lassen kannst.«
Wir verließen die Wohnung. Die Teller blieben auf dem Tisch stehen. Mit Ei-Resten drauf. Es ist ein Wunder, dass ich das akzeptieren konnte. Auf der Straße zündete er sich eine Zigarette an.
»Wir müssen ein bisschen laufen«, sagte er. »Ella hat das Auto.«
»Wer ist Ella?«, fragte ich.
»Meine Freundin«, sagte er.
»Du hast eine Freundin?«
Ich war stehen geblieben. Das schien ihn zu irritieren.
»Du hast eine Freundin?«, wiederholte ich.
»Ja?«
»Du hast mich geküsst!«
Er atmete den Rauch aus. Dann warf er die Zigarette in den Rinnstein und kam näher.
»Chris, ich hab dich nicht nur geküsst. Ich will mit dir schlafen, ich will deinen Schwanz in den Mund nehmen, es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«
»Außer um Ella.«
»Du musst dir keine Sorgen um Ella machen.«
»Nein?«
»Nein.«
Habe ich es nicht gesagt? Sie fressen mich auf, gehen scheißen. Ich war wütend und enttäuscht. Er legte einen Finger unter mein Kinn.
»Ich bin hier«, sagte er. »Die Welt ist gar nicht so eindimensional, wie du denkst. Du könntest versuchen, mir zu vertrauen. Ich hab dir gesagt: Ich fasse dich nicht an. Und ich habe dich nicht angefasst. Ich tue, was du willst. Und wenn du sagst: Halt ein Auto an und sag dem Fahrer, dass er ein geiles Gerät ist, dann tue ich das, obwohl es sehr unangenehm ist, wie ich vermute.«
»Wie heißt du wirklich?«
»Koller, hab ich dir doch gesagt.«
»Das ist nicht dein bürgerlicher Name!«
»Wovor hast du auf einmal Angst?«
»Dass du meinen Schwanz in den Mund nimmst und danach wieder Mutter-Vater-Kind mit Ella spielst.«
»Herrgott, du bist vielleicht theatralisch!«
Er stellte die Tasche ab und ging vor mir auf die Knie. Erinnern Sie sich? »Chris muss mutiger werden.« Sieh mich an, Grundschullehrerin! Ich stehe in Leipzig auf der Straße, und vor mir kniet der König von Klütz. Das ist so mutig, das wirst du in deinem Leseheft-Leben nie mehr erreichen!
»Ich verspreche dir«, sagtest du, »ich stelle dir Ella vor, ich verrate dir meinen bürgerlichen Namen, und ich werde nicht Vater-Mutter-Kind spielen. Und wenn ich sage, dass ich mit dir schlafen will, dann hat das eine Bedeutung. Ich breche keine Herzen. Regeln vielleicht, aber keine Herzen.«
Ich glaubte dir. Wir liefen ein paar Straßen weiter, bis wir bei Ella waren. Und kaum waren wir bei Ella, hatte ich sie ins Herz geschlossen. Und das, obwohl ich wusste, dass du sie schon geliebt hattest. Ella war hübsch, sauber, fast hätte sie ein Fell haben können. Weiches Katzenfell. Sie rückte sofort den Autoschlüssel heraus.
»Wohin fahrt ihr?«, fragte sie.
»Nach Klütz«, sagtest du.
»Cool, viel Spaß!«, sagte sie.
Und sie küsste dich auf die Wange.
»Lieb dich«, sagte sie.
»Lieb dich auch«, sagtest du.
Ella drehte sich zu mir hin und küsste auch mich auf die Wange.
Es war, als habe eine Katze ihren Kopf an meiner Hand gerieben. Dann waren wir wieder auf der Straße.
»Siehst du«, sagtest du.
Und das war alles, was du sagtest.
Meine Mutter ist Wissenschaftlerin. Ihre Schwangerschaft mit mir war insofern ein wissenschaftliches Testfeld. Meine Mutter hat Aufzeichnungen über alles, was ihr in der Schwangerschaft relevant erschien: Gewicht. Bauchumfang. Brustumfang (alles unabhängig vom Mutterpass, zweimal täglich gemessen). Sie hat Aufzeichnungen über ihre Toilettengänge (groß und klein, mit Anmerkungen zur Beschaffenheit der entsprechenden Ausscheidungen), über die Kilometer, die sie in den jeweiligen Schwangerschaftswochen zu laufen imstande war, sie hat Aufzeichnungen über die Getränkemengen, die sie zu sich genommen hat, über die Anzahl ihrer Heißhungerattacken (meistens auf Grießbrei oder Backfisch) und über die Anzahl ihrer sexuellen Kontakte (zwei). Ich würde sagen: Letztere hätte sie nicht aufschreiben müssen. Die hätte sie sich auch so merken können. Aber natürlich will ich nicht respektlos sein. Und so kann ich ihren Aufzeichnungen entnehmen, dass sie mit zwei Männern geschlafen hat, während sie mit mir schwanger war. Im dritten Monat mit Ole, einem Studenten, dessen Abschlussarbeit sie betreute, und im sechsten mit Amar, ihrem Yogalehrer. Als ich auf der Welt war, führte meine Mutter ein Stillbuch. Sehr exakt, mit Brustseite und Stillzeit in Minuten und Sekunden. Ich stelle mir vor, wie sie dasitzt, mit Baby an der Brust und Stoppuhr in der Hand. Manchmal, wenn ich dieses Bild vor Augen habe, denke ich, dass es ihre Schuld ist, dass ich sie nicht liebe, und nicht meine.
»Vorsicht«, sagtest du, »die Tür ist lose.«
Ich stand an der Beifahrertür und rechnete damit, sie komplett in der Hand zu halten, sobald ich sie öffnete. Tatsächlich hing sie nur etwas herunter, sodass ich sie mit Muskelkraft gerade halten musste, um sie zu schließen. Koller sah mir gelassen dabei zu.
»Ich mag deine Arme«, sagte er.
Dann fuhren wir los. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Am Rückspiegel baumelte Gizmo, der Gremlin. In Kollers Haaren fing sich die Sonne. Dennoch: Ich hatte Panik. Autofahren ist für mich eine Nahtoderfahrung. Im letzten Jahr gab es mehr als zweieinhalb Millionen Unfälle, davon rund zweihundertsechzigtausend mit Personenschaden. Personen, das bin ich, das ist Koller. Man kann in einem Auto regelrecht zerrissen, eingequetscht oder gleich durch die Frontscheibe geschleudert werden. Zweitausendsiebenhundertneunzehn Menschen haben das letztes Jahr nicht überlebt. Ich fühle das, ich fühle all ihre Tode, hat aber nie jemanden interessiert, stattdessen haben sie immer gesagt: »Chris zeigt wenig Empathie.«
»Kannst du mir meine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach geben?«, fragte Koller.
Ich beugte mich vor wie ein braver Schuljunge bei der Beichte und suchte seine Sonnenbrille im Handschuhfach. Ein Tampon rollte mir entgegen. Aus einer Kaugummipackung roch es nach Pfirsich. Vielleicht war das Kollers Masche: Kaugummis verteilen und dann nach Klütz fahren. Ich war eifersüchtig, weil Ella seine Freundin war. Ich gab ihm seine Sonnenbrille. Er setzte sie auf.
»Hast du eine Maske dabei?«
»Mehrere.«
»Gut. Ich hab sie vergessen.«
Ich blickte mich um. Überall im Auto lagen Masken herum. Vielleicht war er da eitel. Vielleicht waren das Madame Ellas Masken und er wollte seine eigene. Weil er eben ein starker, unabhängiger Mann ist. Er ließ sich die Adresse von meinem Hotel sagen und fuhr blind hin. In einem Polo II ist kein Navi verbaut, kein Airbag, keine Klimaanlage. Es gab ein Radio, eine Heizung (mit den Einstellungen Heiß oder Aus), vier Gänge, vierzig PS, Höchstgeschwindigkeit hundertvierzig (bergab), was uns später bei unserer Flucht vor dem Schredder den Arsch retten würde. Hundertvierzig war Vollgas, bis zum Anschlag, und Willenskraft, denn wie gesagt: Koller war ein starker, unabhängiger Mann. Am Hotel angekommen, ließ er mich raus, parkte, wartete. Ich ging an der Rezeption vorbei zum Fahrstuhl, fuhr in die dritte Etage, holte meine Sachen aus meinem Zimmer. Auf meinem Bett lag der Anzug, den ich gekauft hatte. Ich ließ ihn dort liegen. Als ich zurückkam, trommelte Koller versonnen auf dem Lenkrad herum. Ich warf meine Tasche in den Kofferraum. Wir waren ein saucooles Team.
»Meine Schwester hat eine Behinderung«, sagtest du. »Sie wäre völlig ausgeflippt, wenn sie mitgekriegt hätte, dass meine Eltern den Teich trockenlegen. Sie stand total auf die Viecher. Auf die Kois.«
Auf dem Autobahnschild entzifferte ich: Köselitz. Ich war überrascht. Ich hatte den Themenwechsel nicht kommen sehen.
»Erzähl mir von deiner Schwester«, sagte ich.
Koller, wer bist du? Ich konnte deine Augen nicht sehen, weil du deine Sonnenbrille trugst.
»Sie ist drei Jahre älter als ich. Sie arbeitet in einer Behindertenwerkstatt in Ludwigsburg, sie lebt in einer Wohngruppe. Ich hab sie über ein Jahr nicht gesehen.«
»Wegen Corona?«
»Weil ich ein faules Aas bin.«
Du drehtest den Kopf. Deine Sonnenbrille erinnerte mich an einen Auffahrunfall. Ich wollte dich herausfordern, na klar wollte ich das.
»Fahren wir doch jetzt hin!«, sagte ich lapidar.
»Ludwigsburg ist nicht um die Ecke«, sagtest du.
Du bist wie ein Schauspieler in einem antiken grie-chischen Stück: Weil du mehrere Rollen spielst, besitzt du eine Reihe von Masken.
»Ich hab Zeit.«
»Ich dachte, du willst ans Meer.«
»Wir können nachher immer noch ans Meer.«
Du schwiegst. Hinter Köselitz fuhrst du auf einen Rastplatz. Ich hatte Angst, es verkackt zu haben. Du schaltetest den Motor ab. Es war schlagartig still. Ich spürte die Hitze der Sonne. Du atmetest aus und nahmst die Brille ab.
»Sag mir, ob du das ernst meinst!«, sagtest du. »Du kannst nicht auf halber Strecke schlappmachen.«
»Ich hab den Eindruck, du traust mir wenig zu.«
»Ich trau niemandem viel zu.«
»Was für eine traurige Bilanz.«
Du lachtest.
»Und jetzt kommst du und rettest mich?«
»Worauf du einen lassen kannst«, sagte ich.
Ich wünschte, meine Grundschullehrerin hätte mich in diesem Moment gesehen. Ich war wild entschlossen, mein Mut eine brennende Fackel. Ich war eine Art Superheld. Ich blickte in deine Augen. Du dachtest nach.
»Sie würde sich tierisch freuen«, sagtest du.
»Siehst du«, sagte ich.
Du setztest die Sonnenbrille wieder auf.
»In welcher Richtung liegt Ludwigsburg, Einstein?«
»Links unten«, sagte ich.
Ich bin besessen von Uhrzeiten. Wer könnte es mir verdenken? Wir waren um 11:04 Uhr in Leipzig losgefahren. Um 12:19 Uhr beschloss Koller auf dem Rastplatz hinter Köselitz, dass wir umdrehen und nach Ludwigsburg fahren würden. Um 13:29 Uhr musste ich pinkeln. Wir fuhren ab in Weißenfels. Koller hat eine seltsame Art, eine Toilette zu finden. Der König von Klütz gibt sich nicht mit gewöhnlichen Rastplätzen ab, der König von Klütz pinkelt in Weißenfels’ ältestem Baumarkt. Das dauerte 36 Minuten. Koller war das vollkommen egal. Er folgte mir auf die Toilette. Ich dachte erst, er hat irgendeinen perversen Scheiß mit mir vor, aber er ging wirklich nur pinkeln. Danach wusch er sich die Hände, mit Seife. Wir trugen Masken. Als wir den Baumarkt verließen, winkte uns die Kassiererin. Auf dem Weg zum Auto sagte Koller: »Ist nett hier, oder?«
»Es ist ein Parkplatz vor einem Baumarkt.«
»Aber nett.«