Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Philipp hat gelernt, sich am Riemen zu reißen, den Mund zu halten und niemandem auf die Nerven zu gehen. Er ist fast achtzehn und steht kurz vor dem Abi. Sein Vater, ein erfolgreicher Chirurg, hat eine neue Freundin und »stemmt die Welt«, während seine Mutter nur noch ab und zu verschwommenen in seinen Gedanken auftaucht. Halt findet Philipp bei seinem besten Freund Lorenz, mit dem er fast alles teilt, bis auf seine unklaren Erinnerungen an einen Hund oder seine wilde Liebe zu Studentin Mascha. Als die Polizei anruft und wieder einmal nach Philipps Mutter sucht, muss er sich entscheiden, ob er weiterhin unsichtbar bleiben will oder endlich für sich selbst einsteht. Annika Büsing hat ein zartes, genau beobachtetes Buch über eine Familie geschrieben, die an der psychischen Erkrankung der Mutter fast zerbricht. Ganz nah kommt sie dem Denken, Fühlen und Leben ihrer Figuren. Wie durch ein Vergrößerungsglas blickt Wir kommen zurecht darauf, was Familie sein kann. Die, in die man hineingeboren wird und die, die man sich wählt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
ANNIKA BÜSING
WIR
KOMMEN
ZURECHT
ROMAN / STEIDL
Und weil du nicht willst, dass ich von dir erzähle, weil du dich weigerst, Teil einer höheren Wahrheit zu sein, weil du dein Innerstes so sicher vor der Welt verborgen hältst, schreibe ich über dich, als würde ich deine Träume nicht kennen.
Cover
Titel
1. Unklare Erinnerungen an einen Hund
2. Unter Gottes weitem Himmel einfach verloren
3. Muttercousins
4. Junge mit Limonadenglas
5. Ci piacciono le moto
6. Kiddo
7. Verrecke!
8. Wuschmusch
Dank
Impressum
Seine Stiefmutter hatte ihre Lederhandschuhe verloren.
Der Winter hatte Einzug gehalten, also war es der misslichste aller Zeitpunkte für diesen Verlust. Das ganze Haus stellte sie auf den Kopf. Sie begann im Flur, wo ein unerhört antikes Möbel auf einem modernen Teppich stand. Der Teppich stammte aus Gent, das Möbel aus einem Dorf nahe Oldenburg, und es sorgte für Uneinigkeit, seit dem Tag, an dem es, in eine Decke gehüllt, auf einem weißen Laster angeliefert worden war. Zwei Drittel der Familie verabscheuten das klobige Ding, ein Drittel betrachtete diese Abscheu als Affront und sanktionierte sie regelmäßig durch blitzartige Wutausbrüche, die niemals möbelbezogen, sondern immer persönlich waren.
In der Oldenburger Kommode jedenfalls waren die Handschuhe nicht zu finden, weshalb die Suche nach und nach auf andere Teile des Hauses – das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, die Küche – ausgedehnt und dabei immer verzweifelter wurde.
Sie rief ihn.
Er war nicht ungewillt, ihr zu helfen. Er hatte die Kopfhörer von den Ohren geschoben, war von seinem Bett aufgestanden und in den oberen Flur getreten, in dem keine Erbstücke im Weg herumstanden, dafür Klamotten auf dem Boden lagen, die er einige Stunden zuvor dort abgeworfen hatte. Die Kopfhörer hingen um seinen Hals, an dem sich die Schlagader abzeichnete, als er sich über das Geländer lehnte und nach unten rief:
»Was ist?«
Ihr Kopf erschien unten am Treppenabsatz.
»Hast du meine Handschuhe gesehen?«
»Welche Handschuhe?«
»Meine Lederhandschuhe. Ich kann sie nicht finden.«
»Nein, hab ich nicht.«
Sie blickten sich an, von unten nach oben, von oben nach unten. Sie waren verfeindet, verbündet, gleich und ungleich.
»Soll ich dir helfen?«
Sie nickte und nahm sein Angebot an. Es war ein Friedensangebot, das für den Moment galt, für diesen tristen Wintertag, an dem er seine Hausaufgaben nicht machte und sie ihre Lederhandschuhe verloren hatte. Beides waren Vergehen, die nicht ohne Sühne bleiben würden.
Sie gestand es seinem Vater beim Abendessen. Es gab Sushi, das er persönlich beim Japaner abgeholt hatte. Er hatte im Auto geraucht. Sie konnten es riechen.
»Lothar«, sagte sie. »Ich kann meine Handschuhe nicht finden.« »Welche Handschuhe?«, fragte er und wiederholte damit die Frage, die auch Philipp ihr ein paar Stunden vorher gestellt hatte, aber im Gegensatz zu seinem Sohn stellte er sie nicht mit der ernsthaften Absicht, eine Antwort zu erhalten, sondern zerstreut, voller Unwillen, beim Sushi mit einem Ärgernis konfrontiert zu werden, das er nicht spontan würde lösen können.
»Die Lederhandschuhe, die wir in Bozen gekauft haben.«
Sie schien froh zu sein, dass es raus war. Als hätte sie sich übergeben und ihm das Sushi vor die Füße gekotzt. Philipp hatte die Gerichte, die in verschieden großen Boxen lose verteilt in der Mitte des Tisches standen, noch nicht angerührt. Er lehnte an seiner Stuhllehne und beobachtete die Szene, die sich so, oder in leichten Variationen, schon etliche Male vor seinen Augen abgespielt hatte. Sein Vater würde unbeteiligt tun. Er würde die Sache nichtig erscheinen lassen, er würde den rein materiellen Verlust mit einem Schulterzucken quittieren. Lothar kann es sich leisten. Ein paar Lederhandschuhe tun ihm nicht weh. Genau das würde er vermitteln. Und dann, später am Abend, würde er einen Streit vom Zaun brechen, in dem es einzig und allein um den ideellen Wert der Handschuhe gehen würde.
Ich habe sie dir geschenkt.
Ist dir das nichts wert?
Wir waren in Bozen, weißt du nicht mehr?
Das war in dem Skiurlaub, den du dir so gewünscht hast.
Warum bist du so gedankenlos?
Philipp erinnerte sich sehr gut an den Skiurlaub. Es war vier Jahre her. Er hatte zu Weihnachten neue Skier bekommen, und eine Stiefmutter dazu. So nannte er sie am Anfang: »meine Stiefmutter«, denn es wäre ihm komisch vorgekommen, »Stella« zu sagen, wenn er von ihr sprach, frech außerdem und wenig respektvoll. Er konnte auch nicht sagen: »die Freundin meines Vaters«, obwohl das damals die treffendere Bezeichnung gewesen wäre, denn Stella hatte so gar nichts Mütterliches an sich, als sie in Philipps Leben trat. Sie fuhr einen Mini und trug große Kreolen in den Ohren. Das war alles, was er von ihr wusste. Lorenz erzählte ihm damals, dass er seine Eltern beim Sex hörte, wenn er abends länger wach war, aber Philipp konnte nichts dergleichen behaupten. Stella schlief in dieser Zeit nicht bei ihnen im Haus. Der obere Flur gehörte Philipp ganz allein. Sein Vater schlief meist unten im Arbeitszimmer auf dem Sofa. Wenn Philipp aufstand, saß er schon am Frühstückstisch und las Zeitung oder telefonierte. Das hatte sich in den vergangenen vier Jahren nicht geändert. Nur saß jetzt Stella daneben, löffelte Müsli mit Obst aus einer Schüssel und trank den ersten Becher grünen Tee des Tages.
»Guten Morgen, Philipp«, sagte sie, wenn sie ihn sah.
Und er sagte: »Guten Morgen«, und dann trank er ein Glas Orangensaft, bevor er seinen Rucksack schulterte und zur Schule fuhr. Seine Stiefmutter rief ihm hinterher: »Hab einen guten Tag!«
Inzwischen nannte er sie »Stella«. Und er fand es weder frech noch respektlos. Der Respekt, den er für sie hatte, war auf Sympathie gebaut, die man mit jemandem hat, der es auch nicht besser weiß als man selbst. Manchmal hatte er auch Mitleid mit ihr. So wie jetzt.
Sein Vater nahm ein Sushi-Röllchen zwischen seine Stäbchen und steckte es sich in den Mund. Er kaute und blickte dabei auf das Schälchen mit Sojasoße, in das er noch vor Sekunden sein heißgeliebtes Negitoro getunkt hatte.
»Musst du dir ein paar neue besorgen«, sagte er. »Es wird kalt die Tage.«
»Philipp hat mir geholfen«, sagte Stella. »Wir haben alles abgesucht.«
»Wirst sie halt irgendwo vergessen haben«, erwiderte Lothar, griff nach einer Serviette und wischte sich den Mund ab. Die Diskussion war beendet. Er sah Philipp an.
»Isst du nichts?«, fragte er.
»Ich hab keinen Hunger.«
Sein Vater ließ seine Zunge in seinem Mund kreisen, prüfte offenbar, ob ihm Thunfisch zwischen den Zähnen klebte.
»Hast du in der Schule was gegessen?«
»Was soll ich da gegessen haben?«
»Kannst du mal aufhören, so blöde Antworten zu geben?«
»Kannst du aufhören, so blöde Fragen zu stellen?«
»Ich möchte, dass du was isst.«
»Ich kann mir eine Pizza holen.«
Lothar hob die Hand zu einer müden Geste.
»Geh dir eine Pizza holen!«
»Gibst du mir Geld?«
»In der Schublade ist Geld.«
Philipp stand auf, ging in die Küche und öffnete die Schublade, in der ihre Reisepässe lagen, das besagte Geld, der Ersatzschlüssel für Lothars Wagen, ein Holzherz, in das die Worte ICH LIEBE DICH geprägt waren. Sein Blick blieb daran hängen. Es war nicht Stellas Herz, das in der Küchenschublade lag. Er nahm sich einen Zwanziger und zog sich seine Jacke über, die seit seiner Rückkehr aus der Schule über einer Stuhllehne hing. Lothar aß inzwischen die Reste aus den Boxen auf.
»Komm nicht so spät!«
»Ich hol mir nur eine Pizza.«
»Morgen ist Schule.«
»Ich weiß.«
Er ging nach draußen. Die Luft roch nach Schnee. Er schrieb Lorenz.
Manchmal, wenn er auf dem Mäuerchen saß, stellte Philipp sich den Tag vor, an dem die Toten auferstehen. Es würde Stille sein, etwa eine halbe Stunde lang, und Rauch würde vom Boden aufsteigen. Pauls und Heinze, Hugos und Brigittes, Ingeborgs und Klaus-Dieters, Gerds und Monikas würden ihre Hände aus der Erde recken, und sie würden aufstehen und die Erde abschütteln wie Pferde den Sand aus ihrem Fell, und sie würden sich in Bewegung setzen, über den Kies schlurfen und murmeln. Einmal hörte er ihre Stimmen tatsächlich, aber Lorenz meinte, das käme vom Gras. Lorenz checkte regelmäßig die Warnmeldungen auf Mindzone. Er war das Gewissen, der gute Geist, der Guard der Gang. Eine denkbar kleine Gang war das. Sie bestand aus Philipp und Lorenz. Manchmal kamen Bilal und Moritz dazu. Dann waren sie zu viert. Jannik war raus. Er hatte seit einem halben Jahr eine Freundin, Merle, die mit Philipp im Bio-LK saß, eine hammergute Schülerin, fleißiger, zielstrebiger, disziplinierter als sie alle. Merle war eine Macht. Alle hatten Respekt vor ihr.
Lorenz kam den Weg vom Haupttor herunterspaziert, in langen entspannten Schritten, die sagten, dass es nichts zu tun gab. Andere meditierten oder machten jahrzehntelang Yoga, um diesen Zustand zu erreichen, bei Lorenz war es die Werkseinstellung. Lorenz hatte Locken und er trug sie lang. Seine Mutter regte das auf. Sie war Friseurin und hatte einen eigenen Salon und sehr genaue Vorstellungen davon, wie die Haarpracht ihres Sohnes aussehen sollte. Doch Lorenz war immun gegen jede Art von Zurechtweisung. Philipp beneidete ihn um seine Unbestechlichkeit. Sie kannten sich seit der Grundschule, Lorenz hatte vier Jahre lang den gleichen Belag auf dem Pausenbrot gehabt. Und er hatte sämtliche Versuche seiner Mutter, ihn zu etwas anderem zu überreden, abgeschmettert. So war Lorenz: zufrieden mit Frischkäse.
Sie rauchten, blickten in den Himmel, sprachen wenig. Philipp bekam Hunger, also gingen sie los und verwandelten Lothars Zwanziger in Pizza und Cola. Nach dem Essen kam die Müdigkeit. Philipp hielt Lorenz die Hand hin. Er schlug ein.
»Bis Morgen.«
»Hau rein.«
Philipp ging nach Hause. Im Wohnzimmer ereiferte sich Lothar bei Kerzenschein über den ideellen Wert von Stellas Handschuhen.
Ich habe sie dir geschenkt.
Wir waren in Bozen, weißt du nicht mehr?
Warum bist du so gedankenlos?
Philipp ging nach oben. Er ließ sich auf sein Bett fallen. Er setzte seine Kopfhörer auf und schlief in Klamotten ein. Der Schlaf war schwer und süß und hinterließ keinerlei Erinnerung.
Als er aufstand, hatte sich die Welt weitergedreht. Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne, zog sich aus, stieg in die Dusche. Er versuchte beim Pinkeln den Abfluss zu treffen, schäumte seine Haare ein, dachte nach. Französisch, Mathe, dann eine Freistunde, dann Geschichte. Es war auszuhalten, aber nicht verlockend. Er hatte die Mathe-Hausaufgaben nicht, aber da musste er durch. Er trocknete sich ab, föhnte die Haare, ging in sein Zimmer zurück und zog sich an. Als er nach unten kam, saß Stella allein am Frühstückstisch und trank grünen Tee. Kein Müsli. Kein Guten Morgen.
»Wo ist Papa?«, fragte er.
Sie sah ihn an. Er stand an der Kühlschranktür, auf dem Sprung zum O-Saft.
»Er hat heute früh einen Anruf bekommen und ist weggefahren.«
»Anruf von wem?«
»Das weiß ich nicht.«
Es lag ihm auf der Zunge: Hattet ihr Streit? Aber es war offensichtlich, und er musste aufpassen, dass sie seine Empathie nicht bemerkte.
»Wann ist er wieder da?«, fragte er.
»Hat er nicht gesagt.«
Er goss den Orangensaft ins Glas, stellte die Packung zurück, trank, stellte das Glas in die Spülmaschine und schulterte seinen Rucksack.
»Ich bin jetzt weg.«
Sie hob die Hand zum Abschied. Ein schwacher Flügelschlag.
Er verpasste die Bahn. Während er wartete, checkte er sein Handy. Er hatte eine Nachricht von Lorenz, zwei von Bilal, einen ganzen Haufen in diversen Gruppen. Er las nur die von Lorenz: »Meine Mutter hat die Bong entdeckt.«
Es war ein grauenhafter Tag.
Nach Französisch trafen sie sich draußen. An sich durfte es Lorenz’ Mutter nicht weiter wundern, dass Lorenz Gras rauchte. Soweit Philipp wusste, rauchte sie es selbst. Aber wenn Lorenz das so prominent platzierte, dann musste etwas dahinterstecken. Er kam nach draußen, neben ihm Amaya, die ihm am Arsch klebte wie Schmeißfliegen, seitdem er mit ihr Mathe lernte. Schüttle sie ab, oh Lorenz, mein Freund, schüttle sie ab!
Lorenz schüttelte sie ab und hielt Philipp seine Faust hin. Ihre Fäuste berührten sich zart, zarter als man küsst oder klatscht. Sie waren keine Proleten.
»Erzähl!«, sagte Philipp.
»Alter, ich weiß nicht, was die hat auf einmal!« Lorenz schüttelte den Kopf, als erkenne er seine eigene Mutter nicht wieder. Als sei es unnatürlich, dass Mütter sich sorgen. Als gäbe es keinen Grund. Mithin: Gründe gab es genug.
»Sie hat sich übertrieben aufgeregt. Lorenz, du musst an deine Zukunft denken! Das Abi! Denk doch mal nach!«
Philipp ließ den Kopf in den Nacken fallen.
»Will sagen, du sollst nicht mehr kiffen, alldieweil du Abi machst?«
»Junge, niemand sagt ›alldieweil‹. Warum sagst du das? Das macht mich traurig.«
»Leck mich!«
»Leck du mich!«
Zwei Mädchen aus der Neunten gingen vorbei, glotzten und wackelten mit ihren speckigen Hüften.
»Wird sie was machen?«, fragte Philipp.
Lorenz schüttelte den Kopf.
»Die macht nix.«
Bis zum Klingeln sinnierten sie über Mathe, speziell über ihren Mathelehrer, der erklären konnte, aber ein Arsch war. Die Frage war, ob es einem andersherum lieber sein konnte: Ein Mathelehrer, der nicht erklären konnte, dafür aber kein Arsch war. In der Stunde räumte Amaya total ab, Philipps fehlende Hausaufgaben blieben unentdeckt und sie bekamen Übungsaufgaben für die Klausur. In der Freistunde gingen sie zum Kiosk, kauften Cola und Snickers, dann saßen sie im Oberstufenraum und legten die Füße auf die Tische, bis Frau Köhler reinkam und sie anmotzte. Sie nahmen die Füße runter und sagten Entschuldigung.
Und als Frau Köhler weg war, legten sie die Füße wieder hoch.
Während Philipp in der Schule war, räumte Stella noch einmal die Oldenburger Kommode aus. Sie öffnete die oberste Schublade und stapelte alle Schals und Mützen auf dem Boden. Sie sah die Handschuhe durch: Lothars Softshell-Handschuhe, ein Paar aus Leder und kariertem Tweed, ein Paar Gartenhandschuhe, die er benutzte, um die Reifen an seinem Käfer zu wechseln, Fleece-Handschuhe von Philipp und seine Fahrradhandschuhe. Zuletzt fand sie einen einzelnen Handgelenksschoner. Von Bozen keine Spur. Sie öffnete die zweite Schublade: Tüten, Taschen, Beutel, ein altes Einkaufsnetz mit Loch, ein Schlüsselanhänger. Der Schlüsselanhänger bestand aus einem Plastikrahmen mit einem Foto darin, einem Foto, aufgenommen in einem Zoo; einem weitläufigen Zoo, wo gleich hinter dem erstbesten Bambus Fotografen lauern; findige Fotografen, die mit den Fotos Schlüsselanhänger herstellen; jene Foto-Schlüsselanhänger, die eines Tages in der Schublade einer Kommode landen und die niemand vermisst, obwohl der Kauf des Anhängers ein Moment der Nähe in einem brüchigen Familiengefüge gewesen ist.
»Ein schönes Bild«, sagt der Fotograf, als er die Kamera sinken lässt. Er gibt dem Mann einen Abhol-Zettel mit einer Nummer darauf in die Hand. Nach dem Besuch von Afrika und Asien betritt die Familie die Holzhütte, in der das Fotogeschäft untergebracht ist, und die beiden Erwachsenen sehen sich das Foto an, das nach Eingabe der Abholnummer auf einem großen Bildschirm erscheint, und sie sehen, was Stella später sehen wird, als sie vor der Oldenburger Kommode auf dem Boden im Flur kniet: ein Ehepaar, teuer, aber praktisch gekleidet, und einen Jungen, vielleicht vier Jahre alt, in einer grünen Regenjacke, die Hand seiner Mutter haltend. Beim Anblick des Bildes ruft die Mutter: »Wir sehen grauenhaft aus!«
Der Junge reckt den Kopf, und sein Vater hebt ihn hoch, damit er sich das Foto ansehen kann.
»Magst du das Bild?«, fragt er ihn.
Der Junge nickt und sein Vater fragt weiter: »Sieht Mama grauenhaft aus?« Der Junge schüttelt ernsthaft den Kopf, so ernsthaft und energisch wie es nur Vierjährige können. Seine Mutter lächelt und gibt dem Jungen einen Kuss, und ihr Mann bestellt und kauft einen Foto-Schlüsselanhänger.
Als Erinnerung.
Stella legte den Schlüsselanhänger in die Schlüsselschale und öffnete die dritte Schublade. Die dritte Schublade war die Schublade, die niemand mehr aufräumte. Straßenkreide in einer eingedellten Plastikbox, Sonnenbrillen, eine Hundeleine, halbleere Taschentuchpackungen, Warnwesten, eine DVD von Philipps Zirkusauftritt in der Grundschule, ein Ladekabel, ein Eiskratzer, ein Gemeindebrief von 2014, ein Plastikfisch, ein SPD-Fahrradsattel-Überzug, eine Taschenlampe ohne Batterien, ein Matchbox-Auto, ein Kronkorken, eine leere Röhre Smarties, eine Handyhülle, ein Schuhanzieher, ein Frisbee, eine Krawatte, ein Kondom, drei Ikea-Bleistifte, Reste von Sand und ein abgestempeltes Viererticket, ein Kassenbon, eine Ein-Kilo-Hantel, ein Thera-Band, ein Gästehandtuch mit Werbeaufdruck, eine halbleere Tube Sonnencreme. Stella wühlte sich durch dieses Sammelsurium und spürte schmerzhaft, dass sie in die DNA einer Familie eingedrungen war. Sie setzte sich auf den Genter Teppich und traf eine Entscheidung, die genauso ein Ende markieren würde wie einen Anfang.
In der Straßenbahn roch es nach Pisse. Philipp verbarg seine Nase im Kragen seiner Jacke. Er hatte Kopfschmerzen und schwierige Hausaufgaben in Französisch auf. Müde lehnte er die Stirn an die Scheibe. Es regnete, etwas Schnee mischte sich darunter, und in den Windböen sah es aus, als hingen Perlen an unsichtbaren Fäden. Inzwischen hatte er über hundert ungelesene Nachrichten auf dem Handy. Die Gruppen planten das Wochenende, sie planten den Abi-Ball, sie tauschten erste Ergebnisse der Mathe-Übungsaufgaben aus. Nichts davon interessierte ihn. Lorenz wollte später noch in die Stadt und Comics kaufen, aber Philipp stand nicht der Sinn danach. Er wollte schlafen, die Augen schließen, Ruhe. Jedoch, als er zur Tür hereinkam, empfing ihn Staubsaugergebrumm. Es war Donnerstag und Frau Bormann, die Putzfrau, war da. Er durfte sie nicht mehr »die Putzfrau« nennen. Sein Vater sagte, er solle sie »Frau Bormann« nennen, und es heiße »Reinigungskraft«, was ein merkwürdiges Wort war, weil es klang, als sei Frau Bormann eine identitätslose Supermacht und nicht eine Dame, Mitte fünfzig, die einmal in der Woche zum Putzen ins Haus kam. Eine Zeitlang hatte Philipp, in einer Art sprachlichem Doppelleben, »Putzfrau« und »meine Stiefmutter« gesagt, wenn sein Vater nicht dabei war, in Lothars Anwesenheit dagegen »Frau Bormann« und »Stella«. Mit seinem Vater zu diskutieren, hatte keinen Zweck.
Philipp untersuchte den Kühlschrank auf Essbares. Er fand ein Stück Lasagne auf einem Teller, mit Klarsichtfolie abgedeckt, und war überrascht. Frau Bormann sah um die Ecke.
»Für dich«, sagte sie.
»Haben Sie das extra für mich mitgebracht?«
»Ich dachte, du hast Hunger.«
Er hatte Hunger. Als die Lasagne in der Mikrowelle war, wusch er sich die Hände, goss sich ein Glas Wasser ein. Frau Bormann saugte weiter den Flur. Dass sie ihm Essen mitbrachte, war neu. Vielleicht glaubte sie, er brauche Unterstützung, vielleicht fand sie ihn auch schlichtweg zu dünn. Dick war er tatsächlich nicht, und seitdem er nicht mehr Handball spielte: ein Lauch. Lothar spielte noch Handball, einmal die Woche, und er wurde nie müde zu betonen, wie schade es sei, dass Philipp sein Talent vergeude. Die Wahrheit war: Philipp hatte nie irgendein besonderes Talent fürs Handball-Spielen gehabt. Dass Lothar es dennoch behauptete, war dem Versuch geschuldet, ihn hintenherum zu erziehen, durch ein Lob, das sich auf Erfolge bezog, die Philipp möglicherweise erzielen würde, wenn er sich dem Willen seines Vaters beugte. Lothar war in dem, was er wollte und verlangte, mitunter widersprüchlich. Als Philipp in die Oberstufe kam, ordnete er an, er solle sich ab sofort ausschließlich (!) auf die Schule konzentrieren. Doch brachte Philipp diese seine Forderung in einer der endlosen Diskussionen über Handball vor, sagte Lothar: »So habe ich das nicht gemeint, Philipp. Ich hab nie gesagt, du sollst mit dem Handball aufhören.« Faktisch hatte er genau das getan. Lothar war einer der Väter, die noch immer zu den Elternsprechtagen gingen. Philipp hatte Glück, dass die Lehrer ihn mochten. Mit Ausnahme seines Mathelehrers. Aber der mochte niemanden. Nicht einmal Amaya, obwohl die eine Mathe-Granate war. Lorenz sagte: »Genau deswegen mag er sie nicht.«
Die Lasagne war heiß und schmeckte nach etwas mit Liebe Selbstgekochtem. Frau Bormann war inzwischen dazu übergegangen, die Bäder zu putzen. Philipp hörte, wie sie den Klodeckel hochklappte und Badreiniger versprühte. Er stellte den Teller in die Spülmaschine, räumte das Besteck ein und nahm sich eine Cola aus dem Kühlschrank. Auf dem Weg steckte er den Kopf ins Badezimmer. Frau Bormann blickte ihn durch die Glastür der Dusche an, die sie polierte.
»Danke«, sagte Philipp, »war lecker.«
Er ging nach oben in sein Zimmer, stellte die Cola auf dem Schreibtisch ab, ließ den Rucksack auf den Boden fallen und sich selbst auf seinen Schreibtischstuhl. Er nahm sein iPad in die Hand, checkte die Mails, las sie aber nicht. Französisch.
Das waren keine Hausaufgaben, die er auf die leichte Schulter nehmen konnte. Sie waren sein Schicksal. Flaubert. »Madame Bovary«. Laut Lehrplan hätten sie es nur in Ausschnitten lesen müssen. Aber sie waren Sklaven ihrer Französischlehrerin, und die hatte darauf bestanden, dass »man den Kern nur begreift, wenn man das ganze Werk liest«. Philipp verbrachte mehr Zeit mit Emma Bovary als mit Lorenz. Und das sollte etwas heißen.
Als er das Auto seines Vaters in der Auffahrt hörte, war er noch lange nicht fertig mit seinen Aufgaben. Er blickte aus dem Fenster und sah Lothar aussteigen. Es war sein Handballabend, er würde nicht lange zu Hause bleiben. Frau Bormann war seit einer halben Stunde weg, sie hatte die Spülmaschine angestellt und den Teller von der Lasagne mitgenommen. Es war ruhig geworden. Mit Lothar kam Bewegung ins Haus. Die Haustür öffnete und schloss sich, ein Windstoß ging durch den unteren Flur, drückte die Luft nach oben, eine Tür fiel zu. Der Schlüssel klatschte in die Schlüsselschale. Dann Schritte auf der Treppe. Philipp zählte bis zehn. Die Tür ging auf. Lothar hatte seine Jacke noch an.
»Komm mal runter!«, sagte er.
»Ich mache Hausaufgaben«, sagte Philipp.
»Die kannst du später zu Ende machen.«
Seufzend stand Philipp auf, legte den Stift hin, folgte ihm nach unten. Lothars Aufforderung hing noch in der Luft, seine Jacke lag jetzt über der Sofalehne. Er selbst stand an der Anrichte und bediente die Kaffeemaschine. Philipp setzte sich in einen Sessel und wartete, bis sein Vater mit seinem Gebet fertig war. Die Siebträgermaschine war sein Marterl.
»Ich hatte heute morgen einen Anruf von der Polizei«, sagte Lothar. Er kippte Zucker in den heißen Espresso und rührte. Philipp schoss der Gedanke an die entdeckte Bong durch den Kopf, aber er merkte selbst, dass das Unsinn war. Sie sahen sich an, Vater und Sohn, Aug in Auge.
»Sie suchen deine Mutter«, sagte Lothar.
Das war ein seltsames Wort: Mutter. Es kam daher wie etwas mit Liebe Selbstgekochtes, auf einem Teller, abgedeckt mit Frischhaltefolie.
»Warum?«, fragte Philipp.
»Weil sie ausgeflogen ist«, seufzte Lothar. »Sie war drei Tage nicht bei der Arbeit, ihr Chef hat die Polizei alarmiert. Die Polizei hat ihr Auto gefunden.«
»Wo?«
»In Traunreut.«
»Wo ist das?«
»In Oberbayern. In der Nähe vom Chiemsee.«
Lothar stellte die Tasse auf die Anrichte, kam zum Sofa rüber und setzte sich.
»Also ist sie am Chiemsee?«
»Das wissen sie noch nicht. Das Auto war nicht abgeschlossen.«
»Und wo warst du heute morgen?«
»Bei der Polizei. Sie haben mir Bilder gezeigt.«
»Was für Bilder?«
»Von ihrem Auto. Und von ein paar Sachen, die im Auto waren.«
»Was für Sachen?«
»Ein Fotoalbum. Sie hat ein Fotoalbum mitgenommen. Da sind Bilder von dir drin, als du klein warst.«
»Und was heißt das?«
»Das heißt erstmal gar nichts. Sie wollten nur die Bestätigung, dass das wirklich Bilder von ihrem Sohn sind.«
»Ich hab noch Französisch-Hausaufgaben.«
»Geh, mach deine Aufgaben! Ich will dich nicht aufhalten.«
Philipp stand auf. Frau Bormann hatte die Fenster geputzt. Sie musste exakt jene halbe Stunde abgepasst haben, in der es an diesem Tag nicht geschneeregnet hatte. So blitzeblank waren die Fenster, dass der Schneematsch daran hinabglitt wie ein Curling-Stein über blankes Eis.
Der Skiurlaub, den sich Stella laut Lothar so gewünscht hatte, war kein Skiurlaub gewesen, der eigens für Stella aus der Taufe gehoben worden war. Insofern waren die Vorwürfe, die Lothar ihr wegen der verlorenen Handschuhe gemacht hatte, noch selbstgerechter, als sie ohnehin schon erschienen. In den Skiurlaub fuhren Lothar und Philipp seit jeher mit Jochen und Maria und deren Sohn Jonathan. Lothar nannte Jochen und Maria seine ältesten Freunde. Sie lebten in Frankfurt am Main. Maria arbeitete bei einer Bank, Jochen war Kriminalkommissar, Jonathan war ein Geschoss. Einmal brach er sich direkt am ersten Tag den Arm, einmal das Schlüsselbein. Philipp kam gut mit Jonathan klar, auf der Piste hatten sie das gleiche Tempo und im Hotel teilten sie sich ein Zimmer. Sie schliefen bei laufendem Fernseher ein und bunkerten Süßigkeiten im Kleiderschrank, später Alkohol auf dem Balkon. Als Stella zum ersten Mal mit nach Südtirol reiste, war Philipp dreizehn und Jonathan vierzehn. Wenn man sie morgens weckte, lagen sie tief unter ihren Decken vergraben, aber eine halbe Stunde später saßen sie ungeduldig in Skiklamotten beim Frühstück und warteten darauf, dass die Erwachsenen endlich die Tassen abstellten. Stella kam mit diesem Rhythmus nicht besonders gut zurecht. Sie brauchte zu lange im Bad, um sich vor dem Frühstück noch Skisachen anziehen zu können, und nach dem Frühstück dauerte es ewig, bis sie in die Skiunterwäsche und ihren mauvefarbenen Skianzug gestiegen war. Sie warteten dann alle unten: Jochen, Maria, Jonathan, Philipp und Lothar, Letzterer meist etwas abseits, mit dem Telefon am Ohr. Wenn Stella endlich erschien, marschierten sie los, die Straße rauf, zur Seilbahn. Lothar trug ihre Skier. Auf der Piste fiel Stella auf den Hintern und quietschte, und Lothar schien es toll zu finden, denn er brachte den lieben langen Tag damit zu, ihr wieder aufzuhelfen. Philipp fuhr unterdessen mit Jonathan und seiner Familie Buckelpiste und Talabfahrt. Ab mittags fand man Stella auf der Hütte. Sie lag in einem Liegestuhl und bewegte sich nicht mehr, außer wenn sie ihre Hand nach dem Weinglas ausstreckte, das Lothar neben ihr auf einem Tischchen platziert hatte. Wenn man Glück hatte, kam Lothar jetzt noch einmal mit auf die Piste, ohne den Quietschbeutel. Lothar fuhr gern schnell und suchte immer jemanden für ein Rennen. Philipp verweigerte sich, deshalb fuhr er mit Jochen um die Wette und gewann. Abends war er happy, und nach zwei Gläsern Wein beim Abendessen lobte er Stellas Fortschritte.
»Was denn für Fortschritte?«, flüsterte Jonathan Philipp zu.
Am gleichen Abend hörte Philipp sie dann doch beim Sex. Er ging über den Flur zu seinem Zimmer und da war dieses dunkle Raunen, als käme alles Grauen der Welt aus den Mauerritzen. Sein Vater bestieg seine Stiefmutter. Und sie quietschte, wie auf der Piste, wenn sie auf den Hintern fiel, nur langgezogener. Ihr Orgasmus war ein sehr langes Auf-den-Hintern-Fallen.
Lorenz schrieb und fragte, ob sie sich auf dem Friedhof träfen, doch Philipp war noch immer mit »Madame Bovary« beschäftigt. Immerhin, es war die letzte Aufgabe: »Stellen Sie in einem inneren Monolog dar, was der Tuchhändler Lheureux über Emma denkt.« Nun, dachte Philipp, vermutlich das Gleiche wie Lorenz, wenn Siebtklässler zu ihm kamen und Gras kaufen wollten: »Prima Kundschaft.«
Man kann Leute, die etwas kaufen, nicht weil sie es brauchen, sondern weil sie etwas sein oder nicht sein wollen, hervorragend ausnehmen. Emma. Stella. Die Siebtklässler. Also eigentlich fast jeden.
Philipp kaute an seinem Bleistift. Er gab sich Mühe mit der Aufgabe, er wollte es nicht verkacken bei seiner Französischlehrerin. Sie hielt ihn für fähig, das sollte so bleiben. Es war leichter, eine Note zu halten, als sie sich zu erarbeiten, und in Französisch stand er immer Eins oder Zwei. Und so sagte er Lorenz ab und schrieb an seiner Aufgabe.
Wenn er mit Mascha im Bett lag, sagte sie aus dem Nichts heraus manchmal Dinge, die ihr durch den Kopf gingen.
Einmal sagte sie: »Man kann nicht jemanden lieben, den man nicht kennt.« Aber Philipp meinte, dass es vielleicht sogar einfacher sei, jemanden zu lieben, den man nicht kennt. Denn man konnte ihm weder seine schlechten Eigenschaften vorhalten, noch sich in Erwartungen enttäuscht sehen.
Mascha sagte: »Was weißt du schon von Liebe?«
Und das war, im Wesentlichen, ihre ganze Haltung ihm gegenüber. Manchmal dachte er, dass es mit Lisa einfacher gewesen wäre. Mit jemandem, der in den gleichen WhatsApp-Gruppen war wie er, der in der gleichen Nachrichtenflut über den Abi-Ball und die Partys am Wochenende ertrank, jemandem, der wie er mit seinen Eltern streiten und sie dann und wann belügen musste, jemandem, der wie er nur illegal harten Alkohol kaufen konnte, jemandem, der auch noch nicht wusste, was er mal werden wollte. Er hatte mit Lisa geknutscht, auf einer Party, und Lisa zog danach alle Register: Eis essen, Kirmes, Kino, Kletterhalle. Und Lisa konnte nicht mal klettern. Sie sah aus wie ein Käfer, der die Wand hochkrabbeln will, aber von der Schwerkraft aufgehalten wird. Und weil sie schon nicht klettern konnte, beeindruckte sie ihn stattdessen mit ihren Narben und Traumata, und sie saßen auf der Matte und bekamen einen entsetzlich kalten Hintern. Philipp hatte sich auf seine Arme gestützt und hörte zu – das war seine Macke, er musste immer allen zuhören –, als Lisas Blick plötzlich ganz eisig wurde. Philipp drehte den Kopf. Eine Gruppe Studenten war gekommen: Einer in einer pinken Kletterhose, einer mit Tattoos auf beiden Armen, einer im Adidas-Shirt, einer mit einem Bandana und zwei Frauen, beide schlank und hübsch. Und dann war eine dabei, die einen absurd kurzen Pony hatte, nur bis zur Hälfte der Stirn reichend, und sie hob die Hand und winkte.
»Das ist meine Schwester«, sagte Lisa.
Philipp saß immer noch so da, mit aufgestützten Armen, und Lisa wirkte so, als wäre sie am liebsten aufgestanden und nach Hause gegangen.
»Magst du sie nicht?«, fragte er.
»Wer mag schon seine Schwester?«, fragte Lisa.
Sie, die ungeliebte Schwester, als sie ihre Schuhe, ihre Jacke und ihren Pullover ausgezogen hatte, kam zu ihnen auf die Matte. Sie trug ein Ramones-Shirt zu einer Indio-Hose und hielt ihre Kletterschuhe in der Hand.
»Na Floh?«, sagte sie zu Lisa.
Philipp kam überhaupt nicht auf ihren Pony klar, und noch weniger auf die hellhimmelblauen Augen, mit denen sie ihn ansah.
»Wer bist’n du?«, fragte sie.
»Das ist Philipp«, sagte Lisa.
»Kann Philipp nicht sprechen?«
»Doch«, sagte Philipp, »Philipp kann sprechen.«
»Na, was für ein Glück«, sagte sie.
Er mochte und verabscheute sie gleichermaßen. Ein Teil von ihm wollte Lisa vor ihr beschützen, ein anderer ihren schmalen Körper unter sich begraben. Er beobachtete sie, die große, schmale Schwester, wenn Lisa gerade wie ein Käfer an der Wand hing und es nicht mitbekam. Dieser Pony! Zum Verrücktwerden. Kein Mensch, der halbwegs bei Verstand war, ließ sich so einen Pony schneiden. Dieser Pony schrie einem ins Gesicht: Ja, guck ruhig! Ich bin anders! Anders! Anders!
Als sie aufbrechen wollten, goss es draußen. Da stand Mascha auf einmal neben ihnen. Sie hatte ihren Pullover wieder angezogen und ihre Jacke, darüber trug sie einen dicken Wollschal.
»Ich fahr euch«, sagte sie.
Es gab nie eine Frage.
Abends kam der Gedanke zurück wie ein Bumerang. Wie Lothars Vorwürfe gegenüber Stella. Wie alles, was man wegschleudert, weil es einen zutiefst betrifft.
Sie suchten seine Mutter.
Es war nicht das erste Mal. Es würde nicht das letzte Mal bleiben. Seine Mutter war ein Geist. Und Geister rufst du oder sie suchen dich heim, aber am Ende bist du immer über Gebühr damit beschäftigt, sie wieder loszuwerden. Lothar war vom Sport zurück und hörte im Wohnzimmer eine seiner Platten. Philipp hätte hinuntergehen können, zu seinem Vater, er hätte sich aufs Sofa setzen können und sagen, dass es ihn beunruhigte, dass sie seine Mutter suchten. Er hätte sagen können: »Ich denke andauernd darüber nach, ob sie sie finden.« Er hätte sagen können: »Ich habe Angst, dass sie hier auftaucht.« Doch welcher Sohn führt so ein Gespräch mit seinem Vater? Neulich, als sie in der Pause eine Tüte Nachos aßen, hatte Merle, Janniks Freundin, gefragt: »Warum denken Eltern immer, dass es hilft, wenn man ihnen alles erzählt?« Und da hatte Philipp noch gemeint, reden sei ganz gut, um einfach irgendwie klarzukriegen, was einen eigentlich so zerfrisst. Und das war auch seine Überzeugung. Aber Lothar konnte er nicht sagen, was ihn zerfraß, weil die Worte fehlten, weil Lothar sie, selbst wenn Philipp sie fände, nicht gelten lassen würde, genauso wie er Stellas Versuche, sich zu erklären, nicht gelten ließ. Lothar würde darüber hinweggehen, er würde ihm Ratschläge erteilen oder einfach mitten im Gespräch aufgeben. Er würde aufstehen und sich ein Glas Wein nachschenken oder die Platte umdrehen. Und dann würde er etwas sagen, das mit dem Thema nichts mehr zu tun hatte.
Deine Kontokarte liegt schon seit zwei Wochen im Auto. Brauchst du die nicht?
Am Samstag kommen Fischers zum Abendessen.
Hast du dich um Fahrstunden gekümmert?
Und selbst wenn Lothar das alles nicht sagen würde, selbst wenn er einmal wirklich zuhören würde, ganz still, bis zum Ende, wenn er einmal nichts kommentieren, nichts richtig oder in Frage stellen würde, dann würde Philipp am Ende trotzdem nicht verstanden sein, sondern ausgestellt. Ein Sohn, der sich seinem Vater anvertraut, und ein Vater, der Vertrauen nicht einwechseln kann – sie beide wären eine traurige Figurenkonstellation, beinahe noch schlimmer als Emma und Charles Bovary.
Er ging nicht hinunter.
Er lag im Bett und dachte an seine Mutter, daran, ob die Polizei sie finden würde. Er hoffte, sie würden sie finden. Er hoffte, sie würden sie zurückbringen in ihre Wohnung. Er hoffte, sie würde dort bleiben. Doch er ahnte, dass seine Hoffnungen haltlos waren, und dass seine Mutter, wie es mit Geistern so ist, ihn früher oder später heimsuchen würde.
Stella frühstückte. Von Lothar keine Spur. Schweigend ging Philipp zum Kühlschrank und goss sich ein Glas O-Saft ein. Er spürte, dass sie ihn beobachtete. Dabei kaute sie auf ihrem Müsli herum wie ein Pferd. Er hatte keine Ahnung von Pferden, aber so stellte er sich ein Pferd vor, das auf Müsli herumkaut, wie Stella, wenn sie am Frühstückstisch saß und ihren Kiefer von links nach rechts schob. Das Müsli ließ sie sich irgendwo mischen, ein sehr biodynamisches Müsli war es, das sie da tagtäglich kaute. Unverzichtbar. Sogar in den Urlaub mussten sie das Zeug mitschleppen, weil Madame nicht wie jeder normale Idiot ein Croissant essen konnte.
»Sagst du nicht Guten Morgen?«
»Guten Morgen!«
Er nahm einen Schluck Saft und sah sie an. Sie sah schlecht aus.
»Ich hab in Lothars Ordnern rumgeschnüffelt«, ließ sie ihn wissen. Ihr Löffel baumelte über dem Müsli, während sie sprach.
»Und?«, fragte Philipp. »Hast du was gefunden, das du verstanden hast?«
»Du bist manchmal genauso ein Arschloch wie dein Vater.«
Er trank den Saft aus und griff nach seinem Rucksack. Es war keine Konversation, die sich lohnte.
Stella fragte: »Kennst du eigentlich ihre Diagnose?«
Sie hatte den Löffel aufgerichtet und betrachtete ihr Gesicht auf der konvexen Seite des Spiegels.
»Wenn sie mich interessieren würde«, meinte Philipp, »könnte ich ja auch in Lothars Ordnern rumschnüffeln.«
Sie knallte den Löffel auf den Tisch.
»Sitz du nur weiter auf deinem hohen Ross! Ich scheiß auf dich, ernsthaft.«
So war sie, wenn sie am Vorabend eine Flasche Wein reingekippt hatte. Er ließ sie stehen. Oder richtiger: sitzen. Vor ihrem Pferde-Müsli, in dem eine getrocknete Himbeere langsam ihre Farbe an die Milch verlor.
Die ersten beiden Stunden fielen aus, weil Frau Kus fehlte. Sie fehlte ständig. Bilal traute ihr schon lange nicht mehr über den Weg und war vorsorglich zu Hause geblieben. Lorenz machte aus Solidarität Englisch blau, und sie gingen auf den Friedhof, um auf dem Mäuerchen Gras zu rauchen und sich den Hintern abzufrieren.
»Was ist los mit dir?«, fragte Lorenz.
»Was soll los sein?«, fragte Philipp zurück.
»Du bist nicht gut drauf.«
»Ich bin nie gut drauf.«
Philipp rollte den Joint zwischen seinen Fingern hin und her, Lorenz übte nebenbei Englisch-Vokabeln auf seinem Handy. Die Luft war feucht und schwer, der Boden roch nach Erde und Fäulnis. In der Nähe kehrte ein einsamer Friedhofsgärtner Laub zusammen. Philipp fiel die Zeile eines Kinderliedes ein: »Hörst du die Regenwürmer husten, wenn sie durchs dunkle Erdreich ziehen?«
Und er grübelte darüber nach, warum er sich gerade jetzt daran erinnerte. Und dann kam ihm die Erkenntnis! Der einsame Gärtner dachte auch an das Lied! Sie waren eins. Sie waren ineinander verzahnt. Er war der Friedhofsgärtner, und der Friedhofsgärtner war er. Er dachte an das Lied vom Regenwurm und an Gummistiefel und an Sankt Martin und an den Geruch von Wachsmalstiften, und er war melancholisch dabei und trauerte seiner Kindheit nach. Alles ist gleich wahr. Alles ist wirklich. Philipp fühlte sich weniger einsam bei diesem Gedanken.
»Das stimmt so nicht«, sagte Lorenz.
»Was stimmt nicht?«
»Früher warst du voll der happy Keks.«
»Wann ist denn früher?«
»Als wir noch nicht in der Oberstufe waren.«
»Ich war schüchtern.«
»Ja, schüchtern«, sagte Lorenz, »aber ein happy Keks.«
Auf dem Weg zurück pinkelte Lorenz an einen Stromkasten. Auf den Friedhof zu pinkeln, fand er unanständig, und Philipp war froh, dass er ihn diesbezüglich nicht erziehen musste. Erziehungsresistent wie Lorenz nun einmal war, wäre Philipp mit großer Sicherheit an dieser Aufgabe gescheitert und hätte doch nie aufhören können, es zu versuchen, weil es eben unanständig war, auf den Friedhof zu pinkeln.
»Du bist voll blass«, sagte Lorenz, als er sich vom Stromkasten löste und zu Philipp zurückkehrte.
»Mir ist ein bisschen schlecht.«
»Du musst morgens was frühstücken!«, schimpfte Lorenz. »Du rockst deinen Blutzuckerspiegel komplett runter mit deinem Idioten-Essverhalten!«
Philipp war sich nicht sicher, ob nicht zu frühstücken wirklich das Idiotischste gewesen war, was er an diesem Morgen gemacht hatte. Artig nahm er das Butterbrot entgegen, das Lorenz ihm in die Hand drückte. Seine Mutter, die Friseurmeisterin, war die Königin der Schulbrote. Es war Käse auf dem Butterbrot, und es war die Art Käse, die einen durch die Zeiten trägt, während Regenwurmlieder, Gummistiefel und Wachsmalstifte nur einen Augenblick lang bleiben.
Die Übelkeit verging, der Schwindel blieb. Er wollte die Treppen zum Bio-Raum hochsteigen, als jemand seinen Namen rief. Philipp erschrak, dachte an die entdeckte Bong und dass man ihm ganz sicher ansah, dass er gekifft hatte. Aber seine Sorgen waren unberechtigt, denn Herr Brinker stand vor ihm. Herr Brinker merkte gar nichts.
»Sag mal, Philipp, du spielst doch Klavier, oder?«
»Ich hab früher mal gespielt.«
»Früher? Wie lange ist das her? Zwei Jahre? ›Früher‹ ist eine Vokabel für Leute wie mich, Philipp, bei dir gibt es überhaupt kein früher.«
»Wenn Sie das sagen.«
»Also kriegst du das noch auf die Kette, oder nicht? Sonst muss ich Clara fragen.«
»Was denn überhaupt?«
»Die brauchen für die Theater-AG einen, der Klavier spielt.«
»Fragen Sie besser Clara!«
»Clara kann aber nicht improvisieren, die kann nur vom Blatt spielen.«
Herr Brinker war einer von den Guten. Man konnte ihm schlecht eine Bitte abschlagen. Dabei war es nicht einmal eine Bitte. Herr Brinker schuf Fakten.
»Die treffen sich dienstags in der achten und neunten. Hast du da frei?«
»Ja, da hab ich frei.«
»Ja top, dann sage ich Frau Nienhaus, dass du kommst.«
»Frau Nienhaus leitet das?«
»Zusammen mit Frau Töpfer.«
»Wer ist Frau Töpfer?«
»Eine Referendarin. Wird dir gefallen. Ist ne Nette.«
Er war im Begriff zu verschwinden.
»Was spielen die denn?«, rief Philipp ihm hinterher. Brinker blieb abrupt stehen und eine Fünftklässlerin fuhr von hinten unsanft auf, prallte an Brinker ab und stürzte beinahe die restlichen Stufen hinunter. Brinker hob die Arme zu einer allumfassenden Geste.
»Keine Ahnung«, rief er zurück. »Wirst du sehen.«
Philipp seufzte und schleppte sich die Treppen zum Bio-Raum hinauf. Lisa stand da mit zwei Freundinnen. Sie grüßte ihn nicht und würdigte ihn keines Blickes. Er konnte das verstehen. Er hätte es genauso gemacht. Sie waren sich einmal im Hausflur begegnet, als er Mascha verließ und nach Hause ging und Lisa nach einem Streit mit ihren Eltern zu Mascha kam, um bei ihr zu übernachten. Seitdem schwieg sie. Eisern. Es schien, als habe sie niemandem davon erzählt, was sie wusste. Er war ihr dankbar dafür, wusste aber auch, dass sie sich selbst vor der Schmach schützte und nicht ihn.
Im Bio-Unterricht knallte das Gras wieder rein und er dachte ununterbrochen an den Sex mit Mascha. Er war, wie ihr Pony versprach: Anders! Anders! Anders! Er konnte ihn mit nichts, das er zuvor erlebt hatte, vergleichen. Man verglich ja auch nicht Chopin mit Backofenpommes. Und beides war geil. Philipp freute sich über diese Einsicht.
Frau Köhler sprach mit ihm.
»Philipp, sag uns, was du über Backofenpommes denkst!«
»Backofenpommes sind geil, weil man an sie gar nicht erst die Erwartung hat, dass sie schmecken wie richtige Pommes.«
»Meinst du nicht, dass du dich unter Wert verkaufst, wenn du nie etwas erwartest?«
»Nein, ich verkaufe höchstens die Anderen unter Wert.«
»Wer sind die Anderen?«
»Ja, die Pommes zum Beispiel.«
»Warum vergleichst du die Frau, mit der du Sex hast, mit Backofenpommes?«
»Tue ich nicht. Der Vergleich wäre nicht fair.«
»Welcher Vergleich?«
»Backofenpommes versus Chopin.«
»Das ist ja auch überhaupt nicht das Gleiche.«
»Eben.«
»Wer in diesem Vergleich ist denn Chopin?«
»Kira ist Chopin.«
»Wer ist Kira?«
»Kira war meine erste Freundin, also die erste, mit der ich Sex hatte.«
»Und wie kommst du darauf, sie mit Chopin zu vergleichen?«
»Haben Sie schon mal Chopin gehört?«
»Nein, nicht bewusst.«
»Dann machen Sie das mal!«
»Gut, von mir aus. Aber du widersprichst dir selbst, wenn du mir meine Frage nicht beantwortest. Du willst Chopin nicht mit Backofenpommes vergleichen, aber du vergleichst Kira mit Chopin und die Frau, mit der du jetzt schläfst, mit Backofenpommes, korrekt?«
»Es gefällt mir, dass Sie mir zuhören, Frau Köhler.«
»Ich habe schon einmal Backofenpommes gegessen, Philipp.«
»Und wie fanden Sie es?«
»Matschig.«
Er war getroffen. Der Himmel verdüsterte sich. Lisa hustete hinter ihm.
»Philipp«, sagte Frau Köhler, »schlaf bitte in Mathe oder von mir aus in Französisch, aber nicht in meinem Bio-Unterricht!«
Er hob den Kopf.
»Entschuldigung«, sagte er, und meinte es so.
Merle stellte ihn. Sie sagte nichts. Sie sah ihm nur in die Augen. Er fühlte sich bewogen, sich zu rechtfertigen.
»Wir hatten die ersten beiden frei«, sagte er.
Es war Pause. Schüler strömten an ihnen vorbei wie Wasser, das bei Regen vom Berg ins Tal fließt.
»Wer ist wir?«
»Jannik war nicht dabei.«
»Ich weiß, dass Jannik nicht dabei war«, sagte Merle. »Um den geht es auch gar nicht. Was ist los mit dir, Philipp?«
»Nichts«, sagte er.
»Ist es wegen Lisa?«, fragte sie.
»Was? Nein!«
»Ihr redet nicht mehr miteinander, oder?«
»Nein, aber das ist okay.«
»Was ist es dann?«
»Ey Merle, die Pause ist gleich rum. Ich will mir noch ein Snickers kaufen.«
»Ich komme mit«, entschied sie.