Nordstadt - Annika Büsing - E-Book

Nordstadt E-Book

Annika Büsing

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Beschreibung

Im Norden der Stadt hängen die Hoffnungen so tief wie der Novemberhimmel. Wer hier liebt, rechnet nicht mit einem Happy End. Schon gar nicht Nene, Anfang Zwanzig und Bademeisterin, die für das Unglück eine ganz eigene Maßeinheit hat. Ihre Überlebensstrategie: Bahnen ziehen, versuchen zu vergessen, pragmatisch sein. Dann lernt sie im Schwimmbad Boris kennen, der Puma-Augen hat und ihr nicht sofort an die Wäsche will. Boris, der an Kinderlähmung erkrankt war, für den es keine Jobs gibt, nur Schimpfwörter oder Mitleid. Der Schmerzen hat und die Welt mit Verachtung behandelt. Ihr erstes Date wird prompt zum Debakel, aber Nene zeckt sich in Boris’ Herz, und er sich in ihres. Er kapituliert vor ihrer Direktheit und ihrem Lebenswillen, sie vor seinem Entschluss, sein Mädchen glücklich zu machen. Boris wird für Nene die Geschichtsschreibung ändern, er wird sie anlügen, er wird sie hängenlassen. Ihre Liebe ist wie jede Liebe: nicht perfekt. Aber sie berührt beide auf eine Weise, die sie vergessen oder nie gekannt haben. Annika Büsing erzählt in ihrem Debüt eine herzzerreißende und gleichzeitig berauschend lebensbejahende Geschichte über alte Narben und den Mut, neue hinzuzufügen.

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Annika Büsing

NORDSTADT

Roman Steidl

In diesem Roman finden sich Beschreibungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt.

Eins

»Ich liebe dich«, sage ich.

Dicke Schneeflocken fallen auf uns herab, bleiben in seiner Mütze hängen, verfangen sich in seinen Wimpern oder gehen gelassen zu Boden. Wir haben das Frühjahr zusammen verbracht und den Sommer. Im Herbst habe ich ihn verloren. Oder er mich. Vielleicht war es auch weniger dramatisch und wir hatten beide zu tun und ich habe aufgehört, seine Nachrichten zu beantworten. Ich friere entsetzlich, denn ich habe keine Jacke mitgenommen, als ich nach draußen gestürmt bin. Er dagegen ist eingepackt, als wolle er nach Sibirien auswandern.

»Wird das den Winter überdauern?«

Ich finde die Frage pathetisch. Und herzlos. Wie kann man gleichzeitig pathetisch und herzlos sein? Geht das überhaupt? Es ist friedlich hier draußen. Drinnen trinken sie Kaffee und essen Brötchen und Kuchen auf. Wir machen uns nichts aus Kuchen und wir haben sowieso nichts zu verlieren. Nicht, weil das nichts ist, sondern weil es alles ist, weil es die Welt bedeckt wie der Schnee, der vom Himmel fällt. Ich weiß, warum er so ist. Er will nicht, dass ich ihm zu nahe komme. Vieles kommt ihm zu nahe: das Licht, Termine am Anfang des Monats, die Rechnungen, die ins Haus flattern, der Radiosprecher, die Hinweise auf Zigarettenpackungen, dass man vom Rauchen sterben kann. Einmal hat er mich gefragt: Warum kleben die sowas nicht auf Wasserflaschen, auf Toastpackungen, aufs Klopapier? Warum steht da nicht: Das Leben kann zum Tod führen?

Ich will erzählen, wie ich ihn getroffen habe. Ich habe ihn im Schwimmbad getroffen. Bei meiner Arbeit. Ich bin Bademeisterin in einem Schwimmbad. Das Schwimmbad liegt am Stadtrand, an dem Rand, der nicht so schön ist, das ist in meiner Stadt im Norden. Ich habe mal gelesen, dass in vielen Städten der soziale Brennpunkt im Norden liegt und nicht im Süden. Woran das liegt, stand nicht dabei.

Boris kam nachmittags in die Schwimmhalle und mir fiel auf, dass er humpelte. Vielleicht, dachte ich, ist das eine vorübergehende Humpelei, aber da irrte ich mich. Er hatte seine Tasche über der Schulter hängen und sein Gang war wie der eines alten Mannes. Eines alten, behinderten Mannes. Aber seine Augen waren wie von einem Puma. Mann, hat der Augen! Er hat Augen, die machen dich wild. Wirklich. Ganz ganz dunkel sind sie. Und wenn du in sie hineinblickst, dann weißt du, er kann Geschichten erzählen. Wilde Geschichten sind das, und du weißt nie, ob sie zur Hälfte gelogen sind. Er hatte gute Arme, kräftig, aber so wie man sie vom Kistentragen kriegt, nicht vom Fitnessstudio. Er würde niemals ein Fitnessstudio betreten, das sei unter seiner Würde, sagt er. Viele Dinge sind unter Boris’ Würde. Zum Beispiel Mitleid. Oder Cornichons. Das seien keine richtigen Gurken. Hast du schon mal richtige Gurken gesehen? Die hier sind so winzig, das können keine richtigen Gurken sein, höchstens Will-mal-Gurke-werden. So wie Kälbchen. Isst du Kalbfleisch? Ich hasse dich, wenn du Ja sagst. Du darfst kein Kalbfleisch essen. Es sind Babys. Niemand sollte Babys essen. Das leuchtet dir doch ein, oder? Wenn er so fragte, dann musste ich Ja sagen. Ich hätte mich auch querstellen und Nein sagen können, aber das wäre dumm gewesen, denn es leuchtete mir ja ein. Und irgendwann einmal habe ich jemanden sagen hören, Trotz sei das Gegenteil von wahrer Unabhängigkeit. Es könnte sein, dass das Alma war, denn Alma ist sehr klug und sie liest viel. Alma ist meine Halbschwester. Sie ist dreizehn Jahre älter als ich, und sie hat eine Wohnung im Süden der Stadt und ein Bücherregal, das überquillt, und ein weißes Sofa. Alma ist sehr hübsch, aber sie schminkt sich nie und rasiert auch ihre Beine nicht, und ich glaube, deswegen hat sie keinen Mann. Als ich Boris einmal davon erzählt habe, hat er den Kopf geschüttelt.

»Hast du nie darüber nachgedacht, dass sie vielleicht einfach gern allein ist? Oder vielleicht nur Sex mit Männern hat, aber keine Beziehung führt? Vielleicht ist sie lesbisch. Vielleicht hat sie keine Vagina, weiß der Henker was. Und du stellst bloß fest, dass sie sich nicht schminkt. Das ist wenig, mein Mädchen.«

»Ich kann nicht leiden, wenn du ›mein Mädchen‹ zu mir sagst.«

»Pech gehabt, mein Mädchen.«

Er kann eklig sein. Vor allem, wenn er einen schlechten Tag hat, und davon hat er eine Menge. Als er ins Schwimmbad kam, hatte er auch einen schlechten Tag. Er kam zu meiner Schwimmmeisterkabine und klopfte an die Scheibe, und da wusste ich schon, dass er einer ist, der schlechte Laune hat. Ich ging raus zu ihm, gerade als ein Kind quietschend vom Dreimeterbrett sprang. Frau Lübke war da, die hatte ich sehr gerne, sie trug eine Badekappe, die sehr altmodisch war, und alt war sie vielleicht auch, denn Frau Lübke war auch alt. Sie kam jeden Dienstag, deswegen weiß ich, dass ich Boris an einem Dienstag kennenlernte. Dienstags ist bei uns Warmbadetag und Frau Lübke kam dienstags, weil sie es dann angenehmer fand im Bad, obwohl das kalte Wasser ja besser für die Venen sei. Nur ihr jungen Dinger, ihr wisst ja noch nichts von den Venen! Da ist noch alles prall und fest, das kommt erst mit den Jahren, und wenn man viel gestanden hat, dann sowieso, und Frau Lübke war bei Karstadt, über zwanzig Jahre, aber das machen sie ja jetzt alles dicht. Traurig ist sowas. Frau Lübke ist letzten Monat verstorben. Das war so ungemein traurig. Wir haben eine Karte bekommen, von ihrem Sohn, er hat sich richtig Mühe gegeben und hat alles mit einem Füllfederhalter geschrieben, und meine Kollegin von der Kasse hat gesagt: »Das habe ich ja seit Jahren nicht gesehen! Einer, der mit nem Füllfederhalter schreibt! So fein war die Lübke doch gar nicht.« Ich habe erst gar nicht verstanden, wie das wohl zusammenhängt, dass man fein ist und mit einem Füllfederhalter schreibt, aber dann habe ich an Alma gedacht, und Alma schreibt auch häufig mit einem Füllfederhalter, und Alma ist ohne jeden Zweifel sehr fein. Sie hat das Feine von ihrer Mutter, nehme ich an, denn unser Vater ist nicht fein. Ich kenne keinen unfeineren Wichser als unseren Vater.

Boris trug eine schwarze Badehose und er sah mich an mit seinen Puma-Augen und fragte:

»Kann ich mir so’n Schwimmbrett leihen?«

»Die sind von der Schwimmschule.«

»Kann ich es mir leihen oder nicht?«

Ich dachte: Ach, was soll’s? Gib ihm halt ein Schwimmbrett. Meine Kollegen machen da immer einen Aufstand drum, denn oft verschwinden verliehene Sachen und tauchen nie wieder auf. Glaubt man nicht, dass Leuten der Sinn danach steht, geliehene Flossen und Schwimmbretter und Chlorbrillen verschwinden zu lassen, aber offenbar ist es so. Vielleicht wacht man morgens auf und denkt: Komm, heute klaue ich ein Schwimmbrett. Und dann geht man los und tut es. Kommen die Diebe dann mit dem Brett wieder zum Schwimmen? Das wäre so, als würde man einen Salzstreuer im Restaurant klauen und dann zurückkommen und mit dem eigenen Salzstreuer in dem beklauten Restaurant die Pommes würzen. Menschliches Verhalten ist sehr komplex und manchmal unlogisch. Das habe ich nicht von Alma, obwohl es eine Behauptung ist, die zu Alma passt, wo sie so klug ist und so fein und vielleicht eine Lesbe. Das mit Alma hat mich so beschäftigt, wiederholt beschäftigt, dass ich sie neulich gefragt habe, als ich sie besuchte. Ich frage: »Alma, bist du lesbisch?«

»Nein, bin ich nicht«, sagt sie.

Bisher hatte ich keine Gelegenheit, Boris zu sagen, dass es doch daran liegt, dass sie sich nicht die Beine rasiert. Männer sind oberflächlich. Nicht alle vielleicht, aber die, die ich hier so sehe, bestechen nicht gerade durch Tiefgang. Boris ist eine Ausnahme.

Ich gab ihm ein Schwimmbrett, und er nahm es und sagte Danke und humpelte davon. Er hat Manieren, wenn er will. Und wenn nicht, dann scheißt er auf Manieren. Er bezeichnet Leute als Schlampen und Hurensöhne, als Kanaillen und Scheißhaufen. Der Mittelfinger sitzt bei ihm ziemlich locker, wenn auch nicht so locker wie bei mir. Boris hat gemeint: »Das musst du dir mal abgewöhnen.« Aber wozu? Wenn ich wütend bin, bin ich wütend. Und meistens habe ich mich im Griff. Auf der Arbeit zum Beispiel schreie ich nie jemanden an. Ich habe, seit ich im Schwimmbad arbeite, überhaupt nur einmal geschrien. Das war, als dieser Kerl seine Tochter verwemst hat, direkt vor meinen Augen, im Gang zwischen den Kabinen und den Schließfächern. Er hat ihr ins Gesicht geschlagen und auf den Kopf, er hat sie geboxt und gegen das Schließfach geschubst. Da bin ich ausgerastet. Marlon hatte Mühe, mich zu bändigen, und Marlon hat starke Arme, wie man sie kriegt, wenn man ins Fitnessstudio geht. Er hat mich festgehalten und ich schwöre, ich hätte den Kerl getötet, hätte Marlon mich nur losgelassen. Ich hätte ihm die Augen rausgekratzt, einzeln, nacheinander, und ich hätte seinen Kopf auf die Fliesen gezimmert, bis von seiner dreckigen Fresse nichts mehr über gewesen wäre. Das Mädchen hat furchtbar geweint. Sie war fünf oder sechs und ihr Weinen tat mir so weh, dass alles in mir brannte, und ich konnte mich nicht beruhigen, bis Marlon mich in die Schwimmmeisterkabine brachte und die Tür abschloss.

»Nene, beruhige dich«, sagte er, »beruhige dich. Er ist weg.«

»Das Kind aber auch«, schluchzte ich.

Ich habe furchtbare Erinnerungen an solche Situationen. Zu Hause wird es noch schlimmer. Weil du schuld bist.

Du bist sowieso immer schuld.

Boris brachte das Schwimmbrett zurück. Er ist kein Dieb. Er hat Manieren, wenn er will. Und klauen ist für ihn unterste Schublade. Er gab mir das Ding in die Hand, als ich gerade auf einem Hocker beim Sprungbrett saß und das Springen beaufsichtigte, und er sagte: »Das Brett ist scheiße.«

Ich sah ihn an. Wasser lief an seinem Körper herab, seine Wimpern waren zusammengeklebt wie Fliegenbeine. Seine Beine waren komisch verdreht, deswegen offenbar die Humpelei. Er wollte sie trainieren, diese verdrehten Beine, die ihm das Leben so schwer machten, und ich konnte verstehen, dass er das wollte.

»Vermutlich liegt es an dir«, sagte ich. »Vielleicht brauchst du noch ein bisschen Training, bis es dir leichtfällt, mit dem Brett zu schwimmen. Deine Beine sind nicht so stark wie normale Beine, deshalb dauert es ein bisschen länger. Aber wenn du regelmäßig kommst, kannst du dir das Schwimmbrett immer bei mir abholen, wenn du willst.«

Es trat eine beinahe greifbare Stille ein. Eine Stille, die unter dem Platschen des Wassers und dem Stimmengewirr der Besucher lag, dem Hall, den die Decke der Schwimmhalle auf uns zurückwarf, und dem Rauschen der Duschköpfe, das an unsere Ohren drang, wann immer jemand die Tür zu den Duschen öffnete.

Boris sagte: »Okay.«

Und dann ging er. Aber er kam wieder. Meistens dienstags, aber manchmal auch donnerstags, und er fragte immer: »Kann ich das Schwimmbrett?«

Und ich sagte immer: »Ja, klar.«

Ich sah ihm zu, wenn er Bahnen schwamm. Zuerst schwamm er Kraul, dabei ließ er das Brett am Beckenrand liegen. Er hatte gute Arme und kam gut voran, obwohl seine Beinarbeit eingeschränkt war. Er kraulte ungefähr zehn Bahnen. Dann nahm er sich das Brett vom Beckenrand und begann zu kämpfen. Allein mit dem Beinschlag bewegte er sich nur im Schneckentempo durchs Wasser. Und trotzdem machte er zehn Bahnen. Es dauerte ungefähr sechsmal so lang wie die zehn Bahnen Kraul. Er war erschöpft, wenn er aus dem Wasser kam. Seine Brust hob und senkte sich meist noch heftig, wenn er mir das Brett zurückbrachte. Er wurde kaum schneller. Allenfalls ließ sich feststellen, dass er mit der Zeit etwas weniger aus der Puste war, wenn er aus dem Bad stieg. Einmal, als es draußen heftig schüttete und stürmte und kaum Besucher im Bad waren – auch nicht Frau Lübke, obwohl es ein Dienstag war –, gab er mir das Brett zurück und sagte: »Ist nett von dir.«

»Was?«

»Dass du mir immer das Brett leihst.«

»Das ist mein Job.«

»Dein Kollege gibt mir aber keins.«

»Die sind hier kniepig«, sagte ich. »Und man kriegt Ärger, wenn man die Sachen verbummelt, die für die Schwimmschule sind, und oft klauen Leute Sachen und dann ist man gefickt.«

Er hatte, wenn er lachte, diese Grübchen, die ich von Jungs kannte, die man im Kino sieht: Zac Efron, Florian David Fitz und so. Aber er hatte keine guten Zähne. Also, gut waren sie schon, aber schief, und schiefe Zähne, die brandmarken einen Menschen irgendwie, finde ich. Aber vielleicht finde ich das auch nur, weil ich mit Zac Efron und Florian David Fitz aufgewachsen bin. Deren Zähne sind einfach perfekt. Und wenn ihre Leben noch so scheiße sind, einsam und erbärmlich, ihre Zähne rocken. Boris fand das oberflächlich. Leute nach ihren Zähnen zu beurteilen, sei genauso blöd, sagte er, als würde man immer noch Schädel vermessen, um Rassenunterschiede festzustellen.

»Was?«

»Anthropometrie«, sagte er. »Liest du eigentlich jemals ein Buch, Nene?«

Sicher lese ich Bücher. Also manchmal. Mir gefallen Bücher oft nicht. Krimis zum Beispiel finde ich zum Kotzen und alles, wo Menschen sterben oder gefangen gehalten und gefoltert werden. Ich weiß, manche Leute finden das spannend, wenn sie nicht wissen, ob der Protagonist es schafft, das geknebelte Mädchen aus dem Keller zu befreien, bevor Opfer Nummer 13 stirbt und mit einem Schälmesser in feinste Scheiben geschnitten wird. Aber Leute, erstens: Natürlich rettet der Protagonist das letzte Opfer! Und zweitens: Findet ihr das wirklich unterhaltsam, sich dieses arme Geschöpf vorzustellen, das verrückt vor Angst in einem Keller hockt, sich in die Hose pinkelt, während die gefesselten Hände blau werden und sich in ihrem Gehirn eine Angststörung entwickelt, die dafür sorgt, dass Opfer Nummer 13 nie wieder ein normales Leben führen wird? Ist das eine annehmbare Variante von Gut gegen Böse? Ist Spannung ein adäquater Gegenwert der expliziten Darstellung von Perversion und menschlichen Abgründen? Übrigens: Die Begriffe »Protagonist« und »adäquat« und »explizit« habe ich auch nicht von Alma. Ich habe sie aus der Schule. Hin und wieder habe ich zugehört. Ich hatte einen tollen Deutschlehrer. Er hat uns nicht gehasst, kein bisschen, und er hat uns auch nicht gesagt, dass wir dumm sind. Er hat oft Bücher mitgebracht und daraus vorgelesen. Das kannte ich nicht. Aber es hat mir gefallen. Mein Deutschlehrer hat oft kluge Sachen gesagt und wenn er Geburtstag hatte, dann hat er Kuchen für uns mitgebracht, damit wir zusammen feiern konnten. In unserem Abschlussjahr haben wir ihm eine Dose Hansa zum Geburtstag geschenkt, mit einer roten Schleife drum, und er hat sich gefreut wie ein Schneekönig und gesagt, dass wir die Coolsten sind. Ich habe gehört, dass er versetzt worden ist. Keiner weiß, warum. Ich habe immer mal darüber nachgedacht, es herauszufinden, aber dann hat mich die Lust verlassen. Vielleicht hatte ich auch einfach Angst davor, was ich rausfinden könnte. Ich will an das Gute im Menschen glauben.

Dass ich Bademeisterin werden würde, war schon lange klar. Also eigentlich immer. Denn ich kann schwimmen. Ich kann richtig gut schwimmen. Ich habe es mit fünf Jahren gelernt. Innerhalb von zwei Wochen. Meine Betreuerin beim Jugendamt hat mich zu einem Ferienkurs angemeldet und sie hat meinem Vater gesagt, dass mir das guttut, wenn ich mit anderen Kindern zusammen bin in den Ferien. Und mein Vater hat gesagt: »Ja, von mir aus.« Er hat mich hingebracht und abgeholt und stand immer vor der Schwimmhalle, wenn ich fertig war, und hat geraucht und den Hund angeschnauzt. Manchmal hat er mir auf dem Rückweg Pommes gekauft oder ein Eis, und einmal hat er gefragt, wie es war, und da habe ich gesagt, dass es ganz toll war. Und mein Vater hat zuerst gar nichts gesagt, und ich dachte schon, er ist sauer, aber dann hat er gesagt: »Das wird die Mama sicher freuen.« Er meinte das ernst. Und ich gehe davon aus, dass er es ihr erzählt hat. Jedenfalls konnte ich schnell richtig gut schwimmen und durfte deswegen nach den Ferien weiter zum Schwimmen gehen. Erst in die Kurse, wo man die Schwimmabzeichen macht, dann zum freien Training, zweimal die Woche. Das Schwimmbad war mein Zuhause. Über Jahre. Wenn ich nicht gerade Training hatte, fuhr ich nur so hin, traf Freunde, übte Handstand, machte Rollen und später die ersten Erfahrungen mit Fummeln und Küssen. Ich hatte meinen ersten Orgasmus in einer Umkleide in Reihe 320-350. Alma findet das asozial. Aber da habe ich ihr Bescheid gesagt! Immerhin hatte ich mit fünfzehn schon einen Orgasmus, während Madame locker fünfzehn Jahre länger und etliche G-Punkt-Dildos gebraucht hat, um mitzukriegen, dass zwischen ihren Beinen richtig was los sein kann. Bis sie dreißig war, hat Alma gedacht, ihre Vagina sei hauptsächlich dazu da, während der Periode mit Tampons gefüttert zu werden. Sie kann sie ja noch nicht mal benennen! Immer sagt sie »unten herum«. Was ist das? Du sagst ja auch nicht »oben herum«, wenn du dein Gehirn meinst! Aber was rege ich mich auf? Vielleicht ist das so, wenn man fein ist und klug und eine Wohnung im Süden der Stadt hat: Man vergisst die Muschi. Als ich alt genug war, um zu jobben, habe ich im Schwimmbad angefangen. Das ging nur in der Sommerzeit, wenn Ferien waren, denn dann hatten die Schwimmmeister zwar Hochsaison, aber auch Urlaub, weil sie Kinder hatten, die schulpflichtig waren, und dann durfte ich kommen. Ich hatte ein DLRG-Rettungsabzeichen in Gold und das war das Wichtigste. Beim Arbeiten lernte ich, mit Menschen umzugehen. Der alte Schwimmmeister, Frank, brachte mir alles Wichtige bei: »Nene«, sagte er, »du sagst ›Guten Tag‹ und ›Dankeschön‹ und ›Bitteschön‹ und das ist die halbe Miete.«

Also machte ich das so und es ging ganz gut. Außerdem war ich immer pünktlich. Frank mochte Pünktlichkeit. Die Anderen waren oft unpünktlich, also hatte ich einen Vorsprung. Ich machte die Schule fertig und begann eine Ausbildung als Fachangestellte für Bäderbetriebe. Ich lernte eine Menge Zeugs über Hygiene und wusste, dass einiges davon reine Theorie ist im praktischen Bäderbetrieb, aber trotzdem machte mir das Spaß, dieser Hygiene-Kram, ph-Wert-Messung und Chlorgehalt berechnen und so, und ich war ziemlich gut in der Berufsschule. Das war schön, einfach mal gut zu sein. Ich machte einen Spitzen-Abschluss, und als ich fertig war mit der Ausbildung, hatte Frank noch zwei Jahre. Bis dahin musste ich in der Nachbarstadt in einem Freibad Dienst tun, was ätzend war, weil ich den ganzen Tag lang von Kerlen angebaggert wurde. Die hatten null Respekt. Immer musste ich mich hinter meinen männlichen Kollegen verschanzen. Es war zum Kotzen. Der Tag, an dem ich zurückkommen und Frank beerben durfte, war der beste Tag meines Lebens. Ich war wieder zu Hause.

An dem Dienstag, an dem es so schüttete, dem Dienstag, an dem Frau Lübke nicht da war, und überhaupt nur wenige Besucher im Bad, an diesem Dienstag fragte Boris mich, ob ich Bock hätte, nach der Arbeit mit ihm ins Kino zu gehen. Das war so harmlos, dass er mich direkt im Sack hatte. Er stand da, tropfnass, und sah mich an und fragte: »Hast du