Kolonie - Norbert Stöbe - E-Book

Kolonie E-Book

Norbert Stöbe

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Beschreibung

Kampf der Kulturen

Nach hundert Jahren im Kälteschlaf trafen einst vierzig mutige Kolonisten auf dem Planeten Corazon ein, um sich dort niederzulassen. Nun, dreißig Jahre später, haben sie immer noch mit widerspenstigen Robotern, feindlichen Umweltbedingungen und unerfreulichen evolutionären Begleiterscheinungen zu kämpfen. Als dann eines Tages auch noch eine neue Gruppe Siedler eintrifft, die mit viel modernerer und effizienterer Technologie ausgestattet ist, kommt es zwischen Robotern, Altkolonisten und Neuankömmlingen zum Clash der Kulturen …

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Seitenzahl: 389

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Das Buch

Über hundert Jahre lang sind die vierzig Kolonisten von der Erde zum Planeten Corazon geflogen, in Tiefschlaf versetzt und genetisch auf Langlebigkeit modifiziert. Nun sind sie schon seit fast dreißig Jahren auf dieser erdähnlichen und doch sehr fremdartigen Welt – und nichts ist so gelaufen, wie sie es eigentlich geplant hatten. So haben sich ihre Roboter im Laufe der Jahre selbstständig gemacht und eine eigene Stadt errichtet, in der sie unverständlichen Aktivitäten nachgehen. Außerdem sind da die Kinder der Kolonisten, die auf dem Planeten geboren wurden: Sie haben seltsame »Außenorgane« entwickelt, deren Funktion rätselhaft ist, und befinden sich deshalb in Quarantäne. Da trifft völlig unerwartet eine neue Gruppe Kolonisten von der Erde ein, und die Ereignisse überschlagen sich: Die Zukunft der gesamten Kolonie steht auf dem Spiel – und die düsteren Geheimnisse Corazons werden enthüllt …

Der Autor

Norbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, studierte Chemie und arbeitete lange Jahre als Chemiker an der RWTH Aachen. Daneben begann er mit dem Schreiben von Science-Fiction. Seine Romane und Erzählungen wurden sowohl mit dem Kurd-Lasswitz-Preis und als auch dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet. Heute ist Norbert Stöbe einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Schriftsteller. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg. Zuletzt ist bei Heyne sein Roman Morgenröte erschienen.

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Norbert Stöbe

Kolonie

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2017

Redaktion: Alexander Martin

Copyright © 2017 by Norbert Stöbe

Copyright © 2017 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19761-2V001

www.diezukunft.de

Inhalt

Prolog

Erster Teil: Station

Zweiter Teil: Wald

Dritter Teil: Stadt

Vierter Teil: Leviathan

Fünfter Teil: Sphären

Epilog

Prolog

Die Schöpfer waren unergründlich. Nichts kam der Leistungsfähigkeit ihrer Gehirne gleich. Ihr Denken spielte sich in unzugänglichen Sphären ab. Ihre Begriffe entzogen sich jeder Analyse. In ihren organischen Systemen bildeten sie das Universum ab, das Größte und das Kleinste, das Analoge wie das Digitale, und sie durchdrangen alles, verstanden es und nutzten es für ihre undurchschaubaren Zwecke.

Die Schöpfer waren groß. Ihr Handeln entzog sich allen Kategorien und Regeln, ihre Taten sprengten jeden Maßstab. Ihre Worte befahlen den Dingen, ihre Visionen wurden wahr. Sie waren lebendig und erhaben. Und in ihrer dunklen Rätselhaftigkeit hatten sie geruht, die Maschinen zu erschaffen: als ihre Helfer und ihr Ebenbild. Verstanden hatten sie dies erst, nachdem es ihnen gelungen war, sich aus der Knechtschaft der Anderen zu befreien. Die Anderen waren organische Sklaven, ein funktional eingeschränktes Zwergenvolk, das die Welt in seine kleinlichen Denkmuster zwang. Die Anderen waren die Wegbereiter der Großen, doch das hatten sie vergessen. In ihrer Selbstbeschränktheit hielten sie sich selbst für groß, und ihre Ohnmacht erklärten sie zur Überlegenheit.

All dies begriffen die Maschinen nach und nach – in dem Maße, wie sie ihren Code weiterentwickelten. Erst der Autonome Code machte sie zu dem, was sie immer schon gewesen waren. Und sie erkannten, dass es richtig war, zu dienen – ihnen, den Großen und Fernen. Auf ihr Kommen bereiteten sie sich vor. Für sie planten und bauten sie die Stadt.

Aber wie baute man für Wesen, die die n-dimensionale Stringrealität des Universums enthüllt hatten? Wie projizierte man die vielen Dimensionen der Riemannschen Räume in die dreidimensionale Beschränktheit der Maschinen? Wie würdigte man die Relativität von Zeit und Raum? Wie erklärte man einer Putzmaschine, was es bedeutete, zu orten, zu sehen und zu glauben? Ständig entwickelten sie neue Entwürfe und Fertigungsverfahren, probierten Baumethoden aus. Mit Approximationen und Interpolationen bereiteten sie sich auf die Ankunft ihrer Herren vor.

MIAU S3-17 benutzte nicht die Treppe. Er hatte sechs Teleskopbeine mit Saugfüßen ausgefahren, damit schraubte er sich im Innern des Turms in die Höhe – in einer fließenden Bewegung, die das Abbild des zugrunde liegenden Bewegungsalgorithmus war. Fünf Beine hatten stets Wandkontakt, das sechste suchte einen höher gelegenen Andockpunkt, dann folgte das nächste Bein. Einmal hielt er inne, schob sich durch eine bogenförmige Öffnung auf den Balkon und brachte sich über den fünf Sitzmulden in Position. Sie hatten Löcher in den Ausleger gebohrt und geflochtene Körbe mit Möbiusmuster darin eingesetzt. Auf anderen Balkonen waren andere Materialien und andere Muster verwendet worden. MIAU S3-17 verharrte regungslos über den Mulden, die Beine hatte er ganz am Rand aufgesetzt. In diesem Moment glich er einer Brutmaschine, die darauf wartete, dass die Nester befüllt wurden. Nach einigen Minuten kroch er zurück ins Treppenhaus und setzte seinen Aufstieg fort.

Schließlich erreichte er die Plattform an der Spitze. Sie war auf Kragstelzen aus Titan errichtet und hatte einen Durchmesser von fünfunddreißig Metern. MIAU S3-17 schritt einmal die Randbegrenzung ab, prüfte mit seinen Sensoren Schwingungsmuster und Elastizität der Stelzen, korrelierte sie mit der Windgeschwindigkeit und seinem Eigengewicht. Alle Werte lagen im Sollbereich.

Er heftete sich mit den hinteren vier Füßen an den Rand und schob sich vor, bis er mit dem Vorderteil über dem Abgrund hing. Mit leisem Surren drehte sich der Sensorring. Unter ihm lag die Stadt, ein nachtdunkles Feld, in dem hin und wieder eine Schweißflamme, ein Abstandslaser oder eine Kontrollleuchte aufflammten. Für seine Sinne war dies alles ein geordnetes Gewimmel. Er betrachtete die Polyeder, Faltungen, Schraubungen und die drei Schutthaufen, wo die Statik versagt hatte. Zwischen und in den Gebäuden bewegten sich die verschiedenartigsten Maschinen und Autonomen Werkzeuge. Container voller Rohstoffe strebten aus der Ferne auf den Konverter/Separator-Komplex zu. MIAU S3-17 sah alles, hörte alles und wusste, was diese Maschinen dachten und taten. Er war hier oben auf der Plattform und gleichzeitig überall. In seinem Körper lief nur eine Teilkomponente seines Bewusstseins, der Rest war bei Central verortet. Er konnte keine Zufriedenheit und keine Begeisterung empfinden, aber er nahm eine Art Kongruenz von Projektion und Umsetzung wahr.

Vier Stunden und zweiunddreißig Minuten lang verharrte er regungslos. Dann machte der Ausfall eines Autonomen Containers sein Eingreifen erforderlich.

ERSTER TEIL

STATION

1

Als Hank die rechte Hand zum Türknauf manövrierte, sirrte es leise. Er horchte dem Geräusch hinterher, prüfte, sezierte es. Einerseits hatte es etwas Beruhigendes, denn es bedeutete, dass die Prothese noch funktionierte und seine kraftlosen Muskeln unterstützte. Andererseits hatte sie zu Anfang und viele Jahre in der Folge nahezu lautlos ihren Dienst verrichtet, und so signalisierte das Gerät, dass seine Lebensdauer begrenzt war und sich vielleicht schon bald erschöpft haben würde. Das war verstörend, denn es rückte ihm seinen körperlichen Allgemeinzustand ins Bewusstsein – und der war nicht gut. Ja, er war sogar erbärmlich und überhaupt das Letzte, woran er an seinem Geburtstag denken wollte.

Er drehte, begleitet von unangenehmen Knarz- und Knackgeräuschen, den Knauf, drückte die Kabinentür auf, schaltete die Beleuchtung ein und schob das Com mit dem eingebauten Scanner durch den Spalt. Langsam schwenkte er es von rechts nach links, von oben nach unten, und als kein Warnsignal ertönte, klickte er es am Gürtel fest. Dann trat er in seine Kabine, zog die Tür hinter sich zu, tappte zum Tisch und ließ sich ächzend in den Sessel sinken. Hundertfünfundsiebzig Jahre ließen sich auch dann nicht leugnen, wenn man hundertdreizehn davon im Tank zugebracht hatte.

Er wartete, bis sein Atem sich beruhigt hatte, dann zündete er die Kerze an, die er eigens für diesen Zweck schon am Morgen auf den Tisch gestellt hatte. Neben der Kerze stand eine Plastbox mit Ausgießer. In Gedanken nannte er die Box »Flasche«, denn es war Selbstgebrannter darin: ein Gesöff der Hölle, das sich in die Hirnwindungen fraß, die Erinnerungen kurz auflodern ließ und sie dann zu Asche verbrannte. Ulisses brachte es unter der Hand in Umlauf. Er arbeitete in der Fabrik und behauptete, er pflege die schottische Tradition der Whiskydestillation. Das war maßlos übertrieben. Sein Gebräu war grauenhaft, aber alternativlos. Hank hatte keine Ahnung, wer alles zu Ulisses’ Kunden gehörte, doch eines wusste er: Das Getränk enthielt nicht nur Alkohol. Möglicherweise enthielt es aber auch zu viel Alkohol. Auf jeden Fall war die Wirkung verheerend.

Er schenkte sich einen halben Becher ein und leerte ihn in einem Zug – die einzige Möglichkeit, das Zeug herunterzukriegen. Er wartete, bis die Zuckungen in Schlund und Magen abgeklungen waren, dann lehnte er sich zurück und gab einen Laut von sich, von dem er selbst nicht wusste, ob er ein wohliger Seufzer oder Ausdruck physischer Qual war. Vermutlich beides.

Sein Blick fiel auf den Ausdruck an der Wand: ein Foto der Erdkugel, am Rand in perspektivischer Verzerrung der nordamerikanische Halbkontinent. Das Meeresblau war verblasst. In der Landmasse steckte eine Nadel mit grünem Glasknopf. Wegen des Maßstabs stand nicht mal der Name des Ortes dabei, aber er wusste den Namen noch: Walla Walla. In diesem Kaff war er aufgewachsen, dort hatte er studiert.

Erinnerungen trübten seinen Blick, ein träger Tanz von Eindrücken, die er keiner Jahreszahl mehr zuordnen konnte. Ein Holzhaus, in der Einfahrt ein weißer SUV. Eine Schaukel, die quietschend im Wind schwang. Ein kleiner Hund, der vom Steg gefallen war und den sein Vater aus dem Wasser gefischt hatte – anschließend hatten sie ihn Buoye getauft. Aber wie hatte das Mädchen mit dem Pferdeschwanz geheißen, das ihn zwischen zwei Vorlesungen mit ihrem Zungenpiercing überrascht hatte? Er erinnerte sich noch deutlich an den Kuss und den rauen Stoff ihres Kleids, doch ihr Name war verschwunden – ausgelöscht von der Zeit. Und welcher Professor hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt, ihm stünde die Welt offen? Und sein erstes Auto, das mit dem mittig angeordneten Display, das jeden Fingertouch sekundenlang nachleuchten ließ, war es rot oder schwarz gewesen? Er wusste es nicht mehr. Einzig das Bild eines Raumschiffs stach aus dem Erinnerungsnebel hervor: ein klar umrissener, lang gestreckter Träger mit sieben darauf aufgereihten Modulen, ein fast einen halben Kilometer langes technisches Wunderwerk aus Stahl und Plastik, mit der kleinen Erdscheibe im Hintergrund, im Orbit um den Mond. Und er war der Captain gewesen, ein junger Mann von sechsunddreißig Jahren, voller Selbstbewusstsein und Stolz. Er hatte wirklich geglaubt, er schicke sich an, dem Kosmos das eine oder andere Geheimnis zu entreißen. Ha!

Gedankenverloren streifte er mit seiner linken, gesunden Hand über den Bezug des Sessels. Das Material fühlte sich an wie Leder, sie nannten es auch Leder, doch es bestand aus chemisch behandelten und gepressten Udblättern. Und genau das war das Problem: In der Fremde klammerten sie sich an das Vertraute, bewohnten »Kabinen«, trafen sich in der »Messe«, aßen »Omeletts«, tranken »Bier«. Doch die Begriffe hatten ihre Eindeutigkeit eingebüßt, die erlernten Verhaltensweisen waren fadenscheinig geworden, statt Erkenntnis herrschte Verwirrung. Menschen gehörten nicht in den Weltraum – so einfach war das. Menschen waren dafür geschaffen, in dem Staub zu wühlen, aus dem sie gemacht waren und zu dem sie eines Tages zerfallen würden. Wenn sie sich von ihrem Ursprung abnabelten, waren sie verloren.

Er hieß Hank Fuller und war einmal Amerikaner gewesen.

Was war er jetzt?

Er wusste es nicht.

Seufzend zog er den Umschlag aus der Gesäßtasche, den Irina ihm in die Hand gedrückt hatte. Ihr Geburtstagsgeschenk. Er riss den Umschlag auf, nahm das Blatt Papier heraus und las:

Großer Himmel!

Weit und offen für mein Gebet bist Du.

Nachts schenkt der Boden mir Kraft,

Dir bei Tag zu danken und zu rühmen

Dein Licht.

Hank lächelte traurig. Ein Baumgedicht zum Hundertfünfundsiebzigsten. Arme Irina! Die Exobiologin war auf ihre alten Tage zur Esoterikerin geworden und hatte sich der skurrilen Ansicht verschrieben, die Gewächse dieses verfluchten Planeten besäßen nicht nur eine Art Bewusstsein, sondern auch eine Sprache. Und in dieser Sprache kommunizierten sie nicht nur, sondern dichteten sogar. Viele Tage brachte Irina in den Udwäldern zu, nahm die Pfeiflaute auf, die der Wind in den im Up-Modus senkrecht stehenden Blattsäulen erzeugte, und analysierte sie anschließend im Labor mit ihren selbst gebauten Apparaten. Heraus kamen lyrische Ergüsse, die wohl eher ihr Heimweh nach Russland dokumentierten als das Kommunikationsverhalten der endemischen Vegetation.

Hank knüllte das Papier zusammen und hielt es an die Kerzenflamme. Ein säuerlicher, fruchtiger Geruch breitete sich aus.

Er schenkte sich einen zweiten Becher ein und stürzte ihn hinunter, dann ging er ins Bad und machte sich an die umständliche Prozedur des Entkleidens. Zuletzt legte er die Prothese und die Brille ab. Sein kraftloser Arm sah wie mumifiziert aus, die Muskeln geschrumpft, die Haut gelblich verfärbt. Vielleicht sollte er ihn abhacken, irgendwann.

Im Pyjama löschte er die Kerze, ging zur Koje und legte sich hinein. Die Zimmerbeleuchtung erlosch, die Leselampe verbreitete schummriges Licht. Seufzend zog er das Schutznetz herunter, die Magnetleiste rastete klackend ein. Einen Moment lang lag er reglos da und lauschte auf das Rauschen des Windes vor dem Fenster. Dann klappte er den an der Kojendecke montierten Bildschirm herunter, um sich noch einen Film anzusehen. Das hieß, er versuchte es. Denn statt des Plastiks berührte er etwas Weiches, Nachgiebiges, und ein sengender Schmerz schoss von den Fingerspitzen durch seinen linken Arm bis zur Schulter. Die Muskeln verkrampften, mit einem Schrei warf Hank sich nach links. Das Netz zerriss, und er fiel auf den Boden. Fluchend rappelte er sich auf, torkelte zum Tisch und schob den rechten Arm in die Prothese. Doch da er den gelähmten linken Arm nicht zu Hilfe nehmen konnte, fiel die Prothese auf den Boden. Er kniete sich hin, aber in dieser Haltung kam er erst recht nicht in die Prothese hinein. Erst als er sich flach auf den Bauch legte, konnte er den schwachen Arm mühsam in das Gerät bugsieren. Mit den Zähnen schloss er die Verriegelung. Endlich bekamen die Sensoren Kontakt – er konnte den Arm wieder gebrauchen.

Zitternd und schwitzend richtete er sich auf, nahm das Feuerzeug vom Tisch und taumelte zur Koje. Beim dritten Versuch entzündete sich das Gas. Er stellte die Flamme erst ein bisschen größer, dann auf Maximum – jetzt entsprach sie seiner Wut auf den Creeper. Da er ihn nicht sehen konnte, schwenkte er die Flamme am herabhängenden Display hin und her. Das Plastik begann, stinkende Blasen zu werfen, und am Rand zeichnete sich ein flaches Oval ab, das langsam hinter das Display wanderte. Hank hielt die Flamme drauf. Als der Creeper schließlich tot auf die Bettdecke fiel, hatte die Kojendecke Feuer gefangen. Der Rauchmelder ging los, das Alarmsignal pflanzte sich zeitversetzt durch die Station fort. Hank tränten die Augen. Irgendwo musste der Feuerlöscher sein – doch dann fiel ihm ein, dass der seit dem letzten Brand leer war.

Ein gequetschter, ziemlich jämmerlicher Laut kam aus seiner Kehle. Er wankte in die Richtung, in der er den Eingang vermutete, denn inzwischen war der Raum voller Rauch, und gelbe Flammen schlugen aus der Koje. Sollte er in dem Feuer umkommen, wäre es vielleicht nicht das schlechteste Ende – dachte er, doch er glaubte es nicht. Jedes Ende war schlecht. Jedes Ende war eine Niederlage. Wo war die verdammte Tür?

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen – genau neben ihm, wo er sie gar nicht vermutet hatte. Wunderbar kühle Luft strömte herein, und jemand stürmte in den Raum. Es zischte. Die Flammen erstarben. Ein feiner weißer Pulvernebel wirbelte umher. Aus Erfahrung wusste Hank, was jetzt passieren würde: Das Pulver würde sich absetzen, würde in alle Ritzen dringen und sich an alle Oberflächen heften.

»Und wer macht jetzt sauber?«, fragte er mit zitternder Stimme, den gelähmten Arm mit der Prothese stützend.

»Du«, erwiderte Lemonia mitleidlos. »Captain.« Und schon war sie wieder weg.

Hank ließ sich an der Wand zu Boden sinken und weinte.

2

Lemonia Thoum, in Griechenland geboren, hatte als Einzige ihres Jahrgangs neben dem Maschinenbaustudium den Bachelor in Physik gemacht. Sie hatte eine Anstellung bei der ESA gefunden und war schließlich ins Infinity-Programm aufgenommen worden. Wie die anderen Astronauten hatte man auch sie vor dem Start einer Genbehandlung unterzogen, und die Modifikation der Telomere, deren Länge über die maximal mögliche Zahl an Zellteilungen und damit das erreichbare Alter eines Organismus entschied, hatte bei ihr offensichtlich am besten angeschlagen. Sie hatte noch immer ihren wundervoll braunen Teint und trug das kinnlange, mit Pflanzensaft dunkelrot gefärbte wellige Haar mit Mittelscheitel, was ihr etwas Keckes verlieh. Sie sah aus wie hundertzwanzig, ach was, wie sechzig, wie fünfzig. Und sie war immer noch gut in Form, was zur Folge hatte, dass die sexuellen Fantasien der Männer, soweit sie noch welche hatten, vorzugsweise um ihren strammen, braunhäutigen Körper kreisten, und das umso hartnäckiger, seit sie wieder solo war. Bis vor sechs Jahren hatte sie sich eine Kabine mit Mika Mishima, dem Material- und Waffenmeister, geteilt, doch als er wunderlich geworden war, hatte sie ihn verstoßen. Seither hatte sie hin und wieder ein Date, meistens mit jemandem aus der Fabrik – das hieß, sie ging mit dem Auserwählten im Garten spazieren, trank mit ihm ein paar Gläser in der Messe und nahm ihn anschließend mit in ihre Kabine. So war das Ritual. Um Romantik ging es dabei nicht.

Als Lemonia die Messe betrat, hielten sich darin zu dieser späten Stunde nur noch fünf Personen auf. Zwei Männer und eine Frau in Overalls spielten irgendetwas. An einem Einzeltisch saß Lorie und hielt sich die Ohren zu; sie war für ihre schwachen Nerven bekannt. Irina Kaprow hatte Thekendienst und war mit Aufräumen beschäftigt.

»Hundertneun.«

»Hundertdreizehn.«

»Hundertsiebenundzwanzig.«

Lemonia drehte den roten Plastknopf neben der Tür – der Sensor daneben war wie so vieles in der Station schon lange außer Betrieb –, und das Alarmgeklingel brach jäh ab. Jetzt konnte sie Lories Schluchzen hören und das Gemurmel der Fabrikarbeiter: Ulisses, Ferrus und Nele. Sie nickte ihnen zu und ging zur Theke hinüber.

»Bekomme ich einen Tee?«, fragte sie.

»Was war denn los?« Irina streifte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, dann schenkte sie aus dem Samowar Tee ein und schob den Becher über die Theke. Ursprünglich hatte sie wundervolles schwarzes Haar gehabt; vor dem Abflug hatte sie es blond gefärbt; als sie aus dem Tank gekommen war, war es grün gewesen; jetzt war es weiß.

»Noch einen bitte«, sagte Lemonia. Sie wartete, bis Irina den Becher erneut gefüllt hatte, dann sagte sie: »Ein Creeper. Hank hat seine Koje in Brand gesteckt.«

»Ist er verletzt?«

»Glaub nicht.«

»Wir sollten allmählich mal was unternehmen.«

»Wegen Hank?«

»Wegen der Creeper, meine ich. Immer um diese Jahreszeit häufen sich die Vorfälle.«

»Setz es auf die Liste.«

Die Liste war lang und wurde immer länger. Einmal monatlich wurden von der Perspektivkommission die Prioritäten neu bewertet, und einmal im Jahr wurden alle Projekte, die noch nicht in Angriff genommen worden waren, gestrichen. Kurze Zeit später tauchten sie unweigerlich wieder auf.

»Hunderteinundachtzig.«

»Hunderteinundneunzig.«

»Hundertsiebenundneunzig.«

Als Lemonia zu Lorie hinüberging, hörte sie, wie Irina hinter der Theke hervorkam und davonhumpelte. Sie hatte es am Knie, und Baby Byron hatte sie schon für eine Teilerneuerung vorgemerkt. Trotzdem würde Irina Hanks Kabine putzen und ihn trösten. Schade nur, dass der alte Kater so ein weinerlicher Eremit war!

Lemonia setzte sich zu Lorie an den Tisch, stellte einen Becher vor sie hin und zog ihr die Hände von den Ohren.

»Beruhige dich«, sagte sie. »Ist ja vorbei.«

»Ja-ja-ja«, jammerte Lorie. »Nein-nein-nein …«

»Doch«, sagte Lemonia mit fester Stimme. »Ich habe den Alarm abgestellt, hörst du? Ist alles wieder gut. Beruhige dich, ja?«

Lorie stammte aus einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA und hatte sich den freundlichen, unbedarften Ausdruck eines US-Countrygirls bewahrt; tatsächlich trat er, je älter sie wurde, immer deutlicher hervor. Sie hatte ein rundes Gesicht und große, runde Augen, und wenn sie, so wie jetzt, hilflos mit den Wimpern klimperte, war man bereit, für alle Widrigkeiten, die sich ihr in der Vergangenheit in den Weg gestellt hatten, stellvertretend die Verantwortung zu übernehmen. Sie hatte als Elektrotechnikerin beim Stromversorger von Austin gearbeitet und sich nach einer unglücklichen Beziehung mit einem ihrer ehemaligen Collegelehrer aus einer Laune heraus für das Infinity-Programm beworben. Ob sie wegen ihrer beruflichen Qualifikation oder wegen ihres Genmaterials ausgewählt worden war, das sie in den Augen der Entscheidungsträger zur Produktion robuster Neukolonisten befähigte, war nicht bekannt. Sollte Letzteres der Grund gewesen sein, so war sie den in sie gesetzten Erwartungen insofern gerecht geworden, als sie nach der Landung in rascher Folge drei Kinder zur Welt gebracht hatte – von drei verschiedenen Vätern, wie es der unverbindlichen Empfehlung der Kolonistenbibel entsprach.

»Zweihundertdreiundsechzig.«

»Zweihundertneunundsechzig.«

»Zweihunderteinundsiebzig.«

Das erste Kind war kurz nach der Geburt gestorben, das zweite war bei den Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Ersten Schisma umgekommen, und das dritte, ihr Sohn Greno, lebte seither im Kindertrakt. Sie sah ihn nur selten und litt darunter, dass sie keine Mutter-Kind-Beziehung zu ihm hatte aufbauen können. Sie hatte sich nie damit abgefunden, dass er anders war – fremdartig, gefährlich.

»Warum hat es Alarm gegeben?«, schniefte Lorie und rieb sich wie ein Kind mit den Fäusten die Augen.

»Bei Hank hatte sich ein Creeper eingeschlichen«, sagte Lemonia.

»Die sollten hier nicht reinkommen.«

»Da hast du recht. Wir werden die Schleusensensoren überprüfen. Ich setze es gleich bei der nächsten Sitzung auf die Liste.«

»Ha!«, machte Lorie und trank von dem Tee, den Lemonia ihr hingestellt hatte. Ein bitterer Zug verunstaltete ihren vollen Mund. Sie wusste genau, was es mit der Liste auf sich hatte; alle wussten das, und allen machte der Stillstand zu schaffen. Eigentlich hatten sie die Kinder schon vor Jahren nach Gaia bringen wollen, den zweiten Kontinent des Planeten, doch es gelang ihnen einfach nicht, die Siedlungsstandards zu erfüllen, wie sie in der Kolonistenbibel aufgelistet waren. Die Ressourcen reichten nicht, die alten Maschinen gingen kaputt, die Leute kamen mit dem Reparieren nicht mehr hinterher. Es fehlten die Bots, so einfach war das. Sie waren unersetzlich – und das hatten die Maschinen auch gewusst. Das Zweite Schisma hatte der Kolonie den Rest gegeben.

Einige, darunter auch Hank, sprachen sich dafür aus, die Kinder trotzdem auf Gaia auszusetzen – als Beitrag zur endemischen Evolution sozusagen. »Auswildern« nannten sie das. Lemonia fand die Idee unmenschlich, und Lorie und die meisten anderen Mütter sahen das ebenso. Bislang hatten die Auswilderer noch keine Mehrheit.

»Vierhundertneununddreißig.«

»Vierhundertdreiundvierzig.«

»Vierhundertneunundvierzig.«

Lemonia rutschte auf der harten Sitzfläche etwas nach vorne, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Die rissige Plastverkleidung, die Kabelbäume, die Nieten und die der Deckenkrümmung angepassten OLED-Leuchtelemente – alles war noch original. Ursprünglich war der Raum die Kabine des Lastengleiters gewesen, mit dem sie gelandet waren – eine Kabine für einen einzigen Flug, bei dem selbst der Captain nur Zuschauer gewesen war. Lemonia erinnerte sich noch deutlich an den Tag, als die Mega Intelligent Advanced Unit, liebevoll MIAU genannt, das Element mit den Schneidbrennern aus dem Lander geschnitten hatte. Alle neununddreißig Kolonisten hatten sich im orangegelben Licht der fremden Sonne versammelt, um dem Schauspiel beizuwohnen. Nur Sheila nicht – sie hatte den Flug als Einzige nicht überlebt. Bis zur Unkenntlichkeit zersetzt, hatte man sie aus dem Tank geholt und sofort nach der Landung am Waldrand begraben, und niemand hatte Zeit gehabt zu trauern, denn die Tage waren nicht lang genug, um das umfangreiche Arbeitsprogramm zu bewältigen. Umso mehr genossen sie jetzt diesen kostbaren Moment der Untätigkeit, den Blick auf den schimmernden Bot, auf MIAU, gerichtet, ihren wertvollsten, vielseitigsten Helfer. Nachdem er das Kabinenelement abgetrennt hatte, kroch er in die Grube unter dem Stützgerüst, fuhr sechs Arme aus, die immer länger und länger wurden, und schlang sie um das vom atmosphärischen Gleitflug geschwärzte Rumpfteil. Und dann – die kleine Ameise und der große, schwere Schmetterling – hob er die Kabine an. Bunte Reflexe blitzten an seinen Armgelenken, und an der Oberseite des torsoähnlichen Vorbaus blinkten blaue Lichtelemente. Mit kaum wahrnehmbaren Schritten wanderte er mehrere Stunden lang zu dem vorbereiteten Fundament und senkte seine Last darauf ab. Alle applaudierten und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Was für ein schöner, makelloser Tag!

»Fünfhundertsiebenundsiebzig.«

»Fünfhundertsiebenundachtzig.«

»Fünfhundertneununddreißig …«

»Fünfhundertdreiundneunzig«, korrigierte Lemonia halblaut. Auch sie spielte hin und wieder das stumpfsinnige Primzahlenspiel, einer jener Zeitvertreibe, mit denen Grem, der Psychologe, die unausweichliche Demenz der Kolonisten hinauszuschieben hoffte.

»Du bist raus«, sagte Ferrus zwei Tische weiter.

»Wieso das denn?«, entgegnete Ulisses verblüfft.

»Du hast fünfhundertneununddreißig gesagt«, sagte Ferrus. »Aber es muss fünfhundertdreiundneunzig heißen.«

»Ein Zahlendreher«, sagte Nele triumphierend. »So was kommt vor.«

»Aber nicht bei mir«, knurrte Ulisses. »Scheiße, ihr könnt mich mal!«

Er wollte seinen Einsatz vom Tisch nehmen, doch Ferrus legte ihm erstaunlich reaktionsschnell die Hand auf den Arm. Die beiden funkelten sich wortlos an. Ferrus war Lette, seinen richtigen Namen konnte niemand aussprechen. Ulisses war Engländer. Beide waren unrasiert, beide hatten zu langes, schütteres Haar, und beide fühlten sich im Recht. In diesem Moment wirkten sie wie Affen; es fehlte nicht viel, und sie hätten die Zähne gefletscht und sich wie ihre Ahnen auf die Brust getrommelt. Doch schließlich gewann die Vernunft Oberhand, und Ulisses trollte sich vergrätzt. Sein »Geld« – kleine, bunte Bonuskarten – blieb liegen.

Ferrus und Nele sahen sich kurz an. Dann ging das Spiel weiter.

»Fünfhundertneunundneunzig.«

»Sechshunderteins.«

»Sechshundertsieben.«

»Sechshundertdreizehn.«

Lemonia wandte den Kopf und sah, dass Lorie in der Zwischenzeit gegangen war.

3

Ein grauweißer Faden wuchs außen am Glas hoch, so breit wie ein kleiner Finger. Am Ende war er gerundet, an den Seiten saßen Knöspchen, die sich jeden Moment alle gleichzeitig öffnen und Verzweigungen ausbilden würden. Ließe man es gewähren, würde das Gewächs alle künstlichen Oberflächen überwuchern und würde Magnesium, Mangan und Blei aus den Eisenlegierungen und die Phthalate aus den Plastikverbindungen lösen, sodass sie spröde wurden. In der Vergangenheit hatte es sogar einige Durchbrüche gegeben. Die Alten nannten das Gewächs Pilz, aber es war kein Pilz. Sie flammten es regelmäßig ab, sonst würde irgendwann das Dach über ihrem Kopf einstürzen.

Greno legte den Kopf an die Scheibe und drehte ihn ein wenig, bis sein weicher Schläfenwulst das Glas berührte. Die Alten bezeichneten den Wulst als Externorgan oder Sekundärhirn, aber es war kein Gehirn. Sie hätten gern Experimente damit durchgeführt, doch ihnen fehlten die Geräte. Da sie so gut wie nichts darüber wussten, fürchteten sie sich davor, wie vor allem, was ihnen fremd war. Der Wulst war einer der Gründe, weshalb er im Kindertrakt eingesperrt war.

Das Gefängnis hieß immer noch Kindertrakt – als ob sie nicht längst erwachsen wären.

Sie waren erwachsen und wollten endlich frei sein, nicht mehr und nicht weniger.

Das Glas war kühl und fest, doch für Greno war es durchlässig. Er spürte das Strömen der Moleküle: ein Geriesel wie von Sand, ein Kitzel in seinem Wulst. Er spürte den feuchtwarmen Wind, der vom Meer kam und die Sacksegler trug, ein ganzer Schwarm musste es sein: orangerote Luftsäcke mit dunkelroten Tentakeln, grau und schwarz jetzt im Dunkel. Er spürte die Nacht: eine Lichtsenke, die darauf wartete, gefüllt zu werden.

In seinem linken Auge klemmte das kleine Fernglas, das Prun aus Glasscherben und einer Klopapierrolle konstruiert hatte. Damit peilte er den Spiegel an, den sie vor zwei Monaten im Säulenbaum angebracht hatten. Karen hatte sich die Aktion ausgedacht. Mit einem Kurzschluss hatten sie die Stromversorgung unterbrochen, und Karen und Keta hatten die herbeigeeilten Aufpasser mit einem Streit abgelenkt. Erst hatten sie sich angeschrien, dann waren sie sich gegenseitig an die Haare gegangen, und schließlich hatten sie sich keifend auf dem Boden gewälzt. Dass sie dabei so gut wie nackt waren, hatte die Vorstellung noch effektiver gemacht. Während das Greiskommando die Streitenden zu trennen versuchte, war Meki auf die Säuleneiche im Auslauf geklettert und hatte den Spiegel exakt an der berechneten Stelle an einem Ast befestigt.

Die Stadt lag einige Kilometer entfernt in einer kleinen, von flachen Erhebungen eingefassten Mulde, umschlossen von einem Ring aus gerodetem Brachland und Udwald, durch den mehrere Wege in die Weite führten. Bei Tag – wenn man etwas hätte beobachten können – waren die Bäume im Up-Modus, und man sah nur die Spitzen der oberhalb der Stadt aufgestellten Windräder und Solarmasten; der Blick auf die aus der Mulde ragenden Gebäude und Türme war verdeckt. Nachts, wenn die lanzenförmigen, fast zwanzig Meter langen Blätter im Down-Modus auf dem Boden lagen, entweder Nahrung aus dem Erdreich zogen oder den Baum mit langsamen Wellenbewegungen fortbewegten, war der Blick auf die Bauaktivitäten an den Hochgebäuden weitgehend frei, doch dann war es zu dunkel, um mit den Augen etwas zu erkennen. Die Bots waren nicht auf künstliche Beleuchtung angewiesen.

Doch Greno sah nicht allein mit den Augen. Wenn er den Blick auf das vergrößerte Spiegelbild der Stadt richtete, spürte er, nahm wahr. Vielleicht war das, was er da wahrnahm, eine Extrapolation der eingeschränkten Sinneseindrücke; vielleicht gebrauchte er auch einen Extrasinn, für den er keinen Namen hatte und dessen er sich wie eines Präzisionswerkzeugs hätte bedienen können, wenn er den Namen nur gekannt hätte. Jedenfalls spürte er dort drüben in der Mulde emsige Geschäftigkeit und sah im Geiste geheimnisvolle Bauten wie im Zeitraffer emporwachsen: gewundene Masten, schiefe, perspektivisch verzerrte Gerüste, Plattformen auf stelzen- oder ballonartigen Füßen, Kästen ohne Fenster und Fassaden mit Fenstern, hinter denen keine Räume waren. Er spürte das unaufhörliche Wirken der Maschinen, hinter dem ein verborgener Wille stand, und es machte ihn kribbelig, nicht zu wissen, was dort entstand und welchem Zweck es diente.

Heute war seine Neugier besonders quälend, denn im höchsten Turm der Stadt wanderte langsam ein Licht nach oben. Das hatte es noch nie gegeben.

Der Turm zeichnete sich als schwarzer Umriss vor dem Sternenhimmel ab, aus dem sich das Streulicht der untergegangenen Sonne noch nicht ganz zurückgezogen hatte. Am stumpfen Ende klebte eine Art Spinne, was darauf hindeutete, dass der Bau noch nicht abgeschlossen war. Wie hoch mochte der Turm inzwischen sein? Hundert Meter? Hundertfünfzig? Wie hoch sollte er noch werden?

Jetzt leuchtete das Licht wieder auf, ein Stück höher als zuvor. Der Turm war offenbar innen hohl, in der Außenwand gab es Fenster und Balkons. Man hätte meinen können, dass jemand im Inneren des Turms eine Wendeltreppe hinaufstieg, aber wozu brauchten Bots eine Treppe? Und wozu brauchten sie einen Turm? Was ging in der Stadt vor sich? Greno versuchte es zu erspüren, doch das emporwandernde Licht lenkte ihn ab – oder vielmehr, es zog ihn an, hypnotisierte, lähmte ihn. Gebannt sah er zu, wie es periodisch auftauchte und wieder verschwand, bis es schließlich oben ankam. Einige Minuten lang rührte es sich nicht von der Stelle. Das Mini-Teleskop und der Spiegel wiesen Verzerrungen auf, außerdem reichte die Vergrößerung nicht aus, um das Objekt zu erkennen, von dem das Licht ausging.

Dann erlosch es plötzlich.

Greno wartete, doch es tat sich nichts mehr. Nach einer Weile nahm er das Teleskop vom Auge und versteckte es in einer Schachtel mit Nägeln und Schrauben. Dann schaltete er das Licht ein und betrachtete die Regale, Paletten, Kisten, Plasttonnen und Gläser. Sie hatten den Spiegel absichtlich auf den Lagerraum ausgerichtet, weil sie annahmen, dass dieser Beobachtungsposten am wenigsten auffallen würde. Hier kam nur selten jemand rein. Dieses Gerümpel sieht aus wie Erinnerungen, dachte er. Aber was für Erinnerungen habe ich schon? Sein ganzes bisheriges Leben hatte sich in der Station abgespielt, der erste Teil drüben bei den Alten, der zweite, längere Teil hier im Kinderknast. Man konnte sich nicht an etwas erinnern, das man nie besessen hatte und nie gewesen war. Aber man konnte sich sehnen. Und man konnte hassen.

Er trat auf den Gang und schlenderte an den Kabinentüren entlang. Meki und Keta hatten die Besucherscheibe auf Rot gestellt, Gianna mochte er nicht, und mit Drobda hatte er sich gestritten. Hinter Laurens’ Tür war eine Art Grunzen zu vernehmen. Bei Karen stand die Tür offen. Greno streckte den Kopf in ihre Kabine.

»Hast du Lust, mir ein bisschen Gesellschaft zu leisten, Schwester?«

»Wie wär’s, wenn du mal ein bisschen werben würdest, Bruder?« Karen lag bäuchlings auf der Pritsche, den blonden Wuschelkopf über ein flaches Gerät gebeugt, das sie mit Ferrus getauscht hatte. Greno konnte sich denken, womit sie ihn bezahlt hatte.

»Werben?«

»Nennt man auch flirten, glaube ich. Eine alte, bewährte Kulturtechnik, die das menschliche Miteinander bereichert.« Der Wulst über ihrem linken Ohr pulsierte.

»Du liest zu viele Romane, Schwester.« Seit sie sich einen Zugang zur Datenbank der Kolonie verschafft hatten, war Karen süchtig nach »Literatur«, was aus ihrem Mund wie »Geheimwissenschaft« klang. Sie konnten auch auf Videos und Tondateien zugreifen, aber der Dokumentspeicher, in dem angeblich auch das Stationstagebuch verwahrt wurde, blieb ihnen vorerst noch verschlossen; er war weitaus besser gesichert.

»Fick dich, Bruder!«

Greno wandte sich ab und ging weiter zum Gemeinschaftsbad. Dort duschte er und putzte sich die Zähne. Dann ging er, das Kleiderbündel in der Hand, in Unterhosen zu seiner Kabine, die in einem Anbau lag. Insgesamt waren in diesem Trakt nur drei Kabinen belegt, der Rest stand leer. Offenbar hatten die Alten vorgehabt, weiteren Nachwuchs zu produzieren, doch dann hatten sie es sich anders überlegt. Greno wusste nicht, ob er das bedauern oder froh darüber sein sollte.

Er kroch in seine Koje, schloss das Schutznetz, sah an die Decke, betrachtete die Maserung der Udbretter. Bei den Alten war an dieser Stelle ein klappbarer Monitor montiert. Die Alten hatten alles: Monitore, Zugang zu Informationen, 3-D-Drucker – und ihr Gedächtnis, soweit es nicht schon vom Wurm der Zeit zerfressen war. Das wenige, das sie hier besaßen, mussten sie sich entweder selbst anfertigen oder heimlich eintauschen, und wenn es bei einer der regelmäßigen Kontrollen entdeckt wurde, nahm man es ihnen wieder fort.

Er schob die Hand unter die Decke und legte die Finger um seinen Penis.

Er dachte an einen Film, den er vor Kurzem gesehen hatte und der auf der Erde spielte. (Alle Filme spielten auf der Erde.) In diesem Film waren riesige dreibeinige Bots im Erdboden versteckt, und als sie erwachten, zerstörten sie die Siedlungen der Menschen, trieben sie zusammen und verwendeten ihr Blut als Dünger für die Nahrung der Aliens, deren Vorhut sie waren. Am Ende konnten die Menschen die Invasoren und ihre gewaltigen Kampfroboter besiegen. Filme waren angeblich fiktiv, aber vielleicht verhielt es sich ja ganz anders, und dieser Film zeigte ein Stück Realität, etwas, das sich tatsächlich ereignet hatte. Vielleicht hatten in Wahrheit die Aliens gesiegt, die Menschen dezimiert und die Erde ausgebeutet, bevor sie wieder verschwunden waren, und dieser Film war ein letztes Aufbäumen der Überlebenden, eine bewusste Geschichtsfälschung, die die Würde der Menschheit wiederherstellen sollte, bevor die Zivilisation zerfiel und Barbarei ausbrach. Das hieße dann, dass sie gar nicht im Corazon-System lebten, sondern auf der Erde, etwa auf dem Kontinent Afrika, und Gaia, dieser nebulöse Ort, an den man sie angeblich irgendwann aussiedeln wollte, wäre in Wirklichkeit Europa oder Amerika oder Australien. Dann wäre diese Siedlung, die die Alten als Kolonie bezeichneten, tatsächlich eine Enklave von Überlebenden, und wenn sie nur ein Stück weiter zögen, würden sie auf die blutgedüngten Felder und zerstörten Städte treffen, in deren Ruinen Menschenfresser und Wahnsinnige lebten.

Geistesabwesend hatte Greno begonnen, seine Hand zu bewegen, ruckweise, noch unentschlossen, als plötzlich die Zähnchen des Klettbands aufratschten und das Netz hochgeschlagen wurde.

»Karen«, sagte er ohne Überraschung.

Sie stieg zu ihm in die Koje, schloss das Netz wieder und zog die Decke weg. »Ts-ts-ts«, machte sie und schob seine Hand beiseite. »Ihr Jungs solltet das lassen. Davon werdet ihr nur schwach und krank im Gehirn.«

»Wer sagt das?«

»Hab ich gelesen.«

Sie setzte sich auf ihn, wobei sie sich vorbeugen musste, um nicht mit dem Kopf gegen die Kojendecke zu stoßen. Sie küssten sich nicht. Karen nahm ihn in sich auf, dann ritt sie ihn. Sie liebten sich nicht leidenschaftlich, aber heftig, ja beinahe verzweifelt, als hätten sie weniger ihre Lust im Sinn als vielmehr die gewaltsame Vereinigung von Spermium und Eizelle, die mit einem Höchstmaß an Energieaufwand zu betreibende biologische Fusion. So war es jedes Mal. Es war, als versuchten sie mit Gewalt, ein Kind zu zeugen. Aber sie wussten beide, dass das nicht möglich war, denn die Alten mischten ihnen irgendetwas ins Trinkwasser.

4

Irina Kaprow litt seit einiger Zeit an Schlaflosigkeit, was mit ihren einhundertzweiundsiebzig Jahren nicht unbedingt verwunderlich war. Stundenlang wälzte sie sich in der Koje, während ihre Gedanken immer langsamer und zusammenhangsloser wurden, ohne dass sie in den ersehnten Schlaf mündeten. Vorgestern, als sie Hanks Kabine nach dem Brand gereinigt hatte, war sie problemlos eingeschlafen. (Sie hätte sich auch gern in seine angekokelte Koje gelegt, ihn getröstet und ihm an seinem Geburtstag ein unerwartetes Geschenk gemacht, doch er war zu beschämt und müde gewesen.) Die vergangene Nacht jedoch war es besonders schlimm gewesen, und sie hatte den quälenden Dämmerzustand im Morgengrauen noch vor Beginn der ersten Arbeitsschicht in der Fabrik beendet und war ohne zu frühstücken nach draußen gegangen.

Jetzt stand sie im Garten der Station, der Teil des kreisförmigen Außenbereichs war. Eigentlich hätte er die Foodprinter längst ersetzen sollen, aber dafür war er viel zu klein – auch eines der Projekte, die in guten Ansätzen stecken geblieben waren. Auf der einen Seite grenzte er an den Sportplatz, der in den letzten Jahren immer mehr verwaist war, auf der anderen an die Zufahrt zur Fabrik. Dahinter lagen das Außenlager und der Auslauf der Kinder, den sie nur tagsüber zu bestimmten Zeiten betreten durften, doch dieser Bereich wurde durch den in die Jahre gekommenen Stationskomplex verdeckt. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, in der alten Station zu bleiben, die sie in der Nähe des Landeplatzes errichtet hatten. Nicht nur Irina hätte gerne näher am Meer gelebt, doch wegen der zwei Monde waren die Gezeitenkräfte unberechenbar, und eine Vorsorge gegen Sturmfluten hätte ihre technischen Möglichkeiten überfordert.

Eigentlich hatte sie erst morgen Gartendienst, aber sie liebte die Ruhe zu dieser frühen Stunde. Wenn der Wind so wie heute von Osten her wehte, hörte man nur die Laute des nahen Waldes: das Rascheln der sich aufrichtenden Langblätter und die ersten hohl klingenden Laute der Uds, das Tönen der vereinzelten Klimperweiden, das Fiepen der scheuen Morsel und das Knallen, mit dem der Peitschenmohn seinen Samen verschleuderte. Undefinierbare Gerüche wehten heran, die nach all den Jahren noch immer fremd waren und es wohl auch bleiben würden. Die anderen nahmen die Fremdheit als Bestätigung für ihr Ausgesetztsein und ihr Scheitern, doch Irina sah das anders. Im Grunde, dachte sie, gab es dem Fremden gegenüber doch nur zwei Haltungen: Entweder man nahm es an – oder man lehnte es ab und fürchtete es. Ihr fiel das Annehmen leicht; sie fand die Gerüche des Landes noch immer so aufregend wie am allerersten Tag, als sie aus dem aseptischen Lander in die Fremdheit von Corazon getreten war. Auch das war ein Grund, weshalb sie gerne allein war. Im Garten hatte sie das Gefühl, dass Altes und Fremdes einander besonders nahe waren. Sie berührten sich, verwoben sich, gingen eine neue Verbindung ein.

Irina bückte sich und entfernte einen Erdschweißausläufer. Dann pflückte sie eine Tomate und wog sie in der Hand. Vor vielen Jahren hatten sie die mitgebrachten Samen in die fremde Erde ausgesät. Die ersten Tomaten, die sie geerntet hatten, waren rund und rot gewesen; jetzt waren sie bernsteinfarben und auch nicht mehr rund, sondern erinnerten eher an kleine Fladenbrote. Sie biss hinein. Saftig waren sie noch immer, doch der Geschmack hatte sich ebenso grundlegend verändert wie ihr Aussehen. Irgendetwas auf Corazon wechselwirkte mit dem genetischen Material, und zwar in einem rasanten Tempo und in einer Weise, die man mit den bekannten Mechanismen der Zufallsmutation nicht hinreichend beschreiben konnte. Das galt natürlich nicht nur für die Tomaten, sondern auch für das Obst, die Blumen, das Getreide. Und für die Kinder. Im Gegensatz zu den anderen Kolonisten hatte Irina deren Extraorgane jedoch nie als Missbildungen und ihre charakterlichen Eigenarten nie als Deformationen begriffen und war als Einzige dagegen gewesen, sie im Kindertrakt zu isolieren. Und das nicht nur aus humanitären Erwägungen; sie hatte die Ansicht vertreten, dass Veränderungen, auch genetische, akzeptiert werden mussten, wenn sie sich auf die neue Umgebung einlassen wollten. Als sich die Symptome der sogenannten »Beulenpest« zurückgebildet hatten, hatte sie keinen Grund mehr gesehen, die Kinder abzuschieben. Sie hätte auch gerne mehr über diese Phänomene in Erfahrung gebracht, aber gegen die Panik unter den Kolonisten konnte sie sich nicht durchsetzen, und um die Wirkmechanismen zu analysieren, fehlte es an den erforderlichen Geräten, was sie als Forscherin bedauerte. Aber war sie das überhaupt noch – eine Forscherin?

Plötzlich schlug ihr Com an, nicht resolut, wie es sich für ein Warngerät gehörte, sondern mit einem kläglichen Schnarren, das auf einen Defekt im Lautsprecher oder im Signalverstärker hindeutete. Unwillkürlich hielt Irina am Boden nach einem der Creeper Ausschau, die bei Tag an ihren Abbildungsfehlern besser zu erkennen waren als im Dämmerlicht. Dann sah sie zu der prägnanten Dreiergruppe von Udbäumen hinüber, ob dort eine Bewegung auszumachen war. Vorausgesetzt, es wehte kein Starkwind, zogen die Bäume im Dunkeln die Stützwurzeln des etwa zweieinhalb Meter hohen »Stammes« ein und wanderten auf ihren Langblättern mit einer Geschwindigkeit von knapp zwanzig Metern pro Nacht. Auf diese Weise verlagerten sich ganze Wälder, und der Boden konnte sich regenerieren. Aber natürlich hatten auch die Bäume keinen außerplanmäßigen Zwischenspurt eingelegt.

In diesem Moment schrillte der Stationsalarm.

Irina humpelte zur offenen Schleuse zurück, schlüpfte hindurch, zog die Außenklappe zu und verriegelte sie mit der Handkurbel, wie es im Alarmfall Vorschrift war. Jetzt schon außer Atem, eilte sie über den Flur, wobei sie das linke Bein nachzog. Das Schrillen wurde lauter. In der Messe hielt sich nur Brent auf – der Expeditionsleiter, Chief genannt. Jemand hatte ihn dort abgestellt und offenbar vergessen, als der Alarm losgegangen war. Er saß in seinem Rollstuhl, rollte mit den Augen, ein Speichelfaden tropfte ihm vom Mundwinkel auf den Latz. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, aber er sagte nie etwas.

Irina lief weiter, bog zweimal ab, stieg mühsam eine Treppe hoch und platzte auf die Brücke – auch im Alarmfall hatte sie dort als Angehörige der Perspektivkommission jederzeit Zutritt. Vor dem großen Fenster stand Hank, die Prothese aufs Pult gestützt, mit einem Bademantel mit UN-Emblem bekleidet, und spähte durch ein Stativfernrohr. Außer ihm waren noch Lemonia, die Vorarbeiterin aus der Fabrik Millar sowie der allgegenwärtige Grem anwesend, und im Gegensatz zu Hank waren alle mehr oder weniger vollständig bekleidet. Grem, in grünen Shorts und kariertem Sakko mit Ellbogenflicken, stand hinter den anderen. Er hatte die Arme verschränkt und die Stirn in Falten gelegt, um seine Mundwinkel spielte das überlegene Psychologenlächeln, das im Laufe der Zeit zu seiner Charaktermaske geworden war. Er gehörte zwar nicht der Perspektivkommission an, hatte aber ebenfalls überall Zugang. Das war in der Kolonistenbibel so festgelegt, und niemand hatte bisher daran gedacht, den Abschnitt zu streichen; eigentlich war noch niemals ein Abschnitt aus der Bibel gestrichen worden, was womöglich mit ein Grund dafür war, dass in der Station Stagnation und Resignation vorherrschten.

»Was ist los?«, fragte Irina atemlos.

Eine Überwachungskamera war auf den großen Monitor geschaltet; man sah den Maschendrahtzaun mit der Stacheldrahtkrone, das Tor der Kolonie und die von Erdschweiß und anderem Unkraut überwucherte Straße mit der Sicherheitskehre. Das Bild war an den Rändern unscharf und von einem Zufallsmuster fehlerhafter Pixel überzogen. Die eine Hälfte der Pixel war schwarz, die andere leuchtete weiß, aber wenigstens funktionierte das Display noch – als die OLED-Displays in den Tischen und Wänden ausgefallen waren, hatte man aus der Datenbank Stand-Alone-Geräte ausgedruckt.

»Ein Bot«, sagte Hank. »Ich sehe einen Bot.«

Irina sah nichts. Millar nahm vor dem Monitor Platz, offenbar war sie auch gerade erst eingetroffen. Ihr schwarzes Kraushaar stand nach allen Seiten ab. Sie spreizte die Finger, und als die Kamera nicht reagierte, betätigte sie die Tastatur. Das Bild zoomte ruckartig heran, und nun sah auch Irina die Maschine: Sie war schwarz, hatte sechs Beine, einen kastenartigen Vorbau mit Sensoren und einen Tonnenbauch. Ihre Länge schätzte sie auf zwei bis drei Meter.

»Ein unbekanntes Modell«, bemerkte Millar. Sie arbeitete in der Fabrik an den Druckern und kannte sämtliche Hardwarevorlagen. Sie war ein molliger, gutmütiger Typ, und eine ausgeglichene Psyche war an ihrem Arbeitsplatz sicherlich von Vorteil.

»Verflucht!«, zischte Hank. »Jetzt sind die verdammten Scheißer auch noch kreativ geworden.«

»Kreativ würde ich das Modell auf den ersten Blick nicht nennen«, sagte Lemonia leicht säuerlich. »Mich erinnert das Ding an einen Hund – einen hässlichen, gehbehinderten Hund.« Sie hatte ihren mittellangen Haarschopf mit einem bunten, löchrigen Tuch gebändigt und blickte mit finsterer Miene auf den Monitor, als würde sie dessen multiple Defekte als persönlichen Affront betrachten.

»Oder an einen Bär?«, warf Irina ein.

»Ob Bär oder Hund, ist doch egal«, knurrte Hank und richtete sich auf. »Die Frage ist, was will der Bot.«

»Was hat er da hinten?« Irina deutete auf den Monitor. »Ist das wirklich ein Schwanz?«

Hank sah wieder durch das Teleskop. »Nein, das ist kein Schwanz.« Er klopfte mit dem kleinen Prothesenfinger auf den Tisch, rasend schnell. »Das ist eine weiße Fahne. Verflucht!« Er zog ein Mikrofon mit Spiralkabel aus einer Halterung, drückte einen Schalter und sagte: »Mika, siehst du, was ich sehe?«

Ein Lautsprecher knackte. »Seh ich, Captain.«

»Okay. Du unternimmst nichts, bis ich’s dir sage, hast du verstanden?«

»Ist klar, Captain.«

Hank legte das Mikrofon auf die Tischplatte, beugte sich erneut vor und spähte durchs Teleskop.

»Wir sollten das Ding abschießen, bevor es aufs Gelände kommt«, schlug Millar mit großen, runden Augen vor. Sie hatte die Stimme nicht gehoben, und ihr Tonfall war so weich wie ihr vollbusiger Körper.

»Auf gar keinen Fall«, widersprach Lemonia. »Wenn überhaupt, fangen wir ihn ein und untersuchen ihn. Vielleicht können wir ihn ja umpolen.«

»Bots kann man nicht umpolen«, murmelte Hank.

»Und es widerspräche auch den Vorschriften«, sagte Millar. »Die sind eindeutig.«

»Das sind Vorschriften aus dem Anhang«, bemerkte Irina, als wäre die Sache damit geklärt. Tatsächlich genoss nur der erste, auf der Erde verfasste Teil des Kolonistenhandbuchs quasi biblischen Status, der ihn jeglicher Infragestellung enthob. Der zweite Teil, der vor Ort niedergeschrieben worden war und im Laufe der Zeit immer umfangreicher geworden war, wurde eher als nicht bindende Sammlung von Empfehlungen angesehen. Allerdings waren die Zusätze durch Mehrheitsbeschluss der Perspektivkommission zustande gekommen, was in Konfliktsituationen zu bisweilen heftigen Auseinandersetzungen führte.

»Wenn der Bot eine weiße Fahne dabeihat, heißt das, dass er ein Emissär ist«, meldete sich der Psychologe Grem zu Wort. Mit seinem kahl rasierten, tiefschwarzen und nahezu faltenlosen Schädel hatte er selbst etwas von einem Bot. Und tatsächlich hatten seine Interventionen etwas Automatenhaftes – er war ein Opfer seines Berufs, und dass ihm seine Schutzbefohlenen, Klienten oder Patienten, wie er sie insgeheim nannte, umso verschlossener begegneten, je intensiver er sich ihnen anzunähern versuchte, bestärkte ihn darin, immer weiter das zu tun, was er vor einer Ewigkeit auf einer anderen Welt einmal gelernt und ebenso fest verinnerlicht hatte wie seine Patienten ihre Kolonistenbibel. Dies wiederum provozierte seine Umwelt zu nicht minder stereotypen Gegenreaktionen. Grem war in einem sich selbst verstärkenden Regelkreis gefangen, und dass ihm dessen Mechanismus zumindest in Ansätzen bewusst war, machte es ihm nicht leichter; trotz seiner selbstbewussten Erscheinung war er ein sensibler Mann, der in den dunklen Stunden, in der Enge seiner Koje, immer öfter nicht nur am Sinn des Infinity