NEW YORK IST HIMMLISCH - Norbert Stöbe - E-Book

NEW YORK IST HIMMLISCH E-Book

Norbert Stöbe

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Beschreibung

In einer satirischen Zukunftsvision wird der Überlebenskampf in einer Stadt geschildert, die nach einem Chemie-Unfall zur Sperrzone erklärt worden ist. Während im Outland das Leben weitergeht, müssen die Menschen in der Stadt mit Lebensmittelknappheit, Verwahrlosung und Gesetzlosigkeit fertigwerden. Sie folgen dabei einzig ihrem weitgehend auf Instinkte reduzierten Überlebenswillen, teilen die Stadt in verschiedene, von Despoten regierte Bezirke auf und ergeben sich in ihre Frustration. Einzig Ralfd, die rechte Hand des "Sheriffs von New York", versucht schließlich, dieser Hoffnungslosigkeit zu entrinnen, und entwickelt sich vom ironischen Beobachter zum aktiv Handelnden, der plötzlich in sich menschliche Regungen wie Mitgefühl und sogar Mut entdeckt, als sein Bezirk von einer rivalisierenden Bande bedroht wird... NEW YORK IST HIMMLISCH wurde 1988 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

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NORBERT STÖBE

New York ist himmlisch

Roman

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

NEW YORK IST HIMMLISCH 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

17. 

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

 

Das Buch

In einer satirischen Zukunftsvision wird der Überlebenskampf in einer Stadt geschildert, die nach einem Chemie-Unfall zur Sperrzone erklärt worden ist. Während im Outland das Leben weitergeht, müssen die Menschen in der Stadt mit Lebensmittelknappheit, Verwahrlosung und Gesetzlosigkeit fertig werden. Sie folgen dabei einzig ihrem weitgehend auf Instinkte reduzierten Überlebenswillen, teilen die Stadt in verschiedene, von Despoten regierte Bezirke auf und ergeben sich in ihre Frustration.

Einzig Ralfd, die rechte Hand des »Sheriffs von New York«, versucht schließlich, dieser Hoffnungslosigkeit zu entrinnen und entwickelt sich vom ironischen Beobachter zum aktiv Handelnden, der plötzlich in sich menschliche Regungen wie Mitgefühl und sogar Mut entdeckt, als sein Bezirk von einer rivalisierenden Bande bedroht wird...

New York ist himmlisch wurde 1988 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

Der Autor

Norbert Stöbe, Jahrgang 1953.

Norbert Stöbe ist ein deutscher Übersetzer und Science-Fiction-Schriftsteller.

Sein Debüt-Roman Spielzeit erschien im Jahre 1986; es folgten die Werke New York ist himmlisch (1988), Namenlos (1989), Der Weg nach unten (1991) und Morgenröte (2014). Für Februar 2017 ist sein neuester Roman Kolonie (Heyne-Verlag, München) angekündigt.

Überdies hat Norbert Stöbe diverse herausragende Werke ins Deutsche übersetzt – u.a. Das zweite Spiel (Replay, 1986) von Ken Grimwood, Das Orakel vom Berge (The Man In The High Castle, 1962) von Philip K. Dick, Hitzefühler (Heatseeker, 1988) von John Shirley, Das Haus der Sonnen (House Of Suns, 2008) von Alastair Reynolds und Das Blut der Rosen (The Blood Of Roses, 1990) von Tanith Lee.

Mehrfach wurde Stöbe mit Preisen ausgezeichnet: 1985 mit dem Bertelsmann Förderpreis, 1988 und 1995 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis (für seinen Roman New York ist himmlisch sowie für die Erzählung Der Durst der Stadt) und 1992 mit dem Deutschen Science Fiction-Preis (für seine Erzählung Zehn Punkte).

NEW YORK IST HIMMLISCH

  Eine Stadt wächst, so lange sie lebt. Sie ist wie ein großer, gefräßiger Körper, der immer noch größer werden will. Sie wächst an ihren Rändern; im Innern herrscht das gleiche Umwühlen, Verdauen, Zersetzen und Umbauen wie bei jedem anderen Organismus auch. Das Absterben und Neu-Zusammen- setzen dauert vielleicht etwas länger, aber zehn Jahre sind auch für eine Stadt eine lange Zeit. Zehn Jahre reichen aus, einen Stadtteil, dessen Bürgersteige mit Gold bepflastert sind, in einen Haufen Dreck zu verwandeln.

Es fängt alles ganz harmlos an, und keiner weiß warum. Zuerst zieht eine verdiente Persönlichkeit weg, man liest davon in der Zeitung. Dann stehen auf einmal überall in den Straßen der Reichen Möbelwagen, die eine oder andere Bank rüstet auf Automatikkassen um, und irgendwann hängt am Eingang ein Schild Filiale geschlossen. Die Mieten fallen, ebenso die Grundstückspreise. Künstler tauchen in der Gegend auf, Chinesen, Schwarze, eine Menge Leute mit dem gewissen Knick im Lebenslauf. Köche aus aller Welt scheinen wild darauf zu sein, gerade hier ein Restaurant aufzumachen. Dann ist es eine Zeitlang noch ganz lustig, bis einem eines Tages auffällt, dass die Autos in den Straßen verdammt viel Rost angesetzt haben. Das Leitsystem ist längst zusammengebrochen, die Schlaglöcher werden nicht mehr aufgefüllt, und die Müllabfuhr kommt unregelmäßig. Man will an der Ecke ein paar Äpfel kaufen, aber dort hat jetzt ein Ramschladen aufgemacht. Auf der Treppe sitzen alte Männer und erzählen sich Zoten, obwohl die Mädchen fast schon für ein gutes Wort zu haben sind. Bis zum nächsten Supermarkt muss man eine Viertelstunde gehen, aber das tut keiner mehr. Es ist zu gefährlich. Die Nachrichten im lokalen TV sind voll von Vergewaltigung, Drogen, Einbruch und Raub. Statt Aktientipps werden Hinweise für Fürsorgeempfänger gesendet. Im Briefkasten liegt neben dem Werbeprospekt für den elektronischen Türwächter das schmutzige Besteck eines Junkies. Auch die Dealer annoncieren Sonderangebote in ihrer eigenen Zeitung. Und dann beginnt einem aufzufallen, dass die Polizei keine Streife mehr fährt. Wenn man beim Nachbarn klopft, wird nicht geöffnet. Ist er ausgezogen? Turnt er auf dem Fensterbrett, schneidet er sich gerade die Pulsadern auf? Oder hält er nur den Atem an, eine Hand am Telefon?

Man fühlt sich allmählich etwas einsam, ruft ein Taxi, und wenn man den Bezirk nennt, legt das Mädchen in der Vermittlung auf. Es gibt auch keinen Handwerker mehr, der den Rohrbruch flickt. Also sucht man sich eine neue Wohnung, dabei ist es unmöglich herauszufinden, wer die Miete kassiert. Spätestens dann weiß man, dass es Zeit ist zu gehen.

Ich habe das alles als Kind mitgemacht. Ich erinnere mich noch, dass unsere Lehrer eine Weile mit Polizeischutz in die Schule gekarrt wurden. Kurz darauf wurde sie geschlossen. Trotzdem kamen noch dann und wann Touristen in Bussen an, um das Museum zu besuchen und gefälschte Antiquitäten zu kaufen.

Aber dann passierte der Unfall bei Hitachi-Chemie: Hubschrauber, Feuerwehr, Leute in Schutzanzügen, TV-Teams, Interviews. Auch das Werk wurde geschlossen. Zwei Monate tat sich nichts Besonderes. Dann kamen auf einmal Durchsagen im TV, im Radio, und über Lautsprecherwagen: Evakuierung. Unbewohnbarkeit aus sozialen Gründen. Eine menschenwürdige Existenz kann von den öffentlichen Organen nicht mehr gewährleistet werden. Die Benutzung der Busse ist kostenlos. Möbelwagen werden auf Anfrage verbilligt zur Verfügung gestellt. Es war ein großes, schrilles Theater, nicht sehr überzeugend. Manche gingen, manche blieben da. Wir waren alle etwas überrascht, als wir feststellten, dass wir auf einmal in einer Zone lebten, die von einer Grenze mit Wachtürmen und Personenschleusen eingeschlossen war.

Wieder ein paar Wochen später lebten wir in New York. Der Anführer einer Chaoten-Gang, der sich Sheriff Baxter nannte, hatte ein Gebiet von der Größe einiger Straßenzüge besetzt und die Straßennamen eigenhändig mit Nummern übermalt. Als sich herausstellte, dass es hier ein Lebensmittellager gab, wuchs sein Einflussbereich rasch. Im Laufe der Jahre sah er immerhin ein, dass es besser war, ein paar Leute mitmachen zu lassen, deren Köpfe nicht bloße Attrappen waren; sie stampften so etwas wie eine Verwaltung aus dem möglicherweise verseuchten Boden, streuten Maissamen in den Park und auf die wenigen Wiesen, organisierten die Wasserversorgung und hielten das E-Werk in Gang. Drei weitere Gruppen teilten die Restbevölkerung unter sich auf, so entstanden Südland, Europa und Haba-Guta.

Einer der Leute mit Ideen im Kopf war ich. Aber außer dem Sheriff hatte ich noch ein paar andere Probleme; meine Freundin Sue hatte sich mit der neuen synthetischen Droge Micra eingelassen, und es fiel mir im allgemeinen schwer, den anderen klarzumachen, dass ich trotz meiner schwarzen Haut ein Weißer war. Ich legte Wert darauf, dass sie es wussten.

Wir hatten eine neue Ordnung aus den Trümmern der alten aufgebaut, aber auch diese zeigte Auflösungserscheinungen. Ein alles durchdringender Geruch von Zerfall und Niedergang hing in der Luft. Es schien immer noch eine Stufe zu geben, die man noch nicht hinabgestiegen war. Vielleicht stand ich aber wirklich vor der letzten Stufe an jenem Abend, da ich durch die düsteren Gänge des Hauptquartiers zum Büro des Sheriffs ging, um mir Instruktionen zu holen. Ich war bei diesen Gelegenheiten immer auf das Schlimmste gefasst, und deshalb war es eine angenehme Überraschung, als ich Ellen am Ende des Korridors aus der Tür treten sah...

  1.

»Vorsicht, er steht unter Strom!«, flüsterte Ellen und blendete mich mit ihrer bleistiftscharf fokussierenden Lampe, damit sie mein Gesicht sehen konnte. Auf der anderen Hand balancierte sie ein Tablett mit einer Kaffeekanne, zwei Tassen und einer Konservendose, die mit Zucker oder Mehl gefüllt war; der Inhalt war jedenfalls weiß.

»Schlimm?«, fragte ich und drückte ihre Lichtpistole zur Seite. Sie hievte das Tablett in Höhe ihres Kinns: »Voll bis zum Rand.«

»Du solltest so spät nicht mehr durchs Dunkle laufen«, sagte ich. »Da kann doch allerhand passieren.«

»Was denn, zum Beispiel?«

»Dir könnte die Kanne runterrutschen, und dann klaubst du die Scherben zusammen und verlierst deine Kontaktlinsen dabei.«

»Idiot.«

Sie mochte mich eben. Ich sah ihr nach, wie sie durch den Korridor entschwand. Sie hatte einen allerliebsten Hintern, und eine Glatze, seitdem sie von den Leuten aus Europa skalpiert worden war. Es war eben schon etwas Besonderes, im Hauptquartier des Sheriffs zu arbeiten; man musste verrückt sein, besonders mutig - oder ein so gut getarnter Feigling wie ich.

Als sie im Treppenhaus verschwunden war, hatte ich keinen Grund mehr, auf dem Gang herumzustehen. Trotzdem tat ich es, denn ich wusste nicht, was unangenehmer war; der Anblick des leeren, schwarzen Korridors mit einer langen Reihe unterschiedsloser Türen auf der rechten Seite, oder der Sheriff hinter der Tür, vor der ich stand. Vielleicht überlegte ich damals, ob es nicht vernünftiger wäre, den Anzug einzuschalten und irgendwohin zu gehen, wo mich keiner kennt - aber der Mensch ist kein vernünftiges Wesen. Also klopfte ich, wartete das Grunzen ab und ging hinein.

Ich bewunderte den Sheriff, wirklich. Er war dreckig wie das Schwarze unter meinen Nägeln und so dumm wie meine arme kleine Freundin Sue, wenn sie nach einem Trip wieder ins vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum eintauchte. Er war ein verdammtes Verbrecherschwein, und er hatte selbst die Gesetze gemacht, die er brach. Ich bewunderte ihn wegen seines Stils. Denn er hatte Stil, und deshalb schlug er sich die Nächte in einem schlecht belüfteten Büro um die Ohren, trank billigen Whisky und zermürbte die Nerven seiner besten Mitarbeiter. Das hatte alles herzlich wenig mit Bildung zu tun, sondern mehr mit einem gewissen Instinkt für Situationen und mit zwei oder drei alten amerikanischen Filmen, an die er sich erinnerte. Deshalb war ihm auch entgangen, dass sein geliebter Hut kein Stetson, sondern ein Borsalino war, aber keiner traute sich, es ihm zu sagen. Ich auch nicht.

Ich knipste meine Lampe aus, hängte sie an den Gürtel und sah, dass Ellen Recht hatte. Der Kopf des Sheriffs glühte im Halbdunkel wie das Innere eines Toasters. Glänzender Schweiß überzog sein fettes Schweinsgesicht wie eine zweite Haut, und als er nach dem Glas neben seinen Stiefeln griff, die auf dem Schreibtisch durchaus am Platze waren, dachte ich unwillkürlich an einen undichten Kessel, in dem man Lauge und Fett zu Seife verkocht, und dem der übelriechende Saft aus allen Poren sickert.

Der Sheriff trank, und etwas in dem Wulst, der sein Hals war, gluckste. Als er fertig war, sagte er: »'n Abend, Blackie. Ich hab' was für dich.« Er reichte das leere Glas an Peter weiter, der hinter ihm an der Wand lehnte.

Peter steckte es in eine Tasche seines ausgeleierten Sakkos, schüttelte seinen ältlichen Affenkopf, der so schwarz war, wie Nigger es bei Nacht eben sind, und sagte: »Also...«

»Ein Glas!«, brüllte der Sheriff, riss sich den Hut vom Kopf und klatschte ihn gegen den Stuhl, auf dessen Hinterbeinen er knarrend kippelte. »Sofort noch ein Glas!«

»Ah... morgen«, sagte Peter, ohne den Mund zu bewegen. Damit hatte er den elenden Fresssack in der Hand. Und jetzt, im Augenblick seines armseligen Triumphs, gönnte er auch mir einen Blick, dem ich auswich. Ich mochte Nigger nicht besonders. Ich weiß, die Prolos stinken nach Kohl, und den Chinesen sitzt das Messer locker: das war mir alles zu primitiv. Aber ich sagte mir, man erträgt die Nacht doch eigentlich nur wegen der Sterne, und die sind weiß. Wenn Stromausfall war und der ganze Himmel bedeckt mit Wolken, dann konnte man sich eben immer noch sagen: irgendwo da oben leuchten die Sterne. Ich hatte einfach stets so ein komisches Gefühl, wenn ich einen Nigger sah. Meine Mutter war weiß, genau wie mein Vater. Er hatte sich aus irgendeinem Grund einen verdammten Niggerjungen gewünscht. Damals waren solche Sachen hier noch machbar, und so hat er eben mich gemacht; einmal, indem er meine Mutter gebumst hat, und dann durch einen genetischen Trick, für den er kurz seine Kreditkarte zücken musste. Aber ich hatte es auszubaden, und es half mir verdammt wenig, dass manche Frauen immer noch meinten, ein Nigger würde es im Bett eher bringen als ein Weißer. Ich wusste, dass es nicht stimmte.

»Setz dich«, sagte der Sheriff. »Einen Kaffee?«

Ich setzte mich vor den Schreibtisch, und Peter räusperte sich, bevor ich ja sagen konnte.

»Ah, Ellen«, erinnerte sich der Dicke. »Ist leider schon wieder weg. Lass den Leuten ein bisschen lange Leine, und schon lassen sie dich verdursten. Aber der Wahlkampf,' der Wahlkampf! Mach den Affen, schwing den Arsch, und Bitterecht-freundlich! Lassen einen Mann, der nichts weiter will, als seinen Job anständig zu tun, glattweg verdursten. Meine Haut wird schon schrumpelig: Austrocknung, siehst du?« Er kippte vor, schob mir seine rosige Patschhand hin und zupfte an seiner Haut. Ich atmete durch den Mund. Die Knöchel waren rot, an einer Stelle war die Haut gerissen. Weil in diesem Moment die Jungs vom E-Werk ihre Leitungen geflickt oder die Kessel wieder unter Dampf gesetzt hatten, ging das normale Licht an, und ich konnte den Grund für die wunden Knöchel sehen. Ein Mann hockte links vor dem Fenster auf einem Stuhl, und das Blut in seinem Gesicht war erst teilweise getrocknet.

»Vorsicht!«, rief der Sheriff und drückte sich den Hut ins Gesicht, als gäbe es nur empfindliche Eulen- und Säuferaugen auf der Welt. Peter beugte sich vor und schaltete die Akkulampe aus. Ich musste an Ellen denken, die jetzt mit den Leuten von der Nachtwache unten am Eingang rockte und zockte. Dort gab es bestimmt noch Kaffee, und man konnte sich vorstellen, unter einer etwas sonderbaren Tierart zu sein, der die kulturelle Entdeckung von Mord und Quälerei noch bevorstand.

»Also, folgendes«, sagte der Sheriff. »Die nächste Show läuft morgen an der Ecke 17./30. um halb drei, vor der Gärtnerei von Montgomery-Einarm. Wir brauchen noch ein paar Babies fürs Aktuelle Kabel, einen halbverhungerten Hund, ein paar Jugendliche, die mit ihren Eltern kommen, und einen Haufen Luftballons. Vielleicht kann sie jemand vorher noch anpinseln, ich hab' mir da ein paar neue Sprüche notiert: Wir lieben Sheriff Baxter! - Die Lage ist schlimm, aber ohne den Sheriff wäre sie hoffnungslos! - Einmal Sheriff Baxter, immer Sheriff Baxter! - Recht und Ordnung - der Sheriff versteht was davon!«.

»Chef«, sagte ich, »woher soll ich denn die Babies nehmen? Der Hund, okay, aber...«

»Dann lass dir gefälligst was einfallen, Mann! Verdammt nochmal, wozu ist denn so eine Flasche meine linke Hand?«, brüllte er.

Ja, ich war seine linke Hand, und Peter seine rechte. Und da es am Kopf haperte, wusste die eine oft nicht, was die andere tat. Ich betastete eine runde Perle in meiner Hosentasche und versuchte herauszufinden, welche es war. Kubus links, Pyramide rechts, es musste eine Zwei-Lila sein.

»Chef«, sagte ich, »ich werde mein Bestes tun. Aber zaubern kann ich nicht.«

»Dann musst du's eben lernen! Wer nicht mehr dazu lernt, gibt sich auf! Wer sich aufgibt, baut ab! Wer abbaut, den beißen die Hunde! Der versinkt in der Gosse, der wird eingemacht, bevor er noch einmal Piep sagen kann, und ich weiß, wovon ich rede! Ich hab's selbst erlebt, hab' mich hochgearbeitet aus eigener Kraft, ich...«

Und so ging es weiter. Ich hörte schließlich weg und wechselte zu einem Kubus über, der eine Drei-Rot sein musste. Ich fühlte den Button des Tandaradeis schwer an der Innenseite meines Schenkels.

Der Sheriff beruhigte sich schließlich wieder. »Und jetzt Punkt Zwo. Du gehst in die 11. und schaust nach, was dort rumsteht. Das machst du ab jetzt jeden Abend, bis auf weiteres. Natürlich mit Anzug. Ich habe das ungute Gefühl, dass die Truppe ein bisschen auf eigene Rechnung arbeitet. Wenn ich mich täusche, umso besser. Klar?«

»Klar.«

»Gut.« Er fasste den Hut an der Krempe und fächelte sich Kühlung zu. »Ich glaube, das wäre im Moment alles. Oder fällt dir noch was ein, Peter?«

Sein tumber Nigger gähnte.

»OKAY!«, brüllte der Sheriff plötzlich. »Dann also los!«

Ich stand auf und streifte den Mann vor dem Fenster mit einem Blick, den der Sheriff wohl bemerkte.

»Halt! Nimm den da mit und steck ihn in die Zelle, Sicherheitsverwahrung!«

»Handschellen?«

»Der leckt dir noch die Stiefel ab zum Dank, wenn du ihn ohne Zwischenfälle unten ablieferst!« Er kippte den Stuhl wieder auf die Hinterbeine und wischte sich die Backen. Ja, es wird einem wirklich nichts mehr geschenkt heutzutage.

Der Mann am Fenster hatte mitgehört und mitgedacht und stand auf. Ich sah jetzt auch das Abzeichen mit dem Blütenkelch am Brustlatz, und aus einer Tasche hing etwas, das glitzerte und glänzte.

»Das Tandaradei«, sagte der Sheriff und zeigte darauf.

Peter ging hin, zog die Kette hervor und untersuchte den ovalen Button, ohne ihn zu aktivieren. »Zweite Generation«, gab er bekannt.

»Geschenkt«, sagte der Sheriff.

Peter stopfte das mit Elektronik vollgepackte Metall-Ei in die Tasche zurück, und ich öffnete inzwischen die Tür und wartete ab, bis der Mann auf dem Korridor stand.

»Bis morgen, Chef«, sagte ich, und er rief mir nach, dass wir uns bei der Show sehen würden. Das nahm ich zur Kenntnis mit der Gelassenheit eines Weisen, der gewohnt ist, Schicksalsschläge einzustecken.

Ich musterte prüfend den Mann, um herauszufinden, ob es tatsächlich ein Bruder des Kelches der Barmherzigen All-Mutter war. Aber die Hängeschultern und der Armesünderblick ließen keinen Zweifel offen. Man griff sich bei dem Gedanken an den Kopf, dass diese pseudoreligiösen Flops sich an den Wahlen beteiligten, nur weil sie beim Abzählen ihrer Blütenblätter, oder wie das Pflanzenorakel sonst funktionierte, einen Auftrag der Allmutter persönlich zur Errettung der Welt im Allgemeinen und New Yorks im Speziellen herausgelesen hatten. Aber bei Leuten, die mit ihren Blumentöpfen nonverbale Unterhaltungen pflegten, war kein Sinn für Realitäten zu erwarten.

»Wir gehen jetzt in den Keller«, sagte ich. »Und da arbeitet die Spinne. Dieser Mann heißt so, weil er Vogelspinnen züchtet. Er macht Dienst von zwölf Uhr morgens bis um sieben, und manchmal dauert's auch länger.« Ich ließ ein paar Sekunden verstreichen, um die Wirkung meiner Worte zu erhöhen. Mir fiel die Kugel zwischen Kubus und Pyramide ein, und ich sah nach. Ich hatte das verzerrte Prisma mit dem Tetraeder verwechselt, und deshalb war es nicht eine Zwei-Lila, sondern eine Vier-Oliv. Ich ärgerte mich. Wir hatten inzwischen die Treppe erreicht; der Lift funktionierte nicht mehr, selbst bei Strom. Etwa jede zweite Lampe brannte oder flackerte noch. Das Schlurfen und Stolpern neben mir machte mich wahnsinnig, und eine Art Wut senkte sich wie eine Feuerkugel durch meinen Schlund zum Magen hinab und brannte dort weiter. Pazifismus war weiß Gott eine hübsche Idee, aber wenn ich mir so die Folgen betrachtete, kotzte er mich an. Du konntest ihnen sagen: gib mir deinen linken Schuh, mein rechter ist kaputt, so gaben sie ihn dir. Sie hielten dir auch die zweite Backe hin und fühlten sich ein bisschen wie Christus dabei, nehme ich an. Sie glaubten an das Gute im Menschen, und dass man durch Beispielgeben erzieherisch wirken kann. Traurig war das, sehr traurig.

»Er züchtet die Tierchen in den Zellen, um die Leute mürbe zu machen«, fuhr ich fort. »Aber wenn es notwendig werden sollte, kann er auf eine uralte Tradition äußerst subtiler Methoden zurückgreifen. Er ist Chinese und hat das Buch der tausend Schmerzen im Original studiert.«

»Meine Familie«, sagte das Blumenkind. »Bitte.«

Ich schwieg und überlegte, was das Wort Familie für mich bedeutete; ein borstiges Stück Erinnerung, eine ungestillte Sehnsucht... Das war eine meiner vielen Schwächen: dass ich kaum eine Gelegenheit ausließ, um sentimental zu werden.

»Bitte!«, sagte der Mann. »Meine Familie wohnt in der 11., Nummer 236. Wenn Sie sie benachrichtigen könnten... bitte!«

Ich reagierte nicht. Wir waren jetzt unten, das heißt, im Erdgeschoss. Ich öffnete eine Tür, und wir machten einen Schlenker durch das dunkle, verlassene Gebäude. Ich roch Schweiß und hatte das Ganze satt. Wir kamen durch einen leeren Saal, in dem einmal freundliche junge Damen mit freundlichen jungen Herren freundliche öde Gespräche geführt hatten. Nun lagerten hier Kübel mit den mumifizierten Resten überzüchteter Hydrokulturen, und irgendein Idiot hatte ein Fenster halb offenstehen lassen, das zum Hof führte.

»Moment«, sagte ich, »mein Schuh ist auf.« Ich bückte mich und löste die Schleife meines rechten Schuhs. Ich tat es langsam, spielte mit den beiden Kordel-Enden, die sich schon wieder einmal aufzwirbelten, und begann schließlich, die Schleife neu zu binden. Der Mann neben mir atmete keuchend, seine Kleidung knisterte, und dann spurtete er endlich los. Ich band die Schleife zu und ging ans Fenster, das jetzt weit offen stand. Kühle, irgendwie saftige Luft wehte mich an, und ich dachte an Wiesen, auf denen das lange Gras durcheinandersteht wie ungekämmtes Haar. Ich sah dem mit der Dunkelheit verwachsenden Schatten nach und überlegte, was ich dem Sheriff morgen erzählen sollte. Trotzdem musste ich lachen. Natürlich war alles nur gelogen gewesen. Soviel ich weiß, brauchen Vogelspinnen Licht und Wärme zum Gedeihen, und beides gab es dort unten im Keller nicht. Und die Spinne hieß in Wirklichkeit Quota, hatte eine Glatze natürlichen Ursprungs und tat wichtig mit einem Schlüsselbund, der fürs ganze Viertel ausgereicht hätte. Aber so sind die Menschen: gib ihnen ein Fetzchen Macht, und sie verderben sich den Charakter.

Wofür halten Sie mich jetzt? Oder, anders gefragt, wer war ich zu jener Zeit? Wenn Sie eine Antwort haben, wissen Sie mehr als ich damals. Ich spielte den harten Mann, den kalten Mann, aber das war ich nicht. Manchmal hatte ich Angst wie ein kleines Kind, das allein im Dunkeln ist. Aber ich wagte schon lange nicht mehr zu schreien, denn das konnte lebensgefährlich sein.

Dabei fällt mir eine Geschichte ein, eine Geschichte in der Geschichte. Ich ging über eine Straße. Auf den Weiden zu beiden Seiten wuchs Gras in langen, unordentlichen Büscheln. Die Straße und die Weiden befanden sich in einem Raum, der so groß war, dass ich keine Wand erkennen konnte, ich wusste nur, sie war da. Ich suchte die Ferne ab nach etwas, das warm war, hell und leuchtend, wie die Sonne oder die Berührung einer Frau, die liebt. Denn in dem Raum herrschte ein kaltes graues Licht, fad wie Nebelwetter, das seit Wochen anhält. Ich ging so schnell, dass ich keuchte, und das Herz schlug mir wie verrückt in der Brust. Schließlich begann es zu regnen, und aus einem Seitenweg trat ein Mann an mich heran, der zwei leere Flaschen in den Händen trug. Wir gingen nebeneinander her.

»Kann man denn nichts dagegen tun?«, fragte ich, als das Schweigen unerträglich wurde.

»Doch«, sagte er und drückte mir eine der beiden Flaschen in die Hand. Ich hielt sie über meinen Kopf, mit der Öffnung nach unten.

»Es hilft nicht«, sagte ich.

Er lachte mich aus, aber freundlich, ohne mich zu verletzen. »Siehst du«, sagte er, »jetzt weißt du es.«

»Aber was soll ich denn tun?«, fragte ich. »Ich werde erfrieren und verhungern, wenn nicht bald etwas geschieht.«

Der Mann sah mich an und verschwand.

Ich kniete vor einer Pfütze. Im blasigen Wasser sah ich mein spiegelndes Gesicht, die grünen Augen in meinem Niggergesicht. Ich starrte es eine ganze Weile an, stand dann auf und warf die Flasche, die ich bis jetzt in der Hand gehalten hatte, ins Gras, das begonnen hatte, sich aufzurichten.

Ich dachte damals oft an diesen Traum. Ich glaubte fest daran, dass er etwas ganz Bestimmtes bedeutete, aber ich wusste nicht, was.

  2.

Mein Anzug war ein Spitzengerät der allerletzten Generation mit einem 16-Programme-Speicher. Die Basis war leider ein älteres Modell, aber kompatibel; es dauerte eben nur länger, ein neues Styling auszutüfteln. Damals verbrachte ich viele Stunden davor und dachte mir neue Larven aus oder verbesserte alte. Ich liebte das Arbeiten im abgedunkelten Raum vor dem schwarzen Kubus, in dem ich die holografischen Simulationen tanzen lassen konnte. Alle Larven waren Weiße. Die Bezeichnung Larven allerdings mochte ich nicht besonders, weil ich dabei immer an Kaulquappen denken musste, oder an Molche, deren Haut sich angeblich glitschig anfühlt. Einmal sagte ich zu Sue: »Schau mal, meine neuen Kleider!« Aber sie lachte mich aus und erzählte mir ein Märchen von einem Kaiser, der sich nackt vor seinem Volk präsentierte, weil er glaubte, seine Kleider wären so fein gesponnen worden, dass er sie nicht sehen könne. Oder vielleicht sah er sie auch, in jedem Fall aber war es totaler Quatsch, und ich blieb bei der Bezeichnung Larven.

Nachdem ich mir den Weg in den Keller gespart und mit Ellen ein paar tröstliche Worte gewechselt hatte - sie hörte es wirklich gern, wenn ich ihr sagte, wie vorteilhaft die Glatze für ihre Kopfform sei, oder umgekehrt -, ging ich auf dem kürzesten Weg zur 11. Straße, dem neuesten Projekt des Sheriffs, das seine Wahlkampfkasse füllen sollte. Ich hatte den Prolo mit leerem Beutel gewählt, einen heruntergekommenen Mann von etwa sechzig Jahren, mit Bartstoppeln und filzigem langem Haar, der offensichtlich vergeblich einkaufen gewesen war und um diese Zeit noch guten Grund hatte herumzulaufen, nämlich weil ihm der Magen knurrte; mir übrigens auch. Außerdem hatte er eitrige Pickel im Gesicht. Er gefiel mir nicht, vielleicht weil er besonders dick und groß ausgefallen war, aber weil ich ihn so selten verwendete, war er den Jungs von der Truppe mit Sicherheit unbekannt.

An der Einmündung brannte eine einsame Laterne, die extra wieder ans Netz angeschlossen worden war, damit die Rückendeckung des Kassierers auch nachts freies Schussfeld hatte. So vorsichtig, wie es mir im Rahmen der Persönlichkeit meiner Larve möglich war, ging ich ins schweigende Straßendunkel hinein, leuchtete mit kurzen Blitzen Hauseingänge und Schaufensterhöhlen ab, als wäre ich tatsächlich auf Beute aus. Es kam darauf an, dabei nicht bedrohlich zu wirken, besonders vor Häusern, in denen man Bewohner vermutete; im Allgemeinen spürte ich das ganz gut. Das Wiedererstarken gewisser Sinnesfunktionen ist meiner Meinung nach übrigens eines der besten Indizien für die Überlebensfähigkeit der menschlichen Gattung.

Vor der Sperre aus Bruchholz, Schutt und Wohnzimmerschränken standen drei Autos; ein VW-Käfer ohne Kotflügel und Vordertüren, ein mattsilberner Ford Mustang mit einer offenen Sitzkanzel auf dem Heck und ein uralter Toyota, dessen Motorhaube offenstand. Ich hätte nicht zu entscheiden gewagt, was wertvoller war: diese drei motorisierten Schrotthaufen oder der Inhalt der Tanks, was immer es für einer sein mochte. Er hatte jedenfalls die Wagen bis hierher gebracht, und das machte ihn kostbarer als so ziemlich alles, was ein Mensch heutzutage innerhalb einer realistischen Zeitspanne anstellen kann. Es war eine fette Beute, wenn man bedachte, dass alle 24 Stunden abgeräumt wurde, und das seit drei Tagen. Die Falle war eine Idee des Sheriffs, und ich hätte nie geglaubt, dass es machbar wäre. Das Prinzip war ganz einfach: eine mäßig benutzte Verbindungsstraße bekam zwei Einbahnschilder verpasst, eins oben, eins unten, und beide Pfeile zeigten gegeneinander. Die Sackgassenschilder standen weiter drinnen und einigermaßen versteckt, aber selbst wenn man sie mit Spots angeleuchtet hätte - wer kümmerte sich hier schon um Schilder? Die Strafen für Fahren in unerlaubter Richtung wurden sofort kassiert, aber da kaum jemand einen Sack Reis, ein legefähiges Huhn oder einen Kanister mit Frischwasser dabei hatte, mussten die Ertappten zu Fuß weitergehen; mit der Bedingung von Zahlung bis Mitternacht oder Beschlagnahmung des Wagens. Ich verstand die Funktion der Sackgassenschilder nicht genau, aber ich musste zugeben, dass es eine recht originelle und zudem legale Variante von Straßenraub war. Ich hatte erst zu bedenken gegeben, dass es bei den Wählern böses Blut geben könnte, ließ mich aber dann von der Popularität der Auffassung überzeugen, dass, wer noch einen Wagen zu unterhalten vermochte, es auch verdiente, ihn abgenommen zu bekommen.

Im Volkswagen brannte ein kümmerliches Licht, doch es reichte aus, den silbernen Ford zum Leben zu erwecken. Die zweisitzige Kanzel mit der geschwungenen Linienführung des Kampfwagens eines römischen Gladiators war schwarzglänzend lackiert, mit weißen stilisierten Flammen, und ich konnte mir ganz gut einen der Typen darin vorstellen, die jetzt in Europa den Sklavenmarkt aufgezogen hatten; wie er seine Peitsche schwang und sie dem Mustang in die blechernen Flanken klatschte. Obwohl zerbeult und voller rostender Schrammen, wirkte er ganz anders als die traurigen Vehikel, die ich manchmal von unserem Fenster aus über die Straße schleichen sah, wie verendende Saurier in einer sich ändernden Zeit.

Auf dem Beifahrersitz des Käfers erkannte ich Joey an seinem roten Montagehelm. Er behauptete immer, dass die Tauben sich darum rissen, ihm auf den Kopf zu scheißen, und so betrachtet war der Helm logischerweise notwendig. Weniger logisch war, dass er ihn auch in Gebäuden nicht abnahm. Ich sollte Ellen einmal danach fragen, ob er ihn auch im Bett aufbehielt, aber vielleicht bumste er sie nur im Stehen oder unter der Dachrinne bei Regen. Ich hatte mir angewöhnt, alles für möglich zu halten.

Ich wollte mich unauffällig vorbeidrücken, doch Joey rief mich an.

»He! Herkommen, Alter!«

Also ging ich hin, schwang grüßend die Hand, an der mein imaginärer Beutel hing, und sagte irgendwas übers Wetter. Ich bin nur einmetersechsundsechzig groß und relativ schmächtig, sonst hätte ich keine Chance mit dem Anzug gehabt.

Er setzte einen Trompetenjoint ab, legte den Kopf in den Nacken und blies mir über die eingekniffene Unterlippe eine widerlich süße Qualmwolke entgegen. Ich tat so, als hätte ich das gern.

»So spät noch auf Achse? Willste mal zieh'n?«

»Danke, nicht auf leeren Magen. - Man muss leben, nicht wahr?«

Zwei Fragen, zwei Antworten, aber Joey hatte Schwierigkeiten damit. Seine Augen wurden schmal, und um ihn abzulenken, deutete ich vage über die Straßensperre. »Keine schlechte Idee, muss ich schon sagen. Endlich mal einer, der sich für uns arme Schweine auf der Straße einsetzt. Also, wenn du's genau wissen willst: meine Stimme kriegt der Sheriff, da ist nichts dran zu rütteln. Nur - spricht sich das nicht mit der Zeit rum?«

»Die Dummen sterben nicht aus«, sagte er paffend.

Ich glaubte es ihm. Ich murmelte etwas und trat einen Schritt zurück, um meinen Abschied einzuleiten. In diesem Moment wurde es hell.

In völliger Lautlosigkeit stieg rechts über den Dächern eine gleißende Kugel auf und übergoss die Straße mit einem ruhigen, rubinroten Schein. Der Schatten des Toyotas kroch in sich zusammen, bis es so aussah, als schwebte er über dem Asphalt. Joey starrte die Leuchtrakete mit einem dermaßen dämlichen Gesichtsausdruck an, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er Der Mond ist aufgegangen zu singen begonnen hätte. Während ich mich ihm nachzueifern bemühte, bewegte ich mich rückwärts um das Heck des Käfers herum. Der Ford stand links davon, vielleicht würde ich Deckung brauchen.

»He, was läuft denn hier?«, fragte ich und ging in die Knie. Ich war entschlossen, meine Tarnung aufrecht zu erhalten, denn es soll schließlich Leute geben, die zwischen einem Bullen und einem Unbeteiligten unterscheiden konnten.

»Still!«, flüsterte Joey und kam auf meine Seite herübergekrabbelt, was mir gar nicht so recht war. Er drückte mit der einen Hand an seinem Ohrclip herum, griff mit der anderen auf die Rückbank und zog eine MP hervor.

»Hank«, flüsterte er, »Hank, hörst du mich? Hank, melden, sofort! Hank, hörst du mich?« Er legte sich, ununterbrochen murmelnd, platt auf den Boden und kroch unter den Wagen. Ich hörte seinen Helm gegen die Bleche schlagen. Als er wieder auftauchte, hatte er den glimmenden Rest des Joints in der Hand. Er inhalierte und warf den Stummel anschließend weg. Ich zog sein Halsband so zurecht, dass das Mikro an seinem Kehlkopf zu liegen kam; er schien es nicht zu bemerken.

»Hank, du verdammter Idiot, was ist los, hörst du mich? Hank...«

»Wo ist er?«, fragte ich.

»Wer?«

»Hank.«

»Da drüben.« Er zeigte zur linken Straßenseite. Die Schnörkel auf der Fassade des Ladens leuchteten doppelt rot im Schein der fallenden Kugel. Ich erkannte das Zeichen Dzong für Mitte, ein Erinnerungsrest aus einem Chinesisch-Kurs im TV, bei dem ich drei Lektionen weit gekommen war. Die Jalousie vor dem Schaufenster war heruntergezogen, und Narrenhände hatten Ein Sheriff für New York darauf geschmiert. Neben der mit Brettern vernagelten Tür stand die Hausnummer, in normalen Ziffern, aber die Rakete hing schon zu tief, ein Schatten wuchs an der Mauer hoch, und ich konnte die Zahl nicht mehr lesen. 236, hatte der Pflanzenfreund gesagt, aber das hatte auch nichts mehr zu bedeuten.

Es war wieder dunkel, bis auf die Lampe im Auto. Ich griff hoch an den Holm und löschte sie.

»Mann, ey!«, sagte Joey ziemlich laut. »Mann, ey! Puh!« Er schob den Helm zurück und kratzte sich die Stirn. »Och. OCH!«

»Nimm dich zusammen«, sagte ich scharf. »Warum meldet Hank sich nicht?« Ich knöpfte langsam mein Schulterhalfter auf.

»Hank? Hank!« Er kicherte und wackelte mit dem Kopf. Von rechts war jetzt leise Musik zu hören. Es gab ja eine Menge Gruppen, die ihre Auftritte regelrecht zelebrierten, aber dass eine von ihnen auf Vivaldi stand, war mir unbekannt. Ich verpasste Joey eine Ohrfeige. Er versuchte zuerst, mich zu beißen, aber dann schien es doch zu helfen. Ich bemerkte, dass er es mit der Angst bekam, denn er zog sich die MP über die Knie und fummelte daran herum.

»Hast du die volle Ausrüstung dabei?«, fragte ich.

»Ja, klar, die volle Ausrüstung. Aber nur Distanz.«

»Na schön. Dann schieß eine Nebelkerze gegen die Mauer, und wir setzen uns zu Hank ab. Verstanden?«

»Ja, klar, Mann. Die Nebelkerze.« Anscheinend machte er sich weder was aus meinen Eiterbeulen, noch daraus, dass ihm ein Penner die Stichworte gab. Er schraubte mühsam den Vorsatz auf den Lauf, suchte etwas aus dem Gürtelarsenal heraus und setzte es ein. Er rutschte vor, bis er mit dem Rücken gegen den Vordersitz saß, legte sich die MP über die Schulter und peilte quer durch den Wagen hindurch, ohne sich umzuschauen. Ich habe nichts gegen unkonventionelle Methoden, deshalb sagte ich nichts. Erst, als ich sah, was er vorne im Lauf hatte, wurde ich aktiv.

»Augen zu!«, brüllte ich, schlug mir die Hände vors Gesicht und presste meinen Kopf zwischen die Knie. Da hatte eine Lichtbombe auch schon gezündet, und ich sah eine blendende Weiße, aus der sich farbige Kringel lösten, die umeinander tanzten.

Als ich die Augen wieder öffnete, standen vor uns zwei barfüßige Männer. Der eine hatte ein Messer in der einen und eine Lampe in der anderen Hand. Um den Hals trugen sie Gummiriemen, an denen instantoptische Brillen hingen. Geistesgegenwärtig riss ich die Augen so weit wie möglich auf, fuchtelte mit den Armen und blickte ziellos in der Gegend herum.

»Ich bin blind!«, schrie ich mit Altmännerstimme. »Hilfe! Ich kann nichts mehr sehen! Hilfe! Was ist denn los? Was ist denn bloß passiert?« Ich äußerte noch mehr Schwachsinn dieser Sorte und krabbelte ein paar Meter zur Sperre vor, um von den Männern Abstand zu bekommen. Wenn mich keiner anfasste, hatte ich noch eine Chance.

Auch Joey brüllte jetzt; er musste den Blitz voll abbekommen haben, das reichte für mindestens eine halbe Stunde. Da bekam ich einen mittelharten Tritt in die Seite.

»Entschuldigung«, sagte ich, »tut mir wirklich leid. Ich habe Sie gar nicht gesehen. Bitte, können Sie mir vielleicht erklären...«

»Aufstehen. Los, steh auf.« Nur Frauen können so humorlos sein. Ich tat ihr den Gefallen. Bevor sie sich vor meinem Gesicht ekeln konnte, packte sie meinen Ärmel. Ich sah sie voll an, denn ich merke immer schnell, wann ich verloren habe.

Sie war eine etwas verwilderte Schönheit mit dem abwesenden Blick einer Katze, die soeben aus einem Traum erwacht ist. Ein Tandaradei der vierten und letzten Generation hing offen über einer schussfesten Weste. Um ihre Schultern trug sie eine stark verschmutzte Nerzstola, die ihr so gut stand wie dem Kater der Schwanz. Sie war der Typ Frau, der nicht nur Männer interessiert, und ich beobachtete den Wechsel ihres Ausdrucks von verächtlicher Distanz über verdutzte Rundäugigkeit bis zu lächelndem Begreifen wahrscheinlich ähnlich hingegeben, wie der Sheriff die Erscheinung einer Whiskyflasche in der Ausnüchterungszelle angestaunt hätte.

Der Typ, der uns die ganze Zeit über angeleuchtet hatte, kam hinter dem Mustang hervor; ein Schläger, der all die Kraft in den Muskeln hatte, die mir fehlte. Auch er hatte eine Brille vor der Brust.

»Irgendwelche Probleme?«

»Eine Larve«, teilte sie ihm mit. »Wir haben heute das große Los gezogen«, und zu mir gewandt: »Schalt aus.«

Ich tat es. Sie gönnte mir knapp zwei Sekunden, und ich konnte einen weiteren von all den Schmerzen abhaken, die das Leben für mich vorgesehen hat. Ich bin sicher, es stehen noch eine Menge auf der Liste.

Der Muskelmann tastete mich ab. Messer und Pistole wollte er haben, das Tandaradei nicht. Im Hintergrund drückten sich noch zwei weitere Gestalten herum, und eine davon hatte den Vivaldi mitgebracht. Zu den jauchzenden Streicher- und Flötenklängen wurden Tankdeckel abgeschraubt und Plastikschläuche eingeführt. Die Hauswände erzeugten einen Nachhall, der den Eindruck großer räumlicher Weite hervorrief.

»Es klingt beinahe wie in der Kirche«, sagte ich. »Das Sakrale hat der Barockmusik schon immer gutgetan.« Ich weiß nicht, ob etwas an der Bemerkung dran war, jedenfalls kam der Mann, der den Tankwartlehrling bei dem Toyota beaufsichtigt hatte, zu mir herüber. Er hatte ein sehr hartes Gesicht, mit vielen senkrechten Furchen über der Nase und neben dem Mund, aber er konnte lächeln.

»Gut?«, fragte er.

»Sehr gut.«

Er sah mich ausdruckslos an.

»Scharl, der Tank ist leer!«, rief jemand.

»Der hier auch!« meldete ein anderer.

»Wo?«, fragte mich Scharl.

»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Bin selbst gerade erst hier angekommen, sollte die Jungs überprüfen. Ich schätze, dass das auch den Sheriff interessiert, wo der Sprit stecken könnte.«

»Ahh - ja?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Joey skalpiert wurde. Der Muskelmann bearbeitete ihn, und das Mädchen sah zu. Er zog das Messer längs über den Kopf, als ob er Rasenmähen würde. Es machte keinem was aus, dass dabei auch Hautfetzen mit abgingen, außer Joey und mir vielleicht. Sein Schreien war ein bisschen zu vivace für den langsamen Satz, der gerade lief. Der Gorilla stopfte die Haarwolle in ein Säckchen, das an seinem Gürtel hing. Ich traute mich nicht zu fragen, wozu das gut war.

Der Mann mit dem harten Gesicht ging zu Joey, und ich folgte ihm.

»Wo ist das Benzin?«

Wimmern und Schreien. Joeys Augen tränten. Ein Blutfaden, dick wie eine Krampfader, schlängelte sich von seinem Ohr abwärts. Der Mann hieb ihm ein Knie vor die Stirn, dass sein Hinterkopf auf den Sitz schlug. Er brüllte.

»Der ist hinüber«, sagte ich. »Er hat was geraucht, und da war noch was anderes als Mary Jane drin.«

»Ahh - ja?« Er schien es mir zu glauben, aber dann sah er Joeys Helm auf der Erde liegen. »Setz ihm den Helm auf, Robbi«, sagte er. »Verkehrt herum.«

Robbi stülpte Joey den Helm über und drehte, verständnislos lächelnd, die hintere Seite nach vorn.

»Verkehrt rum«, wiederholte Scharl.

Endlich begriff Robbi, was sein Vordenker meinte, fasste den Helm an den Seiten und schlug ihn, mit der Rundung nach unten, auf Joeys Kopf.

»Wo ist der Kraftstoff?«

Wimmern und Heulen. Ich sah mich verstohlen nach der MP oder sonst einer Waffe um, aber mindestens zwei Pistolen zeigten auf mich. Da war nichts zu machen. Joeys Blut hatte fast exakt die Farbe des Kunststoffs von dem Helm, aber der war bruchfest. Ich glaube nicht, dass man das auch von Joeys Schädel sagen konnte.

»Der ist hinüber«, wiederholte ich hilflos. »Der weiß nicht einmal mehr, wie sein Vorname geschrieben wird.«

Scharl lächelte mich an. »Okay. Lass gut sein, Robbi, hier hat einer schwache Nerven. - Und du kannst jetzt ablegen.«

Das Mädchen trat mit einem ordinären Schwung ihrer Stola an mich heran, und ich reichte ihr als erstes den Kopfriemen, an dem der für den oberen Bezirk zuständige Projektor mit dem größten Teil des Sensoriums befestigt war, und die polarisierende Brille. Dann kam der Leibgürtel dran, sowie die Überhose mit den Nebenprojektoren samt festverlegter Leitungen. Ich gab alles dem Mädchen.

»Knie dich hin«, sagte Scharl.

»Wie bitte?«

»Knie dich hin.«

Ich tat es. Ich hatte lang nicht mehr gekniet, zuletzt in einer Kirche. Das Holz der Bänke dort war sicher nicht weniger hart gewesen als hier der Asphalt; ich kniete damals vor einem Altar und der Idee von etwas, das vielleicht nur Kinder erfassen können, oder sehr alte Menschen, und eine Orgel hatte mit einem Chor trotziger, feierlicher Stimmen im Schlepp gespielt, und ich hatte lautlos geflucht, denn ich war eigentlich schon zu alt gewesen für den ganzen Hokuspokus...

Als er das Messer in meinem Nacken ansetzte, biss ich die Zähne so fest zusammen, dass ich dachte, es sprengt mir die Plomben. Etwas Wasser lief mir aus den Augen; das war die Scham. Weh tat es nicht, Scharl rasierte mir den Kopf beinahe behutsam, und seine Fingerspitzen tippten mir dabei gegen die Schläfen. Einen kurzen Moment hatte ich Ellen vor Augen, in einer seltsam exklusiven Schönheit, die mit ihrem nackten, vernarbten Schädel zusammenhing.

Als er fertig war, stand ich auf, meine Glatze fühlte sich kühl an; mir selbst war es siedend heiß. Die Europäer standen beieinander und tuschelten. Über den Dächern stieg eine weiße Kugel hoch, und der Vivaldi wurde abgestellt.

»Dein Schädel ist oben genau so schwarz wie alles Übrige. Da fällt es nicht so auf, wie bei uns«, sagte Scharl.

»Ich bin ein Weißer«, sagte ich. »Auch wenn's nicht so aussieht.«

»Ahh - ja?« Er lächelte. »Vielleicht sehen wir uns ja nochmal, Grünauge, und du erzählst mir was drüber.«

Das Mädchen kicherte, während es die Stola vor der Brust zusammenzog. Dann verschwanden sie so lautlos, wie sie gekommen waren, um eine MP, einen Anzug und eine Menge Haare reicher.

Ich knipste meine Lampe an und starrte auf den blutigen Haarkranz hinab, den sie Joey gelassen hatten. Ein Rotzfaden hing ihm aus der Nase, er rieb sich die Augen mit den Fäusten, wie ein Kind.

»Ich bin's, Joey, Ralfd«, sagte ich und murmelte noch allerhand Zeug, das beruhigend gemeint war; es bringt mich immer ganz durcheinander, wenn Männer weinen. Ich wischte ihm Augen und Stirn mit einem Taschentuch frei, griff ihm unter die Achseln und stellte ihn auf die Beine. Es würde noch eine ganze Weile dauern, ehe die Streife kam, also konnten wir ebenso gut einmal nach Hank schauen.