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Auf dem grünen Hügel, dem Feriendorf von Sun-White-Village, in dem die Reichen und Schönen ihren Urlaub verbringen, werden zwei Leichen gefunden. Eine Frau treibt tot in ihrem Swimmingpool, ein Mann liegt erschlagen am Poolrand. Für die Kommissare Leonard Terani und Kai Berger steht ziemlich schnell fest: Streit mit Todesfolge. Serafina Renington, eine Frau mit mystischen Fähigkeiten, die das Team um den sympathischen Kommissar Leonard Terani von Sun-White-Village vervollständigt, sieht dies allerdings ganz anders. "Leonard Terani, die Frau ist nicht im Pool ertrunken." Mit diesen Worten bringt sie das Team ins Grübeln, denn im Grunde deutet nichts in diesem Fall auf Mord hin. In Visionen sieht Serafina das nächste Opfer. In einem Traum 'beobachtet' sie den nächsten Mord und führt Leonard Terani zu den Opfern. Welche Rolle spielt der Mann in Grau, der in Serafinas Träumen immer öfter auftaucht? Leonard Terani hat Angst um seine sonderbare Freundin, die immer weiter in den Sog ihrer Träume und Visionen gezogen wird. Zu allem Überfluss wird er auch nocht mit seiner Exfrau Jennifer-Eileen konfroniert.
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2015
Weitere Bücher:
Ich bin Ich – beschreibt das Leben eines Kindes mit Cornelia de Lange Syndrom
Keira und der Fluch der Unsterblichkeit
Kommissar Terani ermittelt – Der Kommissar und die Hexe Serafina – 1. Buch
zweites Buch
Kommissar Terani ermittelt
Puzzle-Teile Bettina Bäumert Copyright: © 2014 Bettina Bäumert published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de ISBN 978-3-7375-2627-2
Prolog
Teil 1
Teil 2
Rückschläge ein,
als dass man sein Glück durch übergroße
Vorsicht und Angst verpasst.
Verzweifelt kniete Mattes am Rande des Pools. Fassungslos starrte er ins Becken. Seine Frau trieb leblos mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Er konnte und wollte das Geschehen nicht begreifen.
Seine Frau Petra - tot.
Hypnotisiert fixierte er ihr langes, braunes Haar. Dabei rannen unaufhaltsam Tränen über sein Angesicht, vermischten sich mit dem Blut seiner aufgeschlagenen Lippen und hinterließen schmierige Spuren auf einen ehemals weißen Hemdkragen.
Mit einem Male hatte Mattes Bilder des letzten gemeinsamen Urlaubes im Kopf: Petra - lachend im Wasser; Petra - auf dem Surfbrett paddelnd; Petra, die ihn gutmütig verspottete, weil ihm das Wasser zu kalt, die See zu stürmisch war; Petra ...
„Sie war erst beim Friseur. Meine Frau war erst beim Friseur“, stammelte er unsinnigerweise, weiter ihr langes Haar betrachtend.
Die Gestalt im dunklen Anzug, die ungerührt und breitbeinig, mit vor dem Bauch gefalteten Händen, an seiner Seite stand, nickte unmerklich.
„Warum?! Warum?! Um Gottes willen, warum?“, schrie Mattes. Hemmungslos schluchzte er. Während er lautstark weinte, schaukelte er mit dem Oberkörper vor und zurück.
„Alles meine Schuld“, wimmerte er im nächsten Moment. „Ich bin schuld.“
Petra - ertrunken.
Er, Mattes, hatte es nicht verhindern können. Seine Nase triefte. Nasenschleim, vermischt mit Tränen und Blut, tropfte auf sein maßgeschneidertes Hemd. Es kümmerte ihn nicht. Dabei war er sonst so penibel.
Er war so verdammt überheblich gewesen! So verdammt überheblich. Dachte, nichts könne passieren, er hätte alles im Griff, die Sache sei gut durchdacht, er sei unfehlbar. Die Bedenken seiner Frau hatte er in den Wind geschlagen. Über ihren Pessimismus machte er sich lustig.
Verzweifelt schlug Mattes die Hände vors Gesicht. Schaukelte mit dem Oberkörper vor, zurück, vor, zurück. Erneut starrte er zu dem im Wasser treibenden, reglosen Körper.
„Sie hat einen Schuh verloren“, flüsterte er zusammenhanglos.
Er hätte Petra seine Sorgen anvertrauen sollen, hätte sie nicht anschreien dürfen.
Vor, zurück, vor, zurück.
Es gab eine Zeit, da konnten sie über alles sprechen. Bis - bis dieses Unglück geschah. Danach änderte sich Vieles - Alles. Ihr Leben geriet aus der Bahn, wurde oberflächlich, schnell. Sie beide hasteten von einem Termin zum anderen, von einem Event zum nächsten. Alles nur, um zu vergessen, um der Traurigkeit zu entrinnen. ‚Sich nicht der Verantwortung stellen.‘ Waren das nicht die Worte des Mannes gewesen, der ihn geschlagen hatte und jetzt schweigend neben ihm stand.
Er hatte sich verkalkuliert. Die Probleme häuften sich. Er hätte es Petra sagen sollen.
„Wir hätten miteinander reden müssen. Meine Frau und ich“, jammerte er heiser. „So wie früher.“
Der Mann neben ihm nickte erneut zustimmend, ohne dabei seine Haltung zu verändern. Aus den Augenwinkeln nahm Mattes nur den dunklen, steif wirkenden Anzug wahr. Trotzdem fühlte er dessen Beipflichtung. Schließlich hatte er Mattes seine Meinung, was Familie, Ehe, miteinander Reden betraf, auf schmerzliche Weise deutlich gemacht.
Petra. Sie war ein so liebevoller Mensch. Er hätte seine Sorgen mit ihr teilen müssen. Sie hätte verstanden. Er wusste, sie hätte verstanden. Das hatte sie immer getan: ihn, Mattes verstanden.
Erneut schluchzte er auf, schaukelte noch heftiger mit dem Oberkörper. Vor, zurück. Hoffte, dadurch würde der Schmerz nachlassen, der in seiner Seele brannte wie ein glühendes Eisen. Vielleicht hätte eine Therapie geholfen. Petra hatte dies schon mehrmals vorgeschlagen.
‚Wir schaffen das nicht alleine, Mattes‘, hatte sie gefleht. ‚Wir sollten uns jemandem anvertrauen.‘
Er war dagegen gewesen. Es war zu spät gewesen. Oder doch nicht? Hätte eine Therapie geholfen?
Hätte ... hätte ... hätte ...!
Es war zu spät, zu spät. Petra war tot.
Mattes spürte mehr, als dass er sah, wie die zweite Person sachte hinter ihn trat. Langsam erhob er sich. Er taumelte, drehte sich schwankend um. Verwirrt sah er den Mann mit den starren, kalt wirkenden Gesichtszügen an. Verwundert bemerkte Mattes einen Stein in dessen Hand, an dem rote Farbe klebte. Es dauerte, bis Mattes begriff, dass er einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, die Farbe keine Farbe sondern Blut war, sein Blut.
Der Schmerz kam mit Verzögerung. Einer Riesenwelle gleich, breitete er sich vom Kopf ausgehend im gesamten Körper aus. Bevor sie ihn in ihrer vollen Stärke erreichte, versagten seine Beine jeglichen Dienst. In Zeitlupe schien er zu Boden zu gleiten. Es wirkte, als ob sein Gehirn behäbig alle Schalter umlegte, als ob in einem Haus Raum für Raum die Lichter ausgingen.
Dunkelheit breitete sich wie eine warme Decke über ihn aus. „Ich sterbe“, erkannte Mattes erleichtert, mit einem Gefühl der Erlösung. „Es ist aus und vorbei.“
Er lag auf dem Rücken, drehte den Kopf mit letzter Kraftanstrengung zum Wasser, zu seiner Frau. Er fühlte, wie sein Leben ging, seine Sinne langsam schwanden.
Plötzlich erfasste ihn Panik. „Collin, Ada?“, formte er die Lippen zu Worte, die seinen Mund nicht mehr verließen.
„Meine Tochter bekommt ihr erstes Kind. Ich darf nicht sterben.“
Mattes wehrte sich gegen den Nebel, der ihn umhüllte, versuchte verzweifelt durch die Finsternis zu dringen, die ihn unaufhaltsam mit sich riss, gleich einem großen schwarzen Fluss davontrug in absolute Leere.
Er dachte nichts mehr. Fühlte nichts mehr.
Es war vorbei.
2012
Im Geschehen der Zeit suchen wir verzweifelt unseren Raum, um aus der Zeit, die uns
Zeit
Er hatte Zeit. Er wünschte, er hätte weniger. Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch den Park stand er mit einer Gruppe Jugendlicher an der Fußgängerampel. Während er auf das Signal zum Überqueren der Straße wartete, presste er den Karton, den er unter dem Arm trug, fester an sich.
Ohne Eile passierte er die Fahrbahn. Sich nach rechts wendend, schlenderte er schräg über den Markt, dabei seinen Stock schwenkend.
Ihm stachen die Hände der Frau am Obststand in die Augen. Schwielig, abgearbeitet. Darüber eine junge gepflegte Hand mit rot lackierten Fingernägeln, schmuck behangen, die eine Anzahl Münzen in die geöffnete Hand der Marktfrau gleiten ließ. Ein wunderbares Motiv. Vorausgesetzt, er hätte seine Kamera bei sich.
Nein er hatte sie nicht vergessen. Er hatte sie bewusst nicht mitgenommen. Auch dafür gab es eine Zeit. Zeit zu fotografieren, Zeit ...
Er seufzte tief.
Nachdem er den Marktplatz hinter sich gelassen hatte, bog er in die steile Gasse, die in das Dorf der reichen Urlauber führte. Spöttisch blickte er zum Straßenschild:
'Zum Auf dem grünen Hügel'
Die seltsame Schreibweise sowie die wellige Form des Schildes diente den Touristen der Stadt als beliebtes Motiv für Erinnerungsfotos. Eine Familie stand lachend darunter, ließ sich von einem Passanten ablichten.
Anfang Mai waren noch nicht viele Urlauber in Sun-White-Village. Die große Schwemme, wie er den Zustrom der Reisenden in den Sommermonaten bezeichnete, setzte erst ab Juli ein. Ab da wird ein Durchkommen über den Markt, einem Spießrutenlauf gleichkommen. Wieder seufzte er tief.
Vor dem Buchladen blieb er stehen. Ein schiefes Haus, bedingt durch die Schräglage der Gasse. Eine weitere Touristenattraktion. Aufmerksam sah er in die Auslagen. Eines seiner Bildbände lag geöffnet dort. Wusste er es doch. Das Motiv mit der abgearbeiteten Hand, daneben die gepflegte, hatte er schon einmal festgehalten.
Kritisch betrachtete er sein Spiegelbild in der Glasscheibe des Ladens. Sein grauer Anzug maßgeschneidert, die rote Fliege saß korrekt am Hemdkragen, der Hut, mit der leicht in die Stirn gezogenen Krempe, perfekt auf dem Kopf.
Langsam ging er ein Stück des Weges zurück zum Markt, wandte sich nach links und gelangte in die weitläufige Einkaufspassage. Er hatte es nicht eilig, er hatte Zeit. Er wünschte, er hätte weniger. Vielleicht, so überlegte er, war sein Umgang mit Zeit früher zu oberflächlich gewesen. War diese zu bedenkenlos? Sein Leben zu fraglos. Viele Antworten nicht eingefordert. Hätte sich die vergangene Zeit anders gestaltet, wäre er dann ...
Eine Frau hastete an ihm vorbei, unterbrach seine Gedankengänge. Er sah ihr kopfschüttelnd nach. Sie hatte langes blondes Haar, das ihr in sanften Wellen über die Schulter fiel. Er hatte sie bereits fotografiert. Nein, nicht ihr Gesicht. Er kannte den Schutz der Persönlichkeit. Er hatte ihr Tun abgelichtet. Die Dame schien es immer eilig zu haben. Denn seinerzeit stürmte sie in den teuersten Schuhladen der Fußgängerzone. Sichtlich angewidert probierte sie derbe Wanderschuhe, dabei die roten High Heels im Regal gegenüber nicht aus den Augen lassend. Sie verließ den Laden mit den Stöckelschuhen, ohne Bergstiefel. Diese Anprobe hatte er im Bild festgehalten, nur Füße, Schuhe, langes Haar, das über den Rücken fiel. Das waren seine Motive. Bewegung, Tun, Menschliches, dazu die richtigen Lichtreflexe. Damit hatte er Erfolg. Mit dem Verkauf seiner Bildbände konnte er zufrieden sein.
-1-
Leonard Terani, ein 1,90 m großer, schlanker Mann mit dunklen Augen, sowie welligem schwarzen Haar, das er mittels eines Zopfes am Hinterkopf zusammenhielt, sah man seine vor Kurzem erreichte vierzig Lenze nicht an.
Der leitende Kommissar des Dezernats Nord, zeigte sich an diesem Samstag sichtlich erleichtert, als sein Handy klingelte. Somit konnte er Carmen entkommen, seiner rundlichen mütterlichen Freundin, die im Begriff stand, seinen freien Tag mit Gartenarbeiten auszufüllen. Die agile Perle des Hauses Terani hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Garten umzugestalten. Wäre alles kein Problem, hätte sie einen Plan. So schickte sie nicht nur Leonard von einer Ecke in die andere, um irgendwelche Frühbeete ‚ne, lieber dort und nicht da‘ anzulegen. Auch Fridolin Schiller, ein jung gebliebener Schamane mit bunten Turnschuhen, wurde von Carmen, deren graue Locken sich kaum unter dem großen Strohhut, den sie trug, bändigen ließen, hinreichend beschäftigt.
Leonard wurde zum wiederholten Male gezwungen, das Umgraben des Beetes, das er gerade in Angriff nahm, zu unterbrechen. Sein Geduldsfaden befand sich bereits in der kritischen Phase binnen kurzer Zeit zu reißen, da seine Perle und Schiller sich nicht einigen konnten. Die Frage, um die Gestaltung eines Wildblumenbeetes, hatte erneut eine heftige Diskussion bei den Beiden ausgelöst. Terani zog sich kopfschüttelnd zurück. Unter dem Balkon, auf seine Schaufel gestützt, verfolgte er mit nur halbem Ohr den Disput der Zankenden, als er das leise Lachen Serafinas über sich hörte. Zusammen mit der Gothic Amalia, bestückte sie Blumenkästen mit verschiedenen Kräuterpflanzen. Die beiden Frauen beobachteten amüsiert den Versuch des schlaksig wirkenden Endvierzigers, mit den strubbeligen, vom Kopf abstehenden braunen Haaren, seine Vorstellungen der energischen alten Dame gegenüber zu vertreten.
Fridolin Schiller, Serafina Renington und die Gothic, Amalia Kirchner - eine Freundin der extravaganten Gerichtsmedizinerin von Sun-White-Village - bewohnten seit fast einem Jahr das obere Stockwerk dieses imposanten Hauses, das Leonard von seinen Eltern geerbt hatte. Diese merkwürdige Wohngemeinschaft hatte sich ergeben, nachdem Serafina Renington, eine zierliche rothaarige Frau mit hellseherischen Fähigkeiten, dem Perfektionisten entkommen war. Mit ihrer Hilfe wurde der Mörder von vier Menschen nicht nur gefunden. Dank der Unterstützung dieser geheimnisvollen Frau, deren Garderobe vorwiegend aus blumigen Kleidern bestand, konnte sein letztes Opfer gerettet werden. Seitdem gehörten sie zum Team und zum Freundeskreis um Leonard Terani.
In ebendiesem Moment durchwühlte der Kommissar erfreut die Taschen seiner Hose nach dem Smartphone, das lautstark ‚Pirates of the Caribbean‘ ertönen ließ.
„Was gibt es Kai?“, rief er, mit einem freudigen Aufblitzen in seinen dunklen Augen, ins Mobilteil, nachdem er auf dem Display ‚Berger‘ gelesen hatte.
„Ups, ist ja schön, dass du so glücklich bist, mich zu hören. Du weißt - ich bin verheiratet“, scherzte sein Kollege und Freund, um gleich darauf ernst fortzufahren. „Leo, wir haben zwei Tote ‚Auf dem grünen Hügel‘.“
Terani, in Rekordzeit geduscht und umgezogen, sprintete zu seinem Wagen. Serafina stand bereits, auf ihn wartend, dort.
„Leonard Terani, ich komme mit.“ Während Leo bei diesen Worten sprachlos stehen blieb, setzte sich Serafina selbstredend auf den Beifahrersitz. Terani hielt die Wagentür offen. „Serafina. Was um alles in der Welt soll das?“
Die zarte Frau mit den roten Locken zeigte keine Reaktion, sah unbeweglich geradeaus. Resigniert nahm Leo auf dem Fahrersitz Platz.
Das Feriendorf auf dem grünen Hügel, ein exklusiver Stadtteil von Village, entwickelte sich mit den Jahren zu einem separaten Ort. Die Grundstücke dort gehörten vorwiegend gut situierten Urlaubern, die regelmäßig, wie auch mehrmals im Jahr, ihre Ferien hier verbrachten. In letzter Zeit wurden immer mehr der Anwesen das ganze Jahr über bewohnt. Zum Teil handelte es sich bei den Bewohnern um Ruheständler, zum Teil wurden die Immobilien auch an bessergestellte Feriengäste vermietet. Die Häuser verschiedener Architektoniken, wie auch imposanter gepflegter Gartenanlagen, zogen Touristen scharenweise an, die davon träumten, einmal in einem dieser Domizile zu wohnen.
Um ‚Auf dem grünen Hügel‘ zu gelangen, war Leonard gezwungen, quer durch Sun-White-Village zu fahren. Danach hatte er zwei Möglichkeiten. Er umfuhr die Stadt über die B12, gelangte so um den Berg und kam von oben in den Ort. Diese Alternative bevorzugten die Bewohner des Feriendomizils.
Der weitaus kürzeste Weg führte allerdings vom Markt aus am Buchladen vorbei. Terani entschloss sich, letztere Route zu nehmen, da sich im Mai noch nicht allzu viele Touristen in Village aufhielten, die den Reiz, der sich in den Berg windenden Gasse persönlich zu befahren, nicht widerstehen konnten. Somit der hiesigen Verkehrspolizei jede Menge Einsätze lieferten, da diese gezwungen waren, sich selbst überschätzende Fahrer aus deren oft misslicher Lage zu befreien.
Serafina saß stumm neben Leonard. Auf Fragen seinerseits, warum sie unbedingt mit wollte, gab sie einsilbig zur Antwort, dass sie letztendlich zum Team gehöre.
In der von Berger genannten Straße standen bereits mehrere Einsatzfahrzeuge mit blinkenden Lichtern. Polizisten sperrten die Gegend großräumig ab.
Hochgewachsene, dicht beieinanderstehende Sträucher und Bäume verdeckten den direkten Blick auf das Anwesen. Von der Straße aus führten Sandsteinstufen steil nach oben, die rechts und links von duftenden Rosensträuchern begrenzt wurden. Beim Erklimmen der Treppe baute sich vor ihren Augen ein Haus im viktorianischen Queen-Anne-Stil auf, mit runden Türmchen, mehreren Spitzdächern und großen Erkerfenstern. Die Stufen endeten auf einem kreisförmigen Podest. Von dort führte eine separate, weiß lackierte, breite Treppe auf eine mit üppigen Holzverzierungen geschmückte Veranda.
„Ein Gingerbread House - Lebkuchenhaus“, flüsterte Serafina in Teranis Rücken ehrfurchtsvoll.
Kai Berger, der wie immer versuchte, mit einem weit geschnittenen Hemd den Bauch zu verdecken, stand bereits wartend auf der Loggia. Seine vor Kurzem begonnene Diät, die einzig im Verzicht auf Zucker bestand, hatte er längst aufgegeben. Mit dem Daumen zeigte er hinter sich.
„Schickes Teil. Gehö...“ Er stockte angesichts Serafinas, die sich dicht hinter seinem Kollegen befand. Leonard überging den fragenden Blick.
„Und?“, erkundigte er sich knapp. Dabei streifte er die von Kai gereichten Latexhandschuhe über.
„Im Garten“, Berger deutete undefinierbar zur Seite, weiterhin Serafina anstarrend.
„Grüß Gott, Kai Berger“, sagte sie freundlich, den beiden Männern folgend.
Über die Veranda gelangten die Drei zu der, hinter dem Haus gelegenen, Gartenanlage. Hier endete der Balkon in einer weitläufigen Terrasse. Verspielte Korbmöbel mit hellen blumigen Bezügen gruppierten sich auf einem, mit edlem Marmor ausgelegten, Freisitz. Auf einem Glastisch standen zwei Gläser, zwei geleerte Flaschen Sekt, eine halb volle Flasche sowie ein Glas, dessen bernsteinfarbener Inhalt, wie auch durch die danebenstehende Flasche mit entsprechendem Etikett, auf Whisky schließen ließ. Ein Handtuch lag achtlos auf dem Boden. Neben der Glasschiebetür, die zum Wohnzimmer führte, saß auf einem Stuhl eine blasse ältere Frau. Mit verweinten Augen sah sie den Kommissaren fragend entgegen.
Leonard nickte ihr lächelnd zu.
„Frau Ackermann. Helene Ackermann. Sie ist die Putzfrau und hat die Leichen gefunden“, erklärte Kai flüsternd.
Von hier oben hatte man eine freie Sicht auf einen großen Teil von Village sowie dem dahinter aufragendem Felsmassiv.
Ihre Blicke wurden unweigerlich vom Swimmingpool angezogen, auf dessen Oberfläche ein weiblicher Körper trieb. Polizeitaucher waren gerade damit beschäftigt, die deutlich erkennbar leblose Frau zu bergen. Unweit vom Beckenrand kniete die Gerichtsmedizinerin Charlotte Charles, eine Gothic, neben einer männlichen Leiche. Eine Marmortreppe mit insgesamt sieben Stufen führte in einer leichten Rechtskurve von der Veranda nach unten zum Pool. Während Kai vorweg ging, betrachtete Leonard aufmerksam die Umgebung. Um das Schwimmbecken, wie auch auf der dahinter befindlichen weitschweifig angelegten Grünfläche, standen Skulpturen aus der griechischen Mythologie. Terani bemerkte, dass auch Serafina, die neben ihm ging, die Plastiken verwundert betrachtete.
„Das passt nicht.“, hörte er sie leise sagen. Leo wusste, was Serafina damit meinte. Die Gestaltung des Parks mit all den griechischen Göttern stand im krassen Gegensatz zum Stil des Hauses.
„Nun verraten Sie mir doch, seit wann sie tot sind, Herr Eichenhauer? Ich für meinen Teil würde sagen, sie wurden vor zwölf bis sechzehn Stunden in diese missliche Lage gebracht. Das erzählt mir zumindest Ihre Leber. Liege ich damit richtig Herr....Serafina?!?“, unterbrach Charlotte erstaunt, als die Drei bei ihr angelangten.
Fragend blickte sie zu Terani, dann zu Berger. Kai zuckte mit den Schultern und sah Leo gespannt an.
„Sie wollte unbedingt mit. Saß in meinem Wagen und war nicht zu bewegen auszusteigen“, brummte Leonard, während Serafina an den Rand des Pools trat. „Nach dem das geklärt ist, könntet ihr beide jetzt endlich einmal einen Satz zu Ende sprechen? Wer ist der Mann? Wer ist die Frau? Todesursache?“
„Roman Eichenhauer, achtunddreißig. Ihm gehört das Anwesen hier“, erklärte Kai kurz, während Leo näher zu dem auf dem Rücken liegenden Opfer trat. Bekleidet war der Mann, dessen Kopf in einer Blutlache lag, mit Jeans und Hemd. Das Hemd stand offen und gab den Blick auf einen durchtrainierten Oberkörper frei. An den Füßen hatte er modische Herrensneakers. Eine italienische Marke, nicht gerade kostengünstig.
„Herr Eichenhauer bekam einen heftigen Schlag auf den Kopf.“ Charlotte, die einen schwarzen Laborkittel über eine rot karierte Hose mit dunklem Spitzen-Shirt gezogen hatte, dessen Ausschnitt jedoch den Blick auf die Tätowierung eines gotischen Kreuzes zuließ, zeigte dabei auf ein tiefes Loch, das den Schädelknochen seitlich eindrückte. Das Blut um die Verletzung war bereits getrocknet.
„Herr Eichenhauer und ich sind uns einig, dass es irgendwann gegen Mitternacht passierte. Ich würde sagen, dieser Schlag war tödlich.“ Die Gothic, deren pechschwarze Haare mittels einer kunstvollen Flechtfrisur um den Kopf gewunden waren, sah Terani an. Mit ihrer schwarz behandschuhten Hand deutete sie auf eine Statue, die seitlich vom Opfer lag. Bei ihrer Drehung schien der, auf dem Kittel prangende, Zigarre rauchende, Totenkopf spöttisch zu grinsen.
„Aphrodite“, dabei nahm sie die ca. dreißig Zentimeter große Steinfigur in die Hände, deren Kopf deutliche Blutspuren zeigte. „Sie war es. Ich meine … sie war es natürlich nicht … wie sollte sie auch … Aphrodite ist gewissermaßen die Tatwaffe. Werde ich in der Gerichtsmedizin noch genauer mit den Wundrändern vergleichen.“
Charles reichte die Skulptur an ihren Assistenten weiter, einem schmächtig wirkenden Studenten mit Nickelbrille und wirr vom Kopf abstehendem maisfarbenem Haar, der sein Praktikum in der Pathologie absolvierte. Stumm nahm dieser die vermutliche Tatwaffe entgegen und tütete sie sorgfältig ein.
Die Gothic, die bisher alleine gearbeitet hatte, bekam Jan Ginster, so der Name des Jungen, vor einer Woche gegen ihren Willen zugeteilt. Der Praktikant wusste nach anfänglichen Schwierigkeiten, die extravagante Gerichtsmedizinerin zu nehmen. Sich ruhig verhaltend, im Hintergrund bleibend, überraschte er Charlotte immer häufiger mit knappen, präzisen Aussagen.
„Guckt mal hier.“
Vorsichtig drehte sie den Kopf von Herrn Eichenhauer so, dass er nicht weiter zum Pool sah, dabei auf eine Verletzung in Höhe des linken Kieferknochens deutend.
„Ich würde sagen, das ist der Abdruck eines Ringes. Der Schlag wurde mit rechts ausgeführt. Ungefähr so.“ Bei ihren Worten holte Charles mit der rechten Hand aus und stoppte kurz vor dem Gesicht ihres Helfers, der ohne eine Miene zu verziehen, stehen blieb. Allerdings zuckten Kai als auch Leo zusammen.
Charlotte hielt in ihren Ausführungen inne. Aufmerksam sah sie zum Rand des Pools. Dort legten Polizeitaucher vorsichtig die geborgene weibliche Leiche ab. Angesichts des wachsamen Blickes der Gothic, bemühten sich die Männer, das Opfer sanft hinzulegen. Schließlich kannte jeder von ihnen die seltsame Gerichtsmedizinerin, die mit den Toten sprach. Und jeder der Männer hatte Respekt vor ihr, versuchte, ihren Wünschen gerecht zu werden.
Bei der weiblichen Leiche handelte es sich um eine schlanke Frau mit langen blonden Haaren. Auch sie war bekleidet. Weiße Jeans, rotes Top, rote High Heels. Charlotte erhob sich und trat zur Gruppe. Erstaunt starrte sie auf die Leiche.
„Der Schaumpilz fehlt“, grummelte Jan verwundert in ihrem Rücken.
Die Gerichtsmedizinerin sah ihn auffordernd an.
„Nach dem Bergen eines Ertrinkungsopfers müsste sich über Mund und Nase ein Schaumpilz legen.“
Die Ermittler starrten den unscheinbar wirkenden Studenten perplex an. Dies war der längste Satz, den sie je von dem schmächtigen Mann gehört hatten. Verstanden hatten sie allerdings kein Wort. Da sich Lehmann von der Spurensicherung zu ihnen gesellte, war es den Kommissaren auch nicht möglich, nachzufragen.
„Rita Holland. Wir haben ihre Handtasche im Haus gefunden. So wie es aussieht, waren die beiden liiert“, dabei deutete er mit dem Kopf zum unweit liegenden Mann. „Scheinen regelmäßig hier Urlaub zu machen. Na ja. Jetzt nicht mehr.“ Lehmann, der bullige Leiter der Spurensicherung reichte Terani die Ausweispapiere der Frau. Dazu ein Foto, dessen Ablichtung den Mann eng umschlungen mit der Frau zeigte. Beide lächelten scheinbar glücklich in die Kamera. Terani nickte.
„Charlotte, Schaumpilz?“, erinnerte er.
Die Gerichtsmedizinerin, die sich bereits über das Opfer beugte, sagte kurz. „Jan Ginster. Für Laien verständlich.“
Der Junge wurde rot. „Ein Schaumpilz ist eine vitale Reaktion. Das heißt, die Kreislauffunktion des Opfers war noch so weit intakt, dass der Ertrinkende nach Luft schnappte, bevor er unterging. Dann wird der Atem angehalten. Dadurch reichert sich CO2 - Kohlenstoffdioxid - im Blut an. Danach kommt es zu einem erneuten Luftschnappen.“
„Das kannst du nicht beeinflussen diesen Drang, Luft in deine Lungen zu saugen“, fügte Charlotte ein. „Wird vom Atemzentrum aus gesteuert, auch wenn dein Kopf noch meldet, dass du unter Wasser bist, du atmest einfach ein. - Jan.“
Die Gesichtsfarbe von Ginster wechselte von rot zu blass. So viel Aufmerksamkeit war er nicht gewohnt. Trotzdem erklärte er mit fester Stimme. „Es wird Wasser aspiriert - eingeatmet, das sich in den Atemwegen mit Luft und Schleim vermischt. Danach kommen Erstickungskrämpfe, ausgelöst durch den Sauerstoffmangel im Gehirn. Bewusstseinsverlust, schließlich Exitus.“
„Dauer drei bis fünf Minuten. Kein schöner Tod. Ohne Luft ist bereits eine Minute unerträglich“, erklärte Charlotte weiter.
„Und was hat das jetzt alles mit dem Pilz zu tun?“, erkundigte sich Berger schaudernd.
„Kai, dieser Schaumpilz bildet sich durch diese Mischung aus Wasser, Luft und Bronchialsekret. Fehlt dieser, hat kein Überlebenskampf stattgefunden“, antwortete Charlotte.
„Dann muss man an ...“, Jan stockte, sah verlegen zu Boden, als sich vier Augenpaare auf ihn richteten. „Man muss an Leichen-Dumping denken“, vollendete er schnell.
„An was für ein Dumping?“, rief diesmal Lehmann erstaunt.
„Jan hat recht. Sehr gute Beobachtung Jan Ginster. Du denkst mit. Bist in der Tat zu etwas zu gebrauchen.“
Das linkische Lob der Gothic ließ den Jungen strahlen, der weiterhin rot wie eine Tomate danebenstand.
„Leichen-Dumping heißt, dass man eine Person an einem Ort umbringt, sie dann woanders ins Wasser wirft, um so einen Ertrinkungstod vorzutäuschen“, erklärte Charlotte.
„Na klasse“, stöhnte Leo. „Das auch noch.“
„So wie es aussieht, ist Rita Holland ertrunken. Keine Fremdeinwirkung erkennbar. Zumindest im Moment nicht“, beruhigte Charles. „Leonardo, sieh dir ihre rechte Hand an.“
Dabei hob sie vorsichtig die Hand der Leiche. „Der Ring könnte zur Platzwunde im Gesicht des Mannes passen. Abschürfungen und Hämatome an den Fingerknöcheln hat sie auch. Scheint, als ob sie es war, die auf den Mann einprügelte. Prüfe ich noch genauer.“ Sie beugte sich über den Mund des Opfers, den sie vorsichtig öffnete. „Riecht nach Alkohol. So wie Herr Eichenhauer auch. Möglicherweise hat sie zu viel erwischt, ist gestolpert und in den Pool gefallen. Nur eine Vermutung. Mehr kann ich noch nicht sagen.“ Charlotte erhob sich. „Jan Gingster“, forderte sie ihren Helfer auf.
Er verstand. „Ethanol könnte das Fehlen der Vitalzeichenreaktion erklären.“
„Also das Fehlen dieses Schaumpilz-Dings, weil Alkohol im Spiel war und das Denken dadurch verlangsamt wurde.“, brachte es Berger auf den Punkt. „Warum müsst ihr Ärzte immer alles so kompliziert ausdrücken und eine einfache Frage mit einem Vortrag beantworten.“
Charlotte lachte lauthals.
„Im Haus sieht es aus, als ob ganz gut gefeiert wurde“, bestätigte Lehmann. „Dort stehen einige geleerte Flaschen, von simplem Sekt über Champagner und harten Sachen, wie Whisky und Schnaps. Mal sehen, was wir noch alles finden.“
Damit verabschiedete er sich.
Leonard sah zu Serafina, die weiterhin gebannt aufs Wasser blickte.
„Könnte sein, dass sich die beiden stritten. Nachdem sie zu viel getrunken hatten, artete das Ganze aus. Die Frau hat den Mann geschlagen und erschlagen, stolperte, und fiel ins Wasser.“ Er stöhnte. „Wie heißt nochmal die Frau, die oben wartet?“, wandte er sich mit einer Kopfbewegung in Richtung Haus, an Kai.
„Helene Ackermann. Fünfundsechzig. Sie putzt für die Familie Eichenhauer. Hat heute Morgen die beiden Toten gefunden. Mehr konnte ich noch nicht in Erfahrung bringen. Sie stand noch unter Schock. Bekam vom Arzt etwas zur Beruhigung“, erklärte er, dabei, wie Leonard, Serafina beobachtend.
„Was um alles in der Welt tut sie da, Leo?“, erkundigte er sich gereizt.
Terani seufzte. „Keine Ahnung. Charlotte, behalte sie ein bisschen im Auge! Wir reden erst einmal mit der Putzfrau.“
Frau Helene Ackermann stand seit nunmehr acht Jahren im Dienste von Herrn Eichenhauer. Einem überaus netten Menschen, wie sie des Öfteren unter Tränen versicherte. Wie bereits seit Jahr und Tag kam sie auch heute zwischen neun Uhr dreißig und zehn Uhr dreißig in das Anwesen, Münchner Straße 25.
„Sie kommen täglich um diese Uhrzeit?“, unterbrach Berger mit gezücktem Bleistift über seinem Notizblock, den weitschweifigen Ausführungen der Frau.
„Nein... Doch.... Ja, also nur in der Urlaubszeit, wenn die Herrschaften hier sind. Vor deren Ankunft erledige ich den ersten Einkauf. Frau Rita schickt dafür immer eine Liste. Ansonsten sehe ich einmal die Woche nach dem Rechten.“
Frau Ackermann nickte zur Bekräftigung ihrer Worte mit dem Kopf.
„Ich nehme an, Sie haben einen Schlüssel für das Haus, gnädige Frau“, erkundigte sich Terani freundlich.
„Ja klar. Herr Kommissar, den habe ich. Allerdings habe ich erst geklingelt. Das mache ich immer so. Schließlich kann man ja nicht … nun ... Sie wissen schon … man will ja nicht in eine Situation platzen …“ Frau Ackermann sah den Ermittler mit dem äußerst attraktiven Äußeren vielsagend an. Terani lächelte.
„Sie kamen also zwischen zehn und elf, Mäm? Wissen Sie noch die genaue Uhrzeit?“
„Die genaue Uhrzeit? Ich bin zu Hause noch von meiner Nachbarin aufgehalten worden. Zudem waren die Herrschaften gestern Abend aus. Wissen Sie, da schlafen die beiden immer etwas länger. Da komme ich auch lieber später. Dürfte so kurz nach zehn Uhr fünfzehn gewesen sein.“ Sie lachte verlegen. „So genau kann ich das jetzt nicht mehr sagen, Herr Kommissar.“
„Ist nicht so schlimm, gnä Frau“, sagte Terani beruhigend. Da beim Dezernat kurz nach zehn Uhr dreißig der Notruf einging, stimmten die Angaben der Frau, die Uhrzeit betreffend, überein. „Frau Ackermann, Sie sind dann ins Haus?“
„Ja, nachdem niemand auf mein Klingeln reagiert hatte. Ich bin zuerst ins Wohnzimmer. Da fange ich immer an, wissen Sie. Die Terrassentür stand offen. Dachte noch, dass das ganz schön leichtsinnig ist. Und dann sah ich ...“ Ein Aufschluchzen unterbrach die Tirade der Putzfrau.
Sie hatte erst nur Herrn Eichenhauer am Poolrand liegen sehen. Als sie ihm zu Hilfe eilen wollte, sah sie das viele Blut.
„Die Augen, Herr Kommissar, die Augen. Weit geöffnet ... Oh Gott“, erschaudernd presste sie die Lippen aufeinander.
Dabei knetete sie ängstlich, gegen aufsteigende Tränen kämpfend, ihre Hände. Dann bemerkte sie Frau Rita, die angezogen auf dem Wasser mit dem Gesicht nach unten trieb. Voller Panik wählte Frau Ackermann daraufhin den Notruf. Angerührt habe sie ab dem Zeitpunkt nichts mehr.
„Das weiß ich aus den Krimis, die ich immer im Fernsehen anschaue. Man darf am Fundort einer Leiche nichts mehr anfassen“, erklärte sie bestimmt, um kurz darauf erneut in Tränen auszubrechen.
„Frau Rita ist Frau Holland? Rita Holland?“, wollte Berger wissen, nachdem sich die Frau wieder halbwegs beruhigt hatte.
„Ja, Frau Rita ist nicht mit Herrn Eichenhauer verheiratet. Obwohl, ich glaube fest, sie hat darauf gewartet. Auf einen Heiratsantrag. Dass er ...“, verlegen, unterbrach sie. „Geht mich auch nichts an“, setzte sie hinzu.
„Es sind einige leere Flaschen hier, Mäm. Wissen Sie, ob eine Feier stattfand?“, forschte Leonard.
Die Putzfrau schüttelte energisch mit dem Kopf. „Die Herrschaften hatten so gut wie nie Gäste. Aber sie … nun, sie waren mehr nachts aktiv. Gingen viel aus. In die umliegenden Städte, in die nahe gelegene Schweiz … Allerdings fand ich öfter so eine Unordnung mit geleerten Flaschen vor.“ Erneut lächelte Frau Ackermann verlegen. „Die Herrschaften vertragen einiges an Alkohol.“
„Das Anwesen ist sehr kostspielig. Frau Ackermann, …“ Berger wurde unterbrochen.
„Ich habe schon für den alten Herrn Eichenhauer gearbeitet. Allerdings sind die Seniorherrschaften nicht mehr oft hier. So weit ich weiß, reisen sie viel. Vielleicht sagt Ihnen ‚Eichenhauer & Sohn‘ etwas?“, redete die Frau unbeirrt weiter.
„Eichenhauer & Sohn? Ja klar. Stellt die Firma nicht kostspielige Designermöbel her?“, überlegte Kai laut, dabei Leonard ansehend.
„Stimmt. Sind steinreiche Leute“, bestätigte stattdessen die Putzfrau. Dabei musterte sie Berger neugierig.
„Mit Eichenhauer Senior gab es hier nie solche Unordnung. Aber ich will nicht klagen. Meinen Lohn bekomme ich weiterhin vom Senior.“
„Ach. Wie das?“, Terani klang verwundert. „Gehört das Haus demnach nicht Roman Eichenhauer?“
„Das weiß ich nicht. Aber damals herrschten noch ruhigere Zeiten. Bei den alten Herrschaften gab es keine Ausschweifungen“, erklärte Helene bereitwillig. „Da können Sie auch den Gärtner fragen. Der Herr Karl Berger sagt das auch. Die Zei ...“
„Wie bitte?! Wie sagten Sie, ist der Name des Gärtners?“, warf Kai erstaunt ein.
„Na, sagte ich doch gerade. Berger. Karl Berger. Ein sympathischer Mann. Er pflegt den Garten hier. Es macht ihm Spaß. Das sieht man aber auch. Zudem bessert er damit seine Rente auf. Ist doch nicht verboten“, erklärte Frau Ackermann entrüstet.
Kai sah angestrengt in sein Notizbuch.
„Gnädige Frau, bekamen Sie zufällig mit, ob sich Herr Eichenhauer und Frau Rita öfter gestritten haben?“, erkundigte sich Leonard.
„Nein. Streit kann man das nicht wirklich nennen. Sie haben sich schon vertragen.“ Die Antwort der Frau klang etwas gedehnt, weshalb Leonard nachhakte. „So wie Sie das sagen, klingt es stark nach einem ‚Aber‘ Mäm. Wie war denn Ihr persönlicher Eindruck?“
„Ach, Herr Kommissar. Herr Eichenhauer hat immer so einen … wie soll ich das ausdrücken … genervten und gereizten Ton an sich. Frau Rita ist da anders. Sie hat öfter gelacht, war immer freundlich zu unsereiner. Wissen Sie, die Frau Rita konnte mit Herrn Eichenhauer umgehen. Wäre das nicht so, würden öfter mal die Fetzen fliegen.“ Erschrocken sah Frau Ackermann auf.
„Ich verstehe“, lächelte Terani aufmunternd.
„Also einmal - da ging es wirklich heiß her. Richtig laut ist Herr Eichenhauer dabei geworden. Bei dem Streit ging es um Geld. Herr Eichenhauer hat Frau Rita vorgeworfen, dass sie sein Geld mit vollen Händen ausgeben würde. Frau Rita hat schnell die Tür geschlossen. Ich habe noch gehört, wie sie Herrn Eichenhauer gebeten hat, nicht so laut zu schreien. Es müsse ja schließlich nicht das ganze Viertel hören.“ Frau Ackermann sah Terani verschworen an.
„Um Geld, sagen Sie, gnä Frau, ging dabei der Streit? Die Herrschaften scheinen doch gut betucht zu sein. Oder sehe ich das falsch?“, warf Leonard nach dem Redeschwall der Frau ein.
„Herr Kommissar. Das sind sie. Zumindest Herr Eichenhauer. So weit ich weiß, arbeitet Frau Rita nicht mehr. Trotzdem hat er es immer mit dem Geld. Ist so ein richtiger Pfennigfuchser. Von ihm ist nie Trinkgeld zu erwarten. Da ist die Frau Rita ganz anders. Ich denke, er spekuliert mit Geld.“ Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie in der Gegenwart sprach. Mit dem Taschentuch tupfte sie sich die Augenwinkel. „Ich meine, er hat mit Geld spekuliert, oder wie man das auch nennt. Er …. “, weinend brach sie ab.
„Danke, Mäm. Damit haben sie uns sehr geholfen. Danke für ihre Zeit. Das wäre vorerst alles. Ich hoffe, wir dürfen uns noch an Sie wenden, benötigen wir noch ein weiteres Mal Ihre werte Hilfe.“
Angetan von der Höflichkeit des gut aussehenden Kommissars mit den langen dunklen Haaren, verabschiedete sich Frau Ackermann, nicht ohne vorher ihre Anschrift zu hinterlassen. Ihr verstorbener Gatte hatte eben solch volles Haar, wie der Kommissar mit dem altmodisch anmutenden Auftreten. Und genau wie dieser, hatte auch ihr Mann sein Haar zu einem Zopf am Hinterkopf zusammengebunden. Bei der Erinnerung an ihren Mann seufzte sie tief.
„Mein alter Herr“, stammelte Berger. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass er seine Rente aufbessern muss.“
„He, Kai. Er tut es in erster Linie, weil es ihm Freude macht“, beruhigte Leonard. „Wir kennen deinen Vater doch. Er ist mit Leib und Seele Gärtner. Du hast selbst gesagt, dein alter Herr kann nie mit Gartenarbeit aufhören. Komm, gehen wir zu Charles. Denke, sie will in die Gerichtsmedizin.“
Serafina fühlte sich beim Anblick dieses wundervollen Gingerbread Houses in ihre Kindheit zurück versetzt. Ihre Großmutter lebte in eben solch einem Haus. Irritiert nahm sie die merkwürdige Stiländerung beim Betreten des Gartens wahr. Die bewundernswerten Skulpturen, die im gesamten Gelände verteilt standen, ließen eine andere Welt betreten. Aber sie passten keineswegs zum heimeligen Flair des Gebäudes.
Auch Leonard Terani ging nicht achtlos daran vorbei. Sie bemerkte erfreut, dass auch er die Umgebung genau beobachtete, in sein Unterbewusstsein aufnahm.
Insgeheim musste Serafina lachen, als Charlotte von Aphrodite berichtete. Sie mochte die Gothic, die den Sinn für Außergewöhnliches behalten hatte, immer offen für Neues war. Noch mehr faszinierte Serafina der Umgang der Gerichtsmedizinerin mit den Toten. Sie behandelte diese weiterhin als Mensch, auch wenn nur noch die leibliche Hülle vorhanden, die Seele längst schon gegangen war.
Die Seele.
Serafina glaubte fest daran, dass diese nach dem Tode noch verweilte, in der Nähe der menschlichen Umhüllung blieb. Dies hatte schon ihre Großmutter erzählt.
„Die Seele eines Menschen bleibt nach dessen Sterben noch ein paar Stunden im Raum. Serafina, mein Kind, dann musst du für sie beten.“
Auf die Frage, warum man dann beten müsse, erhielt das kleine Mädchen von ihrer Großmutter keine Antwort. Schon damals sah Serafina Dinge, die niemand begreifen konnte. Nicht einmal die geliebte Oma verstand ihr Enkelkind. Einzig ihre Großtante Elvira. Sie war überzeugt, dass ihre Großnichte eine Gabe hatte. Diese Gabe sollte sie als Geschenk ansehen, nicht als Last empfinden.
Gerade erklärte Charlotte, dass Aphrodite aller Wahrscheinlichkeit nach als Mordwerkzeug fungierte. Serafina hatte den leeren Sockel neben der Treppe wahrgenommen, der sicherlich der Standort der anziehenden Skulptur war.
Der Blick des toten Mannes. Seine Seele war noch da und er sah zum Pool. Zur Frau, die leblos im Wasser trieb. Selbst noch im Tode galt sein Augenmerk der Frau. Serafina nahm Schmerz in seinen leblosen Augen wahr, der nichts mit körperlicher Pein gemein hatte. Sie folgte seiner Blickrichtung. Stellte sich an den Beckenrand. Nur entfernt nahm sie das Stimmengemurmel in ihrem Rücken wahr.
Serafina kannte die Skepsis, die ihr entgegen gebracht wurde, nachdem der Staatsanwalt auf ihre Fähigkeiten gebaut hatte. Dies hieß noch lange nicht, dass er daran glaubte. Genau wie Kai Berger erklärte er ihre Hilfe bei der Ergreifung des Perfektionisten, mit Kombinationsgabe, guter Beobachtung und einer gehörigen Portion Glück.
Der Perfektionist.
Mit ihrer Hilfe …
Serafina hatte ihm Angst gemacht. Fast empfand sie Mitleid mit dem Individuum, welches ihr das linke Augenlicht genommen, Menschen gequält und getötet hatte.
Sie starrte auf das Wasser. Auf den leblosen Körper einer schönen Frau. Ohne sich zu bewegen, beobachtete sie die Polizeitaucher, die sich abmühten, das Opfer vorsichtig zu bergen. Serafina entgingen die unruhigen Blicke der Taucher nicht, die immer wieder nervös zur Gerichtsmedizinerin wanderten. Und sie spürte den besorgten Blick der Gothic, der ihr galt, Serafina Renington.
…..
Sie wusste, sie stand unverändert am Rand des Pools, hatte sich kaum bewegt. Mit Sicherheit wurde von den anderen nicht einmal ein leichtes Schwanken ihrerseits wahrgenommen. Trotzdem hatte Serafina mit einem Mal das Empfinden, alles um sie herum veränderte sich.
In einen milchigen Schleier gehüllt, überkam sie das Gefühl, sie würde schweben. Ihr Sichtfeld begrenzte sich auf den leblosen Körper im Wasser, der überdeutlich sichtbar blieb. Als die Taucher, die nur noch schemenhaft erkennbar waren, Rita Holland drehten, richtete sich der starre Blick der Frau direkt auf Serafina. Für einen kurzen Moment kehrte Leben in die, bis dato, ausdruckslosen Augen zurück.
Serafina hatte den Eindruck, die Tode würde sie Hilfe suchend ansehen. Verwirrt las sie Verwunderung, Angst, Enttäuschung in den weit geöffneten Augen. Auf Serafina wirkten sie wie ein Spiegel, in dem sie entsetzt beobachtete, wie Rita von zwei starken Armen ins Wasser geworfen wurde. Mit Schrecken erkannte sie, dass bereits zu diesem Zeitpunkt jegliches Lebenin der Frau erloschen war. Sie vernahm einen Aufschrei, derweder von Rita noch von ihr selbst kam.
…..
Nachdem sie die Welt um sich wieder realisiert hatte, lag das Opfer am Beckenrand. Charlotte sprach mit den Tauchern. Terani und Berger traten soeben zur Gruppe.
„Also Leute“, wurden die Kommissare von der Gothic empfangen, die dabei besorgt zu Serafina sah. „Wenn es euch recht ist, lasse ich Frau Holland und Herrn Eichenhauer jetzt in die Gerichtsmedizin bringen.“
Noch bevor Terani antworten konnte, sagte Serafina mit leiser fester Stimme.
Serafina wartete auf der Terrasse, während die Kommissare ins Innere des Hauses gingen. Auf die Äußerung Serafinas, die Frau sei nicht hier ertrunken, hatte Berger ungeduldig die Augen verdreht. Leonard hatte etwas gemurmelt, das dem gleichkam, man müsse erst abwarten, was Charlottes Untersuchungen brachten. Einzig die Gerichtsmedizinerin nahm Serafina ernst. Die Gothic hatte es mit einem Male sehr eilig, in die Gerichtsmedizin zu kommen.
Lehmann von der Spurensicherung, empfing die Kommissare mit den Worten:
„Waren trinkfest, die beiden. Überall leere Flaschen. Ihr solltet euch mal den Weinkeller ansehen. Erlesen sag ich nur.“
Dabei sah er verstohlen zu Serafina. Ihre Äußerung am Swimmingpool hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Terani war froh, dass der Mann der Spurensicherung in dieser Hinsicht keinen Kommentar abgab. Ihm war bewusst, dass die Meinungen im Dezernat, Serafinas Fähigkeiten betreffend, geteilt waren. Welcher Kategorie Lehmann angehörte, war ihm allerdings nicht klar.
Auch das Innere des Hauses war, wie das Äußere wünschen ließ, im viktorianischen Stil gehalten. Die Einrichtung edel und hell. Angesichts des Hintergrundes von Herrn Eichenhauer war dies auch nicht verwunderlich.
Die Kühlschranktür der großräumigen Küche aus weiß lackiertem Holz, fungierte offensichtlich als Pinnwand, da dort unzählige Fotos sowie Notizen angebracht wurden. Ein Bild zeigte eine strahlende Rita Holland. Auf dem darunter befestigten Zettel stand: „Scharfe Frau, irgendwann ... bald heirate ich dich. Küsschen Roman.“
Lehmann, der über Leonards Schulter schaute, brummte: „Das können die beiden jetzt im Jenseits nachholen.“
Berger schüttelte den Kopf.
„Wir sind soweit fertig Leo. Dies hier“, dabei überreichte der Chef der Spurensicherung Terani ein Tütchen, in dem sich eine violette Plastikmünze befand, „haben wir unter dem Teppich im Schlafzimmer gefunden.“
Nachdem Leonard das Beweisstück entgegen genommen hatte, setzte Lehmann erklärend hinzu.
„Würde sagen ein Chip. Nicht einer für den Einkaufswagen. Dafür ist er zu groß“, dabei lächelte er Kai spöttisch an. „Casino. Spielhalle. Dem Emblem nach zu urteilen, aus München. Genauer: Am Rand von München hat eine neue Spielbank aufgemacht: Dǔchǎng-Casino.“
„Du...was?“, wollte Kai erstaunt wissen.
„Dǔchǎng“, wiederholte der Chef der Spurensicherung schmunzelnd mit perfekter Aussprache. „Ist Chinesisch. Heißt im Grunde Casino. Also: Casino-Casino.“
„Woher weißt du das alles, Lorenz?“ Nur Leonard sprach ihn mit dem Vornamen an.
„War selber auch mal dort. So weit ich weiß, hat jedes Spielcasino seine eigene Prägung. Und auf diesem hier kann man einen kleinen Drachen erkennen. “