Kiana - Zukunft beginnt jetzt - Bettina Bäumert - E-Book

Kiana - Zukunft beginnt jetzt E-Book

Bettina Bäumert

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Beschreibung

"Zukunft, was ist das?", wollten Rainir und Lukas von ihrem Großvater Sebastian wissen. "Zukunft", antwortete Sebastian bedächtig. "Zukunft ist die nächste Sekunde. Der nächste Wimpernschlag. Zukunft beginnt jetzt." Und ihre Großmutter Leona setzte hinzu. "Zukunft ist Veränderung. Manchmal sind diese Veränderungen nötig und gut. Und manchmal ..." Um zu erfahren, was Zukunft ist, wollen Rainir und Lukas mehr von der Zeit der großen Veränderung durch den langen Winter und der Seuche Corana erfahren. Dieses Buch ist eine Mischung aus Fantasy mit Engeln und Halbengeln, Zukunftsvisionen und einem Krimi.

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Bettina Bäumert

Kiana

Zukunft beginnt jetzt

Dieses Buch

... ist eine Mischung aus fiktivem Klimawandel, einer todbringenden Seuche, Engel und Halbengel und einem Krimi.

Was, wenn ein Mann alle Macht der Welt hätte? Eine Macht, geboren aus der Not? Geboren aus seinem Wissen und seinem Können? Wie würde die Zukunft dann aussehen?

Nach dem langen Winter überlebte nur ein Teil der Menschheit eine verheerende Hungersnot und eine todbringende Seuche. Corana. Und das nur durch einen Mann: Jerome Mureni. Sein Medikament gegen diese Krankheit heilt nicht nur. Es verspricht ein ewiges Leben. Als in sein Labor eingebrochen wird, wirft das viele Fragen auf. Wollten die Einbrecher wirklich nur Jeromes Wundermittel gegen Corana stehlen? Oder steckt mehr dahinter, so wie es Kiana vermutet. Auf der Suche nach Antworten ...

Autor

Bettina Bäumert, Jahrgang 1959, ist gelernte Kinderkrankenschwester. Mit ihren Mann und ihren Eltern lebt sie in Strullendorf. Ihr erstes Buch ‚Ich bin Ich‘ schildert das Leben eines behinderten Kindes mit seiner Familie. Geschrieben aus der Sicht des Kindes. Dieses Buch entstand im Jahre 2013 und war ursprünglich nur für seine Großeltern gedacht.

Kiana

Zukunft beginnt jetzt

1. Buch

Für meine Familie

2. Auflage, 1. Buch, 2020

© Bettina Bäumert – alle Rechte vorbehalten

© Copyright by Bettina BäumertUmschlaggestaltung: © Copyright by Bettina Bäumert

Texte: © Copyright by Bettina Bäumert

Verlag:

Bettina Bäumert

Danziger Str. 12

96129 Strullendorf

Telefon: 09543 3064

[email protected]

www.leseecke-bettinabaeumert.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Namen und Handlungen sind frei erfunden.

Damit es nicht so kompliziert wird

Mureni-Clan

> Jerome Mureni: Oberhaupt aller Clans

> Mother Sarem: seine Frau

> Tikon: 1. Sohn – Mutter: Sybill Kinor

> Jarin: 2. Sohn – Mutter: Ida Rosala

> Kiana: Tochter

Sarem-Clan

> Kiron: Oberhaupt

> Shanie: seine Frau

> Mother: Tochter, Jerome Murenis Frau

> Jorge Sohn – seine Frau: Shalin Lotana

> Fenur: Sohn

> Rainir: Tochter von Jorge

Rosala-Clan

> Chrow: Oberhaupt

> Salki: seine Frau

> Crosek: Sohn

> Ida: Tochter – Mutter von Jarin Mureni

Kinor-Clan

> Store: Oberhaupt

> Stine: seine Frau

> Sybill: Tochter – Mutter von Tikon Mureni

> Sarte: Tochter

> Lokem: Sohn

Lotana-Clan

> Lonschär: Oberhaupt

> Broke: seine Frau

> Rainir: Tochter

> Fran: Tochter – mit Jarin Mureni zusammen

> Shalin: Tochter – Frau von Jorge Sarem

Samuel Testan

> Shökin kasegi – Kopfgeldjäger

> Norlo: Vater; Cousin von Lonschär Lotana

Thai Wong

> Sicherheitschef – Sekyuritichifu – Samurai

Zukunft, was ist das?

Das ist es, was der Himmel wünscht.

Wer Kraft hat, soll anderen helfen.

Wer Weisheit besitzt, soll andere lehren.

Wer Reichtum erwirbt, ihn mit anderen teilen.

(Alte chinesische Weisheit)

Der Unterricht hatte wieder einmal viel zu lange gedauert. Jetzt rannten Lukas und Rainir so schnell sie nur konnten durch die Gänge des Mureni-Hauses in den alten Teil des Gebäudes. In den Teil, der von Leona und Sebastian, ihren Ur-Großeltern bewohnt wurde.

Bevor das Geschwisterpaar an die Tür zu Großvaters Reich klopften, warteten sie einen Augenblick, bis sich ihr vom Laufen angestrengter Atem etwas beruhigt hatte. Erst nachdem sie die Aufforderung zum Eintreten erhielten, öffneten sie die Tür. Wie von ihnen erwartet, saß Großvater Sebastian hinter einem von Büchern und Schriften überladenen Schreibtisch. Uralte Schätze aus einer Welt, die es schon lange nicht mehr gab. Kostbarkeiten, die Lukas und Rainir völlig unbekannt waren. In der Welt, in der sie lebten, gab es schon lange kein geschriebenes Wort mehr. In ihrer Welt war alles digital.

Sebastian schmunzelte. Oh ja, er musste zugeben, er freute sich immer wieder aufs Neue, kamen die Kinder zu ihm. Er sehnte sich nach ihrer innigen Begrüßung und Umarmung. Und er war stolz auf ihre Wissbegierde und darauf, dass er mit ihnen in alten Zeiten schwelgen konnte.

Rainir und Lukas nahmen, wie stets waren sie hier, auf dem altertümlichen Sofa im gemütlichen Wohnzimmer ihrer Ur-Großeltern Platz.

„Na, wie war es in der Schule?“, erkundigte sich Großvater Sebastian gewohnheitsmäßig, wobei er sich wie üblich den Kindern gegenüber in einen antiken Ohrensessel fallen ließ.

„Och ja ... wie immer ...“, murmelte Rainir mit geröteten Wangen.

„Langweilig“, setzte Lukas hinzu.

„Hhmm“, brummte Großvater Sebastian.

Er wusste, die Kinder hatten gute Noten. Sie lernten schnell und gerne. Allerdings wurde in der Schule nicht das unterrichtet, was Lukas und Rainir ernsthaft interessierte, auf was sie neugierig waren. Die beiden wollten wissen, wie das Leben war, bevor sich alles veränderte. Sie waren neugierig, von der Zeit zu hören, in der er selbst und Leona vor langer, langer Zeit gelebt hatten. Genau wie vor vielen Jahren Kiana, wollten auch sie wissen, wie das Leben vor dem langen Winter war. Und sie wollten von dem Nephilim erfahren, der die Welt in eine neue, eine bessere Bahn gelenkt hatte.

„Großvater? Was ist Zukunft?“, wollte Rainir plötzlich wissen.

Sebastian sah seine Ur-Enkelin versonnen an. Sie hatte das Haar ihrer Mutter geerbt, rot und lockig. Nicht aber ihr Temperament. Das hatte Lukas, der Ältere der beiden von ihr. Lukas war, genau wie seine Mutter, ständig in den Wäldern unterwegs. Er hatte eine schnelle Auffassungsgabe und war ein kleiner Rebell. Sein Aussehen, seine Kraft und Ausdauer hatte er jedoch von seinem Vater. Rainir war bedächtig, wie ihr Vater. Sie überlegte erst, bevor sie sprach. Allerdings hatte sie die Gabe ihrer Mutter geerbt. Und ihre Liebe für asiatische Kampfkünste.

„Zukunft“, wiederholte er bedächtig. „Zukunft, mein Kind, ist die nächste Sekunde. Der nächste Wimpernschlag. Zukunft beginnt jetzt.“

Leona hatte die Frage ihrer Ur-Enkelin noch gehört.

„Zukunft“, sagte sie, wobei sie mit einem Tablett ins Wohnzimmer kam, das sie vorsichtig auf dem Tisch abstellte. „Zukunft ist Veränderung, Rainir. Manchmal sind diese Veränderungen nötig und gut. Und manchmal ...“

Rainir half ihrer Großmutter, die Leckereien auf den Tisch zu stellen. Milch und Kekse. Darauf freuten sich Rainir und Lukas, denn niemand konnte so lecker wie Leona backen. Nachdem Leona sich neben ihre Enkelkinder gesetzt hatte, redete Rainir weiter.

„Als die Engel auf dem Berg waren hat sich vieles verändert, nicht wahr Großmutter Leona?“, wollte sie wissen, bevor sie einen weiteren Keks in den Mund steckte.

Sebastian schüttelte mit dem Kopf.

„Nein. Nein. Nicht erst da“, sagte er bedächtig. „Die große Veränderung fand schon vorher statt. Lange vorher. Nur hatte niemand die Vorzeichen erkannt. Niemand hat sich etwas dabei gedacht, als der lange Winter die Welt in eisigem Griff hatte. Damals dachten wir noch ...“

Leona räusperte sich.

„Sebastian“, unterbrach sie ihren Mann sanft. „Beginne mit den Engeln. Du hattest sie schon bei Rainirs und Lukas letztem Besuch angesprochen. Glaube mir, niemand will einen wissenschaftlichen Vortrag hören.“

Großvater Sebastian schmunzelte.

„Richtig. Die Fünf. Damals standen sie auf dem Berg ...“

Was ist Weisheit?

Die Menschen kennen.

Was ist Menschenwürde?

Die Menschen lieben.

(Konfuzius)

1

Sebastian erzählt

Unbeeindruckt von Regen, Wind und Donner standen die FÜNF auf dem Gipfel des Berges. Schweigend und scheinbar gleichgültig sahen sie zu, wie Flüsse und Seen über die Ufer traten. Selbst als der Sturm mit tiefem Donnergrollen an Stärke zunahm und grelle Blitze die Verwüstung des Landes zu ihren Füßen deutlich machten, zeigten sie keine Regung.

Bis hinauf auf den Berg vernahmen die FÜNF den Herzschlag der Menschen. Sie sahen ihre Angst und sie hörten deutlich das Weinen der Kinder, die zitternd den Schutz ihrer Eltern suchten. Emotionslos beobachteten sie Väter und Mütter, die verzweifelt versuchten, ihre Familien zu schützen. Für die FÜNF waren es leise und seltene Töne und Unterfangen, die in dieser Welt immer schwächer und leiser wurden und mehr und mehr verloren gingen.

Wesentlich lauter und häufiger drang dagegen das Kampfgeschrei aus den Straßen zu ihnen. Sie sahen in den Gesichtern der Menschen unberechenbare Wut, Gier und Missgunst. Das Streben nach Macht und Unsterblichkeit hatte die Menschheit vergiftet. Machthunger und Neid hatten sich einem bösen Geschwür gleich in ihren Seelen festgesetzt. Die Folge war Folter, Hass und Unterdrückung. In dieser kranken, sterbenden Welt gingen Liebe und Mitgefühl immer mehr verloren.

„Warum hat sich die Menschheit derart verändert?“

Malafach, der Engel der Wahrheit, stellte diese Frage, die sich jeder der FÜNF stellte, mit nur gedachten Worten.

„Nicht alle Menschen sind böse“, flüsterte Tanael, die Beschützerin der Kinder. „Es gibt so viele unschuldige Söhne und Töchter.“

Raphael, der Engel der Hoffnung, ging nachdenklich in die Hocke. Angestrengt fixierte er einen winzigen Punkt in weiter Ferne. Die anderen Engel folgten seinem Blick.

Metatron, der Engel der Liebe und der Einigkeit, schüttelte mit dem Kopf.

„Sie kann ihn nicht halten. Dazu fehlt ihr die Kraft. Er wird ins Bodenlose fallen. Genau wie der Mann vor ihm. Der, den er verfolgt hatte. Nein, sie kann ihn nicht retten“, murmelte er.

Raphael sagte nichts. Er sah schweigend zu dem über den Abgrund hängenden Mann und zur Frau, die doch, zumindest für den Moment, fest annahm, sie könne ihn retten.

„Sie könnte überleben. Dazu muss sie nur seine Hand loslassen. Tut sie das nicht, reißt er sie mit in die Tiefe und in den sicheren Tod“, seufzte Uriel, der Engel des Lichts Gottes.

Raphael rührte sich nicht.

1.1

Es war beileibe nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein, dass sich Kiana unbemerkt aus dem Haus geschlichen hatte. Schon vor über einer Stunde war sie in die Wälder außerhalb der geschützten Zone geflüchtet. Und das, obgleich es strengstens untersagt war. Aber heute brauchte sie einen freien Kopf. Denn heute Abend fand das von ihr verhasste Familienessen statt. Vor diesen einmal im Monat stattfindenden Abendessen mit der gesamten Familie graute ihr. Sie hasste die Falschheit, mit der alle Familienmitglieder scheinbar vereint um den großen, ovalen Tisch in Jerome Murenis Esszimmer saßen. Obwohl doch jedem Anwesenden vollkommen klar war, dass es unter der nach außen hin intakten Oberfläche, gewaltig brodelte.

Kiana stöhnte.

Irgendetwas lag in der Luft. Das ahnte sie. Etwas Bedrohliches, Angsteinflößendes. Womöglich lag ihr komisches Gefühl in der Magengegend auch nur daran, dass Jerome Mureni seit einiger Zeit die Angewohnheit hatte, bei diesen Zusammenkünften seine Macht zu demonstrieren.

Kiana lachte bitter auf.

Die eigene Familie hatte Angst, vom Clan-Oberhaupt vor versammelter Mannschaft vorgeführt und bloß gestellt zu werden. Was in letzter Zeit auch in schönster Regelmäßigkeit passierte. Kein Wunder, dass nicht nur Kiana diese Essen abgrundtief verabscheute. Und doch machte jeder in der Familie gute Miene zum bösen Spiel. Im Endeffekt waren sie alle auf Jerome Murenis Wohlwollen angewiesen. Und zudem war Anwesenheit bei diesem Essen Pflicht.

Heute, das war Kiana vollkommen klar, musste sie sich mit ihren Äußerungen zurückhalten. Was ihr leider nicht leicht fiel. Sie äußerte stets offen und ehrlich ihre Meinung, die nicht unbedingt auch die Ansichten Jeromes waren. Bei ihrem letzten Disput mit ihm hatte sie den Bogen eindeutig überspannt. Weitere Differenzen mit dem Oberhaupt des Clans konnte und durfte auch sie sich nicht leisten.

Dermaßen in ihr Grübeln versunken hatte Kiana die Zeit vergessen. Und weit schlimmer, sie hatte nicht auf das Wetter geachtet. Mittlerweile regnete es in Strömen. Kleine Bäche traten bereits über die Ufer. Nicht mehr lange und das Gebiet jenseits der Fabriken würde unter Wasser stehen. Im Grunde nichts Neues. Und beileibe nichts Ungewöhnliches. Seit dem langen Winter wechselte sich miserables Wetter und Hochwasser in schönster Regelmäßigkeit ab.

Kiana kehrte um. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen. Auf dem Weg, den sie gekommen war, konnte sie unmöglich zurück. Hier war bereits alles überschwemmt und versank im Morast. Besorgt sah sie zum Himmel. Zu allem Überfluss türmten sich am Horizont schwarze Wolken auf, aus denen schon vereinzelt, grelle Blitze schossen. Es war nicht mehr zu übersehen, dass ein heftiger Sturm aufzog. Höchste Zeit, nach Hause zu kommen. Wofür ihr jetzt nur noch zwei Möglichkeiten blieben. Wählte sie den sicheren Weg, würde sie bis nach Hause weitere drei Stunden brauchen. Angesichts des nahenden Unwetters und des bevorstehenden Familienessens war das keine ratsame Option. Womit ihr nur der Weg über die Schlucht blieb. Was bei diesem Wetter kein leichtes Unterfangen war, da über den Abgrund nur ein schmaler, unsicherer Steg führte.

Kiana atmete tief durch. Im Moment hatte sie nur diese eine Alternative. Wenn sie weiterhin zögerte, würde sie mit Sicherheit ins Auge des Sturms geraten. Und weit schlimmer, sie würde sich zum traditionellen Essen und Jeromes Machtdemonstration verspäten. Oder ... weit tragischer, sie würde dort erst gar nicht erscheinen. Daraus resultierende Folgen wollte sie sich erst gar nicht ausmalen.

Mit einen tiefen Seufzer band sie ihre langen, rotgelockten Haare im Nacken zusammen. Dann rannte sie los.

Erst an der Waldgrenze blieb sie im Schutze der Bäume stehen. Vor ihr lag eine kurze freie Fläche. Dahinter kam besagte Schlucht, dessen Verbindung zur anderen Seite nur dieser glitschige Steg war. War dieses Hindernis geschafft, führte ein von Felswand und Abgrund beengter Pfad bis zu den von dichtem Wald umgebenen Fabriken der Clans. Aber auch dieser Weg hatte so seine Tücken. Uneben und voller Wurzel, Steine und glattem Fels war er nicht nur bei schlechtem Wetter gefährlich. In den unterhalb des Abgrundes gelegenen, reißenden Fluss waren schon viele Menschen bei weit besseren Wetterverhältnissen gestürzt.

Kiana holte tief Luft und rannte los.

Vor dem Steg blieb sie zögernd stehen. Nicht aus Angst, nein. Was sie am Weitergehen hinderte, war ihr überaus empfindliches Gefühl für ihre Umgebung. Noch bevor sie etwas sehen konnte, wusste sie, dass jemand oder etwas direkt auf sie zukam. Um nicht sofort entdeckt zu werden, kauerte sich Kiana vor dem Steg auf den Boden. Sie hatte sich kaum geduckt, als auch schon ein Mann aus dem Wald der Murenis kam. Er schien es äußerst eilig zu haben. Ohne sein Tempo zu drosseln, rannte er auf dem schmalen Pfad Richtung Steg.

Kiana bewegte sich nicht. Unwillig schüttelte sie mit dem Kopf. Dieser Mann schien vor irgendetwas oder jemanden auf der Flucht zu sein. Und das, ohne auch nur im Geringsten auf seinen Weg zu achten. Auch seine Art, sich fortzubewegen war seltsam. Womöglich lag es an seiner untersetzten Gestalt und daran, dass er seinen Oberkörper ungewöhnlich weit nach vorne beugte. Geradeso, als ob er mit dem Kopf durch eine Wand wolle.

„Mach langsam und achte auf deinen Weg“, warnte Kiana leise, da der Mann mit unverändertem Tempo über den glitschigen Fels lief.

Wie von Kiana befürchtet, stolperte er und stürzte. Als er unbeholfen aufstand, sah er sich ängstlich um.

„Wirst du verfolgt?“, überlegte Kiana.

Der Mann lief weiter. Dabei drehte er sich immer wieder um. Kiana beobachtete ihn kopfschüttelnd. Sie hatte es kommen sehen. Dadurch, dass er sich ständig umdrehte, achtete er noch weniger auf die Bodenbeschaffenheit. Er fiel erneut auf den Boden. Dieses Mal schlug er hart und dicht am Abgrund zur Schlucht auf. Sein Schmerzensschrei war weithin zu hören. Eine Weile blieb er reglos liegen.

Kiana stand besorgt auf. In dem Moment, in dem sie den Steg überqueren wollte, kam ein weiterer Mann aus dem Unterholz des Mureni-Waldes. Kiana duckte sich erneut. Dieser Mann war wesentlich größer als der, den er augenscheinlich verfolgte. Er war schlank und wirkte durchtrainiert.

Kiana blieb unschlüssig in der Hocke. Auch der Große hielt kurz inne. Er sah sich suchend um. In dem Moment stand der Flüchtende schwerfällig und gefährlich schwankend auf. Dabei drückte er seinen rechten Arm mit schmerzverzerrtem Gesicht an sich. Er sah sich nervös um und kam erneut ins Rutschen. Um sein Gleichgewicht zu halten, ruderte er mit dem unverletzten Arm wild durch die Luft.

Kiana rannte zeitgleich mit dem großen Mann los. Er erreichte den Unglücksraben in dem Moment, in dem er zu Boden fiel. Ohne zu Überlegen hielt sich sein Verfolger mit der einen Hand an einem herausragenden Ast fest, mit der freien Hand erwischte er den Kleinen genau in dem Moment an seiner Jacke, in dem er über den Abhang rutschte. Für einen Augenblick hing der Flüchtling frei in der Luft. Auch Kiana war jetzt nur noch wenige Schritte von der Unglücksstelle entfernt. Entsetzt sah er seinen Helfer an. In seinen Augen lag die Gewissheit, dass er dem Tode geweiht war. Noch bevor Kiana helfen konnte, riss die Jacke des Kleinen und er stürzte ins Bodenlose. Er schrie nicht. Er rief nur einen Namen. Manee.

Einen Moment blieb der große Mann fassungslos über den Abgrund gebeugt. Als er sich umdrehte und in Kianas erschrockenes Gesicht sah, wurde ihm erst bewusst, dass er nicht alleine war. Er stöhnte leise und zog sich am Ast hoch. Kaum, dass er sicheren Boden unter den Füßen hatte, kam der vom Regen durchtränkte Hang ins Rutschen. Der Fremde verlor den Halt und stürzte. Im Fallen drehte er sich geistesgegenwärtig um die eigene Achse, wodurch er sich mit einer Hand an einem freigespülten Felsen festhalten konnte. Mit der anderen Hand suchte er nach einem weiteren Halt. Kiana griff zu und umschloss fest seine Finger.

Der Fremde sah Kiana erstaunt an.

„Lass los!“, rief er gegen den stärker werdenden Wind. „Du kannst mich nicht halten!“

Kiana schüttelte mit dem Kopf. Sie selbst hielt sich an einem dünnen Stamm fest. Was nicht gerade der sicherste Halt war. Sie sah den Fremden wütend an.

„Suche etwas, worauf du dich mit den Füßen abstützen kannst!“, schrie sie. „Dann kann ich dich halten!“

Der Fremde lächelte. Regen peitschte ihnen ins Gesicht und der Wind zerrte an ihren Haaren. Der Sturm kam näher. Mit einer Hand klammerte er sich am Fels fest, und mit der anderen hielt er Kianas Finger umschlossen. Er hatte nur mit den Fußspitzen einen unsicheren Stand finden können. Etwas Bequemeres und Stabileres gab es nicht. Was diese zierliche Frau mit Sicherheit wusste, was sie allerdings nicht wahrhaben wollte. Der Fremde lächelte gequält. Lange war es ihn sowieso nicht mehr möglich, sich an diesem schmalen Felsvorsprung festzuhalten. Eine Tatsache, die diese bezaubernde Frau einfach ignorierte. Wäre er jetzt alleine, würde er vor Wut schreien. Er war unvorsichtig gewesen, und er hatte versagt. So sah er ihr nur unverwandt in ihre ausdrucksstarken, dunklen Augen.

‚Gott, wenn es dich gibt, dann bitte, lass mich noch einen kleinen Moment am Leben‘, dachte er. ‚Schenke mir noch einen Blick in ihre Augen. Und bitte, lass meine Hand noch ein bisschen länger in der ihren. Diese Frau ist etwas Besonderes. Sie hat Mut und sie gibt schwer auf.‘

Er lächelte. Genauso hatte er sich seine zukünftige Frau vorgestellt. Nur etwas größer. Diese Frau mit den roten, lockigen, vom Wind zerzausten Haaren, die ihr mit Sicherheit bis zur Taille reichten, schien doch ein bisschen klein zu sein. Es war verdammt mutig von ihr, ihn, einen Fremden retten zu wollen. Er lockerte seinen Griff, mit dem er sich instinktiv an ihre Hand geklammert hatte.

„Wage es nicht!“, zischte Kiana mit funkelnden Augen, die den Blitzen in der Ferne wahrhaft Konkurrenz machen konnten. „Wage es nicht, und lass meine Hand los!“

In ihrer Stimme lag etwas, das keinerlei Widerspruch duldete. Weshalb er, ohne zu überlegen, fester zugriff. Er, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen, wagte es nicht, dieser Frau zu widersprechen. In dem Moment, in dem ihm das bewusst wurde, schmunzelte er. Sie hatte keine Wahl. Das war nicht nur ihm, das war auch ihr klar. Früher oder später musste sie ihn loslassen. Ihre Kräfte schwanden bereits. Das war ihm nicht entgangen. Er wollte diesen wundersamen Augenblick nur noch ein kleines bisschen hinauszögern. Das waren die letzten Minuten seines Lebens. Er würde sie nicht gefährden, aber er wollte diesen wunderbaren Moment so lange hinauszögern und auskosten, solange es ging.

Mit einem Male hatte der Fremde den Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen in der Nase. Eine Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit. Eine Geschichte aus vergessenen Kindertagen. Er atmete tief ein. Ein Backwerk seiner verstorbenen Großmutter aus besseren Zeiten. Aus einer Epoche, als alles noch annähernd normal war. Er schüttelte unmerklich mit dem Kopf. Seltsam doch, wie real eine Empfindung sein konnte, die er einzig und alleine aus wirklichkeitsgetreuen und äußerst lebhaften Schilderungen seiner Großmutter kannte. Ein Duft aus Zimt und Äpfeln. Zutaten, die es in seinem Leben nie gegeben hatte. Er hatte nie Apfelkuchen gegessen. Es war die Erinnerung aus einem Leben, das es vor dem langen Winter gegeben hatte. Und genau wie damals, als seine Großmutter von diesem Kuchen schwärmte, konnte er auch jetzt, im Angesicht des Todes, den Geschmack auf der Zunge spüren, ohne ihn jemals wirklich gekostet zu haben.

Der Fremde stöhnte leise.

In seinem Fuß hatte er einen schmerzhaften Krampf. Lange konnte er sich in dieser Stellung nicht mehr halten. Und auch die Hand dieser geheimnisvollen Frau rutschte langsam aber sicher aus der seinen. Er sah sie liebevoll und bewundernd an.

‚Dafür, Gott, dafür lohnt es sich zu sterben. Diese Frau einmal im Leben gesehen zu haben ist ein Geschenk. Wenn es dich gibt, dann danke ich dir für diesen Augenblick.‘

„Lass los“, befahl er. „Sonst reiße ich dich mit in die Tiefe. Und das will ich nicht. Heute sind schon genügend Menschen gestorben. Du sollst leben. Du bist schließlich wesentlich hübscher und mutiger, als ich es bin. Lebe. Die Welt braucht etwas Erfreuliches. Dich. Also lebe.“

Sein leises Lachen spiegelte sich in seinen Augen.

„Halt die Klappe!“, zischte Kiana wütend.

Trotz ihrer Wut war ihr klar, dass er recht hatte. Ihre Schulter schmerzte höllisch. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr der Arm jeden Moment aus dem Gelenk reißen würde. Ihrer beiden Hände rutschten. Lange konnte weder sie ihn, noch er sich selbst halten. Wie um alles in der Welt sollte sie ihn hochziehen können? Ihr fehlte die nötige Kraft dazu. Was sie dringend brauchten, war Hilfe.

Kiana lachte bitter.

Selbst wenn bei diesem Wetter zufällig jemand vorbeikommen würde, bezweifelte sie stark, dass dieser Jemand auch helfen würde. Die Zeiten hatten sich geändert. Sie waren mehr als nur schlecht. Und die Menschen waren nicht besser. Jeder war sich selbst der Nächste. Achtlosigkeit und Egoismus waren traurige Tatsachen.

Kiana weinte. Nicht mehr lange und dieser Mann wird in den Tod stürzen. Und sie war nicht fähig, das zu verhindern.

‚Oh Gott! Er ist ein Mensch! Bitte hilf ihm!‘

2

Sebastian und Leona erinnern sich

Nachdem sich die Kinder verabschiedet hatten, setzte sich Sebastian wieder in seinen Sessel. Leona stellte nachdenklich Teller und Tassen auf ihr Tablett. Mit einem Seufzer ließ auch sie sich wieder auf das Sofa sinken.

„Erinnerst du dich noch daran, Sebastian, als unser Haus größer wurde und ...?“

Ihr Mann hatte sich nicht verändert. Noch immer war er groß und schlank. Und wie schon vor Jahren, band er seinen dunklen, halblangen Zopf im Nacken zusammen.

Sebastian stopfte seine Pfeife. Erst als er Rauchkringel in die Luft geblasen hatte, nickte er.

„Natürlich erinnere ich mich, Leona. Damals waren es nur kleine Umbauten und technische Erneuerungen, die das Leben leichter machten. Du hattest Angst davor.“

Leona nickte. Es stimmte. Sie konnte sich nur schwer mit Neuem abfinden.

„Damals ... Das ist schon so lange her, und doch kann ich mich noch immer ganz deutlich an alles erinnern. Kiana hasste diese Familienessen. Ich stand am Fenster und habe auf sie gewartet. Und mit einem Male tauchten Bilder aus längst vergangenen Tagen auf. Geschehnisse, von denen ich dachte, ich hätte sie endlich vergessen.“

***

2.1

Leona am Fenster

Leona Mureni, eine kleine Frau mit braunem, halblangem, leicht gewelltem Haar und wasserblauen Augen, stand am Fenster ihrer gemütlich eingerichteten Wohnküche. Von hier hatte sie einen guten Blick in ihren kleinen Vorgarten und zur Haustür. Sie seufzte tief, wobei sie ihre Hände in die weiten Ärmel ihres bis zu den Knöcheln reichenden, blumigen Kleides steckte. Es regnete in Strömen. Und es war windig geworden.

Sie sah besorgt zur Uhr.

Seit dem langen Winter hatte sich vieles verändert. Nicht nur das Wetter war anders. Auch die Menschen und das Leben selbst hatten sich gewandelt. Was in Leonas Augen nicht unbedingt von Vorteil war. Immer häufiger sehnte sie sich nach der alten Zeit. Einer Epoche, in der alles normal und besser war.

Sie war nervös.

Und das nicht ohne Grund. Leona hatte gesehen, wie sich ihre Enkelin, Kiana, leise aus dem Haus geschlichen hatte. Schon da hatte es geregnet. Es war nicht der Regen, der Leona beunruhigte. Ihre Enkeltochter hatte keine Angst davor, ein bisschen nass zu werden. Sie gehörte keineswegs zu den Frauen, die äußerst besorgt um ihre Frisur und um ihr Aussehen waren. Wind und Wetter machten Kiana nichts aus. Was Leona Sorgen bereitete, waren die dunklen Wolken, die sich am Horizont auftürmten. Sie war sich sicher, dass auch Kiana diese unheilvollen Vorboten eines nahenden Sturms gesehen hatte. Und ihr war zudem die strikte Anweisung bekannt, die Ausflüge ins verbotene und ungeschützte Land strengstens untersagten. Und doch ignorierte Kiana immer wieder aufs Neue, all diese Befehle und Anordnungen.

Trotz ihrer Sorge um Kiana konnte Leona ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

Sie war stolz auf ihre Enkelin. In Leonas Augen war ihre Enkeltochter etwas Besonderes. Kiana war von Anfang an nie wie andere Kinder ihres Alters gewesen. Sobald sie reden und selbstständig denken konnte, hatte sie Fragen gestellt. Was sie noch immer tat. Und wie schon als Kind, beharrte sie auch jetzt auf Antworten.

Leona seufzte leise.

Kiana wollte wissen, wie das Leben vor ihrer Geburt und vor dem langen Winter war. Leona musste zugegen, dass sie liebend gerne in alten Erinnerungen schwelgte. Weshalb sie auch bereitwillig eine Epoche schilderte, die es schon lange nicht mehr gab. Leona erzählte von einer Zeit, in der es Jeromes Gesetz nicht gegeben hatte. Sie redete von einem Zeitalter, in dem die Menschen eine Religion hatten. Kiana wäre nicht sie selbst, hätte sie nicht auch ihren Vater, Jerome Mureni, nach dieser Zeit gefragt. Und sie erwartete Antworten, die er ihr nicht gab. Woraufhin Kiana etwas tat, was sich nicht einmal Leona, Jeromes Mutter traute. Sie übte Kritik. Und sie äußerte offen Zweifel an der heutigen Form des Lebens. Kein Wunder, dass ihr Vater überaus wütend reagierte. Sein Wort, nein, er selbst war die bestehende Rechtsordnung. Was er sagte, wurde nicht angezweifelt, ihm wurden keine Fragen gestellt. So lautete das Gesetz.

Jerome Mureni verbot seiner eigenen Mutter, weiter mit Kiana über die Zeit vor dem langen Winter zu sprechen. Über eine Vergangenheit, die er ablehnte und ins Vergessen drängte. Und Kiana wurde untersagt, weitere Fragen zu stellen. Aber genau damit, mit Jeromes abstruser Anweisung, weckte er Kianas Neugierde und ihren Widerstand. Sie rebellierte gegen seine unsinnigen Gebote und Verbote. Was auch der Grund für ihre Exkursionen in die unerlaubten Gebiete war. Dass Kiana ihren Erkundungsradius immer weiter ausdehnte, war Leona durchaus bekannt. Ihr war klar, dass Kiana in den Wäldern nach Zeichen einer längst erloschenen Welt suchte. Der heilen Welt, von der ihre Großeltern erzählten. Und sie wollte wissen, warum diese Zeit von Jerome totgeschwiegen und missbilligt wurde.

Leona stöhnte leise.

„Kiana, Kind, du solltest dich beeilen. Das Unwetter kommt immer näher und ...“, murmelte sie, wobei sie ihre Stirn gegen die kalte Scheibe des Fensters drückte. „Die alte Zeit“, flüsterte sie. „Nach dem langen Winter veränderte sich ihr gesamtes Leben. Nichts war von dem geblieben, wie es einmal war.“

***

Sebastian war mit Leib und Seele Architekt und Erfinder. Leona musste zugeben, dass alles, was er für sie gebaut hatte, wirklich gut war. Trotz allem war sie überzeugt, dass die Modernisierung zum einen viel zu schnell ging. Und zum anderen wurde vieles nicht wirklich benötigt.

Ihr gemeinsamer und einziger Sohn glich Sebastian nicht nur äußerlich. Er war hochbegabt und seinem Vater in vieler Hinsicht ähnlich. Jerome trat, was handwerkliches Geschick und Erfindungsgeist betraf, in Sebastians Fußstapfen. Ein Steckenpferd, das er liebend gerne mit seinem Vater teilte.

Seine wirkliche Leidenschaft galt allerdings der Medizin. Mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren war er ein erfolgreicher und beliebter Arzt. In dieser Zeit lernte er Sana, eine dunkelhaarige Krankenschwester mit warmen, braunen Augen kennen. Es dauerte nicht lange und Jerome heiratete die engagierte und mitfühlende Frau. Eine Frau, die ihn ermutigte, sich zudem in der Gentechnologie einen Namen zu machen.

„Jerome“, hatte Sana einmal liebevoll und voller Überzeugung gesagt, „wenn jemand fähig ist, Medikamente zu finden, die Krankheiten heilen, die bisher nicht heilbar sind, dann bist es mit Sicherheit du.“

Nach ihrer Hochzeit blieb Jerome mit Sana in seinem Elternhaus. Einem gemütlichen Landhaus, das Leona von ihrem Vater geerbt hatte. Hier auf dem Gut ihrer Eltern war Leona aufgewachsen. Und hier hatte sie ihren Sohn zur Welt gebracht. In diesem Haus steckten so viele, schöne Erinnerungen. Weshalb sie dem geplanten Anbau ihres Sohnes nur zustimmte, beließ er die Ansicht und den Baustil ihres Heimes. Damals hatte Sana ihre Schwiegermutter liebevoll in den Arm genommen.

„Leona, das Haus bleibt so. Hier bei dir wird nicht viel verändert. In unserem Anbau gibt es viele technische Neuheiten. Leona, du wirst es nicht für möglich halten, was es heutzutage schon alles gibt. Da bietet es sich doch an, auch in eurem Wohnbereich zumindest Kleinigkeiten zu verbessern.“

Leona am Fenster

Leona schloss gequält die Augen. Nein, sie war nicht bereit für diese Erneuerungen gewesen. Im Grunde war sie das noch heute nicht. Und doch wurde mit der Zeit auch ihr Wohnbereich mit immer mehr technischen Neuerungen ausgestattet.

Der erste große Um- und Anbau wurde noch vor Einbruch des Winters beendet. Wie versprochen blieb die Ansicht des Hauses, wie auch der Zauber des ganzen Landsitzes erhalten. Zumindest damals. In den vergangenen Jahren hatte sich auf dem gesamten Gutshof einiges verändert.

Nicht aber ihr eigener Teil des Hauses. Leona hatte sich durchgesetzt, hier alles so zu belassen, wie sie es wollte. Anders verhielt es sich mit dem Anbau Jeromes. Mit den Jahren wurde dieses Haus nicht nur größer, es strotzte vor Technik, sodass kaum mehr Personal nötig war. Und seit Jerome mit seiner jetzigen Frau dort lebte, war es unpersönlich und steril geworden.

Leona atmete tief durch.

Der Winter ... Wäre dieser Winter nicht gewesen ...

Ohne wirklich etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen, starrte Leona aus dem Fenster. Sie sah andere Bilder, nicht, was draußen war. Sie hatte den Winter von damals vor Augen. Einen Winter, der ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellte. Mit der eisigen Kälte hielt der Hunger im Land Einzug. Damals ...

***

Leona Mureni deckte müde den Tisch. Auch heute fiel das Abendessen spärlich aus. Wieder einmal gab es nur heißen Tee und Brot. Für eine größere Auswahl reichte es schon lange nicht mehr.

Sie hatte nicht bemerkt, dass Sebastian leise in die Küche gekommen war. Als er sie jetzt von hinten umarmte, lächelte sie glücklich.

„Du hast Brot gebacken“, sagte er dankbar. „Ich habe es schon auf dem Flur gerochen. Was für ein leckeres Abendessen.“

Leona drehte sich um und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

„Sebastian, du neigst zu Übertreibungen. ... Du bist ja eiskalt. Setz dich, und trinke eine Tasse heißen Tee. Ein warmes Getränk wärmt von innen.“ Sie lächelte angespannt. „Wo bleiben denn Jerome und Sana?“

Sebastian nahm am großen Küchentisch Platz. Erst nachdem er von seinem Tee getrunken hatte, antwortete er.

„Ach Leona, du kennst doch deinen Sohn. Er will weiter arbeiten bis ...“ Sebastian lächelte gequält. „Jerome ist im Labor. Er ist überzeugt, dass er kurz vor dem Durchbruch steht. Ich soll ihm dann etwas Brot und heißen Tee bringen. Und Sana kommt später. Sie hat in der Klinik noch alle Hände voll zu tun.“

Sebastian sah sorgenvoll zum Fenster. Es schneite noch immer. Und das bereits seit Wochen. Ein Ende war noch lange nicht in Sicht.

Leona setzte sich zu ihm auf die Bank.

„Sebastian ... Dieser Winter macht mir Angst. Seit fast einem Jahr nur Eis und Schnee. Die Vorräte ... Wir haben kaum mehr etwas. Und ... sei ehrlich, du glaubst genauso wenig wie ich daran, dass Jerome künstliche Nahrungsmittel wachsen lassen kann, die den Hunger nicht nur stillen, sondern das Leben erhalten.“

Sebastian schluckte.

„Nicht wachsen, Leona“, sagte er leise. „Jerome ist sicher, dass es ihm gelingt, künstliche Nahrung herzustellen. Im Labor.“ Er nippte gedankenverloren von seinem Tee. „Überall verhungern die Menschen. Ich war heute mit Jerome in der Stadt. Es ist ...“

Er redete nicht weiter. So lange er lebte, hatte er so einen Winter noch nie erlebt. Die Tage waren von den Nächten kaum mehr zu unterscheiden. Es gab entweder ein helles oder ein dunkles Grau. Richtig Tag wurde es schon lange nicht mehr. Und an den Scheiben der Fenster bildeten sich immer mehr Eiskristalle. Seit Monaten schon lagen die Felder unter einer dicken Schneeschicht. Und noch immer gab es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass endlich Tauwetter einsetzten würde. Die Bauern hatten sich von ihren Notbeständen getrennt. Es wurde geteilt. Heute hatte Sebastian mit seinem Sohn die letzte Ration an Obst, Gemüse, Getreide und Brot unter der noch lebenden Bevölkerung verteilt. Die Menschen hungerten. Und sie verhungerten. Deshalb bemühte sich Jerome, künstliche Nahrungsmittel herzustellen. Deshalb arbeitete er unter Hochdruck. Worüber Leona zweifelnd mit dem Kopf schüttelte. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas möglich war. Sie verstand nicht, dass für Jeromes Versuche ihre sowieso schon geringen Bestände vergeudet wurden. In letzter Zeit war auch Sebastian skeptisch geworden. Dennoch stand er seinem Sohn weiterhin tatkräftig zur Seite.

Leona am Fenster

Leona stöhnte. Ihre Enkelin war noch immer nicht zurück. Und jetzt prasselten auch noch dicke Regentropfen gegen die Fensterscheibe.

„Damals“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild in der Scheibe. „Da hatte niemand, wirklich niemand daran geglaubt oder es für möglich gehalten, dass Jerome tatsächlich künstliche Nahrung herstellen würde. Aber er hat es geschafft. Mein Sohn hat Unmögliches vollbracht. Er hat die Menschheit vor dem Hungertod bewahrt.“

Damals hatten die Überlebenden das erste Mal nach langer Zeit wieder Hoffnung. ...

***

Niemand war mehr gezwungen, zu verhungern. Leona war stolz auf ihren Sohn. Gegen allen Erwartungen war es ihm gelungen, künstliche Nahrungsmittel herzustellen. Sogar das Aussehen seiner Produkte glich den bisher gewohnten natürlichen Lebensmitteln. Und wesentlich wichtiger, seine Erzeugnisse machten satt. Die Menschen hatten wieder Hoffnung und Lebenswillen. Nach langer Zeit lernten sie endlich wieder, zu lächeln. Und das, obgleich der strenge Winter noch immer kein Ende nahm. Seit über einem Jahr blieb das Land unverändert unter einer dicken Schicht aus Eis und Schnee begraben. Landwirtschaft war weiterhin undenkbar. Die Tage blieben kalt und grau. Mit dieser Monotonie ließ das nächste Problem nicht lange auf sich warten. Die Eintönigkeit und das fehlende Sonnenlicht legten sich auf die Gemüter der Menschen. Die Bevölkerung versank in Traurigkeit und Lethargie.

„Die Sonne fehlt“, jammerte Leona. „Geht das so weiter, rottet sich die Menschheit selbst aus.“

Sebastian schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Auch ihm war bekannt, dass die Selbstmordrate ins Unermessliche stieg, und dass die herkömmlichen Antidepressiva versagten. Menschen, die den Hunger überlebt hatten, wurden jetzt Opfer ihrer abgrundtiefen Traurigkeit. Sie nahmen sich das Leben. Es fehlte Licht und Sonne. Ohne Sonnenlicht war Leben nicht möglich.

Und wieder war es Jerome Mureni, der nach Abhilfe suchte. Er entwickelte ein Medikament, Happipiru, das die Menschen aus ihrer Mutlosigkeit und Depression holte. Damit fanden sie zwar aus ihrem Trübsinn, allerdings waren sie gezwungen, Happipiru ständig zu nehmen. Ansonsten fielen sie wieder in ihre tiefe Traurigkeit zurück. Und da der Winter die Welt weiterhin in frostiger Umarmung hielt, war die Bevölkerung ein weiteres Mal auf Jerome Mureni angewiesen.

Sie benötigten Nahrung und Happipiru. Und beides stellte Jerome her.

„Das ist nicht gut“, murmelte Sana. „Die Bevölkerung braucht Jerome immer mehr, um zu überleben. Das ist nicht gut. Diese Last sollte nicht von einer Person getragen werden.“

Leona nickte. Auch ihre Schwiegertochter hatte bemerkt, dass sich Jerome veränderte. Nein, diese Abhängigkeit der Bevölkerung von einem einzigen Mann, von Jerome Mureni, war nicht gut.

2.2

So etwas hatte es noch nie gegeben. Noch nie hatte ein Winter so lange angehalten. Es gab nur Grau und Schwarz. Nur Frost und Unbehagen. Auf dem Land spitzte sich die Lage mehr und mehr zu. Einzig in der Stadt ging es den Menschen besser. Hier gab es Nahrung, Medikamente und Wärme. Dass Jerome Mureni künstliche Nahrungsmittel herstellte und unter der Bevölkerung verteilte, sprach sich schnell herum. Kein Wunder, dass die Landbevölkerung von Kälte und Hunger getrieben in die Stadt pilgerte. Ein Umstand, der Bürgermeister Ägidius Baum immer mehr Kopfschmerzen bereitete. Weshalb der dünne, kahlköpfige Mann, der stets Anzug und Krawatte trug, grübelnd hinter seinem Schreibtisch saß. Kein Wunder, dass er dermaßen in Gedanken, beim Klingeln des Telefons erschrocken zusammenzuckte. Nach einem kurzen Gespräch legte Ägidius Baum verwirrt auf. Sein alter Schulfreund Jerome, den er schon seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, lud ihn zu einem Treffen auf das Gut seiner Eltern ein. Einen Grund gab er nicht an. Ägidius sah gedankenverloren auf das Telefon. Er konnte sich kaum mehr erinnern, wann er das letzte Mal auf dem Landsitz der Murenis war. Schon alleine deshalb, aus lauter Neugierde, nahm er die überraschende Einladung Jeromes an.

Jetzt betrachtete er staunend das um einiges vergrößerte Haus. Im riesigen Anbau setzte sich die ihm vertraute und stets bewunderte Fassade des alten Landhauses fort. Er war noch in seiner Betrachtung vertieft, als ihm von Leona lächelnd die Tür geöffnet wurde.

„Ägidius, ich freue mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Ist schon lange her, seit du das letzte Mal bei uns warst.“

Der Bürgermeister klopfte verlegen den Schnee von den Schuhen und trat ein.

„War nicht böse gemeint, Leona“, entschuldigte er sich. „Erst das Studium und dann ...“

Er sprach nicht weiter. Jerome kam in diesem Moment durch die große, mit weißem Marmor ausgelegte Eingangshalle.

„Ägidius, alter Freund. Schön, dass du hier bist“, begrüßte Jerome seinen alten Schulfreund herzlich. „Schon lange nicht mehr gesehen. Ich muss sagen, du hast dich verändert. Wo sind deine Haare geblieben?“, lachte er gut gelaunt.

Ägidius strich verunsichert über seinen kahlen Kopf.

„Tja, die Glatze habe ich schon lange. Wir haben uns nur so selten gesehen. Ich bin in der Stadt und du lebst und arbeitest hier draußen“, rechtfertigte er sich verlegen.

Ihnen war beiden klar, dass das so nicht stimmte. Ägidius hatte sich zurückgezogen. Er litt darunter, dass Jerome bereits in jungen Jahren Erfolg hatte und er in allem hinterherhinkte. Erst jetzt, da er Bürgermeister war, fühlte er sich in Jeromes Gegenwart nicht mehr ganz so bedeutungslos.

„Ägidius, hat mich gefreut. Ich hoffe, wir sehen dich jetzt öfter“, verabschiedete sich Leona lächelnd.

Auf dem Weg durch die weiten Flure des Hauses, kam Ägidius aus dem Staunen nicht heraus. Das Anwesen war riesig und in zwei Gebäudeteile unterteilt, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Während der Wohnbereich, in dem Jeromes Eltern lebten, mit seinen Erinnerungen übereinstimmte, gestaltete sich der neue Teil groß und weitläufig. Im Wohnzimmer Jeromes wartete sein Vater. Auch von Sebastian wurde Ägidius herzlich begrüßt. In dem Moment, in dem er in einem der ledernen Sessel neben den Vater seines Freundes Platz nahm, wurde Ägidius klar, dass dieses Treffen nicht der alten Zeiten wegen stattfand. Um seine Beklemmung zu überspielen, erinnerte sich Ägidius daran, dass er der Bürgermeister war.

„Die Bevölkerung wächst ins Unermessliche. Hunger und Kälte treiben immer mehr Menschen in die Stadt. Und da du dich schon seit einigen Jahren um das Wohlergehen der Bewohner sorgst, denke ich, du hast mich deshalb hergebeten. Wir brauchen mehr Wohnungen. Darüber wolltest du und dein Vater doch sicher mit mir sprechen, nicht wahr, Jerome.“

Jerome setzte sich seinem Freund gegenüber in einen Sessel.

„Richtig, Ägidius, die steigende Bevölkerungszahl. Das ist der Grund, weshalb ich dich eingeladen habe“, bestätigte Jerome.

Der Bürgermeister sah seinen Schulfreund erfreut an.

„Ja, ich wusste, dass du dir darüber Gedanken machst. Ich freue mich, dass du mir bei diesem Problem helfen willst. Wie ich euch beide kenne, habt ihr sicher schon Baupläne für mich.“

Er lachte leutselig. Jerome lächelte. Und Sebastian, der neben Ägidius auf der Couch Platz genommen hatte, schmunzelte.

„Nicht ganz, Ägidius. Du kennst meinen Vater. Und du kennst mich. Wir lassen uns immer etwas Neues einfallen. Und genau deshalb, als Architekt und Erfinder, sage ich dir, dass diese Stadt nicht nur weitere Wohnungen und Häuser braucht. In erster Linie ist etwas anderes von Nöten. Ein ausgeklügeltes System, mit dem die Stadt leichter zu kontrollieren und vor allen Dingen überschaubarer wird.“

Mit einem Male fühlte sich Ägidius Baum nicht mehr wohl. In Jeromes Stimme lag etwas, das ihn aufhorchen ließ. Als ihm schlagartig bewusst wurde, auf was sein ehemaliger Schulfreund jeden Moment zu sprechen kommen würde, schwitzte er. Weshalb er sich nervös in eine Ecke der Couch drückte. Mit den vielen Zuwanderern blühte der Schwarzmarkt. Künstliche Lebensmittel wurden zu horrenden Preisen gehandelt. Vorwürfe vonseiten Jeromes, waren durchaus berechtigt. In der Zeit der Hungersnot verteilte er diese Nahrungsmittel kostenlos. Und jetzt, da niemand mehr Hunger leiden musste, jeder seiner Arbeit nachgehen konnte, verlangte er für die Herstellung seiner Produkte einen geringen Betrag. Was wiederum in den Augen des Bürgermeisters nur recht und billig war. Und doch ...

„Nein! Nein, Jerome“, warf Ägidius aufgeregt ein. „Ich denke, das siehst du falsch. Die Menschen benötigen ein Dach über den Kopf. Sie brauchen Wärme und etwas zum Essen. Dieser Winter ... Er ist der Schlimmste, den es je gegeben hat. Die Felder können noch immer nicht bestellt werden. Und ...“

Jeromes mildes Lächeln und die Art, wie er ihn musterte, ließ Ägidius verstummen.

„Vollkommen richtig, Ägidius. Die Menschen, die in unsere Stadt kommen, brauchen dringend Nahrung und eine Behausung. Nur ... Wie soll ich sagen, Ägidius? Du weißt genauso gut wie ich, dass der Schwarzmarkt seit dem immensen Bevölkerungswachstum überhandnimmt. Mit den von mir hergestellten Nahrungsmitteln, die ich, wie dir bekannt ist, günstig anbiete, verdienen sich andere eine goldene Nase. Meine Produkte werden billig eingekauft und völlig überteuert weiterverkauft. Und das vorzugsweise an Menschen, die kaum etwas haben. Das, Ägidius, ist nicht Sinn der Sache.“

Der Bürgermeister strich verlegen über sein glatt rasiertes Kinn.

„Ich weiß, Jerome. Ich weiß. Und, wirklich, uns allen ist klar, dass du fair bist. Deine Lebensmittel sind für jeden erschwinglich. Ich ... Wir tun alles Menschenmögliche, um diese unseriösen Geschäfte zu unterbinden. Nur ... Im Moment, Jerome, können wir nicht mehr tun. Ich habe überall Kontrollen aufstellen lassen. Und ...“

Er redete erneut nicht zu Ende. Unter Jerome Murenis prüfenden Blick fand er nicht die richtigen Worte, fühlte er sich wieder in ihre Schulzeit zurückversetzt. Ägidius kam sich klein und nichtig vor.

Sebastian, der bisher schweigend zugehört hatte, lehnte sich in seinem Sessel vor.

„Ägidius“, beschwichtigte er. „Niemand macht dir Vorwürfe. Wir wissen, dass du alles tust, um diese unsauberen Geschäfte zu unterbinden. Jerome und mir ist vollkommen klar, dass dein Job nicht leicht ist. Ich bitte dich nur, dir anzuhören, was Jerome zu sagen hat. Dein Freund hat recht. Dieser unseriöse Handel, diese schmutzigen Geschäfte nehmen beängstigende Formen an. Je mehr Menschen vom Land in die Stadt kommen, umso schlimmer wird es. So kann das nicht weitergehen. Noch dazu niemand sagen kann, wie lange dieser verdammte Winter noch anhalten wird. Jerome hat sich etwas Geniales einfallen lassen. Du kannst mir glauben, das ist keine schlechte Idee, die er da hat.“

Der Bürgermeister nickte.

„Ist besser“, lächelte Jerome, „ich zeige es dir. Glaube mir, ist leichter, als dass ich dir etwas erkläre, von dem du keine Vorstellung haben kannst.“

Nein, davon hatte Ägidius Baum wirklich keine Ahnung. Jetzt kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nicht nur, dass das Mureni-Haus riesig und hypermodern eingerichtet war, verfügte es zudem über ausgeklügelte technische Raffinessen, von deren Existenz er nicht einmal wusste.

„Du kennst meine Mutter, Ägidius, und du weißt, dass sie eine leidenschaftliche Köchin ist. Ich muss zugeben, selbst aus synthetischen Produkten versteht sie es, ein geschmackvolles Essen zuzubereiten. Ich denke, es gibt nur wenige, die das können“, erklärte Jerome, als er den Bürgermeister in seine Küche führte.

„Deine Mutter war schon immer eine exzellente Köchin“, sagte Ägidius leutselig. „Sie schafft es, aus diesem Imitat ein Essen zu kochen, das nach etwas schmeckt? Meine Frau ... Ich will dir nicht zu nahe treten, Jerome, meine Frau ... Wir sind froh, dass niemand verhungert. Was wir alleine dir zu verdanken haben, aber geschmacklich ...“

Ägidius kam ins Stottern und Jerome lachte.

„Ich weiß. Deshalb zeige ich dir meine Küche.“

Der Bürgermeister sah sich suchend um.

„Ich ... Eine Küche ohne ... Das ist nur ein Schrank ... Es fehlt ... der Herd und ...“, stotterte er verwundert.

„Dafür gibt es das hier, mein Freund“, schmunzelte Jerome, wobei er auf den Kasten zeigte. „Gut, auf was hättest du denn Appetit? Oh, warte, wenn ich mich recht erinnere, kenne ich dein Leibgericht.“

Ägidius Baum sah Jerome perplex an.

„Schnitzel mit Bratkartoffeln“, sagte Jerome laut.

Dabei sah es so aus, als hätte er mit diesem Möbelstück gesprochen. Ägidius erstarrte, als sich gleich darauf eine Tür öffnete und wie von Zauberhand das Menü serviert wurde.

„Probiere, bevor es kalt wird“, forderte Jerome seinen Freund auf.

Der Bürgermeister war begeistert.

Jerome lächelte selbstbewusst.