Kommt ein Mann ins Zimmer - Nicole Krauss - E-Book

Kommt ein Mann ins Zimmer E-Book

Nicole Krauss

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Beschreibung

Wo bleibt die Erinnerung? Samson Greene, ein New Yorker Englischprofessor, wird orientierungslos in der Wüste Nevadas aufgefunden. Er kehrt zurück in sein früheres Leben, doch es bleibt ihm fremd. Alle Erinnerungen seit seinem zwölften Lebensjahr sind ausgelöscht. Ein kalifornischer Arzt kann Samson schließlich für Experimente der modernen Hirnforschung gewinnen. Der Beginn einer abenteuerlichen und gefährlichen Reise ... «Mit diesem außergewöhnlich tief empfundenen, klarsichtigen Buch betritt Nicole Krauss das Pantheon der großen amerikanischen Literatur.» (Susan Sontag) «Das Buch ist Beziehungsgeschichte, Science-Fiction, Road-Movie – ein intelligenter Lesespaß.» (Die Zeit) «Eine komplexe Metapher der Einsamkeit.» (FAZ) «Das berührend tragikomische Porträt eines Daseins ohne Vergangenheit.» (Freundin) «Ein beeindruckendes Debüt.» (SZ)

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Seitenzahl: 383

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Nicole Krauss

Kommt ein Mann ins Zimmer

Roman

Deutsch von Grete Osterwald

Für Ben 

Du wirst nicht die Fußstapfen eines anderen entdecken,

nicht die Gesichter von Menschen,

keine Namen.

Ralph Waldo Emerson,

Selbstvertrauen

Prolog

Juni 1957

GIRLS GIRLS GIRLS steht auf einem Schild am Maschendrahtzaun, und wir pfeifen und johlen, als der Bus vorbeirauscht, eine Staubwolke in der Mulde hinterlassend. Eine aufsässige schwarze Fliege dröhnt gegen das Fenster, und jemand versucht sie mit einer Zigarette zu versengen. Endlos ziehen sich die Beifußstoppeln hin, und Kohler sagt, du wärst noch keinen Tag tot, dann hätten die Kojoten dich schon blank geputzt. Kurz bevor wir Pendleton verließen, hat Kohler sich noch ein Tattoo geholt, ein Mädchen, das zappelt, wenn er die Muskeln spielen lässt, und zum sechsten oder siebten Mal heute krempelt er den Ärmel hoch.

An einem Straßenschild mit der Aufschrift 100Meilen bis Las Vegas geht das Grölen wieder los, und hinausgelehnt trommeln wir dem Bus auf die Flanken, bis das Asphaltband sich in der Ferne entwindet. Einer sagt, er habe gehört, beim ersten Versuch, der über dem Bikini-Atoll gezündet wurde, habe ein Bild von Rita Hayworth an der Bombe geklebt, und das bringt ein paar Lacher ein. Kohler, der Vegas kennt, erzählt vom Desert Inn, wie wir an unserem freien Abend dort hingehen, an Geldautomaten spielen, Shirley Jones sehen werden.

Um 15Uhr 13 fahren wir langsam in Desert Rock ein, recken uns und joggen eine Runde über den Makadam, um die steifen Glieder zu lockern. Es hat knapp 45Grad, jene Art Hitze, die einem den Kopf platzen lässt. Der Schauer einer fernen Regenwolke verdunstet hoch oben in der Luft, ehe je ein Tropfen auf die Wüste fällt.

Wir bekommen frische Drillichuniformen ausgehändigt, und danach gibt es vorerst keine Pflichten, also suchen wir uns ein Schattenfleckchen und sehen zu, wie ein paar Jungs auf Erkundung gehen, ein abgerissener Haufen, rangelnd und scherzend, bis sie Krater suchend aus dem Blickfeld verschwinden.

In der Nacht ist der Himmel reine Astronomie.

Tagelang tun wir nichts als warten, vertreiben uns die Zeit, indem wir schlafen oder auf dem rissigen Wüstenboden Echsen jagen. Wir leben auf dem Grund eines ausgetrockneten Sees, schreibt jemand nach Hause, es gibt Fossilien, die das beweisen. Wir unternehmen eine Fahrt zu einer Geisterstadt beim Death Valley, bleiben an der einzigen Kreuzung dort stehen und liefern uns Duelle mit zu Pistolen geformten Fingern. Hin und wieder lässt jemand eine verkratzte Aufnahme von Johnny Mathis oder Elvis über die Lautsprecheranlage laufen. Wir trinken, damit unser Blut nicht stockt, Wasser bei Tage, Bier in der Nacht. Wir schauen dem Mädchen beim Zappeltanz auf Kohlers Bizeps zu. Der Wind bläst beständig in die falsche Richtung, ein seltsamer Wind, der uns fertig macht und rastlos Staub aufwirbelt. Wir essen mit Sand zwischen den Zähnen. Als der Wind sich schließlich dreht, kommen Ansagen durch, die Zündung finde um 6Uhr 30 statt. Um 4Uhr stehen wir auf.

Die Versuchsbomben sind nach Wissenschaftlern oder Bergen benannt, außer der, um deretwillen wir gekommen sind, Priscilla, die an einem Heliumballon gut 200Meter über dem Boden schwebt. Eine Sondermeldung warnt die Zivilbevölkerung vor Netzhautschäden durch den Anblick des Feuerballs auf eine Entfernung von über hundert Kilometern, doch die Bergarbeiter klettern trotzdem auf den Angel’s Peak, als wäre es der Vierte Juli.

Wir fahren die 50Kilometer bis Frenchman Flat hinten auf Militärlastwagen, jeder mit einer angesteckten Messplakette, noch in beruhigendem Blau. Zweitausend Meter vom Bodennullpunkt entfernt halten die Laster an, und wir stolpern halb schlafend hinunter, steigen in die Gräben, bis wir auf Augenhöhe mit dem Wüstenboden sind. Tausend von uns sind so gut wie nichts auf dieser endlosen Fläche, wie Ameisen von oben betrachtet, etwas kaum Ungewöhnliches, keine Spezies, nur ein kleines Gewusel, das sich selbst nicht als geschichtliches Ereignis begreift. Wir sind jetzt fast durchweg still, lauschen den Kojoten und dem Knacken der Wüste, bis die Lautsprecher anfangen, Befehle durch die weichende Dunkelheit zu brüllen. Später wurden einige von uns nach Vietnam geschickt, wo wir uns schwitzend, mit entzündeter, verpilzter Haut in den von Spinnen wimmelnden Zelten an das hier erinnern sollten, wie einfach es war.

Während wir warten, rollt eine Karawane Lastwagen mit dem verängstigten Gedränge lebender Tiere heran. Tausend Meter vor uns sehen wir, wie neunhundert Schweine herausgestoßen und in Löchern oder Pferchen zusammengetrieben werden. Einige Schweine tragen gefütterte Kampfjacken, brandneu, die auf ihre Strapazierfähigkeit getestet werden sollen. Dazu eine Hand voll Kaninchen für die Wissenschaft in ihrem ständigen Bemühen, die Erblindungseffekte der Leuchtkraft zu erforschen.

Noch fünfzehn Minuten bis zum Countdown. Fünfzehn Minuten, um an Vegas zu denken, an die Zeit, da wir Ike die Hand schüttelten, an Schlagzeuger wie Krupa, die in den Big Bands spielten und mit Feingefühl die Trommeln rührten, sie zum Sprechen brachten, ohne auf sie einzudreschen, an die sanfte Klaviermusik in den Clubs in Kalifornien. Fünfzehn Minuten für noch eine Chesterfield, oder um geistesabwesend mit den Fingern kleine Löcher in die Grabenwand zu bohren. Tausend Gedanken, der reduzierte Querschnitt eines Augenblicks in Amerika. Unsere Helme schief, noch nicht zugeschnallt. Die Drillichhosen steif vor Neuheit. In glühender Pracht geht die Sonne auf, als müsste sie die Wüste erst erfinden. Zwei Minuten für die Zeitungsleute, sich auf ihren Sitzen am Kontrollpunkt einzurichten, Männer in Anzügen, mit Tickets unter den Hutbändern, die dies niemandem berichten würden.

Tausend Mann, die Arme vor den Augen verschränkt wie Mädchen im Kino, auf den verstärkten Ton einer einzigen, von zehn rückwärts zählenden Stimme konzentriert. Es ist Juni 1957, und der Countdown ist noch kein Synonym für Raketenabschüsse geworden, mit denen Astronauten aus der Erdatmosphäre hinaus ins All befördert werden.

Und dann ein Geräusch, wie wir es noch nie gehört haben. Eine Art Maximum an Lautstärke. Sogar mit geschlossenen Augen sehen wir das gleißende weiße Licht der Explosion, viermal so stark wie die von Nagasaki, so hell, dass keine Schatten fallen. Wir zählen bis zehn und öffnen die Augen, und was wir sehen, ist das Blut, das durch unsere Venen fließt, sind die Skelette der Männer vor uns. Röntgenbilder von tausend GIs, ihre Knochen wie eine Diashow in der Wüste. Scharf zeichnen sich die Yuccabäume ab, die Berge sind Aluminium.

Die Lautsprecher brüllen, wir sollen aufstehen, und wir erheben uns, betäubt, bewegen uns, ohne zu denken, außer den Jungs, die ganz unten sind, weinend und betend. Wir richten uns auf und werden von einer Stoßwelle heißer Luft erfasst, als würden uns die Köpfe abgerissen. Sie schmettert uns zurück, der Boden neigt sich. Wir sind zu sehr in Panik, um uns nach der Logik der Befehle zu fragen. Wir gehorchen, weil es der einzige Weg ist, lebend durchzukommen.

Die Luft ist schwärzer als der Jüngste Tag im Comic. Wie soll ich erklären, dass wir das persönlich nahmen?

Eine zweite Wand, eine nahende, leuchtende Flut aus Dreck und Schutt, die all das auf uns niederprasseln lässt, Stöcke und Steine und sonstige Dinge, an die wir jetzt, manche von uns halb begraben, keine Gedanken verschwenden können. Es folgt ein Moment seltsamer Ruhe, wie eine Pause tiefen Respekts, bevor der Chor anhebt zu singen. Dann können wir nicht mehr atmen. Es bleibt keine Luft übrig, als der Druck umschlägt und wieder zum Bodennullpunkt zieht, ruhiger, trauriger jetzt, da die Detonation in sich zusammenfällt, ein Vakuum, das alles aufzusaugen droht. Wir ringen um Atem, jeder für sich allein, während der Schutt sich ablagert, und dann sehen wir es, das, um dessentwillen wir gekommen sind: einen riesigen Feuerball, der hinter der Pilzwolke aufsteigt, als führe der Teufel gen Himmel. Es ist das Schönste, was wir je gesehen haben, im eigenen Blut kochend, steigt er zwölftausend Meter hoch und breitet sich aus, bis er die Sonne verdunkelt, breitet sich als eine Wolke, aus der es Wüstenreste regnet, über unsere Köpfe. Wir können nicht mehr denken. Es ist kein Platz mehr darin für etwas anderes.

Zweiundzwanzig Kilometer entfernt, am Kontrollpunkt, fliegen die Türen aus den Angeln. Die Geigerzähler müssen beruhigt werden wie scheuende Pferde. Auf dem Highway in der Nähe halten Autofahrer am Straßenrand, stehen benommen und blinzelnd neben ihren Kombis und suchen den Himmel nach Außerirdischen ab. Man spürt die Druckwelle in Mercury und in Indian Springs, hört sie wie ein Grollen bis nach Kalifornien und Reno. In Utah fährt Kindern ein heißer Wind durchs Haar, klatscht ihnen die T-Shirts an die Brust, als sie wegrennen und sich unter einem Ascheschauer umdrehen.

Kaum dass es still geworden ist, stehen wir und marschieren vorwärts zum Sturm auf den Bodennullpunkt. Tausend Mann, die Filmplaketten rot angelaufen wie frisch geküsste Mädchen.

Eins

Mai 2000

Als sie ihn fanden, war er auf halber Strecke des einzigen Asphaltbands, das sich durch das Mercury Valley zieht. Die beiden Polizisten sahen ihn auf der Straße, wie eine zerfledderte Krähe. Er starrte sie ausdruckslos an, als sie neben ihm hielten, weder erstaunt noch dankbar. Sie stellten ihm Fragen, die ihn zu verwirren schienen, und sein Blick schweifte ab, suchend an ihnen vorbei in die Wüste. Er wehrte sich nicht, als sie ihn filzten. Sie öffneten seine Geldbörse und zählten dreiundzwanzig Dollar plus Wechselgeld. Laut lasen sie ihm seinen Namen und seine Adresse vor, aber er verzog keine Miene. Der Mann vor ihnen, in verdrecktem Anzug, hatte kaum Ähnlichkeit mit dem strahlenden, konzentrierten Gesicht auf dem im Staat New York ausgestellten Führerschein; seine Züge waren von der Sonne gedunkelt, und Staub hatte sich in die Hautfalten gesetzt, sodass man ihm ein Alter von erst sechsunddreißig unmöglich abnehmen konnte. Sie kamen zu dem Schluss, er habe die Geldbörse gestohlen, und obwohl er offensichtlich dehydriert und nicht bei Sinnen war, legten sie ihm Handschellen an, um ihn ins Auto zu bringen. Er saß steif auf dem Rücksitz, leicht nach vorn kippend, die Augen starr auf die Straße gerichtet. Sie nannten ihn Samson, nicht weil sie das für seinen wahren Namen hielten, sondern weil ihnen sonst nichts einfiel.

Während er auf der Unfallstation in Las Vegas wegen was auch immer behandelt wurde, gab einer der Polizisten eine Suchmeldung durch, ausgeschrieben auf Samson Greene, geb. 29.01.64.Als herauskam, dass Samson Greene seit acht Tagen vermisst wurde und zuletzt gesehen worden war, wie er aus dem Tor der Columbia University hinaus und den Broadway hinunter in den hellen Nachmittag spazierte, wurde die Sache allmählich interessant. Jemand vom 24.Revier in Manhattan konnte den Polizisten mit dem Sozialamt verbinden, wo Samsons Frau beschäftigt war, und nachdem er mit drei weiteren Personen gesprochen hatte, wurde er schließlich zu ihr durchgestellt. Hallo?, sagte sie ruhig ins Telefon, schon informiert, wer am anderen Ende war. Ist er am Leben?

Es folgte eine kurze, verworrene Diskussion: Was er denn meine, sie seien sich nicht sicher, dass er es sei, ob auf seinem Führerschein nicht Samson Greene stehe, worauf der Polizist ungern antworten wollte, hören Sie, Lady, es könnte gut sein, dass Samson Greene mit einem Messer in der Brust irgendwo außerhalb von Vegas im Straßengraben liegt und der Mann, dem das Messer gehört, jetzt als eingetragenes Mitglied des West Side Racquet Club, des Anglistischen Seminars der Columbia University und des Museum of Modern Art herumläuft. Gibt es irgendwelche besonderen Merkmale?, fragte der Polizist. Ja, sagte sie, eine längliche Narbe hinten am linken Arm. Sie hielt inne, als läge Samson vor ihr und sie ließe ihre Augen über seinen Körper wandern. Und ein Muttermal über dem Schulterblatt. Der Polizist sagte, er werde sich wieder melden, sobald er etwas wisse, und gab ihr aus Höflichkeit die Nummer des Münzfernsprechers. Doch sie wollte unbedingt am Apparat bleiben, und so ließ er den Hörer baumeln, während er nachsehen ging, ob tatsächlich ihr Mann auf der Pritsche lag. Eine Krankenschwester nahm im Vorbeigehen den Hörer auf und sagte, Hallo? Hallo? Als keine Antwort kam, hängte sie ein. Eine Minute später klingelte das Telefon, aber es war niemand in der Nähe, und so schrillte und schrillte es mit höchster Dringlichkeit, jedes Schrillen gefolgt von einem Moment verzweifelter Stille.

Später waren sie in der Lage, den größten Teil seiner Reise zu rekonstruieren, hauptsächlich anhand der Busfahrscheine in seinen Taschen, aber auch dank der wenigen Aussagen von Zeugen, die ihn gesehen zu haben glaubten – eine Kellnerin, der Geschäftsführer eines Motels in Dayton, Ohio–, bestätigt durch das geisterhafte Flimmern seines Bildes vor den wandernden Augen der Sicherheitskameras. Als sie Samson diese Aufzeichnungen vorspielten, lächelte er und schüttelte den Kopf, weil er sich nicht erinnern konnte, wo er gewesen oder warum er dorthin gefahren war. Irgendwie, ohne dass sie es sich erklären konnte, allein in ihrer Traurigkeit, weckten diese Bilder bei Anna Greene ein so heftiges Verlangen nach ihrem Mann wie seit der Zeit nicht mehr, da sie begonnen hatten, ein Bett, ein Auto, einen Hund und ein Bad miteinander zu teilen. Eines der Bilder, das einzige, auf dem Samsons Gesicht klar zu erkennen war, zeigte ihn in einem Budget Motel außerhalb von Nashville am Checkout-Tresen. Er hielt die Geldbörse geöffnet und das Gesicht nach oben, mit einem Ausdruck, friedlich und versunken wie ein Kind.

Während Anna aus dem Flugzeug hinuntersah auf die zerfurchte Masse von Nevada, durch die eine glitzernde Ader nach Vegas führt, studierte der Neurologe, ein gewisser Dr.Tanner, die Computertomographie von Samsons Gehirn. Bis Anna das Krankenhaus erreichte, zerzaust, einen kleinen Koffer hinter sich her rollend, ohne sich noch zu erinnern, was für Sachen sie hineingepackt hatte, wurde bei Samson ein Tumor diagnostiziert, der über all die mit Arbeit oder Schlaf verschwendeten Monate einen willkürlichen, gefährlichen Druck auf sein Gehirn ausgeübt hatte. Die Hitze während der Fahrt vom Flughafen war schon im Mai schier unerträglich gewesen. Jetzt fröstelte Anna im klimatisierten Krankenhaus, das feuchte Shirt klebte ihr am Rücken. Sie konnte nicht begreifen, und noch konnte ihr niemand erklären, wie Samson dorthin gekommen war, wo man ihn gefunden hatte, irgendwo in Nevada. Unter großen Schwierigkeiten registrierte sie die Worte Dr.Tanners, der ihr jetzt gegenübersaß. Er ist ungefähr kirschengroß und drückt auf den Schläfenlappen seines Gehirns, wahrscheinlich ein juveniles pilozytisches Astrozytom. In ihrem eigenen – klaren, nicht von Krankheit bedrohten – Kopf stellte Anna sich das glänzende Dunkelrot einer Kirsche inmitten der grauen Hirnmasse vor. Einmal, es war fünf oder sechs Jahre her, waren sie in Connecticut von der Straße abgefahren und einem handgemalten Schild gefolgt, auf dem Kirschen pflücken stand. Mit zwei Körben und fleckigen Fingern waren sie durch den frühen Sommerabend zurückgefahren, die Fenster weit geöffnet, um den Duft frisch gemähten Grases hereindringen zu lassen. Während sie Dr.Tanners Stimme und seinen geduldigen, zuvorkommenden Pausen lauschte, hatte Anna das Gefühl, er sei ein glücklicher Mann, einer, der im schallgedämpften Auto bei klassischer Musik nach Hause fahren würde zu seiner Frau mit ihrem hellen, leichten Lachen – ein Mann, der nicht jeden Tag in Gedanken an das Häuflein Elend erwachte, das er am Abend auf dem Stuhl zurückgelassen hatte. Sie beneidete ihn, beneidete die Schwestern, die durch die Halle gingen und am Morgen glücklich genug gewesen waren, ihre gestärkten Kleider anzuziehen, beneidete die Sanitäter und den Hausmeister, der seinen grauen Wischlappen über den Linoleumboden schob.

Dr.Tanner fuhr fort: Nach dem Eingriff werden wir das Gewebe untersuchen und hoffen, es ist gutartig, ein Wort, dachte Anna, das, wie Samson ihr einmal auseinander gesetzt hatte, schlecht klingt wie alle Euphemismen. Dr.Tanner drehte die CT-Aufnahme um, schob sie über den Tisch zu ihr hinüber und beugte sich im Sitzen vor, um mit der Kappe seines Federhalters Samsons Gehirn zu umreißen. Auf einer gelben Insel in einem Kontinent von Blau ließ er die Kappe ruhen. Im Augenblick scheint bei ihm eine Art Autopilot zu funktionieren, erlernte Kenntnisse, die so eingeprägt sind, dass er allein durchs Land ziehen konnte. Ob einige oder alle Gedächtnisfunktionen dauerhaft zerstört sind oder ob der Eingriff selbst einen solchen Schaden anrichten wird, ist unmöglich vorauszusagen. Anna blickte aus dem Fenster auf die mit stetig rieselnden Sprinklern immergrün gehaltene Krankenhauslandschaft. Sie war einunddreißig Jahre alt. Seit fast zehn Jahren war sie mit Samson zusammen. Sie dachte an die Zeit, als er vor Zahnschmerzen geweint, und unerklärlicherweise auch an die, als er ihr zum Geburtstag Blumen geschickt hatte, aber am falschen Tag. Sie wandte sich wieder Dr.Tanner zu und erforschte sein Gesicht. Wie stehen die Chancen, wenn Sie den Tumor entfernen und er gutartig ist, sagte sie schließlich, wird er dann wieder gesund?, obwohl sie mit gesund eigentlich der Alte meinte. Ich glaube, Sie haben nicht richtig verstanden, sagte Dr.Tanner in einem mitfühlenden Ton, der manchmal für Mitleid gehalten wird. Wahrscheinlich ist sein Gedächtnis zerstört. Er legte eine Pause ein, eine tiefe ärztliche Pause, während seine Finger immer noch leicht auf Samsons Gehirn ruhten. Wahrscheinlich wird er sich nicht erinnern, wer Sie sind.

Was er vom ersten Augenaufschlag in Erinnerung behalten hatte, war die Uhr an der Wand, die 3:30 zeigte. Er musste noch eine Weile von einer Bewusstlosigkeit in die andere gefallen sein, denn als er wieder aufwachte, war die Uhr fort und er in einem Raum mit einem Fenster, dessen Vorhänge zurückgezogen waren, um die Sonne hereinzulassen. Später versuchte er sich genau zu erinnern, was er in diesen ersten Stunden gefühlt und gedacht haben mochte, aber im Unterschied zur scharfen Klarheit alles Folgenden war ihm vom Erwachen aus der Narkose nur ein verschwommener Eindruck geblieben. Er wollte sie zurückrufen, diese ersten, reinen, abgehobenen Momente, als etwas aus seinem Gehirn entfernt worden war, dessen Platz sich wie ein Luft ansaugendes Vakuum mit Leere gefüllt hatte. Obwohl es keine andere Bezeichnung dafür gab, war es nicht das Gleiche wie Vergesslichkeit. Das versuchte er Anna zu erklären, nachdem er mit der Zeit wieder gelernt hatte, was Vergessen überhaupt bedeutete; es war anders als eine Armamputation, bei der man immer noch ein Kribbeln in Phantomfingern spürt. Beide, die Erinnerung und ihre Spuren, waren weg, vollständig ausgelöscht, und genau das konnte Anna nicht verstehen, sein fehlendes Bedauern. Aber wie soll man bedauern, was für den eigenen Verstand nie existiert hat? Sogar Verlust ist eine unzutreffende Beschreibung, denn was ist Verlust ohne ein Bewusstsein des Verlierens?

Wochen später saß Samson mit kahl geschorenem, über dem Schnitt bandagiertem Kopf, den großen Umschlag mit den CTs auf den Knien, neben Anna im Flugzeug nach New York. Er hatte acht Kilo abgenommen, und die Sachen, die er trug – das Einzige, was Anna in den Billigläden nahe dem Krankenhaus hatte finden können–, waren altmodisch und passten ihm nicht richtig. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Anna ihn anstarrte, aber er fürchtete, sie würde anfangen zu weinen, wenn er mit ihr spräche. Er vertraute ihr, weil sie sich um ihn kümmerte und weil es sonst niemanden gab. Beim Landeanflug auf La Guardia deckte sie ihre Hand über die seine, und als sie den Boden berührten, blickte er auf ihre Hand und versuchte, etwas damit anzufangen. Während der Taxifahrt durch Queens las Samson, die Stirn ans Fenster gepresst, die Leuchtschrift auf den Schildern, die den Highway säumten. Als sie die Triboro Bridge überquerten und Manhattan sich gegen den Nachthimmel abhob, fragte Anna: «Erinnerst du dich?»

«Von Filmen», sagte er und beugte sich vor, um besser zu sehen.

Das gutartige Astrozytom, das sie aus seinem Gehirn entfernt hatten, wurde auf Objektträgern im Labor der pathologischen Abteilung des Krankenhauses aufbewahrt. Der Biopsie zufolge musste es über Monate, wenn nicht über Jahre unbemerkt langsam gewachsen sein. Es war das, was sie einen stillen Tumor nannten, ohne Symptome, die irgendjemanden auf sein Vorhandensein hätten aufmerksam machen können. Vor dem Zeitpunkt, da Samson in seinem Arbeitszimmer an der Universität ein Buch aus der Hand gelegt und mit ihm sein Gedächtnis geschlossen hatte, mochte es kurze Ausfälle gegeben haben, Momente, in denen die Erinnerung in ein schwarzes Loch gefallen war, ehe sie Sekunden später wieder auftauchte. Aber wenn das passiert sein sollte, konnte man es jetzt nicht mehr feststellen. Stetig war der Tumor in seinem Kopf gewachsen wie eine albtraumhafte Perle. An jenem Spätnachmittag im Mai war der Unterricht gerade aus gewesen, und während das Stimmengewirr der Studenten durch die offenen Fenster hereindrang, hatte er schließlich so viel Masse bekommen, dass das Gehirn dem anschwellenden Druck nicht mehr standhielt. Zwischen zwei Wörtern eines Buchs war Samsons Gedächtnis entschwunden. Vollständig, bis auf seine Kindheit, an die er sich erinnerte, als er Tage später in einem Krankenhaus in Nevada erwachte.

Zuerst konnte er sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Dennoch gab es Dinge, etwa den Geschmack von Orangensaft, die ihm vertraut vorkamen. Er wusste, dass es eine hübsche Frau war, die im roten Shirt an seinem Bett stand, obwohl er keine Vorstellung von weniger schönen Gesichtern besaß, gegen die ihres sich abgehoben hätte. Diese frühen Zeichen waren verheißungsvoll, und als die Ärzte ihn untersuchten, kam heraus, dass er sich nicht nur eine Art intrinsisches Gedächtnis von der Welt bewahrt hatte, sondern, bemerkenswerter noch, in der Lage war, neue Erinnerungen zu speichern. Er konnte sich an alles erinnern, was sich nach der Operation ereignet hatte. Den Ärzten schien das ein Rätsel, und bei Lehrvisiten verweilten sie lange in Samsons Zimmer. Sie spritzten ihm weiterhin Glukose, doch im Lauf der Tage wurde klar, dass sein Gedächtnisverlust nichts mit dem Ödem zu tun hatte. Die besonderen Umstände in seinem Fall – retrograde Amnesie, die den Verlust aller spezifischen Erinnerungen an die Zeit vor dem Eingriff bewirkte, während die Erinnerungsfähigkeit selbst noch funktionierte – waren höchst ungewöhnlich. Obwohl Samson seine ganze Biographie vergessen zu haben schien, wusste er doch, dass die Blumen auf dem Nachttisch Amaryllis hießen und dass Anna, die Frau, die an seinem Bett stand, sie ihm mitgebracht hatte. Als sein Blick eine Woche nach der Operation beim Aufschlagen der Augen auf diese durchsichtigen weißen Blüten gefallen war, hatte sich etwas wie das Bruchstück eines Traums gelöst und war an die Oberfläche seines Bewusstseins gedrungen.

Was ihn verblüffte, war die lebhafte Farbe der Erinnerung, ein leuchtendes Blau. Es war überall, rings um ihn her, warm und weich, und während er sich hindurchbewegte, dem glühenden Licht entgegen, hörte er gedämpfte Töne, die aus großer, unüberwindlicher Entfernung zu kommen schienen. Er verspürte ein Glücksgefühl, trotz des langsam zunehmenden Drucks auf seine Lungen, der ihn schließlich nach oben trieb. Er erinnerte sich an den Schreck über die kalte Luft, als er mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche stieß, und wie sich ihm plötzlich die Welt in vollkommener mikroskopischer Klarheit darbot: die Grashalme, der Abendhimmel, die triefenden Gesichter zweier Jungen im Licht der Scheinwerfer am Pool. «Dreiundvierzig Sekunden», rief der eine mit einem Blick auf die Uhr, dann preschte er über das Sprungbrett, hüpfte in die Luft und presste die Knie zusammen, ehe er laut platschend im Wasser versank.

In den Tagen nach der Operation kamen ihm mit zermürbender Präzision immer wieder solche Kindheitserinnerungen in den Sinn. Es war, als hätten sich seine Augen, irritiert über die Außenwelt, mit der Öffnung nach innen gekehrt und begonnen, wie eine Camera obscura perfekte Bilder auf die weiß getünchten Wände seines Geistes zu werfen. Die Haarrisse einer Zuckerschale auf dem Küchentisch. Der durchs Blattwerk einfallende, Schatten auf seine Finger werfende Sonnenstrahl. Die Wimpern seiner Mutter. Anna war überglücklich gewesen, hatte jedes Mal seine Hand gedrückt, wenn er ihr beschrieb, an was er sich erinnern konnte. Das war sie zuerst, diese Frau, die tagein, tagaus an seinem Bett saß, deren schmale Handgelenke er mit zwei Fingern umfassen konnte: ein Publikum für seine Erinnerungen. Und obwohl es ihn beunruhigte, dass sie über viele Jahre und Orte dieser Erinnerungen Bescheid wusste wie eine wohl informierte Agentin, fuhr er mit seinen Erzählungen fort, weil er spürte, dass sie ihm helfen konnte. Wieder und wieder beschrieb er ihr seine Mutter in der Hoffnung, Anna werde sie finden und zu ihm bringen. Als er fragte, warum seine Mutter nicht kam, hielt sie sich den Mund zu und schaute weg.

«Ich liebe dich», flüsterte sie und begann es ihm in stockenden Sätzen unter laufenden Entschuldigungen zu erklären. Er konnte nicht alles aufnehmen, was sie ihm zu sagen versuchte. Doch als sie sagte, seine Mutter sei gestorben, empfand er das wie einen glatten Knochenbruch, und ihm entfuhr ein Laut, den er nicht kannte. Als er zu erschöpft war, um noch länger zu weinen, lag er still da, und sein ganzes Sein strömte in den flachen Puls des still gewordenen Herzens.

Anna blieb hoffnungsvoll, trotz der ärztlichen Warnungen, die Wiederkehr der Kindheit bedeute nicht zwangsläufig auch die Rückkehr späterer Erinnerungen. So etwas komme vor, sagten sie. Als wäre die Bewahrung dieser frühen Jahre so entscheidend, dass sie den Schutz einer anderen Gehirnfunktion genossen, behütet genug, um intakt zu bleiben, wenn das übrige Gedächtnis durch ein Trauma erlosch. Und so schien es bei Samson zu sein, dessen Erinnerungen sich über das Alter von zwölf Jahren hinaus wie Fußstapfen in der Zukunft verloren.

Als das Taxi vor dem Mietshaus hielt, stieg Samson aus, während Anna den Fahrer bezahlte. Verstört stand er an der Tür, unfähig zu begreifen, dass dies die Straße war, in der er fünf Jahre gelebt hatte, und davor zehn Blocks weiter südlich, und davor in Downtown, und noch davor in Kalifornien und so weiter zurück durch zahllose Räume mit ihrem je eigenen Licht, ihren verschiedenen Ausblicken. Der Glaube an sein vergangenes Leben war reine Höflichkeit: von der Art, wie man ihn im Gespräch mit Gläubigen vorschützt. Doch obwohl er fast nichts über die Frau wusste, die jetzt auf ihn zuging, wollte er ihr irgendwie gefallen oder sie wenigstens nicht noch mehr verwirren, als sie es ohnehin schon war.

Als Anna den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte er das aufgeregte Winseln eines Hundes, der von innen an der Tür scharrte.

«Das ist Frank», sagte Anna, immer noch am Schloss fummelnd. Samson sah ihre Hand zittern und war gerade im Begriff, ihr Hilfe anzubieten, als der Schlüssel sich drehte und sie die Tür aufstieß. Der Hund sprang Samson an, drängte ihn gegen die Wand.

«Aus, Frank, ruhig», sagte sie mit einem leichten Ruck am Halsband. Frank drehte sich, um ihr die Hand zu lecken. Sie strich ihm über den Kopf, und er setzte sich, gehorsam unter ihrer Berührung, neugierig auf Samson schielend. Jedes Streichen zog die Brauen des Hundes nach hinten, riss ihm die Augen auf und verlieh ihm einen komisch verwunderten Ausdruck. Samson lachte, worauf Frank unter Annas Hand hervorschoss und ihn schnüffelnd und schnaubend mit tapsenden Pfoten begrüßte. Samson empfand ein dringendes Bedürfnis, die Arme um den Hundehals zu schlingen und sein Gesicht in den weichen Ohren zu vergraben, sich neben dem Tier zusammenzurollen.

Anna machte Licht, und Samson und Frank folgten ihr ins Wohnzimmer. An den Wänden waren Hunderte von Büchern aufgereiht. Ein paar verblichene Teppiche bedeckten den Holzboden, und überall standen Sessel und Lampen, die Anna jetzt eine nach der anderen anknipste. Es war eine freundliche Atmosphäre, und während Samson sich umsah, versuchte er den Raum mit der Frau, die hindurchging, zu verbinden. Irgendwie war er wie sie, es bestand eine gewisse Übereinstimmung.

Als das Zimmer vollständig beleuchtet war – wie eine Bühne, dachte Samson–, drehte sie sich zu ihm um. Sie hatte langes dunkles Haar und ein wechselhaftes Gesicht, bei jedem Hinsehen anders. Er hatte mitgehört, wie die Ärzte sie gewarnt hatten, sie solle nichts von ihm erwarten, ihn nicht bedrängen, sich doch Mühe mit dem Erinnern zu geben. Ihn nicht hoffnungsvoll, voller Erwartungen ansehen, wie sie es jetzt tat. Er blickte von ihr auf die Bücher, auf die Fensterbänke voller Pflanzen, und als er die Augen ganz fest zusammenpresste, war ihm, als flatterte etwas wie eine Taube aus dem Oberlicht seines Geistes. Er öffnete die Augen.

«Hast du die alle gelesen?», fragte er. Annas Blick wanderte über die Regale.

«Ich nicht, aber du», sagte sie.

Später, an langen Nachmittagen in der Bibliothek, las Samson über Wunderheilungen, die Blinde sehend machen sollten. Als die Augenbinden abgenommen wurden, versammelten sich die Familien und warteten auf die Epiphanie, ein überwältigtes So also sieht es aus! Aber es kam nicht, weil Sehen nicht gleich Wahrnehmen ist. Die Umrisse, die von den soeben sehend Gewordenen registriert wurden, lösten in den auf räumliche Erfassung nicht vorbereiteten Gehirnen keine Reaktion aus. Farben hatten nichts mit ihrer Welt aus Ton und Zeit zu tun. Beim Lesen dieser Berichte – dem angehaltenen Atem, dem plötzlichen Lichtstrom, gefolgt von Verwirrung und Nichtwiedererkennen – fühlte Samson sich an seine ersten Tage zu Hause erinnert. Anna, die Zimmer ihrer gemeinsamen Wohnung, ihre Sachen: das alles konnte er sehen. Trotzdem haftete ihm keine Bedeutung an. So klar seine Kindheitserinnerungen auch sein mochten, schienen sie doch von außerirdischer Beschaffenheit, sodass ihm jetzt jedes Ding wie ein Archetypus seiner selbst vorkam, noch mit keinen Assoziationen und Erfahrungen verbunden.

An Samsons zweitem Abend zu Hause war Anna erschöpft und schlief vor ihm ein. Er lag im Dunkeln, ruhig atmend, um sie nicht zu wecken. Von draußen drang das Geräusch durch den Regen spritzender Autos und von unten das Gelächter eines Fernsehers herauf. Er fühlte sich unwohl in ihrem Ehebett, konnte sich aber keinen anderen Ort denken, nach dem er sich gesehnt hätte. Obwohl er an die vielen Jahre, die seit seiner Kindheit vergangen waren, keine Erinnerung besaß, schien ihm das Zimmer, in dem er aufgewachsen war, Teil einer lange verschwundenen Welt zu sein. Trotz aller Unbeholfenheit und Verwirrung fühlte er sich nicht wie ein Zwölfjähriger, sondern wie ein Mann von sechsunddreißig. Nur wusste er nicht mehr, wie er geworden war, wer immer er jetzt sein mochte.

Er war dankbar, nach den konfusen Tagen seit der Operation, dem langsamen Erwachen aus dem Vergessen zu den Fakten seiner Lage, endlich mit seinen Gedanken allein zu sein. Es gab so viel, was er nicht wusste – wie seine Mutter gestorben war, ob er Anna geliebt hatte, ob er ein guter Mensch gewesen war–, aber er hatte noch nicht den Mut oder gar die Fähigkeit zu fragen. Es war ihm noch ein Rätsel, wie er es anstellen sollte, die Distanz zwischen sich und einer anderen Person in Form einer Berührung, einer Frage zu durchbrechen.

Er drehte sich auf die Seite, um Anna ins Gesicht zu sehen, sehr vorsichtig, damit sie nicht wach wurde. Zum ersten Mal war er in der Lage, sie wirklich zu betrachten, sie zu beobachten, ohne dass sein Blick ihre Augen traf, die immer etwas zu wollen schienen. Obwohl er seine Lage allmählich zu begreifen begann, fühlte er sich eher, als hätte die Zeit ihn und nicht er die Zeit vergessen. Als wäre er in einem anderen Leben eingeschlafen und hätte sich am Seil eines festen Herzschlags irgendwie in dieses hinübergehangelt, sodass er noch etwas von dem ahnte, woher er kam und wer er war. Das Seltsamste unter all den Dingen, die man ihn zu glauben bat, war, dass es seine Frau sein sollte, die jetzt neben ihm schlief.

Während er sie ansah, schlaff und feucht im Schlaf, versuchte Samson sie wiederzuerkennen. Er betrachtete ihre nackten Arme, die gekrümmten Finger, dann schloss er die Augen und suchte danach. Er presste die Dunkelheit nach etwas von ihr aus, das wie eine Spur Parfüm zurückgeblieben sein könnte.

Er rückte näher. Wollte sie anfassen, um zu fühlen, wie er gewesen war. In die Rolle des Samson Greene schlüpfen wie ein Filmschauspieler, der Kleidung und Auto eines anderen nimmt, in dessen Schuhen gehen. Als könnte er, mit der Hand auf der Wölbung ihrer Hüfte die Gesten Samson Greenes nachahmend, in seine Vergangenheit gehen. Es gibt so etwas wie ein sinnliches Gedächtnis, das Empfinden von kalt, scharf oder weich, und er fragte sich, ob nicht irgendwo in ihm das Gefühl von Anna sei.

Er konnte sie jetzt riechen, einen schwach süßlichen Geruch. Ihre Brust hob und senkte sich beim Atmen, auf dem Baumwollhemd malte sich die Form ihrer Brüste ab. Wie oft mochten seine Finger sie abwesend gestreift haben, ohne dass sie überrascht zurückgezuckt war? Wenn er jetzt seine Hand nach ihnen ausstreckte, würde ihr Körper sie dann an sich heranlassen oder irgendwo, tief in seiner eigenen Geschichte tausendfacher Berührungen, den Unterschied spüren? Würde sich der kluge Körper auf die Seite drehen, von ihm abwenden, unversöhnlich? Im Krankenhaus und seit sie zu Hause waren, hatten sie einander kaum berührt. Er hatte seine Hand nicht nach ihr ausgestreckt, und sie musste gemerkt haben, wie steif und unbehaglich sein Körper im Umgang mit ihr war. Ihm war wohler, wenn er den Hund streichelte. Als sie vor dem Schlafengehen angefangen hatte, sich umzuziehen, war es ihm peinlich gewesen, dass sie aufgeblickt und ihn dabei ertappt hatte, wie er sie anstarrte. Im halbdunklen Zimmer hatte ihr blasser Körper ihn schockiert.

Wenn er sie sich jetzt einprägte, würde er sich morgen bei ihrem Anblick erinnern. Das war es, was Anna wollte. Er begann mit ihrem Gesicht, dem Bogen ihrer Augenbrauen. Wie verliefen sie genau? Ein Bild von seiner Mutter kam ihm in den Sinn, die Art, wie sie erstaunt die Brauen hob. Er erinnerte sich an eine Kiste voller Marionetten, mit denen er als Kind gespielt hatte. Er stellte sich Fäden an Annas Augenbraue, an den Schultern, Ellbogen, Fingern vor. Wie wäre es, wenn sie sich jetzt regte, wenn sie aufstünde und zum Fenster ginge? Im Schatten der Straßenlaternen würde er den Faden an ihrem rechten Handgelenk hochziehen, es an ihre Wange heben und den oben am Kopf befestigten Faden locker lassen, bis sich ihr Gesicht in die erhobene Hand senkte. Seine eigene Hand schwebte jetzt über ihr, und der Wunsch, ihren Körper zu berühren, war so mächtig, dass er zu ersticken glaubte. Er begann, die Hand zu senken, hatte Anna aber noch nicht erreicht, als sie sich zu ihm hinrollte und ihren Kopf an seine Brust schmiegte. Er wurde starr vor Schreck, die Hand wie gefroren in der Luft über der leeren Matratze.

Noch erhobenen Armes rutschte er über die Kante aus dem Bett. Er fühlte sich albern und beschämt, und als er die Schlafzimmertür geschlossen fand, schien der Raum sich um ihn zusammenzuziehen. Ihn überkam ein unbändiges Bedürfnis, draußen zu sein. Er drehte den Knauf und schlüpfte ins Wohnzimmer, näherte sich mit pochendem Herzen der Eingangstür.

Ein Geräusch in der Küche stoppte ihn. Wie angewurzelt stand er da, als Frank mit klimpernder Hundemarke um die Ecke bog, den Kopf schief stellte und ihn ansah.

«Pssst», flüsterte Samson.

Frank eilte herbei, drehte sich um und setzte sich zu Samsons Füßen. So verharrten sie einen Augenblick, beide zur Tür gewandt. Samson beugte sich hinunter und tätschelte ihn.

«Na, mein Freund.» Frank hechelte ihm ins Gesicht.

Samson knipste eine Lampe an. Das Wohnzimmer war übersät mit zerknüllten Cocktailservietten und Plastikbechern von der Willkommensparty, die Anna am Nachmittag gegeben hatte. Sie hatte Samson nichts gesagt, bis es klingelte und die ersten Leute hereinströmten, vollkommen Fremde, soviel er wusste, die ihn umarmten und ihm inständig die Hand drückten, Schlange standen, um ihn zu begrüßen, während er wie eine Art verrückter Nikolaus käsebleich im Lehnstuhl saß. Jeder blickte ihn in der erwartungsvollen Hoffnung an, der Einzige zu sein, den er wiedererkannte, als wäre das Knacken seiner Erinnerung ein Millionen-Dollar-Spiel.

Von Anfang an war offensichtlich, dass die Party ein Missgriff war. Ein Grüppchen stand verlegen bei Salzgebäck und Käse. Ein paar Kinder schlichen ihren Eltern um die Beine, ein nervöses Lächeln im Gesicht, als hätte man ihnen gesagt, sie gingen einen kranken Mann besuchen, der um keinen Preis an seinen Tod erinnert werden dürfe. Und Samson selbst erkannte nicht nur niemanden, er konnte nicht einmal dem Anschein nach irgendjemandes Namen erinnern, auch nicht, nachdem die Person sich vorgestellt hatte, und so gingen die Leute in den kurzen zwei Stunden der Party dazu über, lauthals ihre Namen zu verkünden, ehe sie ihn ansprachen, als wäre er nicht nur mit Gedächtnisverlust, sondern auch mit Taubheit geschlagen. Zuerst, als er begriffen hatte, dass diese freundlichen Menschen etwas mit ihm zu teilen hofften, war Samson so kooperativ wie möglich gewesen, hatte gelächelt und ein Kind auf den Schoß genommen. Aber bald wurde ihm das Stimmengewirr zu viel, er fühlte sich überfordert und schwindlig. Die Party nahm ein böses Ende, als Samson sich im Klo einschloss und dem unentwegt an der Tür rüttelnden Kind sagte, es solle doch bitte woanders Pipi machen gehen, ihm sei schlecht.

«Tut mir Leid», hatte Anna durch die Tür geflüstert, nachdem alle fort waren, «es tut mir ja so Leid.» Samson hatte aufgeschlossen, und als er ihre Augen voller Tränen sah, glaubte er, sie bräche zusammen, wenn er sie nicht in die Arme nahm.

Jetzt ging er durch das leere Wohnzimmer und inspizierte seinen Inhalt, wie man es tun mag, wenn man im Haus eines Fremden allein gelassen wird. Im Regal stand ein Foto von ihm, auf einer niedrigen Steinmauer sitzend, mit einem Schimmer roter Blätter hinter sich. Er nahm es in die Hand und erforschte sein Gesicht nach Hinweisen, woran er beim Klicken des Auslösers gedacht haben mochte. Er erinnerte sich an seinen Schock, als er im Alter von drei Jahren eine Fernsehshow gesehen und sich selbst auf dem Bildschirm erblickt hatte, wie er im Studiopublikum zwischen anderen Kindern mit untergeschlagenen Beinen am Boden saß. Die Kamera fokussierte sein Gesicht. Er hatte niemandem davon erzählt. Es war geschehen, dessen war er sich ganz sicher. Er war an zwei Orten zugleich gewesen, und viele Jahre hatte er insgeheim mit der Gegenwart dieses anderen Selbst, das sich irgendwo herumtrieb, gerechnet. Aber nie wieder war er auf eine Spur von ihm gestoßen, und mit der Zeit schwand der Glaube an sein anderes Ich wie ein eingebildeter Freund dahin, bis er es ganz vergaß.

Er nahm ein Foto nach dem anderen und betrachtete sie gründlich. Er fand es am einfachsten, wenn er sich den Mann darauf nicht als sich selbst, sondern als einen Fremden vorstellte. Was nicht schwierig war, da er sich an sein eigenes Gesicht noch nicht gewöhnt hatte. Wenn er im Vorbeigehen seinen Widerschein im Spiegel sah, überkam ihn ein Brechreiz, der primitive Reflex eines Tieres, dessen Instinkt plötzlich versagt. Er wusste nicht, was er zu sehen erwartete. Sein Bewusstsein hatte noch kein Selbstbild geformt.

Ihm war schlecht, gereizt machte er eine hastige Runde in umgekehrter Richtung und kippte alle Fotos mit dem Gesicht nach unten. Er fing an, in dem beengten Raum auf und ab zu tigern, als wäre er der wilde, von Wölfen großgezogene Junge, über den er als Kind gelesen hatte, er habe in der ersten Nacht, die er in einem Haus verbrachte, panisch auszubrechen versucht. Er ließ die Finger über die Buchrücken schleifen; es gab Hunderte, vielleicht Tausende davon. Ihre Ordentlichkeit störte ihn, und so zog er wahllos einige aus dem Regal. Noch unbefriedigt, räumte er stoßweise ab. Dinge, die zwischen den Seiten lagen, flatterten zu Boden, abgerissene Kinokarten, Zeitungsausschnitte und eine Postkarte mit einem Leuchtturm auf der Bildseite.

Er drehte sie um. 18.August 1994.Liebe Anna, heute habe ich die letzte Seite abgeschlossen, und jetzt denke ich an dich. Das war alles, was er geschrieben hatte. Er musste den Federhalter weggelegt und aufs Wasser hinausgesehen, die Karte dann zwischen die Seiten dieses Buches geschoben und sie vergessen haben. Plötzlich packte ihn die Wut, dass der Mann, der er gewesen war, es sich leisten konnte, einfach so mitten im Satz abzubrechen, dass er einen angefangenen Brief an seine Frau ungestraft vergessen konnte. Ein Mann, der die Freiheit hatte, wegzugehen und wiederzukommen, nach Hause zu schreiben oder nicht, die Seite liegen zu lassen und in den Nachmittag zu verschwinden – und dem nichts vorgehalten wurde. Ein Mann, der kein Freak war, der geliebt, von Hunden und Kindern gleichermaßen respektiert wurde. Er riss die Postkarte in Stücke und machte das Fenster auf. Es erstaunte ihn, heiße Tränen auf seinem Gesicht zu spüren. Er lehnte sich hinaus so weit er konnte, öffnete die Hand, und als der zerfetzte Leuchtturm durch die Luft trudelte, stopfte er sich die Knöchel in den Mund und stieß einen heulenden Schrei aus, so hoch, dass er fast lautlos blieb.

Er sah die Papierschnitzel unten auf dem Gehsteig landen. Eine Frau, die eiligen Schritts irgendwo hinstrebte, blieb stehen und blickte nach oben. Samson lehnte sich in den Schatten zurück. Das Vergessen war außerhalb seiner Kontrolle; das stand jetzt endgültig fest, und selbst wenn er es gewollt hätte, konnte er sich die verlorene Zeit nicht zurückwünschen. Es ärgerte ihn, so wenig Einfluss auf sein eigenes Schicksal zu haben – in kindlicher Freiheit eingeschlafen und vierundzwanzig Jahre später in einem Leben aufgewacht zu sein, mit dem er nichts zu tun hatte, umringt von Leuten, die nur eins von ihm erwarteten: jemand zu sein, der er seines Wissens nie gewesen war.

Als er zum Bett zurückkehrte, hatte Anna sich wieder auf ihre eigene Seite gerollt. Bei ihrem Anblick im gedämpften Licht der Straßenlaterne staunte er über ihre Schönheit. Er legte sich hin und schloss die Augen. Mit dem Schlaf kam das Vergessen. Darin fühlte er sich zu Hause.

Seine Tage waren mit Arztterminen und Untersuchungen gefüllt. Es gab weitere CTs und MRTs. Inzwischen kannte er das Ritual, und während er in der Bleischürze wartete, bis der technische Assistent ihn abholte, blätterte er im People Magazine. Ein paar Berühmtheiten erkannte er wieder, einen alt gewordenen Mick Jagger, eine dicke Liz Taylor.

«Oh, sie hat viel durchgemacht, seit Sie zuletzt von ihr gehört haben», scherzte die Krankenschwester, als sie ihn in das Bild vertieft sah. Er liebte diese Zeitschriften wie früher die Comichefte: er wollte sie tauschen und sie alle sammeln. Er liebte die heißen Tipps und die Neuigkeiten aus dem Leben der Stars, die er beim Durchblättern aufschnappte, und er liebte es auch, dieses Wissen zu benutzen, um andere mit seiner Schnelligkeit zu überraschen. Einmal, als er eine von Annas Freundinnen wegen ihrer zimperlichen Art Martha-Stewart-hörig nannte, empörte sie sich, es sei alles nur ein Jux, er spiele den Dummen und könne sich in Wirklichkeit genau erinnern, worauf er den ganzen Stapel Zeitschriften durchsuchen musste, um ihr die Sondernummer über die reichsten Frauen Amerikas zu zeigen.

Jeder im Neurologischen Institut mochte Samson, und kurze Zeit war er selbst eine Art kleine Berühmtheit, ein Einer-unter-Millionen-Fall. Er war ein pflegeleichter Patient, ausgeglichen und gehorsam, der sich von einer Untersuchung zur nächsten schicken ließ und schluckte, was man ihm zu schlucken gab. Einmal, als er noch in der beengenden Röhre der MRT-Maschine lag, zugedröhnt mit seichter UKW-Musik, die ihm über Kopfhörer geschickt wurde, spürte er – etwas, was er noch nicht artikulieren konnte – die Absurdität seiner Lage. Er hatte kein Problem bei der Lösung kognitiver Aufgaben, die ihm von den Neurologen gestellt wurden, und sie kamen zu dem Schluss, dass sein Sprachgefühl, seine Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu verstehen, sein Intellekt selbst bemerkenswert intakt geblieben waren. Trotz der fehlenden Erinnerung an die letzten vierundzwanzig Jahre befanden sie, er habe immer noch den Verstand eines intelligenten Erwachsenen. Anhand primitiver Zeichnungen auf den Rückseiten loser Blätter demonstrierten sie Samson und Anna, dass der Verstand erlerntes Wissen über die Welt nicht chronologisch speichert, wie er es mit Erfahrungen tut. Teilweise fiel es Samson so leicht, Gedanken zu formulieren, weil sein faktisches oder semantisches Gedächtnis nicht vollständig zerstört worden war. Das Ergebnis war eine besonders erfinderische Denkweise, eine Tendenz, entfernte Dinge unabhängig von den gewöhnlichen Zusammenhängen zu verknüpfen. Es war eine Nebenwirkung seines Gedächtnisverlusts, die Kreativität eines entwickelten Verstandes, der die Welt ganz neu erlebt.

Nur bei den einfachsten Fragen versagte er regelmäßig: Wo sind Sie aufs College gegangen? In welchem Jahr haben Sie geheiratet? Statt zu antworten, sah er sie hilflos an, verletzt durch ihr Nachhaken. Wieder und wieder ließen sie ihn die Ereignisse der Tage, mittlerweile Wochen seit dem Eingriff erzählen, die Spur zurückverfolgend, bis sie sich im Dunkeln verlor.

Es war eine lange, unergründliche Dunkelheit, eine anhaltende Pause, die sich nicht in Jahren zählen ließ. Und genau dann, wenn es schien, sie würde ewig währen, endete sie, und Samson tauchte auf der anderen Seite im hellen, unvergesslichen Licht der Kindheit wieder auf.

Er war in Kalifornien aufgewachsen, in Los Altos, nicht weit vom Pazifik entfernt. Als Kind war er oft mit seiner Mutter ans Meer gefahren. Ein paar Kilometer nördlich von Half Moon Bay gab es eine Stelle, die sie besonders mochten. Sie liefen den steilen Felsweg zwischen Buschwerk und Aloe hinunter und gingen dann am Wasser entlang. Samson rannte voraus, bückte sich forschend nach Muschelschalen oder Steinen wie ein Archäologe, der ausgelaufene Wellen untersucht. Oft nahmen sie den Hund mit, eine kleine schwarze Hündin. Sie rannte neben Samson her, steckte ihre Nase in alles, was er fand und inspizieren wollte, oder sie trödelte und blieb bei seiner Mutter. Wenn sie dann im Licht des späten Nachmittags zurückfuhren, lag Samson mit dem warmen, sandigen Hund auf der Rückbank, während die Bäume und der Himmel am offenen Fenster vorbeiflitzten.

An diese Szenen erinnerte er sich deutlich. Zuerst stiegen sie eine nach der anderen in ihm auf, kurze Momente außerhalb der Zeit, wie Schnappschüsse. Bald begann er, die einzelnen Bilder aneinander zu reihen, aber kaum dass er zwei zusammenfügte, brach dazwischen eine Fülle neuer Erinnerungen hervor. Seine Kindheit wuchs, wurde jeden Tag komplexer, gewann Schatten, Objekte, Ecken und Ausdrücke hinzu. Förderte er einen blauen Sessel zutage, durfte er nicht leer bleiben, und schon fiel ihm ein, wie seine Mutter darin Äpfel schälte oder der Hund mit den Pfoten zwischen die Beine fuhr, um einen Tennisball zu ergattern. Durch die Bewegung plötzlich in Schwung gekommen, wurde die Abfolge stiller Bilder lebendig und gewann eine Eigendynamik. Er fand heraus, dass er die Jahre vorbeirauschen lassen und aufs Geratewohl bei einem Bild anhalten konnte, das sich ihm wie durch ein Stereoskop darbot. Sein an der Hauswand lehnendes Fahrrad mit dem rostigen Klingelrand, dem Gummifuß an dem verkratzten Ständer. Die von Wind und Wetter grün gefärbten Holzsprossen seines Klettergerüsts, das düstere, unter dem Gewicht des Regens zusammensackende Leinwandzelt. Die Umschläge bestimmter Bücher, die er mit der sturen Beharrlichkeit eines Rekordbrechers wieder und wieder gelesen hatte. Die Klarheit war verblüffend, und Samson fragte sich, ob er diese Momente erfand. Nicht, dass es sie gar nicht gegeben hätte, aber dass sie ausgeschmückt waren, angereichert mit Details von anderswo, Überresten des Erlöschens anderer Erinnerungen, vagabundierenden Einzelheiten, die sich Halt suchend an dem festmachten, was ihm im Gedächtnis geblieben war. Doch letzten Endes verwarf er diese Idee. Die Erinnerungen waren zu perfekt: ließ man das Geringste aus, fielen sie in Trümmer.