Konzert - Else Lasker-Schüler - E-Book

Konzert E-Book

Else Lasker-Schüler

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Beschreibung

"Konzert", 1932 von Else Lasker-Schüler verfasst und veröffentlicht, versteht sich als lose Sammlung von Prosatexten. Dabei wechselt die Autorin ihre Themen nach Belieben und springt von poetischen Beschreibungen der Natur zu Erinnerungen an ihre Kindheit und Beobachtungen des Lebens um sie herum. Stets zeigt sich auch ihre avantgardistische Moderne und ihr expressionistischer Stil.

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Seitenzahl: 235

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Konzert

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

 

 

 

 

 

 

Konzert, E. Lasker-Schüler

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783988682307

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

ES SCHNEIEN WEISSE ROSEN AUF DIE ERDE,1

WIR WOHNTEN AM FUSSE DES HÜGELS.2

UNSER GÄRTCHEN... 4

VON MUTTER UND VATER.. 6

MEINE KINDERZEIT.. 8

DIE EISENBAHN... 12

DIE EICHHÖRNCHEN... 13

AN MEIN KIND... 14

DIE BÄUME UNTER SICH.. 15

DAS HERZ DER PFLANZEN... 18

FREUNDSCHAFT UND LIEBE.. 18

SPITZE.. 23

LETZTER ABEND IM JAHR.. 27

KONZERT.. 28

DAS WUNDERLIED.. 31

DIE WAND... 32

ABIGAIL.. 33

JOSEPH WIRD VERKAUFT.. 34

GEDENKTAG.. 35

DAVID UND JONATHAN.. 36

DER UHU.. 36

AN DAS RUSSISCHE CABARET »DER BLAUE VOGEL«38

DAS THEATER.. 38

DIE KREISENDE WELTFABRIK.. 40

LILY REIFF. 41

DOKTOR DOLITTLE UND SEINE TIERE.. 42

DIE LAMAS. 43

IM ROSENHOLZKÄSTCHEN.. 44

GEHEIMRAT BUMM... 46

ABENDLIED... 47

WEIHNACHTEN... 48

KOLBERG... 48

MEINE WUPPER.. 52

BRIEF AN JESSNER.. 52

UND DER PAUL GRAETZ.. 54

EEN BRIEF AN WILLEM SCHMIDTBONN.. 54

WIE ICH ZUM ZEICHNEN KAM... 55

EIN OFFENER BRIEF AN FINANZMINISTER DR. REINHOLDT.. 56

GEFRAGTES UND BEANTWORTETES. 58

DER SCHMETTERLING.. 59

DRAUSSEN... 60

DAS HEILIGE ABENDMAHL.. 61

DIE EBERESCHE.. 63

STADT, BUCH UND LÄDEN.. 64

ST. PETER HILLE.. 66

DER LETZTE SCHULTAG.. 73

IM GARTENHOF. 79

DAS ERLEUCHTETE FENSTER.. 80

PARADIESE.. 84

ST. LAURENTIUS. 86

DER INKAS. 88

DER KLEINE FRIEDRICH NIETZSCHE.. 91

KARL SONNENSCHEIN... 92

RENATE UND DER ERZENGEL GABRIEL.. 95

DAS KIND UNTER DEN MONATEN.. 98

MEINE ANDACHT.. 101

DER VERSÖHNUNGSTAG... 103

MEIN JUNGE.. 108

GENESIS. 111

DIE SONNE.. 112

DAS MEER.. 113

DIE ROTE KATZE.. 114

ALS DIE BÄUME MICH WIEDERSAHEN.. 118

ZWEI ULKIADEN... 120

DER LEUCHTENDE BAUM... 123

DAS GEBET.. 124

AUS DER FERNE.. 129

 

ES SCHNEIEN WEISSE ROSEN AUF DIE ERDE,

 

Warmer Schnee schmückt milde unsere Welt;

Die weiß es, ob ich wieder lieben werde,

Wenn Frühling sonnenseiden niederfällt.

 

Zwischen Winternächten liegen meine Träume

Aufbewahrt im Mond, der mich betreut –

Und mir gut ist, wenn ich hier versäume

Dieses Leben, das mich nur verstreut.

 

Ich suchte Gott auf innerlichsten Wegen

Und kräuselte die Lippe nie zum Spott.

In meinem Herzen fällt ein Tränenregen;

Wie soll ich dich erkennen lieber Gott...

 

Da ich dein Kind bin, schäme ich mich nicht,

Dir ganz mein Herz vertrauend zu entfalten.

Schenk mir ein Lichtchen von dem ewigen Licht!

Zwei Hände, die mich lieben, sollen es mir halten.

 

So dunkel ist es fern von deinem Reich

O Gott, wie kann ich weiter hier bestehen.

Ich weiß, du formtest Menschen, hart und weich.

Und weintetest gotteigen, wolltest du wie Menschen sehen.

 

Mein Angesicht barg ich so oft in deinem Schoß —

Ganz unverhüllt: du möchtest es erkennen.

Ich und die Erde wurden wie zwei Spielgefährten groß!

Und dürfen »du« dich beide, Gott der Welten, nennen.

 

So trübe aber scheint mir gerade heut die Zeit

Von meines Herzens Warte aus gesehen;

Es trägt die Spuren einer Meereseinsamkeit

Und aller Stürme sterbendes Verwehen.

WIR WOHNTEN AM FUSSE DES HÜGELS.

Steilauf ging’s von dort in den Wald. Wer ein rotes, springendes Herz hatte, war in fünf Minuten bei den Beeren. Sonntags kamen ganze Familien vom Berge gestiegen, an unserm Haus vorbei. Die Kinder trugen am Arm kleine Körbe, bis an den Rand gefüllt, aber man sah schon ihren blaugefärbten Mäulchen an, was sie gepflückt hatten zur Beilage der Eierkuchen zum Sonntagabendbrot. Ich bin immer so stolz auf unseren großen Wald gewesen, in den man, ob man’s wollte oder nicht, beim Heraufklettern der Sadowastraße hineinblicken musste. An ihrem Fuße lag mein Elternhaus, außerhalb der Stadt, denn erst später wurde unsere Gegend der Westen. Immer strömte aus dem Walde frischer, grüner Atem und kräftigte die Lunge. Und jeder Baum, jeder Strauch, der mir heute begegnet, erinnert mich an unseren Wald, in dessen friedliche Augen ich blickte, lachend als Kind. Wenn die Gewitter kamen von den vier Himmelsrichtungen, die schwarzgezückten Reiter nahten, setzte sich meine teure Mama auf den Balkon, der zwischen Osten und Westen in der Luft frei zu schweben schien. So war’s einem. In kleinen Nachen glaubte man zu sitzen zwischen den Luftwellen; das bewog meine kühne Mutter zum Einsteigen. Es blitzte aus vier Wolken. Da in Form einer Zacke, dort im Osten stach ein brennender Dolch in die wogende erregte wolkige Himmelsbrust. Mein Vater erinnerte sich seines ehrwürdigen Großvaters, des weißbärtigen Rabbunis vom Rheinland und von Westfalen. Der betete erschüttert vom ehrwürdigsten Schauspiel der Lüfte, sich besternend vor Jehovah. Mein Vater jedoch hatte einfach Sorge für seine Georginen und Stiefmütterchen auf den Beeten unseres Gartens; und vor allen Dingen bangte es ihn um seinen reifenden sauren Kirschbaum und seinen Wunderstrauch. Der trug nämlich zweierlei Früchte auf einmal. Mein Papa hatte die Stachelbeere und die Johannisbeere zusammengebracht, sie beide eingeladen und mit des Gärtners Hilfe die zwei vermählt. Sie wuchsen seitdem einträchtig an einem Zweig und Stängel, worauf mein Vater sehr stolz war, ungefähr wie ein Staatsmann, dem es gelang, Staaten zu vereinigen. Ihm dünkte das jedenfalls ebenso wichtig. Doch am schwersten bewegte ihn die herrliche Trauerrose! Die hing wie aus einem Füllhorn üppig hingegossen auf den eben gestickten zarten Grasteppich. Viele, viele, viele weiße Rosen (ich fand sie gar nicht so traurig aussehend) schimmerten, eine Prachtschleppe gebreitet im Abendrot. Und zu guter Letzt tauchten vor meines Vaters betenden Augen die Gerüste seiner Neubauten auf, die, noch ohne Stein und Mörtel, an die Gerippe erinnerten, an denen das Fleisch und das klebende Blut fehlte.

Nach solch einem starken Gewitter kamen immer Arbeiter gelaufen, die ihm Kunde brachten, das oberste Stockwerk oder ein Dach seiner Dächer wäre auf das Dach eines benachbarten Hauses gestürzt — und mein Vater kam aus den Prozessen nicht heraus, zu denen die Leute der Stadt strömten wie zu einem Lustspiel und die mit einer Einigung endigten. Nicht selten brachte mein Vater die Kläger mit heim. Dann ging das Kneipen los, die Nacht hindurch, vom späten Nachmittag angefangen, hörten wir die Klienten sich zutrinken, sich kugeln vor Lachen, nach jedem Toast, den mein Vater wie kein Mensch auf der Welt zu halten verstand, mit allem Lachgewürz, das in der Speisekammer seines breiten, krachenden Herzens zu finden war. Früh am Morgen erholte sich die Prozessgesellschaft in unserem lieblichen Gärtchen. In meinem Bett weckte mich die choralanschwellende Stimme meines Vaters, die alle anderen Stimmen übertönte, und ich wusste, jetzt machte er die Gäste auf die kristallisierenden Kieselsteinchen, die die Pfade bedeckten, aufmerksam. Für diese Steine, dass sie nur nicht einsinken würden in den Schoß der Erde, hörte ich meinen 12jährigen schneeweißhaarigen Papa manchmal auch ohne Gewitteranlass zum Herrgott beten. So klein ich auch noch war, es rührte mich doch vorübergehend. Am Sonntag fuhren wir oft in die Umgegend von Elberfeld über die Ronsdorfer Chaussee; zu beiden Seiten herrliche, versunkene Wälder, rechts und links Täler von unsagbarem Glück und schwarzem Glühen. Wir begegneten singenden Handwerksburschen. Wenn sie sehr müde waren, ließen meine Eltern sie auf den Bock steigen. Ich musste dann vom Bock herunter. Meine schönen Schwestern blühten wie Blumen im rosa und blauen Kleide, und meine Brüder, falls sie zu Hause waren aus ihrem Pensionat in St. Goarshausen, marschierten zu Fuß mit ihren Freunden, die stets in meine Schwestern verliebt waren, schon voraus. Ich trug mit Vorliebe rote Kattunkleidchen, ein geschenktes Klümpchen steckte immer versteckt in einem meiner beiden Täschchen. Ich liebte meine Mama inbrünstig, sie war meine Freundin, mein Heiligenbild, meine Stärkung, meine Absolution, mein Kaiser.

Wie sie sah sicherlich Napoleon Bonaparte aus, darum hatte sie auch eine Napoleon-Sammlung. Mein Papa war einer von den Jungens, mit denen ich Räuber und Gendarms spielte. Und seine Autorität bewahrte er sich immer wieder, da er mir nach dem Sturm eines Streites eine Düte Bonbons zu kaufen pflegte. Wir gingen zusammen in den Zirkus, aber wehe, wenn ich lange machte mit dem Anziehen und wir im letzten Moment kamen und ich dann noch dazu »nochmal — musste« — wir die erste Nummer versäumten. Er brummte dann die ganze Vorstellung lang und verfluchte mich.

Für sein Fluchen hatte er schon zu Hause von den Eltern Haue bekommen. Wenn auch die Bauern in Westfalen ihn dafür liebten, wo er geboren wurde als vierter Sohn der 23 Kinder. Mit drei Jahren sprang er schon über die Tierhecken und machte alle Streiche, die man zu machen hat als Junge. Für das Theater in Elberfeld hatte mein Vater ein besonderes Faible. Brachte er zu Tisch auch nicht immer Schauspieler nach Hause, so waren es mindestens Kunstreiter. Es musste dann gehext wer-

den, ein, zwei, drei Gänge mehr, und dem August von Renz legte er stets ein Knallbonbon in die Serviette. Mein lieber Vater, meine teure Mutter, in der seltsamen dunklen Arbeiterstadt mit den Tausenden von Schornsteinen über dem Wuppertal in den Rheinlanden! Einsam wandle ich nun durch die engen berückenden Straßen, steige die vielen Hügel hinan, plötzlich steht eine hohe Treppe vor einem, angelangt blickt man in einen Garten voller Veilchen und die wunderbaren lilaen Schaumkrautwiesen! In meinem Heimathause wohnen nun viele Parteien, doch wenn sich das Abendrot, Rubinen des Himmels in seinen Fenstern spiegelt, ist es mir, der Engel Gabriel bewache es ganz allein. Ja, das tröstet mich. Ich lege auf das Grab meiner Mutter ihre Lieblingsblume, das waren Reseden, bringe meinem Vater Veilchen und unter der gebrochenen Säule schläft der jüngste meiner Brüder, ein Heiliger, schön wie Apollon — er starb reinen Herzens. In der Nähe meiner Eltern liegt meine kleine Freundin Hanni begraben. Ich erbte ihre Puppe: Ingeborg. Die hatte blaue Augen wie sie und ein Kettchen um den Hals wie sie. Wenn das große Tor des alten Judenfriedhofes sich hinter mir schließt, ist wieder ein Tag vergangen. Späte Sonne geleitet mich sorgsam die vielen Stufen herab bis in das Innere der lebhaften Stadt Elberfeld.

UNSER GÄRTCHEN

Meinem geliebten Päulchen

ALS MEIN VATER NOCH DIE WEGE mit glitzerndem Kies schmücken ließ, dessen Kristall wir beide von der Laube aus bewunderten, da wurde ich mir des kleinen Gartens noch gar nicht recht bewusst. Eigentlich war er ja ein lebendiger Spielladen mit grünerlei Bäumen und blühendbehangenen Sträuchern, die die vielen bunten Blumen, die Primeln, die Vergissmeinnicht, samtenen Stiefmütterchen und Astern und Georginen beschatteten. Heute möchte ich mir den ganzen kleinen Garten in ein Glas auf meinen Tisch stellen. Im Herbst fielen die wilden Kastanien in ihrer Stachelhülle auf den schon zertretenen, mit Erde vermischten Kies; manche auch ins zottige, abgenutzte Gras, plumps hinein! Wir Kinder hoben die grünen Igel auf; so nannten wir die entzückenden Dinger und brachten sie auf den eisernen, runden Tisch, darauf wir Markt spielten, meine vier Freunde und ich. Und sammelten die großen, vom Regen schon rostigen Blätter, rippten sie aus oder banden sie zu Kohlköpfen zum Verkauf für unseren Stand. Machten uns an die Sträucher, wir kleinen Räuber, denn nach den milchigen Knallerbsen war große Nachfrage. Vorsichtig legte ich eine nach der anderen den Jungens in die Hand. Ich durfte sie nur abpflücken und haftete für die Zahl. Der Pülle Kaufmann aber ließ heimlich, wie er versicherte, unabsichtlich — ab und zu eine besonders dicke zur Erde fallen und knallte sie mit dem Absatz auf. Meine Freunde trappelten dann vor Wut auf die späten Beete, purzelten kopfüber in die Dornen der Rosenbüsche. Voll Kratzwunden, in den vielen Fingerchen Dornensplitter, lief jeder von uns heulend zu seiner Mama; trafen uns aber sehr bald wieder mit getrösteten Schokoladenmäulern am Garteneingang, dem Pülle klebte zwar eine Korinthe in der Grube seines runden Kinns. Unser kleiner Garten war unser gemeinsames Spielzimmer geworden, das heißt, nur im Herbst, denn schon im Vorsommer trank »Frau Schüler« — unter der Silberesche mit ihren Töchtern Kaffee. Meine fünfjährigen Freunde hatten enormen Respekt vor meiner Mama, sie war auch gar nicht mit anderen Mamas zu vergleichen. Auch sprach sie französisch zu meinen älteren Schwestern, namentlich dann, wenn wir Kinder etwas nicht wissen sollten, meist handelte es sich um freudige Überraschungen. Nur in ihren Sonntagsanzügen wagten sich meine Spielgefährten schüchtern mit einer

Bestellung von zu Hause an meine lächelnde, majestätische Mama heran, die sie aber auch dementsprechend wie junge Gentlemen aufmerksam behandelte; bis sie sich nach einer Weile manierlich mit einem tiefen Knicks und einem Stück Torte mit Frucht, gesittet verabschiedeten; durch die Gartenpforte stolzen Mutes schoben. Zwischen den lappigen, behaarten Blattohren reiften endlich die Haselnüsse! Von denen wussten nur Alfred Baumann und ich. Ich hatte Vertrauen zu ihm, er war auch schon sieben Jahre alt, trug das Haar an der Seite gescheitelt, und nicht wie die Borsten einer Zahnbürste kratzköpfig zu Berge. Und seine herrliche, karierte Krawatte passte genau zu meinem Kleidchen. Er war mein Bräutigam — und duldete nicht, dass mich die anderen Jungens pufften. Er kehrte regelrecht über den Zaun geklettert zurück, wenn der Paul Stern und der andere Pülle und der gelehrte Walter, der schon eine Brille trug, nach Hause rannten. Seine neuen großen Vorderzähne verstanden im Nu die Nüsse aufzuknacken, es krachte nur so, und wir guckten um uns wie emsige Eichhörnchen. Er gab mir stets den ersten Kern zu beißen, er war Kavalier, wenn er danach sich auch zwei Nüsse hintereinander aufknackte und die Schalen einfach in den Strauch zurückspuckte. Eine einzige von den geheimnisvollen Nüssen schmeckte uns besser, als eine ganze Tüte auf dem Markt gekauft. Manchmal fanden wir auch noch Stachelbeeren und Johannisbeeren an einem Strauch, die mein Vater mit des Gärtners Beihilfe vermählt hatte. Ein kleines Naturspiel. Streng verbotene Früchte, denn die pflückten meine Schwestern für die Köchin zur Beigabe des Bratens ab. Aber auch an unserem sauren Kirschenbaum hing noch eine herzige, rote Kirsche, oben am Gipfel, ganz hoch im Geäst. Er blühte im Mai wie rosiger Schnee über dem Balkon unseres Turmes. Wir planten — der Alfred Baumann und ich —, plötzlich flog eine Kohlmeise an uns vorbei, entdeckte die willkommene Speise; schon saß sie auf dem entblätterten Ast oben in der verblühten Krone, blähte sich, lachte rund ihr gefiedertes Bäuchlein auf und speiste uns die Kirsche vor der Nase weg.

VON MUTTER UND VATER

Aus der Broschüre gegen meine Verleger: »Ich räume auf«

LANG IST’S HER, DA ICH AUF DEM Schoß meiner teuren Mutter saß und sie mit mir spielte. »Einwortsagen!« Einwortsagen nannten wir geheimnisvoll ein Spiel, das meine Mutter, eine Weile wenigstens, von meinen Quälereien befreite. Ich langweilte mich nämlich immer so ... Meine Mutter rief wichtig: »Schokolade«, und ich erwiderte ein sich darauf reimendes Wort. Meine Mutter: »Tinte«; ich: Finte (Flinte). »Paul!« — »Faul«. Bis mein viel älterer Bruder, der mir seiner Herbheit wegen imponierte, und den ich darum wohl auch »Mann« nannte, sich einmischte, auf das Wort »hoch« das ungeschickt reimende »Koch« wählte und ich zu ersticken drohte vom dumpfen Schall der Paarung, ja geradezu außer mir geriet, vom Knie meiner besorgten Mutter wild auf den Teppich purzelte. Ich zählte zwei Jahre. Im vierten lernte ich zum Zeitvertreib von der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte ich ein Tuch um den Hals, da er fror, es war Winter. Fünfjährig dichtete ich meine besten Gedichte; meine Mutter fand immer die bekritzelten Papierflocken, die mir aus meinem Kleidertäschchen beim Herausholen von Lieblingsknöpfen meiner Knopf Sammlung entkamen. Die rettete mich vor meinem kleinen Selbstmord. Ich hatte mich bis dahin so gelangweilt, und ich erinnere mich, dass ich entschlossen auf den Turm unseres Hauses kletterte, von dem man über die Stadt Elberfeld hinweg noch hinter dem sauerländischen Gebirge bei lichtem Wetter den Rhein fließen sehen konnte, und auf die Menschen herabschrie: »Ich langweile mich so!«. Und erst als die vielen vielerlei großen und kleinen blauen, grünen, lila, roten, gelben, weißen Knöpfe ankamen aus den Knopffabriken meiner Heimat, mit denen mich meine teure Mutter überraschte, die meine teure Mutter für mich zum Spielen bestellt hatte, milderte sich beträchtlich mein Übel. Ich legte Knopf an Knopf, je vier oder fünf, ebenmäßige Reihen in Zwischenräumen auf den großen Tisch und führte dann mein klein Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn ich dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie ich laut auf, genau wie ich mich heute körperlich verletzt fühle durch einen Vokal oder Konsonanten, der Störungen im Maß oder Gehör Undefiniert verursacht. Aber einer der herrlichen Knöpfe durfte überall liegen, wo er wollte, er war aus Jett, besäet mit goldenen Sternlein, und ich staunte ihn an. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Ägypten. So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederhole in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäte Knopf.

In Elberfeld im Wuppertal, wo meine teuren Eltern so viel Gutes taten, besuche ich alle Jahre die heimatlichen Gräber und wandle durch die Gänge unseres morschen Hauses. Mich besternend, betrachtete ich als Kind so gerne das ehrfurchtsvolle künstlerische Priesterantlitz meines Urgroßvaters, der, Oberrabbuni von Rheinland und Westfalen, in religiösen und politischem Heil seiner Gemeinde Oberhaupt, so weihevolle Jahre Frieden brachte. Die Legende erzählte: Er habe sein Herz aus der Brust nehmen können, was er nach kühlen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblatts wieder nach Gottosten zu stellen. Mein Urgroßvater lieb mütterlicherseits, spanischer Jude, Großkaufmann, Senor Pablo, Vater des Vaters meiner jungverwaisten teuren Mutter. Der übersiedelte unter dem in England angenommenen Namen Kissing nach Süddeutschland und pflanzte auf den Bergen Wein. Nahm sich eine Dichterin, die wunderschöne blauäugige Johanna Kopp, die Tochter einer angesehenen bayrischen Judenfamilie, zur Frau. Wir Enkel noch tragen ihren blauen Ehering um die dunkeläugigen Kuppeln. Von meinem Vater, dessen Tod man in den Zeitungen mit den Worten den Lesern kündete: Der Till Eulenspiegel von Elberfeld ist früh am Morgen gestorben, ehrt es mich, zu berichten, dass er, der vierte Bruder von dreiundzwanzig Geschwistern, sich des Lebens ausgelassenster Laune erfreute in seiner Geburtsstadt Hexengäseke zu Westfalen. Dieses kleine Städtchen, berühmt durch seine tiergeschnittenen Hecken, diente meinem Vater zu seinen unsterblichen Streichen. Den letzten, der für ihn hätte ernstere Folgen nach sich ziehen können, absolvierte er in der geistlichen Kaplanstadt Paderborn, wo er das Gymnasium täglich schwänzte. Noch heute spricht man im Biedermeierzimmer der altmodischen Häuser beim Kaffee von der Menschen- und Schinkenknochenaffäre, die dazumal die Einwohner in Schreck und Spannung versetzte, und die nach des Spukes Aufklärung mit Besserungsanstalt oder hoher Geldstrafe für zwei Sekundaner, meinen sechzehnjährigen Vater Schüler und seinen Freund Paderstein endete, deren Väter weiland wohl oder übel die Sünden der Kinder heimzahlen mussten. Mit Vorliebe beschäftigte sich mein Vater mit dem Bauen der Häuser, namentlich der Aussichtstürme der Stadt und ihrer Umgegend, die sich immer zu hoch verstiegen, jedenfalls der Nachbarschaft Sorge für Haus und Hof, der Herbststürme eingedenk, verursachten. »Wegen so ein paar verfluchte vermaledeite Ställe bin ich gezwungen, meinem Bau den Kopf abzuschlagen!« dröhnte meines Vaters choranschwellende Stimme frühmorgens durchs Haus. Man vernahm sie schon aus einem anderen Viertel der Stadt, die schwamm geradezu auf seinem vollen Bariton. Wir Kinder im Versteck lauschten, noch ungewiss, was sie bringen könnte. Ich musste mit ihm als sein jüngstes Kind die Gerippe der Neubauten besteigen. Wir bebten zwar beide wie Espenlaub, und einmal erinnere ich mich, wie die Arbeiter auf meines Vaters Kommando zwischen Luft und knarrenden Brettern zwei Fahnenstöcke in Form einer Riesennull bogen und brachen und sie dann oben auf das noch unbefestigte Dach hissten mit einem schwarz-weiß-roten Fetzen daran. Schon beim Aufwachen beschäftigte die ganze Stadt das wehende Bilanzrätsel, die Null, das mein Vater aber jedem Fragenden, sich schüttelnd vor Lachen, löste op Wupperdhaler Plattdütsch: »Eck hann meck verstiegen, lewe Lüte, fragt nur ming Elsken, eck han verdeck keng Kastmännecken mähr öm Bütel.« Aber das hat niemand meinem Vater geglaubt. Er war gezwungen, ein reicher Mann zu sein, bis zu seinem Tode, und nach seinem Ableben bescherte er die Leute noch mit seinen ihn überlebenden Anekdoten. Damals war noch eine herzliche Zeit. Von den Armen nahm mein Vater keinen Mietzins, denn wer in seinem Hause wohnte, der wohnte auch in seinem Herzen. Und ich bin stolz darauf, da mein Vater sich ganz ausgab, kein Heimatloser heimatlos blieb, dass die eigne Tochter für seine Weitherzigkeit zeugt, nicht eine Stube besitzt, gar ein Fleckchen Erde erbte. Schwatzsüchtigen wurde es nicht schwer, mich mit allerlei sensationseifrigen Gerüchten zu bekleben, der wollte das, jener dies von mir erfahren haben. Ich flüchtete immer durch die liebevollen Bäume des Waldes, über Wiesen, ich liebe jede Blume — heute eile ich ans Meer, und überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus. Wer von uns hätte den gefunden und nicht erlitten des Heimwehs qualvollste Angst. Fand ich denn einmal die Heimat — in deinem Auge —, durfte ich auch dort nicht rasten. In der Nacht meiner tiefsten Not, erhob ich mich zum Prinzen von Theben. Welchen Ahnen nachfolgte ich, welche Mumie salbte meine entschlossene Tat?

MEINE KINDERZEIT

NACH DER SCHULE TRAFEN WIR UNS auf der Wiese und legten dort mühsam Balken quer übereinander. Zwei meiner Spielgefährten setzten sich auf das eine Ende der Schaukel. Willy Himmel und ich aber bestiegen das lange Steckenpferd hoch in der Luft. Die beiden gegenüber flogen dann plötzlich jauchzend in die Höhe, immer wieder, wenn wir zwei, der Willy und ich, Rücken an Rücken gelehnt, den Balken mit unseren kleinen Körpergewichten herabdrückten. Sanken dann wie durch unsere eigenen Hüllen in das Gras des Sommers übergrünt hinein; immer wie ein warmer Faden zog’s durch unsere Leiber. Wenn wir genug von diesem Spiel hatten, streckten wir alle die Zungen heraus, wer die längste habe, Walter Kaufmann beteiligte sich sehr überlegen an solchem »Unsinn«! Er war gelehrt, las die »Mappe« und wollte Professor werden. Und Pülle Kaufmann hatte immer eine belegte Zunge, aß seine Suppe nie, denn er lutschte viel Süßholz. Aber oft streckte er seine Zunge schwarz aus dem Mund; das kam vom Lakritz. Willy Himmel aber hatte ein rosiges Zünglein wie ein Engelchen, auch blickte ich neugierig oft in seine goldenen Augen, die waren ga rnicht angestrichen wie die meinen und die der anderen Jungens.

In der Früh fielen vom Birnbaum eines fremden Gartens mächtige Birnen herunter in unsere kleine Gasse, in Schülers Gasse. Manchmal schlich ich leise auf bloßen Füßen über die Treppe durch den Hausflur an zwei Amoren vorbei und sammelte die dicken Birnen in mein Nachtkittelchen. Einmal traf ich den Pülle, dem ich im Vertrauen von unserer Schlaraffenlandgasse erzählt hatte. Der Pülle Kaufmann trug heute keine Watte in den Ohren wie sonst; er war nämlich auch heimlich von zu Hause ausgerückt, und ich bemerkte sofort seine leeren Ohren und machte ihm einen Vorschlag und betonte dann ganz ernstlich auf die weitabstehenden Löffel weisend:

»Heute musst du aber gehört haben, Pülle!«

»Was?« antwortete Pülle genau wie mit den Wattebüscheln in den Höhlen. »Wa?«

»Pülle«, rief ich ungeduldig, »wenn du mir sagst, was ich dir eben anvertraute, schenk ich dir meine Knopfsammlung.« Ich war nämlich müde, immer alles zu wiederholen.

»Wa?« Aber dann sich überstürzend fragte er: »Die ganzen Knöpfe?«

Ich nickte zögernd, mein Angebot reute mich schon. »Du, ich schenk dir unsere große, rosa Muschel aus unserem Gartenzimmer, Pülle, wenn du mir sagst, was ich dir eben sagte.«

Als Bestätigung fiel jedes Mal eine reife Birne vom Baum, wir jauchzten dann erschreckt auf. Da bekannte denn endlich der Pülle, er habe genau gehört, dass ich gesagt habe, wir wollen uns zwei ein Häuschen bauen in der kleinen Gasse, darin wir uns verstecken könnten vor den Hunden und vor dem Gewitter.

Mein Vater guckte plötzlich aus dem Fenster, er konnte auch nicht schlafen, wenn die großen Birnen fielen. »Wollt ihr wohl heraufkommen, ihr ungezogenen Kinder, ihr bekommt ja die Masern!« Überhaupt, er konnte furchtbar wettern, unsere niedlichen Körper drohten fast einzustürzen; im Grunde aber wollte er selbst ein paar Birnen verzehren, und wir brachten ihm die allerfettesten; dafür durften wir mit seinen bunten Manschettenknöpfen und allerhand Krimskrams in einer Holzschale spielen. Auch drehte er uns seine Kreisel und Blechenten auf, und wir mussten seine großen Stiefel anziehen. Der Pülle sah dann aus wie der Zwerg mit den Meilenstiefeln.

Am Sonnabend aber brachte mein Vater in seinen Tausendtaschen Knallbonbons mit nach Haus. Am Morgen schon musste ich meinen sechsjährigen Kameraden holen und wir marschierten mit Herrn Schüler durch seine Marienstadt, die lag hoch auf einem Hügel. Aber bevor wir abgezogen, ließen wir die Bonbons knallen; für jedes der Kinder lag in Seidenpapier behutsam eine Kopfbedeckung eingewickelt. Alle die armen Kinder an den Häuserecken beneideten uns; waren wir eigentlich doch nichts anderes als vier Hündchen in bunten Helmen, die Herrn Schüler die Waren tragen mussten für die armen Leute der Marienstadt.

Nachmittags spielten wir dann meist bei Kaufmanns im Garten Soldaten. Aber mit dem Walter hatten wir fast jedes Mal unsere liebe Not. Er musste zum Mitspielen gezwungen werden; namentlich zum Kriegsspiel, und gerade bei diesem Spiel ergötzten wir uns am meisten. Pülle und Willy besaßen wirkliche Ulanenmützen, aber der Willy lieh dem Walter seine, den Freund zu interessieren, ihn anzuwerben. Wir fertigten uns aus Papier welche an, aber ich musste Feind sein, weil ich ein Mädchen war, zur Strafe. Sonst bemerkte ich nie von Seiten meiner Spielgefährten irgendeine Geringschätzung mir gegenüber und ich fügte mich drein, freiwillig ein französischer General zu werden, denn die Feinde behaupteten, sie könnten dann besser richtig schimpfen, da ich unter meinen Röckchen eine weite, rote Flanellhose trage »Franzos mit der roten Hos«. Nun war ich gereizt genug, den Angriff zu wagen.

Doch vorher rief uns Pülles Mutter, die Seraphine, zum Kaffee in die Stube zu kommen. Sie saß kerzengerade auf ihrem Sessel und strickte, und Kaufmann, Pülles Vater, saß ihr gegenüber und schlief im Sitzen. Wir staunten ihn alle an, bis ihn Seraphine girrend auf die hohe Wanduhr zeigend ermahnte: »Kaufmann, wache auf.« Aber heute konnte Pülles Mutter nicht mit uns gemeinsam schmausen, sie müsse Pülle ein Ohrenspritzchen besorgen gehen. Wir beneideten ihn alle drei darum, aber die alte Köchin nickte mitleidig mit ihrem Warzengesicht, strich dann mein gesticktes Kleidchen zurecht und steckte mir ein Stückchen Zucker in die Tasche, weil ich ein Mädchen sei. Die Jungens aber konnten ihren Neid nicht mehr unterdrücken und da die Mutter Seraphine schon ihr Haus verlassen hatte, ließen sie ihre Wut an mir aus. Der Walter vergaß seine Gelehrsamkeit so weit, dass er in meinen süßen Kaffee spuckte; Willys gelbe Augen zogen sich zusammen wie bei unserer Katze, und der Pülle trat die alte Köchin mit seinem Fuß gegen den Schwammbauch. Immer fielen große Regentropfen aus meinen Augen auf den Boden, und die greise Köchin schnäuzte mein Näschen, dass es aussah wie ein Radieschen. Aus meinem Taschentuch fiel der grüne Zuckerfrosch, den ich wie ein Heiligtum bei mir trug; den opferte ich den kleinen Barbaren, die waren dann bereit wieder Frieden zu schließen. Willy Himmel, der den Kopf des Frosches schon verzehrt hatte, und das Blättchen, worauf das Zuckertier gesessen hatte, erwischte, schlich dankbar an mich heran und küsste mich auf den Mund.

Wir spielten Domino mit Korintheneinsatz. Jedem Kind schüttete die gutmütige Alte ein Häufchen Korinthen auf den Tisch. Der Walter hatte sich ganz dreist fast alle stibitzt. Das Murren richtete sich diesmal gegen ihn. Aber er imponierte uns doch im großen Ganzen; leiden mochten wir ihn alle nicht; aber er trug eine Hornbrille. Er erklärte uns, die Affen der Urwälder, die hätten, — er habe es gerade in der Gartenlaube gelesen, — auch einen Nabel wie die Menschen, aber — er hielt inne — an dem Nabel der Affen wüchsen die kleinen Affen wie Blättchen, dann wie Blüten, dann wie Früchte, bis sie einen Schwanz hätten zum Abpflücken. Wir kreischten vor Vertraulichkeit, saßen plötzlich im Kreis, unsere Gesichter legten sich zusammen zu einem Bukett aus Rotbacken. Die einschlafende Köchin knurrte aus dem Schlaf: »Kenger, Öhr mößt önk nich so unanständig erzählen.« Wir rückten aber nur noch näher zusammen, und der Pülle fragte kichernd, ob Mädchen auch wohl einen Nabel hätten? Er habe einmal ein Märchen gelesen, er log, darin wäre vorgekommen, eine Königstochter habe einen Nabel gehabt wie ein Brunnen so hohl und tief in den Leib herab, und da hätten die Leute der Stadt ihre Wäsche drin gewaschen.

Die drei Ulanen machten viel Feinde zu Gefangenen; ich wurde in die Küche gesperrt und musste so tun, als ob ich ein ganzes Regiment gefangener Franzosen wäre, die sich aus dem Turm zu befreien versuchten und die Deutschen verhöhnten. Der Walter war am hitzigsten, der Sieg hatte ihn überwältigt, er war Feldmarschall geworden, damit er die Lust nicht verliere; er war furchtbar zu schauen; mein Herz sprang wie die Feinde, die von der Anhöhe des Gartens auf ihren Rossen ins Tal sprengten. Feldmarschall Walter stand schon vor meinem Turmverlies; ich stemmte mit übermenschlicher Anstrengung verzehntausendfacht meinen kleinen Körper an das dröhnende Holz. Mein Röckchen wehte aufgehisst als Fahne im Wind am Fenster. Ich vergaß meinen militärischen Generalsrang, und schrie »Mama, Mama!!« Ganz still wurde es von draußen, man hörte auch nicht mehr das leise Kichern; die Feinde hatten sich scheint’s zurückgezogen. Aber das war eine List des Marschalls Walter gewesen; sein Adjutant Himmel, der musste verharren; vor der Turmtür leise Wache stehen. Zögernd öffnete ich auf einmal mit einem Ruck meinen Küchenturm; ich sah die goldenen Augen Willys schmelzen vor Schmerz — an einem Fetzen baumelte sein Zeigefinger an der Hand und färbte dann die Steine der Hausflur dunkelrot. Den ohnmächtigen Verwundeten trugen die Kameraden auf Seraphinens Kanapee; in der Zeit nahm ich die Flucht.

Seit dieser Niederlage verfolgten mich die kleinen deutschen Spielsoldaten mit ihrem Hass, standen oft an der Ecke der Austraße, noch dazu mit einem Heer verbündeter Jungens, rissen mir den Schulranzen vom Rücken, warfen mich zur Erde und traten und pufften mich: »Franzos mit der roten Hos! Franzos mit der roten Hos!« Einmal kam Pülles Mutter gerade vorbei, im Sonnenschein und mit ihrem grünen Sonnenschirm; wie die Suppenkasparmutter sah sie aus, als sie den Mund ermahnend ganz rund öffnete; »Pülle —!« Ich wagte gar nicht mehr allein auszugehen, auch hatte ich den Ziegenpeter bekommen und das deutsche Heer geriet in große Scheu vor mir: ich sei verhext von einer bösen Zauberin; aus den Nebengassen nur hörte ich noch manchmal ganz leise das böse Liedchen: »Franzos mit der roten Hos!«

DIE EISENBAHN