Kopfsteinpflaster - Hasso Grabner - E-Book
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Hasso Grabner

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Beschreibung

Neu ist vieles für die Menschen in diesem Buch: da zieht ein siegreiches Heer ohne klingendes Spiel, in abgerissenen Uniformen, mit Pferdewagen und müde marschierenden Soldaten in eine Stadt ein, und die, die jahrelang im illegalen Kampf ihr Leben für die Sowjetunion einsetzten, müssen ebenso die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit erst aufbauen wie die, die auf den Schlachtfeldern auch für die Befreiung der deutschen Arbeiterklasse ihr Leben wagten. Nun können Kommunisten zu dem Brotdieb nicht mehr sagen: Gebt ihm zu essen, dann wird er nicht mehr stehlen. Und Arbeiter müssen einen der ihren wieder absetzen und den alten Besitzer zurückholen; da fahren hungernde, bettelnde, schiebende Menschen einen Zug eher in die Stadt zurück, um noch abstimmen zu können. Da will Lene Nitzsche nicht Bäuerin werden, obwohl sie nicht weiß, wie sie ihr Kind satt kriegen soll; und Herbert Müller soll mit dem Mann Schulter an Schulter arbeiten, der mit seiner Frau lebte, als er in Gefangenschaft saß. Da sagen die, der Sozialismus sei jetzt nicht zu machen, die jahrelang ihr Leben für ihn riskierten; und der alte Sozialdemokrat Berthold Liebetrau lernt mit denen eine Partei bilden, mit denen er zwölf Jähre lang illegal kämpfte. Es ist eine Wiederbegegnung mit den Menschen aus dem Roman „Die Zelle“. Hasso Grabner verschweigt nichts, er schlägt keine Bogen um heikle Fragen. Schwere, Leid und Irrwege dieser ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg begegnen uns in diesem spannenden Roman ebenso wie Humor und praktischer Sinn derer, die sie schufen. So wird lebendig, was für die meisten schon ferne Geschichte geworden ist.

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Seitenzahl: 744

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Impressum

Hasso Grabner

Kopfsteinpflaster

Roman

ISBN 978-3-96521-437-8 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1973 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

https://www.edition-digital.de

E-Mail: verlag@edition-digital.de

1

Für einen frühen Julitag ist es ungewöhnlich warm. Es hat längere Zeit nicht geregnet, viel Staub liegt auf der Straße und in den Vorgärten. Daran ist nicht nur das trockene Wetter schuld, es gibt viel Staub in diesem Jahr. Schon ein leichter Wind schiebt feine, graubraune Wolkenschleier vor sich her, und kein Regen kann dieser Plage Herr werden. Es gibt zu viele Berge von Schutt, zu viele zertrümmerte Häuser, seitdem im Dezember 1943 der Krieg zum ersten Mal mit aller Macht über die Stadt gekommen ist. Was in jener Winternacht und später zu Schutt und Asche zerfallen ist, scheint für alle Zeit auszureichen, die Stadt in einen durchsichtigen Mantel zu hüllen, sobald es dem spielerischen Winde gefällt. Grau ist die vorherrschende Farbe geworden. Grau ist, was in den Gärten und Anlagen hätte grün aufblühen sollen. Grau sind die Fassaden der Häuser, die heil gebliebenen Fensterscheiben. Grau die Gesichter der Menschen, und grau ist auch ihr Gemüt. Als der Krieg für die Stadt im April zu Ende gegangen war und die Nächte, von Sirenengeheul ungestört, wieder dem Schlaf dienen durften, hatten die Leute tief aufgeatmet, und etwas wie Freude war in allen Mienen gewesen. Aber der Tod war nur so lange schrecklich, wie er allnächtlich gedroht hatte. Als dies vorbei war, gab er seinen Schrecken an das Leben ab, das graue, hoffnungslose Leben in Armut und Not und in Trauer um die, die nicht mehr lebten.

Es ist wenig Geschäftigkeit in dieser Stadt. Die unzerstört gebliebenen Fabriken liegen still. Den Handwerkern fehlt Material, in den Ämtern und Büros arbeiten nur wenige Leute. Die Bürger haben viel Zeit. Mehr, als ihnen lieb ist. Weil sie soviel Zeit haben, fehlt es ihnen an allem anderen.

Niemand weiß, wer in den Vormittagsstunden das Gerücht aufgebracht hat: Die Russen kommen. Es hieß schon längere Zeit, die Amerikaner ziehen ab und Russen rücken ein. Aber weil soviel darüber gewispert worden war, hatte es schließlich als Geschwätz gegolten. Eine Latrinenparole, wie die Leute sagten. Heute früh aber war die Nachricht in vieler Munde gewesen, und eine ganze Menge Leute, vornehmlich solche, die sich sagten: Was kann mir schon passieren?, hatten sich aufgemacht nachzuschauen, ob sie denn wirklich kämen, die Russen.

Es waren etliche darunter, die wussten, wie das aussieht, wenn eine siegreiche Armee einzieht. In die schöne Stadt Paris beispielsweise. Das war auch ein Sommertag gewesen. Ein glänzender Tag. Die Champs-Élysées hinab, jene Avenue, deren Name schon wie Champagner klingt. Eine champagnerselige Erinnerung, und sie liegt nicht lange zurück. Fünf Jahre, was ist das schon?

Oder noch ein Jahr früher, als die „Eigenen“ in die Heimatstadt zurückkehrten, die siegreichen „Elfer“, die dabeigewesen waren, als den Polen ruckzuck das Gas abgedreht wurde. Das war ein Jubel. Unsere tapferen Feldgrauen. Die Soldaten des Führers. Die unbesiegbare deutsche Wehrmacht.

An diesen Tag können sich fast alle erinnern, die hier in der Ostvorstadt stehen, um zu sehen, ob die Russen tatsächlich kommen. Von jenem Tag in Paris wissen nur wenige aus eigenem Erleben, vielleicht ein halbes Dutzend, und von denen haben drei oder vier teuer dafür bezahlt. Dem einen schlottert ein leerer Ärmel am Körper, der andere hat ein Hosenbein mit einer leblosen Substanz gefüllt, einem dritten fehlen ein Auge und ein Stück Kiefer. Als gesunde Männer könnten sie kaum hier stehen, sondern säßen mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo zwischen Fort Devans und Workuta in einem Kriegsgefangenenlager.

Die Blessierten sind die eigentlichen Sachverständigen des Schauspiels, das hier über die Bühne gehen soll. Kein Wunder, dass sich Grüppchen von Neugierigen um sie bilden.

„Das waren eben zu viel. Und dann die Weite des Raumes, da hat sich Adolf verkalkuliert. Die Nachschubstrecken, das war ja nicht zu machen“, sagt einer, und die Umstehenden nicken verständnisvoll.

„Hauptsächlich die Massen“, schaltet sich ein zweiter ein. „Wie die ankamen, Welle auf Welle. Urräh. Urräh. So schnell konnte unsereins gar nicht den Lauf wechseln. Wir haben schon etwas geleistet, aber es waren eben zu viele.“

Es ist nicht zu erkennen, ob alle Umstehenden dem Einarmigen beipflichten, aber es widerspricht ihm auch keiner. Ein junger Bursche, hoch aufgeschossen und dürr wie ein Bäumchen im Winter, reißt die Augen auf und sagt: „Und die Fortress, Mann, wie die ankamen. Pulk an Pulk. Wir haben reingerotzt mit der Acht-acht, aber alles für die Katze. Zehn schmierten ab – hundert flogen ein.“ Die Umstehenden kennen diese Art junger Leute. Hitlers allerletztes Aufgebot mit dem beinahe zärtlich klingenden Namen: Flakhelfer. Es gibt sie zu Tausenden. Der hier ist nichts Besonderes, und dennoch nicken ihm alle zu.

Eine Frau sagt seufzend: „Ach Gott, ach Gott, ob ich von meinem wieder mal was höre!“ Die Frage ist an niemand gerichtet. Sie berührt auch niemanden. Zu viele stellen sie. Ja, Tausende von Frauen beneiden die, die noch so fragen dürfen. Darin liegt noch eine Hoffnung, während sie wissen, dass sie von „Ihrem“ nichts mehr hören, seitdem irgendwann einmal der Blockwart aufgetaucht war, um etwas vom Heldentod für Führer, Volk und Reich zu murmeln.

„Was wird uns bei denen blühen?“, fragt eine Frau den ehemaligen Soldaten. Der Einarmige zuckt mit den Schultern, sein Stummel beult den Jackenärmel auf. Er kann doch einer deutschen Frau nicht sagen: Wenn sie mit voller Münze heimzahlen, dann gnade uns Gott.

„Was soll uns blühen? ’s ist doch kein Krieg mehr“, antwortet eine ältere Frau. Alle stimmen kopfnickend zu. Wie ein Rettungsring ist dieses Wort. Der Einäugige zieht skeptisch die unverletzte Augenbraue hoch. In Frankreich, denkt er, war von der Kapitulation an auch kein Krieg mehr, aber den Franzosen hat noch allerhand geblüht.

Der Einäugige denkt das nur, er sagt es nicht. Wozu auch, die Leute wissen das selber, sollen sie sich ruhig ein bisschen Hoffnung machen. Ein anderer Mann in der Gruppe ist nicht so zurückhaltend. Zu der älteren Frau gewandt, sagt er: „Dass kein Krieg mehr ist, ist aber nicht unser Verdienst.“ Der scharfe Ton lässt alle aufhorchen. Die Menschen treten einen kleinen Schritt zurück, schaffen Distanz. Was will der? Der Einarmige begreift am schnellsten. „Du hast wohl nicht gemusst?“, fragt er.

„Nein, ich habe nicht gemusst“, antwortet der Mann scharf. Das kratzt die Leute. Die Distanz wird größer. Bei dem scheint es im Kopf nicht zu stimmen. Will nicht gemusst haben. Wo doch alle mussten. Als ob einer gefragt worden wäre, ob er in den Krieg ziehen will oder nicht. Und wer dabei war, musste auch mitmachen. Bis zuletzt. Unter den Kugeln, die der Feind ausschickte, gab es auch gnädige, die von den Kriegsgerichten verordneten trafen alle.

Das war die Erfahrung, sie konnte auch an dem aggressiven Mann nicht vorbeigegangen sein. Schließlich hatte ihn ja auch ein Ding erwischt, so schief, wie er dasteht. Beckenschuss oder so etwas Ähnliches.

Der Einarmige spricht das aus, aber der Mann schüttelt den Kopf. „Von Geburt“, sagt er. „Da sind Sie gar nicht draußen gewesen?“, fragt eine recht gut angezogene junge Frau.

Der Mann nickt wieder.

Sie starren ihn an. Geringschätzig, vielleicht auch ein wenig neidisch. Aber weit mehr geringschätzig. So einer will mitreden … Ist durch ein bisschen englische Krankheit oder so um den Schlamassel herumgekommen und spielt sich nun auf. Kunststück, nicht gemusst zu haben, wenn keiner von ihm etwas verlangt hat.

Die Leute behalten ihre Gedanken für sich. Es lohnt sich nicht, einen „fertigzumachen“, der es schon ist.

Vom oberen Ende der Straße her kommt Bewegung in die Reihen. Außer einer Staubwolke ist nichts zu erkennen. Die Leute spitzen die Ohren. Musik? Musik müsste doch sein, wenn Soldaten einrücken. Nichts ist zu hören. Und doch sind es die Russen. Die Gewissheit ist die Straße hinabgelaufen wie die „schnelle Post“ im Spiel der Kinder.

„Die kommen wohl gar per Beine?“, sagt der Einäugige. In der Tat, so langsam, wie sich die Wolke nähert, kann sie nur von Marschierenden stammen.

„Es sind dreißig Kilometer bis zur alten Grenze zwischen Russen und Amis“, sagt der Einarmige. Jeder weiß, was er sagen will: Das gibt’s doch gar nicht, dreißig Kilometer laufen …

An sich gibt es das schon. Sie sind ganz andere Strecken auf einen Zug gelaufen als dreißig Kilometer. Und wie sie gelaufen sind! Um das nackte Leben. Aber die hier kommen, ziehen als Sieger ein. Als die Amis vor zehn Wochen einzogen, lief keiner. Wagen über Wagen vom kleinsten Jeep bis zum Zehntonner. Darauf Soldaten, rund, wohlgenährt, Gummi kauend, lächelnd wie Vergnügungsreisende. Sieger.

Jetzt wird erkennbar, dass hier auch Wagen kommen. Keine brummenden – klappernde. Mit einem PS oder zwei. Hochrädrige Panjewagen. Die struppigen, dürren Pferdchen senken die Köpfe im Rhythmus ihrer müden kleinen Schritte. Die Männer, die links und rechts davon und zwischen ihnen laufen, sehen auch nicht unternehmungslustig aus. Die Leute, die an den Straßenrändern stehen, interessieren sie weniger als die Frage, ob der Marsch bald zu Ende ist.

Dafür sind sie jedoch Gegenstand höchsten Interesses. Eines maßlos erstaunten Interesses.

Die …!

Dieses eine Wort denken fast alle, die hier die Bürgersteige säumen, und dieses Gedankenbruchstück heißt: Die sollen uns besiegt haben?

„Da einmal mit dem Tiger drüber und ein bisschen mit dem Arsche gewackelt, da sind sie alle in den Boden gestampft“, flüstert der Einarmige dem Einäugigen ins Ohr. Der schaut ihn spöttisch an und antwortet: „Das Rezept scheint uns entfallen zu sein, als wir noch Tiger hatten. Jetzt fehlen die Zutaten.“

Der Einarmige überhört den Spott und meint: „Der Adolf hat sich eben verkalkuliert.“ Er sagt es laut genug, dass es die Umstehenden noch hören können. Sie wiegen bedächtig die Köpfe, etwas Wahreres konnte nicht gesagt werden, wo doch das Ergebnis dieser Fehlkalkulation in zwei Meter Abstand hier vorbeitrottet.

Dass dieses Ergebnis so aussieht, so glanzlos, so unwahrscheinlich wenig schauspielhaft, das soll begreifen, wer will. Jahrelang haben die Leute die Begriffe „Soldat“ und „Wehrmacht“ mit unerhörter Präzision, mit Akkuratesse, blitzender Sauberkeit und machtvollem Rhythmus verknüpft. Marschierende Soldaten, das waren mit dem Lineal gezogene Reihen, ein einziger knallharter tausendfacher Schritt, eine Maschine aus Leibern. Und was sind die, die hier vorbeiziehen? Jeder läuft, wie es ihm passt, alle tragen sie ihre Waffe irgendwie. Und die Uniformen … Das Wort schon ist eine Schmeichelei. Verschossene, schmutzige, gelbgrüne Kittel, durch alle möglichen Arten Koppel unordentlich an der Taille zusammengehalten. „Heute Abend Putz- und Flickstunde“, sagt der Einarmige. Ein paar Frauen lachen leise auf. Die kleine Gemütsbewegung wird von den Vorbeimarschierenden bemerkt. Tut sich hier etwas? Endlich einmal in dieser blöden Mauer des Schweigens. Die Soldaten wenden ihre verstaubten Gesichter der Stelle zu, wo gelacht wird. Sie lächeln zaghaft, in ihren Augen steht die Lust mitzulachen. Aber die Frauen kommen sich wie ertappte Sünder vor und legen ihre Gesichter schnell wieder in mürrisch gleichgültige Falten.

Plötzlich klatscht einer. Es klingt dünn und verloren und bricht wieder ab. Jeder weiß, es ist das Hinkebein, der Mann, der nicht mit musste, und es ist allen peinlich. Man kann doch nicht Beifall klatschen, wenn der Feind einrückt. Der will sich anschmieren. Solche, die sich anschmieren wollten, hat es schon gegeben, als die Amis kamen. Aber von denen war wenigstens noch etwas zu erben gewesen. Zigaretten, Schokolade, eine halb volle Fleischbüchse. Das machte es irgendwie verständlich, und dennoch war es nicht in Ordnung, war es würdelos gewesen. Hier den Russen zuzuklatschen, das ist idiotisch.

„Wenn wir drüben irgendwo einrückten, haben die Zivilisten ausgespuckt. Die hatten wenigstens noch ihren Stolz“, sagt der Einarmige laut und heimst Gemurmel der Zustimmung ein. Der Mann, der nicht mit gemusst hat, gerät nicht in Verlegenheit: „Das hat mit Stolz nicht viel zu tun. Es entspricht einfach der Realität. Wo wir eingerückt sind, war das Ausspucken am Platze, wo sie einrücken, haben sie Beifall verdient.“

Die wohlgesetzte Bemerkung verblüfft die Leute. Sie hatten angenommen, der Mann würde schnell einsehen, wie unpassend er sich benommen hat, stattdessen bekennt er sich zu seinem Tun. Sie brauchen eine Weile, um damit fertig zu werden.

Schließlich sagt der Einarmige: „Für so was haben wir unsere Knochen hingehalten.“ Das klingt böse, und die Leute finden es gefährlich. Nicht für den Lahmen, sondern für sich.

Eine Frau zischt: „Pst – die sind doch jetzt dran, Mann …“ Alle verstehen, was damit gemeint ist. „Die“, das sind die, die so denken wie der Lahme, und dran sind sie durch die, die hier in langer Kolonne über die staubige Straße ziehen. Insofern ist alles beim Alten geblieben. Nur hieß das bisher Gestapo, die die Ohren überall hatte. Jetzt wird es einen anderen Namen bekommen, aber das Horchen wird bleiben.

Der Abstand zwischen der Gruppe und dem seltsamen Mann beträgt jetzt mehr als eine Armlänge. Nur der Einäugige ist keinen Zentimeter weggerückt. Er sagt: „Es klingt gemeiner, als es ist, was du da aussprichst, Kamerad, und es wird schwer werden, sich an den Gedanken zu gewöhnen.“

„Ich weiß. Aber davon, wie schnell das geschieht, wird viel abhängen“, antwortet der Lahme.

Der Einäugige zuckt mit den Schultern. „Ach“, sagt er, „was haben wir schon zu melden? Wir sind doch nur noch Figuren. Am Brett sitzen andere.“

„Eben das wird von uns abhängen, ob wir Figuren sind oder mitspielen. Die hier marschieren, wollen uns bestimmt als Mitspieler sehen.“

„Ihr Spiel.“

„Selbst das wäre noch mehr, als nur Figuren zu sein. Aber darum geht es nicht. Deren Spiel ist unser Spiel. Weil das Spiel nicht Russen gegen Deutsche heißt, sondern Arbeiter gegen Kapitalisten. Ich bin Arbeiter.“

Der Invalide richtet sein gesundes Auge prüfend auf seinen Partner.

„Na, wie ein Arbeiter siehst du nicht gerade aus“, sagt er.

„Arbeiter, das ist mehr als eine Art, sich sein Brot zu verdienen. Arbeiter, das ist auch eine Gesinnung.“

Der Einäugige verzieht sein Gesicht in spöttische Falten. „Davon habe ich noch nichts gemerkt“, sagt er.

„Hatten die Arbeiter etwa Spielraum, um so sein zu können, wie sie wirklich sind? Den bekommen sie jetzt erst.“

„Abwarten.“

„Nicht abwarten. Mitmachen!“

„Mitmachen? Da fängt doch das Elend schon an. Wer braucht denn einen Buchhändler?“

„Das ist wahr. In dem Beruf wird es eine Weile trüb aussehen. Die alten Bücher müssen verschwinden, und neue sind nicht da. Ehe die kommen, vergehen zwei, drei Jahre. Schulen Sie um. Maurer. So viel Maurer, wie wir brauchen werden, kann es überhaupt nicht geben.“

Der Einäugige geht auf das konventionelle „Sie“ über: „Mehr haben Sie nicht zu bieten.“

„Ich habe gar nichts zu bieten. Die Zeit. Unsere Zeit, verstehen Sie. Unsere, weil wir sie mit herbeigeführt haben und weil sie uns eine einzigartige Chance bietet. Allerdings auf einer einfachen Stufenleiter. Es fängt beim Bauarbeiter an, aber das wird nicht lange dauern. Bald werden wir nach Maschinenschlossern suchen, und im Anschluss daran brauchen wir Ingenieure. Dann sind auch die Buchhändler wieder am Zuge.“

„Sie sind wohl Hellseher?“

„Wenn Sie es so nennen wollen. Im Gegensatz zu denen, die schwarzsehen.“

„Im Gegensatz zu mir, wollen Sie sagen.“

„Das liegt bei Ihnen. Es war lange genug finster im Lande. Ein bisschen Licht kann jeder gebrauchen. Es kommt mit denen, die hier vorbeimarschieren. Sie tragen es schon länger als ein Vierteljahrhundert über die Erde.“

Der Einäugige nickt bedächtig. Er sagt: „Jetzt weiß ich, wo Sie hinaus wollen. Aber da verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Geglaubt habe ich schon viel zu viel. Das passiert mir nicht wieder.“

„Wenn Sie auf Schlosser umschulen wollen, kann ich Ihnen vielleicht helfen. Nicht sofort, aber in ein paar Wochen. Kommen Sie mal bei uns vorbei, Meier und Sonntag, Fräsmaschinenfabrik. Sagen Sie, Sie wollen zu Schulze. Vielleicht sind wir bis dahin schon soweit.“

„Meinhardt, Eugen Meinhardt“, murmelt der Einäugige, und nach einer Weile fügt er hinzu: „Dass einer einem Arbeit anbietet, ausgerechnet hier …“

„Ausgerechnet hier“, sagt Schulze, „einen besseren Zeitpunkt kann es überhaupt nicht geben.“

Die beiden Männer wenden ihre Aufmerksamkeit wieder der marschierenden Kolonne zu. Ein Offizier geht vorbei. Sie beachten ihn kaum, er unterscheidet sich zu wenig von den anderen, und auch er widmet ihnen nur einen flüchtigen Blick. Der Oberleutnant ist jung, die Strapaze des Tages stört ihn wenig. Er ist vom Kuban bis hierher marschiert, was gelten da die paar Kilometer noch?

Der Oberleutnant ist von der schweigenden Menge am Straßenrand nicht enttäuscht. Das hat er sich längst abgewöhnt. In der Stadt Breslau zum Beispiel, wo die Fritzen gekämpft haben wie die Verrückten, so, als verlören sie sonst was, wenn sie vom Faschismus befreit würden. Es war überall nur eine Handvoll gewesen, die sich gefreut hatten, Hitler und seine Bande endlich los zu sein. Diese standen dann in kleinen Gruppen mit feuchtglänzenden Augen auf den Marktplätzen und hatten vor Rührung Mühe, zu sagen, was ihr Herz erfüllte. Solch ein Treffen würde es auch heute geben oder gegeben haben. Irgendwo im Zentrum dieser großen Stadt. Mit N. N. Jefremow, der die Truppe über den halben Kontinent hierhergeführt hat. Auf diesem langen Wege hat der General viel Tränen gesehen, Ströme von Tränen. Deutsche haben sie verursacht. Es muss ein eigenartiges Gefühl sein, wenn er heute Tränen in den Augen von Deutschen sieht, auch wenn dies Tränen ganz anderer Art sind. Sie dürfen ihn nicht rühren, nicht die Tränen der Mütter seiner Heimat vergessen lassen und nicht die vielen Deutschen, die hier die Straße säumen, diese graue, dumpfe Masse, der keine Freude anzusehen ist, nicht mal Erleichterung.

Solche Gedanken trägt der Oberleutnant Oborin an den Männern vorbei, die sich eben unterhalten, ob dies ein guter oder ein ungünstiger Zeitpunkt ist, von der Zukunft zu sprechen. Sie stimmen ihn weder heiter noch trübe. Man muss sich damit abfinden. Alles andere wäre Illusion, und der Krieg war lang und schlimm genug, solche auszutreiben. Vor dreizehn Jahren hatte der Leninpionier Oborin alles anders gewusst. Deutsche Arbeiterklasse. Deutsche Kommunisten. Ernst Thälmann. Deutsche Revolution. Das waren Begriffe gewesen, handgreiflich und unverrückbar. Was war geblieben? Nicht mal der Anschein, dass die Leute hier willens waren, sich wieder zurückzufinden. Außer bei den paar hageren Männern und Frauen mit den feuchten Augen hier und da. Die brauchten wohl nicht zurückzufinden, sie waren gar nicht erst in die Irre gegangen. Die Handvoll.

Der Oberleutnant hat den Mann an der Straße nicht Beifall klatschen sehen. Dazu war er noch zu weit entfernt gewesen. Schade – der Oberleutnant ist ein gerechter Mann, ihm wäre gewiss in den Sinn gekommen, dass ein einziger viel mehr ist als überhaupt keiner. Dem Mann namens Schulze ist der Oberleutnant auch nicht aufgefallen. Aber er fühlt schmerzlich, was alle, die hier vorbeimarschieren, angesichts der schweigenden Mauer denken müssen. Er muss daran denken, wie ganz anders sich Fritz Nitzsche diesen Einmarsch vorstellen mag: Da kommen die heiß herbeigesehnten Brüder, das wird ein Umarmen geben …

Die Hoffnung auf diesen Tag hat Fritz am Leben erhalten. Er liegt mit blaurot glühenden Backenknochen und einem quälenden Husten im Bett. Es ist, als wollte sich die Schwindsucht ihren ewigen Kandidaten nun endgültig holen.

Schulze weiß, Fritz sieht dem gelassen entgegen. Er hat noch erlebt, wofür er gelebt hat. Dennoch ist es auf seine Art gut, dass er nicht hier war. Der Mann kann jetzt keine Enttäuschung gebrauchen, auch wenn sie ihn nicht umwürfe. Nitzsche hat nie etwas umwerfen können, weil er nie aufgehört hat zu glauben, auch in den schwärzesten Tagen nicht. Das lag wohl daran, dass Fritz immer an das Richtige geglaubt hat.

Schulze gehört nicht zu den Leuten, die viel vom Glauben halten. Er weiß lieber. Das hat ihm schon viel Streit eingebracht. Damals, als Willy Schnabel noch lebte, der beste Mann, den Schulze gekannt hat. Schnabel war der Meinung gewesen, wissen und wissen wollen seien für einen Kommunisten eine einfache Selbstverständlichkeit. Was ihn aber von allen anderen abhebe, sei, dass er glauben könne, ohne den Rang anzutasten, den das Wissen einnimmt.

Schulze war gegen solche und ähnliche Thesen immer aufgetreten, und doch hatte er erleben müssen, wie sehr ein Glaube aufrechterhalten kann. An dem Einäugigen erfuhr er heute das Gegenteil: Geborstener Glaube drückt nieder.

2

Die wenigen Straßenbahnen, die schon wieder fahren, sind noch voller als sonst. Es sind viele Leute unterwegs gewesen, um zu sehen, ob die Russen tatsächlich kommen. Das Ereignis bildet das einzige Gesprächsthema auf dem Perron, auf dem Schulze mit Mühe Platz gefunden hat. Der dicht zusammengepresste Knäuel von Menschen kommt ihm vor wie ein einziger menschlicher Organismus, ein Riesenleib mit vielen Köpfen und nur einem Sinn. Von den Amis war nichts zu erhoffen, von den Russen noch viel weniger. Das ist die allgemeine Meinung.

Schulze hat nicht die Absicht, eingekeilt einen Disput zu beginnen. Wartet nur, denkt er, noch ein, zwei Tage, dann kann und wird die Partei öffentlich auftreten und allen sagen, was zu tun ist. Wenn wir auch nicht viele sind, jeder einzelne wird sich vielen stellen, und so werden wir viele werden.

Wir hätten heute schon geschlossener auftreten sollen. Wir haben diesen Tag als illegale Zelle erwartet. Mehr kann niemand auf irgendetwas warten. Nun ist der Tag gekommen, und jeder ist kopflos allein losgerannt, um nichts zu verpassen. Anstatt uns zu sammeln und gemeinsam … Hand in Hand. Nicht sinnbildlich. Hand in Hand – buchstäblich. Jeder allein irgendwo am Straßenrand. Das ist grotesk.

So ist der Tag gekommen beinahe wie irgendein Tag. Sang- und klanglos. Und dabei geschah nicht mehr und nicht weniger, als dass die Freiheit der deutschen Arbeiterklasse in Gestalt fremder, müder Soldaten in schmutzigen Schuhen und zerschlissenen Kleidern in die Stadt eingezogen ist.

Und die Klasse stand am Rande. Kein Wort auf den Lippen. Tausend Fragen in den Augen.

Wer soll für sie sprechen? Wer soll ihnen antworten?

Sie selber.

Und wenn wir von Stund an für irgendetwas verantwortlich sind, dann für dieses „Selber“. Wir haben zu lange die Denkarbeit für die Klasse tun müssen, wir Illegalen. Müssen. Das ist unserer Kenntnis von der Gehirnlandschaft des Arbeiters nicht dienlich gewesen. Unser Staunen heute macht das deutlich. Und umgekehrt erst …? Was verstehen sie noch von uns?

Der Luftwaffenhelfer hat sich auf dem Vorderperron das bisschen Platz erkämpft, das er braucht. Sein Herz ist voller Sorge. Mit dem Job bei den Amis ist es nun vorbei. Die Russen, die er heute kennengelernt hat, werden sich kaum die Stiefel putzen und Mädchen besorgen lassen. Nun wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als auch zu klauen und das Geklaute auf dem schwarzen Markt zu verschieben. Birgit fällt ihm ein, sein Mädchen. Sie würde am Ende verlangen, auch für sie mitzuklauen. Was würde ihm anders übrig bleiben! Er wohnt bei Birgit, seitdem sein Haus zertrümmert worden ist. Sie und ihre Großmutter drohen ihm jetzt zur Last zu fallen. Auf eine Art reizt ihn der Gedanke. Er, der Sechzehnjährige, verantwortlich. Ernährer, Familienvater beinahe für sein Mädchen und deren alte Oma. Aber ein hartes Brot würde es dennoch werden. Matze und Piefke haben erst vor wenigen Tagen in einer Gartenkolonie schreckliche Prügel bezogen. Die wenigen Leute, die heute Kaninchen hielten, passten höllisch auf. Den Lahmen, der am Straßenrand so dämlich dahergequatscht hatte, schienen solche Sorgen überhaupt nicht zu drücken. Wer weiß, auf welchen Kisten und Kästen er saß. Wenn heute einer nicht meckerte, musste er steinreich sein. Es wäre gut zu wissen, wo dieser Kerl wohnt. Vielleicht könnte man ihm einmal einen Besuch abstatten.

Jürgen Trahndorf, den sie in seiner Bande Träne nennen, hätte sich gern an den Mann Schulze herangemacht, aber in der Enge, die in der Straßenbahn herrscht, ist das unmöglich. Nun gut, es würde sich eine andere Gelegenheit finden lassen. Nachts, schön allein. Ein solches Männeken ist schnell niedergeschlagen. Und wenn er vielleicht auch nichts in den Taschen hat, einen ordentlichen Mantel, einen Anzug kann man nutzbringend verkaufen.

Der Buchhandlungsgehilfe Jürgen Meinhardt strebt seiner Wohnung zu Fuß entgegen. Er ist es noch nicht gewöhnt, schwarz zu fahren wie die meisten, deshalb läuft er. Auch seine Gedanken kreisen um den Lahmen. Bauarbeiter, Schlosser, wie der sich das denkt: Eigentlich ist es nichts Schlimmes, Schlosser. Nur Heidrun wird Einwände erheben: Du mit deinem einen Auge, würde sie sagen. Aber darum geht es ihr nicht. Schließlich hat sie einen Buchhandlungsgehilfen geheiratet, einen Mann mit einem feinen Beruf. Soll sie jetzt einen haben, der abends mit ölverschmierten Fingern nach Hause kommt? Heidrun Meinhardt ist ohnehin schon sozial abgestiegen. Ihr Vater hat ein gut gehendes Delikatessengeschäft besessen und ist nie einverstanden gewesen, dass seine einzige Tochter einen Mann mit einem solchen Hungerleiderberuf heiratet. Ihn interessierten Rheinlachs, Anchovis und Brüsseler Trauben. Für Bücher hat er nie etwas übriggehabt. Nun gut, das väterliche Geschäft ist den Bomben zum Opfer gefallen, und daran war Jürgen Meinhardt nicht schuld. Somit drückt ihn auch der soziale Abstieg seiner Frau im Augenblick wenig. Jetzt sind alle klein. Er ist nicht der einzige, der keine Ahnung hat, wovon er sich ernähren soll. Wenn alle Stränge reißen, denkt er, werde ich mich doch einmal bei diesem Herrn Schulze melden.

Auf dem Heimweg befindet sich auch die gut angezogene junge Frau, die Horst Schulze gefragt hat: Da sind Sie gar nicht draußen gewesen? Ihre Gedanken drehen sich um die Russen. Gewiss, sie sahen nicht aus, als könnte man mit ihnen Geschäfte machen, aber Russen bleiben eben Russen, und mit ihnen verbunden bleibt der Gedanke an Pelze. Für Pelze interessierte sich Walpurga Schmidtchen sehr. Sie hat einen Freund – Alex Hiller. Das ist ein aufgehender Stern in der Rauchwarenbranche der Stadt. Weniger seines Geschäftes wegen, das ist eine recht bescheidene Rauchwarengroßhandlung, aber Alex Hiller war früher in der sozialdemokratischen Partei ein As. Da diese Partei jetzt wieder kommen muss, wird es möglich sein, mit seiner Rauchwarengroßhandlung mächtig ins Geschäft einzusteigen. Schön wäre es, wenn die Amis auch dageblieben wären. Da hätte man Verkäufer und Käufer in einem Ort, für den Zwischenhändler die Chance.

3

Horst Schulze hatte dem vorbeitrappenden und klappernden Zug alle seine Aufmerksamkeit zugewandt. So war ihm schräg gegenüber, ein Stückchen stadtauswärts, Lenchen Nitzsche entgangen, Fritz Nitzsches älteste Tochter. Sie hatte Horst Schulze wohl bemerkt. Sicher, sie ist überzeugt, das Kapitel Horst Schulze in ihrem Leben abgeschlossen zu haben. Dennoch hat es sie geschmerzt, gerade zu dieser Stunde nicht an seiner Seite stehen zu können. Sie hat aber auch nicht einfach zu ihm hinübergehen können. Eine solche Stunde macht das Herz weich. In einer weichen Stunde soll Horst Schulze nicht einsehen, welches Unrecht er ihr getan hat. So ist sie auf der anderen Straßenseite stehengeblieben. Was tat es schon, wenn es schmerzte!

Sie geht den Weg nach Hause zu Fuß. Es drängt sie, dem Vater zu berichten, dem sie es von Herzen gegönnt hätte, den Einmarsch der Roten Armee mit eigenen Augen sehen zu können. Aber jetzt ist sie froh, dass die Krankheit den Vater ans Bett gefesselt hat. Der Groll über die dumpfe, misstrauische Masse links und rechts der Straße hätte ihn aufgefressen.

Als Lenchen dieser Gedanke durch den Kopf geht, weiß sie, dass Horst Schulze ihn auch gedacht hat. Ihre Art, die Dinge des Lebens zu sehen und zu beurteilen, ähnelt sich sehr. Nur rührt die Nüchternheit bei ihm aus scharfem, geschultem Verstand, bei ihr aus der illusionslosen harten Welt des Proletariermädchens.

Fritz Nitzsche liegt auf dem Kanapee und wartet mit fiebrigen Augen auf Lenchens Rückkehr. Es fällt der Tochter schwer, dem Vater getreu zu berichten, was sie gesehen hat. Sie weiß, der kranke Mann will kein Märchen vom triumphalen Einzug der Sieger, vom jubelnden Empfang der Befreier hören. So weltfremd ist Fritz Nitzsche nicht. An ein bisschen mehr Stimmung, Schwung, an eine größere Hoffnung glaubt er doch.

Lenchen ist nicht Schauspielerin genug, dem Vater die Illusion zu vermitteln, auf die er wartet. Fritz kennt sein Lenchen zu gut, als dass sie ihm etwas vormachen könnte. Der Ärger schüttelt ihn und bricht sich in quälendem Husten Bahn. „Idioten“, keucht er, „alles Idioten, die da herumgestanden haben.“ Dann seufzt er tief: „Wenn man nicht überall dabei ist …“

Fritz Nitzsche ist nicht so vermessen, zu glauben, er hätte die Straßen auf und ab für einen wärmeren Empfang der Befreier sorgen können, wenn er nur dabeigewesen wäre. Das „Dabeigewesensein“ ist sein Lebensinhalt. Niemand hat je auf Fritz Nitzsche warten müssen, wenn ein Mann gebraucht wurde.

„Einer hat Beifall geklatscht – Horst“, sagt Lenchen. So, denkt Nitzsche, sie hat ihn gesehen, daher ihre Missstimmung. Das hat auf ihren Bericht abgefärbt. So schlimm. Fritz Nitzsche ist ein Meister darin, überall das Gute, das Positive für die Sache zu sehen, der er sich verschrieben hat. Lenchens Bemerkung heitert den Mann auf. Nur der Name Horst lässt einen Schatten über sein Gesicht ziehen.

„Mutter ist mit Klaus an der frischen Luft“, sagt er. Lenchen versteht den Vater. Es war von Horst Schulze die Rede. Mutter und Vater verzeihen ihm nicht, dass er kaum nach Lenchen gefragt hat, als sie mit dem Kind niederkam. Schließlich hat das Mädel, als sie schwanger war, seinetwegen den Kopf riskiert. Ella und Fritz Nitzsche hegen den unbestimmten Verdacht, Horst könne der Vater sein. Von Lenchen ist darüber nichts zu erfahren gewesen. Am liebsten hätte Fritz Horst zur Rede gestellt. Er wagt es nicht, weil er weiß, die Tochter würde böse werden. Das ist mein Kind und meine Sache, und wenn es darüber etwas zu reden gibt, dann rede ich und kein anderer, würde sie sagen. Die Nitzsche-Eltern haben ihre Kinder so erzogen.

„Nun müssen mir die Motten mal eine Pause lassen, jetzt geht’s los“, sagt Nitzsche, das Thema wechselnd. Lenchen nickt eifrig. Sie zweifelt nicht, dass es „jetzt losgeht“, aber auf eine Pause für den Vater ist nicht zu hoffen. Doch eine Chance ist für ihn mit dem heutigen Tag erwachsen. Es gibt Tuberkulosesanatorien. Die waren den Reichen vorbehalten, denen das für ihre Schicht seltene Pech widerfahren war, an der Schwindsucht zu erkranken. Mit dem Einmarsch der Roten Armee würden derartige Einrichtungen auch den Armen zu Verfügung stehen und solchen verdienten Genossen wie Fritz Nitzsche, der sich die Tbc im Klassenkrieg geholt hatte, erst recht. Die Zeit musste vorbei sein, in der die ärztliche Therapie in guten Ratschlägen bestand: viel Ruhe in würziger Luft, Herr Nitzsche, viel Milch, viel Butter. Sobald es einigermaßen anging, würde sich Lenchen Nitzsche an die zuständigen Genossen wenden und für ihren Vater einen Sanatoriumsplatz fordern. Solche zuständigen Genossen würde es bald geben. Das war die Pause für Fritz Nitzsche, sofern es für ihn überhaupt noch eine gab. Darüber lohnt sich jetzt nicht zu reden. Es ist überhaupt schwer, mit dem Vater über irgendetwas zu reden. Von der Politik abgesehen. Gern würde sich Lenchen mit ihm beraten, welche Arbeit sie sich suchen soll. Arbeit wird es übergenug geben. Aber sie hat nichts gelernt. Die Erfindung der Nazis, mit dem sogenannten Landjahr den Bauern, besonders den Großbauern, billige Arbeitskräfte zuzuschieben, hat sie nach der Schulentlassung nach Hinterpommern geführt. Dort ist sie als Dienstmagd hängengeblieben. Als der Krieg kam und die Lebensmittel in der Stadt knapp wurden, konnte sie den Eltern hin und wieder ein Paket schicken. Dabei hat sie keine überflüssigen Hemmungen entwickelt. Was die Bäuerin nicht freiwillig gab, wurde – in Maßen, versteht sich – ohne Genehmigung eingepackt. Der Hof trug das spielend, es war ohnehin nur ein winziger Bruchteil der Mengen, die die Bäuerin selbst verschob. So hatten sich das Landjahr und seine Fortsetzung in trüben Zeiten als recht nützlich erwiesen. Dann tauchte Horst im Spätsommer vierundvierzig auf, gehetzt und verfolgt. Lenchen versteckte ihn auf dem Oberboden der Scheune und versorgte ihn ein halbes Jahr in aller Heimlichkeit. Zeit und Umstände haben das Mädchen zu einer lebenstüchtigen, gescheiten jungen Frau erzogen. Aber gelernt hat sie nichts, außer Vieh zu füttern und Kühe zu melken. Mit ihren einundzwanzig Jahren steht sie jetzt vor der Frage, wie sie sich ihr Leben einrichten soll. Irgendwelche Arbeit wird es geben. Die Straßen und Plätze liegen voll von Schuttbergen. Lenchen fürchtet sich nicht vor schwerer Arbeit. Aber ein Lebensziel ist das nicht. Seit sie Horst kennt, weiß sie, was das ist: klug. Es muss schön sein, viel zu wissen. Sie möchte lernen. Jetzt, wo die Rote Armee eingerückt ist, müsste es doch für ein Arbeiterkind möglich sein. Für diesen Wunsch hat sie noch einen zweiten Grund. Er heißt Klaus. Wenn der Vater auch tut, als habe er davon keine Ahnung, so ist der Kleine doch Horsts Sohn, und wie Horsts Sohn soll er auch erzogen werden. Dazu muss die Mutter wenigstens annähernd so klug sein wie der Vater. Das Kind soll den Vater nicht entbehren. Über all das müsste man mit jemand reden können. Mit Horst. Aber gerade mit dem geht es nicht. Und der Vater? Fritz Nitzsche hat nichts übrig für „hoch hinaus“. Es ist ihm verdächtig. Ist dir ein Arbeiter nicht genug? würde er fragen. Auch so wäre der heutige Tag denkbar ungeeignet. Der Mann fiebert, selbst arbeiten zu können, tätig sein zu dürfen. Mit dem natürlichen Egoismus der Schwerkranken hält er seine Probleme für die vordringlichsten. Dir läuft nichts weg, du hast noch alles vor dir, aber ich …, würde er sagen. Und damit hätte er sogar recht. Wozu also mit ihm sprechen?

Lenchen erhebt sich und geht in die Küche, obwohl sie weiß, dass es für das Mittagbrot nichts vorzubereiten gibt. Mutter hat die Suppe aus rohen Kartoffeln schon gekocht. Sie steht, in Papier eingepackt, im Bett. So wird sie sämiger und füllt den Magen besser. Drei geriebene Kartoffeln, für jeden eine. Zum Glück sind noch ein paar Küchenkräuter im Haus, das gibt dem schlierigen, fettlosen Zeug ein wenig Geschmack. Diese Suppe ist seit Wochen die Hauptmahlzeit und wird es noch genau drei Wochen und zwei Tage sein. Dann sind die dreiundsechzig Kartoffeln im Vorratskämmerchen aufgegessen. Heute früh waren es sechsundsechzig, morgen Abend werden es sechzig sein. Das alles ist leicht überschaubar. Vater hat vor einiger Zeit, unwissend, wie Männer sind, gefragt, ob man die Kartoffeln nicht einmal anders zubereiten könnte als in Form dieser ewigen Schludersuppe – so nennt der Volksmund das Gericht –, aber Mutter hat kategorisch erklärt: Eine Pellkartoffel pro Mann macht keinen satt oder froh, bei Schludersuppe hat man wenigstens das Gefühl, etwas gegessen zu haben. Lenchen beobachtet mit Sorge, wie ihre Milch abzunehmen beginnt. Sie war ausgefüttert und stramm nach Hause gekommen und hatte diesen Status bis zur Niederkunft gehalten. Die erste Zeit war eine Brust voll ausreichend gewesen, den Kleinen zu sättigen. Jetzt trank er beide bis zum letzten Tropfen leer, ohne in die satte Säuglingsseligkeit hinabzusinken, die sie immer so beglückt hat. Bald würde er hungern. Lenchen hat in den vergangenen zwei Monaten manche junge Mutter in ihrer Umgebung beobachtet. Sie kennt die Verzweiflung ausgemergelter Gestalten, die ihr Kindchen an der Brust langsam verhungern sehen. Sie weiß auch von einigen Müttern, die mit amerikanischen Soldaten für einen Beutel Milchpulver geschlafen haben. Mehr als einmal hat sie sich gesagt: Ehe ich mein Kind sterben lasse, tue ich das auch.

Es gibt viele Gründe, den heutigen Tag zu begrüßen. Von heute an werden die Genossen die Macht haben, für die dringendsten Dinge des Lebens zu sorgen. Und was wäre dringender als das Leben der Kinder und Mütter?

4

Schulze ist in die Fabrik gefahren. Es wird zwar nichts fabriziert bei Meier & Sonntag, aber es gibt schon einige Kollegen, die in den letzten Tagen und Wochen nachgefragt haben, wann es wieder losgeht. Der alte Sonntag hat es ihnen nicht sagen können. Er war mit einigen Unternehmern ähnlicher Größenordnung beim amerikanischen Stadtkommandanten gewesen. Der Herr Major hatte ihnen wenig Hoffnung gemacht. Maschinen? Wozu brauchen Sie Werkzeugmaschinen, ich denke, die Deutschen haben jetzt andere Sorgen.

Als die Herren dem Offizier klarzumachen versucht hatten, dass Deutschland seit langem ein klassisches Werkzeugmaschinenland sei, hatte er ungeduldig abgewinkt. Es war ihm deutlich anzusehen gewesen, dass eben dies der Grund des völligen Desinteresses der United States war. Als einer der Herren zu bemerken gewagt hatte, es würden früher oder später wieder Werkzeugmaschinen gebraucht, sahen sie sich einem sehr verständnisvollem Major gegenüber. Surely, Werkzeugmaschinen werden gebraucht werden. Die besten und leistungsfähigsten Werkzeugmaschinenfabriken liegen in den USA; kein Zweifel, sie werden die Deutschen niemals im Stich lassen.

Den Herren hatte dieses großzügige Anerbieten wenig Freude bereitet. Sonntag hatte damals zu Liebetraut gesagt: „Es wäre weiß Gott besser, die Russen kämen hierher. Die fürchten uns nicht als Konkurrenten.“

Theodor Adalbert Sonntag hat seine Erfahrungen mit den Russen. Gute Erfahrungen. Zweiunddreißig, als die große Krise gerade im Schwer- und Werkzeugmaschinenbau fast alle Unternehmer zur Strecke brachte, waren es Aufträge aus der Sowjetunion, die M & S vollbeschäftigt hatten. Der Betrieb, Chef und Arbeiter, hatten großen Wert darauf gelegt, diesen Kunden zufriedenstellend zu bedienen. Es war eine für beide Seiten nützliche Verbindung entstanden, die fast zehn Jahre gewährt hatte bis zu dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion. Sonntag hatte das Problem nach seinen persönlichen Erfahrungen beurteilt. Für ihn war die Sowjetunion nicht der „Weltfeind Nr. I“ oder das „bolschewistische Ungeheuer“ gewesen, sondern ein guter Kunde mit einem nie zu befriedigenden Bedarf an guten Fräsmaschinen. Deshalb hat Adalbert Sonntag seinem alten Betriebsratsvorsitzenden Bertold Liebetraut ohne jegliche Einschränkung sagen können, es wäre viel besser, die Russen kämen hierher.

Nun sind sie da, und Schulze will sehen, wie der Chef die Erfüllung seines Wunsches aufnimmt.

In der leeren Montagehalle trifft er die paar Mann, die hoffen, bald wieder zur Belegschaft von Meier & Sonntag zählen zu können, nachdem sie lange genug, zu lange, die „Gefolgschaft“ gewesen waren. Sie sitzen mit dem alten Sonntag zusammen, der froh ist, nicht mehr großmächtiger Betriebsführer, sondern wieder kleiner Chef zu sein. Zurzeit ist er das zwar noch nicht, denn der Betrieb ruht; die Leute kommen nur aus alter Anhänglichkeit und wohl auch in der Sorge, sie könnten den Anschluss verpassen, wenn es wieder losgeht. Das führt sie nahezu jeden Tag zwei, drei Stunden hierher, und Sonntag ist klug genug gewesen, ihnen das Werktor zu öffnen. Es rührt ihn, zu sehen, wie sie ihre alten Arbeitsplätze immer wieder aufräumen, obwohl es da nichts aufzuräumen gibt. Er sitzt mit ihnen zusammen, und sie beraten, wie der verhältnismäßig leichte Bombenschaden zu beheben ist, der die mechanische Werkstatt noch kurz vor Kriegsende betroffen hat. Sonntag weiß, die Männer würden sofort anfangen, wenn er nur wollte. Bisher hat er sich jedoch geweigert. Er sagt: „Das ist ordentliche Arbeit, die verlangt ordentlichen Lohn, und den habe ich nicht.“ Liebetraut hat ihm das nicht ausreden können. Natürlich weiß der ehemalige Betriebsratsvorsitzende, dass der Chef kein Geld hat. Woher auch? Die Banken sind geschlossen. Aber es kommt gar nicht auf Geld an. Zumindest nicht auf das, das einer hier verdienen könnte. Fünfzig Mark in der Woche. Die Geschäfte sind fast alle geschlossen. Wenn hier und da eins die Tür offenhält, dann nur um zu zeigen, dass man auch noch da ist. Gehandelt wird auf dem schwarzen Markt, und da braucht einer schon zwei Wochenlöhne für ein Brot.

Liebetraut hat den alten Sonntag also zu überzeugen versucht, dass ein Arbeiter mit fünfzig Mark sowieso nicht bezahlt sei. Der Unterschied zwischen einer Woche freiwilliger unbezahlter Arbeit und einer Woche in einem ordentlichen Lohnverhältnis bestünde in anderthalb Pfund trockenem Brot.

Sonntag war hartnäckig geblieben. Er wollte nichts geschenkt haben. Liebetraut und Schulze vermuteten hinter dieser noblen Geste die Frage: Wozu? Warum soll man M & S wieder aufbauen, wenn die Werkzeugmaschinen der Zukunft ohnehin über den großen Teich kommen?

Schulze und Liebetraut treffen fast gleichzeitig bei M & S ein. „Erhebend war es gerade nicht“, sagt Bertold Liebetraut. „Wir haben lange genug darauf gewartet, und dass er überhaupt eingetreten ist, ist erhebend genug. Da bedarf es keiner Theatervorstellung“, entgegnet Schulze.

Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende betrachtet seinen wesentlich jüngeren Kollegen missbilligend. Der alte Gewerkschafter und Sozialdemokrat lässt sich nicht gern belehren. Die Schulmeisterei war schon von einem Willy Schnabel schwer zu ertragen gewesen. Nach Schnabels Tod war das Rechthaben, das Besserwissen auf Horst Schulze übergegangen.

Dabei scheint es zu bleiben. Natürlich das Wichtigste am heutigen Tag war der Einmarsch der Roten Armee, die flaue Stimmung der Bevölkerung war unwesentlich. Die Leute, die heute einen Flunsch zogen, hatten im Herbst neununddreißig, als die „Elfer“ aus Polen heimkehrten, das Maul vor Begeisterung bis zu den Ohren aufgerissen. Auch das war, so faszinierend es ausgesehen hatte, unwesentlich gewesen.

Die beiden Männer treffen in der Montagehalle den Chef, Obermeister Kirsten, den Dreher Franke, den Kistenmacher Martin Langer, den Spritzer Karl Bornschein und Selma. Selma Lauterbach ist im Grunde die einzige, die hier etwas zu tun hätte, Kehren und Wischen hören nie auf, einige Male schon hat sie die Hallen, die Meisterbude und die Büroräume gesäubert. Der Chef hatte energischen Einspruch erhoben. „Soll’n wir im Dreck verkommen?“, hatte sie polternd gefragt und den alten Sonntag mit dem Schrubber vor sich her gejagt, die Büros aufzuschließen.

Horst Schulze und Bertold Liebetraut begrüßen die Anwesenden. Keiner fragt sie, was auf der Straße los ist, alle scheinen gut Bescheid zu wissen.

„Am Montag sollten wir anfangen zu arbeiten“, sagt Schulze zu Sonntag. Der Unternehmer runzelt die Augenbrauen: „Mit so einer Aufforderung habe ich gerechnet, nur müssen Sie mir noch erklären, was wir arbeiten sollen, womit, mit welchem Ziel?“

„Hauptsache anfangen! Alles andere ergibt sich. Es ist schon genug zu tun, um die Arbeitsbereitschaft wiederherzustellen.“

Sonntag reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. „Und das?“

„Darüber haben wir bereits gesprochen“, mischt sich Liebetraut ein. Das klingt recht bestimmt und bestätigt, was Sonntag schon weiß. Leute wie Schulze und Liebetraut werden ab heute in diesem Betrieb etwas zu sagen haben. Der Chef ist sich nicht sicher, ob das günstig sein wird oder nicht. Fürs Erste scheint es Vorteile zu bieten, denn etwas zu sagen haben heißt auch Verantwortung tragen. Diese Verantwortung wird die ersten Monate, vielleicht Jahre mehr drücken als glücklich machen. Nein, Theodor Adalbert Sonntag wird sich jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen, wie viel Leute wie Liebetraut und Schulze zu sagen haben werden. Sollen sie ihr Paket mittragen, er ist ohnehin alt und allein, nachdem der Schwiegersohn sich den Herren angeschlossen hat, die mit den Amerikanern westwärts gezogen sind, teils freiwillig, teils unter Druck.

„Bitte, probieren wir es“, gibt Sonntag nach. „Zumindest sollten wir die Belegschaft einmal herbitten, um mit ihr darüber zu reden.“

„Ein paar Skizzen für die Reparatur der Halle habe ich schon fertig“, sagt Horst Schulze, und Sonntag denkt, nun doch mit einem leisen Unbehagen: Die machen Nägel mit Köpfen.

„Sehr ordentliche“, wirft Obermeister Kirsten dazwischen. So, so, ordentliche Skizzen, das weiß der Obermeister schon. Kirsten geht also mit denen, mit Schulze und Liebetraut, mit der ganzen Gruppe, die nun schon länger als zwölf Jahre in seinem Betrieb den Ton angibt.

Der alte Sonntag kann sich darüber nicht ärgern, denn schlecht ist das dem Betrieb nie bekommen. Aber dass Kirsten so offen gemeinsame Sache mit Schulze macht, ist unerfreulich. Ein Obermeister hat mit seinem Chef zu gehen. Schwamm drüber. Es gibt anderen Kummer genug. Was bleibt denn von der Familie Sonntag, nachdem Hennig mit der Frau und dem Bübchen Harald das Weite gesucht haben? Ein alter Mann, ein halbzerstörter Betrieb und eine seltsame Kernbelegschaft, die das Unternehmen auf eine Art und Weise als das ihre ansieht, die sich nicht wesentlich von der seines juristischen Eigentümers unterscheidet. Für den Juniorchef Hennig wächst hier kein Kraut mehr; Liebetraut und Schulze wären imstande, ihn hinauszuwerfen. Die Unternehmerfamilie Sonntag wird kein viertes, kein fünftes Glied haben, wenn es nach diesen Leuten geht. Ob es nach ihnen geht, das steht in den Sternen. Heute sieht es so aus, der Sowjetstern beherrscht das Bild.

„Wenn Sie die Benachrichtigungen schreiben lassen, austragen wollen wir sie schon“, sagt Liebetraut. Der Chef nickt, er wird die zweihundert Zettel schreiben lassen, mehr Leute sind es nicht mehr.

„Sehen wir uns noch einmal?“, fragt er den früheren, und wie es aussieht, auch den künftigen Betriebsratsvorsitzenden.

„Wozu?“

Die Gegenfrage bringt Sonntag ein wenig in Verlegenheit. „Ich dachte … Vielleicht gäbe es einiges zu besprechen, ehe wir vor die Belegschaft treten.“

Um eine Nuance schärfer als nötig antwortet Liebetraut: „Was es zu reden gibt, kann jeder hören“, worauf der alte Mann leicht hilflos antwortet: „Wie Sie meinen …“ Dann verlässt er die Halle.

Als der Chef außer Hörweite ist, sagt Obermeister Kirsten: „Das hätt’n Sie ein bisschen netter sagen können, Liebetraut.“ Liebetraut macht eine Geste des Unwillens: „Was heißt hier netter? Ich sage rund heraus, was ist. Daran wird er sich gewöhnen müssen.“

„Trotzdem, so einen Chef muss man suchen“, sagt Kirsten.

„So eine Belegschaft auch“, erwidert Liebetraut.

Kirsten schweigt, er weiß, wie recht Liebetraut hat. Eine zweite Belegschaft dieser Art wird man suchen müssen.

Sie trennen sich, Liebetraut verlässt mit Schulze die Halle. Der Konstrukteur ist nicht von Kirstens Schlag, er weicht einem Streit so leicht nicht aus. „Wenn wir die Belegschaft versammeln wollen, müssen wir ein konkretes Programm haben, und das ist ohne den alten Sonntag nicht aufzustellen“, sagt er.

Liebetraut widerspricht. Die Arbeiter brauchen keine Unternehmer mehr, jetzt, wo der Sozialismus auf der Tagesordnung steht. Als Schulze einwirft: „Tut er das?“, bleibt Liebetraut stehen, packt den jungen Mann am Arm und sagt erregt: „Was denn sonst? Jetzt, wo die Russen da sind.“

„Mit den Leuten, die wir heute am Straßenrand stehen sahen?“ fragt Schulze, eine Frage, die Liebetraut nachdenken lässt. Aus der Zeit vor 1933 weiß er, mit wem man etwas machen kann. Mit den „Organisierten“. Für einen richtigen Sozialdemokraten fing der Mensch beim Organisierten an, den Unorganisierten verachtete er. Die am Straßenrand gestanden haben, waren alles Unorganisierte. Natürlich weiß Liebetraut, dass sie gar nicht organisiert sein konnten, waren doch alle Organisationen zwölf Jahre zerschlagen gewesen. Aber „organisiert“, das ist für Bertold Liebetraut nicht nur ein Zustand, das ist eine Haltung, und denen, die da standen, ging diese Haltung völlig ab. Das hatte er an „seinem“ Straßenrand auch beobachtet. „Also muss es eben mit der Roten Armee gehen“, sagt er. „Die wird es schon machen.“ Schulze schüttelt den Kopf. Wie es gehen wird, weiß er nicht, aber so, wie Liebetraut es sich vorstellt, wird es nicht gehen.

Sie verabschieden sich, weil keiner weiß, was er dem anderen noch sagen könnte.

5

Theodor Adalbert Sonntag war nicht unterwegs gewesen, um den Einmarsch der Roten Armee zu beobachten. Der Senior des Hauses M & S hat sich sein Leben lang von der Straße ferngehalten. Ja, wenn ein Telegramm gekommen wäre: Eintreffe mit ersten Truppen Stop Balatnikow. Aber es gab noch nicht einmal Telegramme, geschweige denn eine Chance, den sympathischen Abnahmeingenieur unter den Einmarschierenden begrüßen zu können.

Dafür darf Sonntag, nachdem er aus der Halle zurückgekommen ist, einen anderen Besucher begrüßen.

Dr. Reichelt ist ihm kein Fremder. Im Verband der Metallindustriellen haben sie sich hin und wieder getroffen. Keine nähere Bekanntschaft, dazu war Sonntag ein zu kleiner Fisch. Reichelt hatte nicht nur eine zehnmal größere Belegschaft kommandiert, sondern auch doppelt und dreifach lohnende Geschäfte gemacht. Als größte Grau- und Stahlgießerei der Stadt hing er sich wie eine Klette an Hitlers Rüstungsprogramm. Mit billigen Krediten investierte er ein Vermögen in hochmoderne Fließbänder, die zu Hunderttausenden Stahlgussplatten für Panzerketten produzierten. So waren Beier & Reichelt ein führender Rüstungsbetrieb und der Doktor Reichelt Wehrwirtschaftsführer geworden. Seit diesem Aufstieg hatten sich die Beziehungen Sonntags zu Reichelt völlig abgekühlt. Umso verwunderter ist er über den Besuch.

Dr. Reichelt will „nur eben mal vorbeisehen“. Fast ein Zufall, so hört es sich an. Weil schönes Wetter ist und ein solcher Tag natürlich auch zum Nachdenken anregt. Wie ließe es sich besser nachdenken als bei einer Plauderei mit guten alten Bekannten.

Sonntag weiß nicht viel zu sagen, doch der Besucher bestreitet die Unterhaltung anscheinend auch gern allein. Er begründet lang und breit, warum es so hatte kommen müssen. Eine militärische Führung, die sich dauernd von den Politikern hineinreden lassen muss, kann selbst die beste Truppe nicht zum Sieg führen. Bei dem Wort „beste Truppe“ verzieht Sonntag das Gesicht. Reichelt fragt ihn, ob er denn heute nicht draußen zugeschaut habe. Gegen die, die heute einmarschiert seien, wäre der Volkssturm noch eine stramme Truppe gewesen.

Sonntag winkt ab, die Sache interessiert ihn wenig.

Reichelt lässt die Unterhaltung nicht einschlafen. „Politik“, sagt er, „ist nun einmal das deutsche Schicksal“, und von Politik habe er immer einiges verstanden, weshalb er auch nie der Nazipartei beigetreten sei.

Hier horcht der alte Sonntag erstaunt auf. Der Wehrwirtschaftsführer Reichelt soll kein Pg gewesen sein? Reichelt spürt den Zweifel und beteuert noch einmal: „Niemals! Darin“, sagt er, „liegt jetzt auch unsere Chance.“ Sonntag vernimmt sehr deutlich, dass der Mann „unsere Chance“ gesagt hat. Ach so – anlehnen will sich der mächtige Reichelt. Anlehnen an ihn, den unbescholtenen, guten alten Sonntag, wo Meier & Sonntag und sein Chef heute selber nach einem Strohhalm suchen.

„Oh, den Pgs wird es schlecht gehen, wohl dem, der eine saubere Weste hat“, seufzt Reichelt. Von der weißen Weste des Wehrwirtschaftsführers ist Sonntag zwar nicht überzeugt, aber die Höflichkeit verbietet, Zweifel anzumelden. Also sprechen die Herren von Geschäften. Nicht von den vergangenen, das wäre Herrn Reichelt möglicherweise peinlich gewesen. Nicht von heutigen, denn die gibt es nicht. Sie sprechen von der Zukunft. Hier verspüren sie beide Gemeinsamkeiten. Irgendwann und irgendwie muss es wieder aufwärts gehen, und solide, leistungsstarke Betriebe, große wie Beier & Reichelt, kleinere wie Meier & Sonntag, werden gebraucht werden. Der Doktor lobt lauthals die Russengeschäfte, die der verehrte Herr Kollege seinerzeit getätigt hat. Das sei doch beinahe ein Akt staatsmännischer Klugheit gewesen. Aha, daher weht der Wind, denkt der alte Sonntag, aber er verwirft den Gedanken schnell wieder. Selbst wenn Reichelt damit rechnete, dass Meier & Sonntag schnell wieder anlaufe, würde der benötigte Stahlguss für die mächtige Produktion von Beier & Reichelt gar nicht ins Gewicht fallen. Sonntag packt die Gelegenheit beim Schopfe und fragt, ob sein Unternehmen wieder mit Stahlguss rechnen könne. Reichelt erklärt eine Nuance zu emphatisch: „Aber natürlich, mein Lieber. Bei unseren guten alten Beziehungen. In bester Qualität. Wie eh und je. Genauso, wie ich hoffe, auf Sie, sehr verehrter Herr Kollege, rechnen zu können.“

Sonntag zuckt die Schultern. „Ich wüsste nicht …?“ Reichelt erklärt seine Vorstellungen. Es wäre denkbar, dass die Russen in absehbarer Zeit ein paar Industrielle der Stadt zusammenholen, da sei Meier & Sonntag auf jeden Fall von der Partie. Vielleicht könnte der Herr Sonntag so liebenswürdig sein und das Unternehmen Beier & Reichelt beiläufig mit erwähnen.

„Die Amerikaner“, sagt der alte Sonntag, „haben uns auch nicht zusammengeholt. Denen mussten wir uns erst nachdrücklich in Erinnerung bringen, ergebnislos, wie Sie wissen.“ Reichelt meint, die Amerikaner wären eingebildete Fatzken, aber von den Russen, das wisse der Herr Kollege selbst aus bester Erfahrung, seien umgänglichere Formen zu erwarten. „Und die brauchen uns ja auch, wie das da drüben aussieht.“

„Meine Leute“, entgegnet Sonntag, „haben da andere Vorstellungen. Sie meinen, uns Unternehmer braucht keiner mehr.“

Reichelt lächelt verkrampft. Auch er habe so einen Schreihals in seinem Betrieb, einen gewissen Obst. „Aber die Leute“, sagt er, „können eben doch nicht mehr als schreien, Forderungen anmelden und Propaganda treiben. Sie sollten sich einmal auf unsere Stühle setzen, da würde ihnen bald die Lust vergehen.“

Sonntag denkt an einen Mann wie Schulze, der sieht nicht so aus, als hätte er vor Verantwortung Angst, aber er schweigt. Warum soll er dem Herrn Reichelt seine Illusionen nehmen? Wahrscheinlich hat der auch keinen Schulze in seinem Betrieb.

Doktor Reichelt verabschiedet sich. Er scheint vom Ergebnis seines Besuches befriedigt zu sein, und auch der alte Sonntag hat das Gefühl, dass dieser eigenartige Tag schließlich doch noch zu etwas Erfreulichem geführt habe. Wenn ein Mann wie Dr. Robert Reichelt unter den neuen Bedingungen noch eine Chance für sich sieht, kann die Lage für Meier & Sonntag nicht ganz aussichtslos sein. Schließlich hat dieser Betrieb nur in sehr beschränktem und im Grunde immer abnehmendem Maße für Hitlers Kriegsrüstung gearbeitet, von den hervorragenden Leistungen für AWTOSAWOD Gorki ganz abgesehen. Müsste das heute nicht honoriert werden? Sonntag weiß es nicht. Er denkt an den radikalen Herrn Liebetraut, aber mehr an Schulze. Schulze ist Kommunist, und nur von den Kommunisten könnte Gefahr drohen. Vor allem, seitdem die Russen da sind. Verwunderlich war nur, wie sachlich sich Schulze heute Mittag gegeben hatte. Man hätte meinen können, Liebetraut sei der Kommunist und Schulze der Sozialdemokrat. Nur war dieser Schulze dank Bildung und Herkunft anders als die meisten Kommunisten. Aber Sonntag hatte noch mehr solche wie ihn kennengelernt. Diesen Schnabel damals, den die Nazis umgebracht hatten. So stabil der sich auch immer gegeben hatte, sachlich, ruhig, man könnte beinahe sagen, zuvorkommend war er immer gewesen. Sie sind ein schwer durchschaubares Völkchen, diese Kommunisten. Radikal bis zur äußersten Konsequenz, aber die radikalsten waren am wenigsten Schreihälse gewesen. So jedenfalls lauteten Sonntags Erfahrungen, und die waren immerhin zwanzig Jahre alt.

Es hat schon seinen Grund, dass der Unternehmer Theodor Adalbert Sonntag in diesen Tagen des Drehers Willy Schnabel gedenkt, der bis zu seinem Tode im Sommer 1942 die Seele des Widerstandes in seinem Betrieb gewesen war. Der Mann hatte gewusst, was kommen wird, und felsenfest daran geglaubt und das durch Zeiten hindurch, in denen nichts diesen Glauben zu rechtfertigen schien. Jetzt lagen die Nazis am Boden, der Tote war Sieger geblieben. Was einer allein vermag, hatte er dazu beigetragen, nicht zuletzt dadurch, dass die, die er erzogen hatte, in seinem Sinne weitermachten.

Weitermachen war Willy Schnabels Lieblingswort gewesen. Weitermachen, als die Faschisten im Jahre 1933 ihren blutigen Terror entfesselten. Weitermachen, als die Parteizelle Meier & Sonntag all die Jahre die gesamte Belegschaft mobilisierte, um viel und erstklassige Maschinen für AWTOSAWOD Gorki zu bauen. Weitermachen, als Hitler die Sowjetunion überfallen hatte und die Fräsmaschinen von Meier & Sonntag nun in Görings Lieblingsbetrieb Messerschmidt wanderten. Die Art, wie weitergemacht, wie der Kampf gegen die Nazis weitergeführt wurde, änderte sich, aber keine Schwierigkeiten und keine Gefahr konnten einen Willy Schnabel hindern, ihn zu führen. So war „Weitermachen“ nur die denkbar kürzeste Formel gewesen für alles das, was der Mann an politischem Weitblick, an Überzeugungskraft und an persönlichem Mut hatte ausdrücken wollen.

6

Das Weitermachen ohne Willy Schnabel war leicht und schwer zugleich gewesen. Leicht, weil die Kraft dieses Mannes ausreichte, seinen Leib zu überdauern. Schwer, weil jeder wusste, wie sehr er dennoch fehlte und immer fehlen würde. Seit jenem Sommer 1942 hatte es keinen Tag gegeben, an dem der Tote nicht vermisst worden war. Die Wasser der Zeit konnten sein Bild nicht auswaschen.

Nun ist der Tag gekommen, an dem weit über den alten Sonntag hinaus alle Erinnerungen an Willy Schnabel stärker wach werden als je zuvor. Die Partei ruft ihre Mitglieder nach zwölf Jahren finsterster Illegalität zum ersten öffentlichen Appell.

Auf diesen Aappell haben sie sich an Nitzsches Krankenbett vorbereitet. Schon um Fritz dafür zu entschädigen, dass er nicht teilnehmen kann. Sie sind alle gekommen: Horst Schulze, Martin Langer, Karl Stenzel, Männe Runge, Selma Lauterbach, Mariechen Müller, Else Schnabel. Mariechen und Else gehören an sich nicht zur Zelle, doch sie haben mit ihr die ganze Illegalität verbracht. Bald werden sie irgendwo arbeiten und einer anderen Parteieinheit angehören. Jetzt zählen sie noch zu M & S, zu der Parteizelle, die zwölf Jahre hindurch ihren Zusammenhalt bewahrt und illegal gearbeitet hat.

Horst Schulze ist nicht ohne Herzklopfen zu Nitzsche gegangen. Der Gedanke, Lene zu treffen, erregt und bedrückt ihn zugleich. Sie sind sich sehr nahe gewesen, und dann ist alles, was sie verbunden hat, wie Sand durch die Finger geronnen. Nun betragen sie sich gegeneinander und vor den anderen, als ob es zwischen ihnen niemals mehr gegeben hätte als Lenes mutige Hilfe. Trotz aller Mühe gelingt es ihnen nicht, sich unbefangen und herzlich gegenüberzutreten. Das erregt Fritz und Ella Nitzsches Misstrauen. Für sie ist Horst undankbar. Die Möglichkeit, dass ihr Lenchen die Ursache für die Spannung sein könnte, schließen sie aus. Lenchen ist ein einfacher, geradliniger Mensch, ein richtiges Arbeiterkind, und Horst ist ein Intelligenzler, ein Spinner, der sich oft genug als Querkopf erwiesen hat. Aber Partei ist Partei, und Privatangelegenheiten sind Privatangelegenheiten. Beides ist streng zu trennen. Deshalb hat Fritz Nitzsche während der Parteiversammlung an seinem Bett mit keiner Silbe auf die Differenzen zwischen dem Polleiter der Zelle und der Nitzschefamilie angespielt. Er ist betont kühl zu Horst Schulze gewesen. Das ist nicht weiter aufgefallen, Fritz hat nie besondere Sympathien für Horst gezeigt.

Von Lene und dem Kind hat Horst nichts gesehen. Sie scheinen spazieren gewesen zu sein, er hat sie kommen und später auch den Jungen im Nebenzimmer schreien hören. Gern hätte er ihn einmal angeschaut und ist neidisch auf Else, Selma und Mariechen, die Mutter und Kind in ihrem Zimmer besuchen. Aus Mariechens Munde darf er sich anhören, was für ein schönes Kind an Lenes Brust liegt. Nun ja, das war auch kein Wunder. Der Bauernsohn und Oberfeldwebel Hellwig war ein schöner Mann. Horst hatte ihn in Zanzow aus seinem Heuversteck heraus mehrfach auf der Tenne stehen sehen. Verständlich, wenn sich Lene in ihn verknallt hatte.

Die Genossinnen und Genossen haben sich völlig unbefangen gezeigt. Ihnen lag spießerhafte Neugier nicht. Wo Fritz Nitzsches Tochter das Kind her hatte, war deren Sache, und es ging keinen etwas an, wenn sie sich darüber in ungewissen Worten ausließ.

Und was den Einzelnen nicht interessieren durfte, berührt die Zelle erst recht nicht. Ihre Zusammenkunft beschäftigt sich mit der Wiederaufnahme der Arbeit bei M & S und dem Fall Liebetraut. Zum ersten Tagesordnungspunkt gibt es nur eine Meinung: Anfangen. Dann beginnt der Streit, ob die Zelle Liebetraut auffordern sollte, am Parteiappell teilzunehmen. Wohl ist der ehemalige Betriebsratsvorsitzende vor 1933 ein unbelehrbarer Sozialdemokrat gewesen, aber zwölf Jahre Kampf gegen den Faschismus haben ihn mehr und mehr mit der Parteizelle in Übereinstimmung gebracht, spätestens seit dem Überfall auf die Sowjetunion gehört er ihr ohne Einschränkung an. Deswegen hat Horst Schulze sich dafür ausgesprochen, Liebetraut zum Appell mitzunehmen, um ihn in absehbarer Zeit für den Eintritt in die Partei zu gewinnen.

Er kann seinen Vorschlag nur schwer durchsetzen. Nitzsche tritt energisch dagegen auf. „Sozialdemokraten bleiben Sozialdemokraten; sobald sie ihre Suppe wieder im eigenen Feuer kochen können, schmeckt ihnen unsere nicht mehr. Du kennst die Brüder nicht, Horst.“ Dieses „Du kennst sie nicht“ kann Horst Schulze nicht widerlegen. Er ist erst im zweiten Jahr der Illegalität zur Partei gestoßen. Dennoch verficht er seine Meinung, dass Genossen wie Liebetraut zur kommunistischen Partei gehörten. „Unsere Partei hat Zehntausende Kämpfer verloren. Wie wollen wir sie ersetzen, wenn nicht mit Männern und Frauen, die sich im Kampf bewährt haben?“ Das war ein Argument, dem Else und Mariechen sofort, Martin Langer und Männe Runge nach einigem Zögern zustimmten. So war die Entscheidung gefallen. Gegen die Stimme Nitsches, bei Stimmenthaltung Karl Stenzels, wird beschlossen, Bertold Liebetraut aufzufordern, am Parteiappell teilzunehmen.

Horst ist über den Sieg nicht froh gewesen. Seine Meinung hat sich mit Hilfe der beiden Frauen durchgesetzt, die nicht bei M & S arbeiteten und der Betriebszelle in Kürze nicht mehr angehören würden. In all den Jahren hat er nicht die Autorität gewonnen, die Willy Schnabel besessen hat.

Der Streit um Bertold Liebetraut wird durch Liebetraut selbst endgültig entschieden. Er lehnt ohne Schwanken ab. „Meine Partei kommt auch wieder. Eben ein bisschen später. Die Arbeiterschaft braucht eine Sozialdemokratie. Ich möchte nicht, dass euch das Feld allein überlassen bleibt. Ihr springt mit den Leuten um, wie es euch passt.“

„1933 war es gerade die sozialdemokratische Führung, die sich über die Meinung der Massen bedenkenlos hinweggesetzt hat.“

„Stimmt! Die Wels und die Kaufhäuser waren zu weit oben, aber wir, die kleinen Funktionäre, wir waren bei den Massen. Bei euch war es gerade umgekehrt. Euer Thälmann, alle Achtung. Aber unten habt ihr über die Köpfe der Leute hinweggeredet und nie verstanden, euer Wissen an den Mann zu bringen. Und deswegen braucht die Arbeiterschaft eine Sozialdemokratie, die so gut wie ihr weiß, woher und wohin der Wind weht. Eine solche Partei will ich schaffen helfen. Wie wir mit den Arbeitern zurechtkommen, das haben wir im Blut.“

Horst hatte es aufgegeben. Fritz Nitzsche war nachträglich bestätigt worden, er hatte die Abstimmung verloren, aber in der Sache gesiegt.

Diese Gedanken gehen Horst Schulze durch den Kopf, als er mit Langer und Stenzel dem Kino zustrebt, in dem der Parteiappell stattfinden soll, dem einzigen unzerstörten großen Saal der Stadt. Noch auf der Straße treffen sie Else, Mariechen, Selma und Runge. Am Eingang drängen sich dicke Trauben von Menschen. Es ist ein einmaliger Augenblick in ihrem Leben. Sie haben alle in dieser Stadt gewohnt und doch ist ihnen, als seien sie nach langer Irrfahrt zurückgekehrt. Es ist eine Heimkehr zu einem Ort, der ihnen mehr war und immer mehr sein wird, als es je eine Stadt sein könnte. Es ist die Heimkehr zur Partei. Die Stadt hätte ausgelöscht werden können. Aber nichts und niemand konnte die Partei auslöschen. Sie war früher größer gewesen. Dennoch sieht man ihr in diesem Augenblick die Zerstörung nicht an, die furchtbaren Wunden, die das „Dritte Reich“ ihr geschlagen hat. Die Genossen fühlen diese Wunden, aber an diesem Tage, einem Tage gleich einer Auferstehung, streifen sie Härte und Trauer ab, und Freude leuchtet aus ihren zerfurchten Gesichtern. Die Freude über den Genossen, den man so lange nicht gesehen hat, oder was viel schlimmer gewesen war, an dem man stumm hatte vorbeigehen müssen, weil man nicht wissen konnte, ob er noch ein Genosse ist. Nun steht er hier, lebt, erweist sich als treu Gebliebener, als Mitglied der Familie, jener Familie, die viel enger, viel fester zusammengehört als jede andere Familie.

Horst steht ein wenig verlassen in diesem Glück des Wiedersehens. Als die Männer und Frauen, die sich hier die Hände schütteln und umarmen, in die finsterste Illegalität gingen, die je über eine politische Gruppierung hereingebrochen ist, hat er der kommunistischen Bewegung noch fern gestanden. Er sucht nach Ottomar, dem einzigen Mann, den er außerhalb der Zelle kennengelernt hat. Aber er kann ihn nirgends entdecken. So hat er hier niemanden zu begrüßen, und niemand umarmt ihn. Dennoch fühlt er sich nicht einsam. All die Jahre hat er gewusst, dass es diese Brüder und Schwestern gab, dass sie irgendwo neben ihm im Dunkel kämpften und dass sie von seinen und seiner Freunde Kampf wussten, ohne einen einzigen Namen, eine einzige Tatsache zu kennen. So sind sie alle alte Freunde; wenn einer einen grüßt, schließt er den Genossen Schulze in diesen Gruß ein.

Sie drängen sich durch die Türen und steigen die geschwungene Treppe hinab. Horst fühlt Elses Hand nach der seinen tasten. An ihrem totenblassen Gesicht sieht er, dass die Erinnerung sie zu überwältigen droht. In Horst steigt ein seltsames Gefühl auf. Else ist ihm immer als die starke, unbesiegbare Frau erschienen, eine Frau, an der man sich festhalten kann. Nun spürt er, dass Else Schnabel der Hilfe bedarf. Wie vielen wird es so gehen, denkt er und sieht sich im Gedränge um. Fast alle, die hier die Treppe hinabsteigen, sind in Elses Alter und älter, nur hier und da ein Mann, eine Frau vor der Mitte des Lebens. Auf diesen wenigen wird von Stund an eine Last liegen, die zehnmal größer ist als ihre Zahl. Wo sind junge Menschen, um die Reihen derer aufzufüllen, die hier noch einmal antreten, antreten müssen, obwohl ihre Zeit abzulaufen droht? Der Einäugige am Straßenrand fällt ihm ein. Ein Mann um die Achtundzwanzig, vielleicht jünger, eine solche Verwundung macht alt. Der schlaksige Luftwaffenhelfer, ein Bübchen noch und geistig unendlich weit entfernt. Das sind die Leute, die herangezogen werden müssen. Wer sonst ist denn noch da?

Aber jetzt geht es nicht um die, die noch am Straßenrand stehen, jetzt geht es um Else und jene, denen der unerhörte Zusammenstoß zwischen dieser ersten gemeinsamen freien Versammlung und den zwölf Jahren gehetzten Geducktseins die Kräfte übersteigt. Viele haben wie diese Frau den langen Marsch durch die Finsternis gemeinsam begonnen und müssen nun allein ans Licht treten, weil der Gefährte auf der Strecke geblieben ist. Gewöhnt, die Welt durch zwei Augenpaare zu sehen, muss ihnen das Licht für das eine erhaltene schmerzhaft hell erscheinen. Wie gut hört sich das an: Siehe, der teure Tote geht doch an deiner Seite mit. Ein erhabener Vers. Aber, der da „mitgeht“, ist eben ein Toter.

Sie betreten den von lautem Stimmgewirr erfüllten Saal und nehmen auf den Klappstühlen Platz. Selma, Mariechen und die Männer haben sich herangearbeitet, so dass sie ein Stück einer Stuhlreihe nebeneinander einnehmen können.

„Hier sind alles Freunde, und doch ist es gut, unter euch zu sitzen“, sagt Else zu Selma. Die alte Frau nickt. „Was hätten wir denn schon gehabt, wenn nicht uns.“ Das ist wahr, denkt Horst. All die Jahre, wo die Welt für uns eine Gefängniszelle war, war die Parteizelle unsere Welt.

Plötzlich erheben sich die Menschen von den Plätzen und klatschen lebhaft Beifall. Das Präsidium der Versammlung betritt die Bühne. Horst schaut nach vorn. Das also sind die Männer und Frauen, die an der Spitze des Kampfes gestanden haben. Es sind fremde Gesichter bis auf eines. Ottomar, Willys Freund aus der alten Stadtteilleitung Südost. Horst hat ihn im Winter 1941 kennengelernt und sich nach Willys Tod sooft es ging, bei ihm Rat geholt. Wenn sich Horst die Frage gestellt hat, was das ist, ein Bolschewik, dann hat er eine Antwort gewusst: Ottomar. Gut, dass der Weißhaarige da oben ist. Wenn die anderen ihm gleichen, dann ist keine Not trotz des körperlichen Siechtums, das sie alle zeichnet.

Es wird ruhig. Am Präsidiumstisch erhebt sich ein feingliedriger Mann. Seine Augen brennen aus tiefen Höhlen in den Saal hinab. Er sagt nur ein paar Worte. Die Erregung kratzt ihm die Stimme auf. „Genossinnen und Genossen – zu Beginn unseres ersten Parteiappells singen wir: Brüder zur Sonne zur Freiheit.“

An die zweitausend erheben sich geräuschvoll. Irgendwo beginnt einer zu singen. Alle fallen ein.

Sie haben dieses Lied in ihrem Leben viele Male gesungen. Nie aber so wie heute. Else ergreift wieder Horsts Hand, er selbst fasst nach Martin Langers Linker. Durch die Reihe hindurch finden sich alle Hände wie dahinströmende Wellen den Strand. Horst kennt das Lied nur vom Hörensagen. Als er sich in die Partei einreihte, war keine Zeit der Lieder. Es packt ihn sofort. Er hört, wie Else die Töne herausweint, sieht, wie Martin Langer die Muskeln im Gesicht zucken, fühlt die tiefe Erregung aller. Es ist kein mächtiger Gesang, der zur Saalkuppel dröhnt. Zu viele kämpfen mit ihren Tränen.



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