Korrektur eines Eides - Carl-Heinz Scharpegge - E-Book

Korrektur eines Eides E-Book

Carl-Heinz Scharpegge

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Beschreibung

Das Buch "Aber du warst doch nie Fallschirmspringer!" -"Ja, aber mein Vater war einer. Und die Entwicklungen in der DDR habe ich selbst erlebt, wurde sogar kurz vor ihr geboren." Die geschilderten Fakten sind also sehr lebensnah und authentisch - auch wenn sie so als persönliche Entwicklungen nicht stattgefunden haben. Hätten sie aber durchaus können. Darum auch dieser Roman, in dessen ersten Band nur die Fülle der Verrücktheiten bis 1967 paßt; es gibt also Band 2. Im ersten wie im zweiten kann die Romanfigur, mein stilisierter Vater, nicht losgelöst von sowjetischen Interessen und auch von diversen Diensten leben und arbeiten. Dafür ist er ein allzu begehrter Armeespezialist für Kommando-Einsätze u.ä. Deshalb auch sein Einsatz 1961 als Militärberater in Kuba: kurz, intensiv, aufschlußreich. Und dennoch kommt die größte Überraschung für Henri aus der Nachbar-Republik Polen: er wird auf sehr spannende Art an einen Spezialeinsatz aus seinem ersten Fallschirmjäger-Leben erinnert, der ihn 1944 in die ostpolnischen Randgebiete nahe der heutigen ukrainischen Stadt Lwow geführt hatte. Fortan sind für ihn Dienstliches und Privates zunehmend intensiver miteinander verflochten. Unerwartet findet Henri ausgerechnet im benachbarten "Bruderland" Polen einen Selenverwandten, der zu seinem engsten Verbündeten werden soll … Das Buch stellt den Anspruch sehr persönlicher Aufarbeitung einer sehr individuellen Vergangenheit. Durch die Fortsetzung in 4 weiteren Bänden dieses Romans erfolgt dies über 2 Generationen. Dabei werden ab Band 3 eigene Erlebnisse des Autors in der DDR und in Polen die authentischen Rahmen bilden.

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Der Autor

Beruf – Psychologe, Dolmetscher … und jetzt auch Schriftsteller.

Kannst du das denn überhaupt? – So viele Erinnerungen, Erfahrungen und Überlegungen wollen sortiert werden. Ja, kann ich. Meine Art der Lebensbilanz sieht eben so aus, daß ich sie gern aufschreibe. Gut, besser sollte ich wohl einstweilen von Zwischenbilanz sprechen. Jedenfalls denke ich beim Schreiben am besten nach. Außerdem ist das meine Art der Entspannung und Abstandsfindung von der täglichen Arbeit als Psychologe: Bücher lesen. Neuentdeckung: Bücher schreiben. Mit zunehmender Begeisterung auch mal keine Fachbücher über MPU und „Idioten-Tests“. Die tatsächliche Idiotie fand und findet doch in unserem Leben statt. Allem Anschein nach mit zunehmender Intensität. So etwas will aufgeschrieben werden …

Carl-Heinz Scharpegge

Korrektur eines Eides

irren ist menschlich

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

© 1. Auflage 2015

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Autor:            Carl-Heinz Scharpegge

Satz & Umschlag: Marei Scharpegge

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

978-3-7323-7713-8 (Paperback)

978-3-7323-7714-5 (Hardcover)

978-3-7323-7715-2 (e-Book)

 Weitere Themen vom Autor: 

Besser Lügen (ertragen) mit Psychologie (2013)

MPU-Selbsthilfe. Band 1: Punkte (2013)

MPU-Selbsthilfe. Band 2: Alkohol (2013)

Band 2 dieses Romans: Der Ausstieg – Totgesagte leben länger (2016)

MPU-Selbsthilfe. Neuauflage als Band 3: Alkohol und Drogen (2016)

MPU-Selbsthilfe. Labor-Wegweiser – geforderte Nachweise für Ihre MPU (2016)

Band 3 und 4 dieses Romans folgen- mit dem Autor als stilisierter Romanfigur (2016/ 2017)

Band 5 erlebe ich gerade – also bitte noch etwas Geduld …

Laß durch nichts in der Welt dich binden

als durch deine höchste innere Wahrheit.

(Emma Herwegh)

Prolog

Henri steht am Fenster und schaut auf den frisch gefallenen Schnee. Die Straße liegt noch in ihrem morgendlichen Frieden. Aber das wird auch in ein paar Stunden nicht viel anders sein. Dieses Städtchen in der Prignitz ist nicht gerade ein tobendes Ballungszentrum menschlicher Aktivitäten. Das aber gerade schätzt er so an diesem Ort. Hauptsache Frieden.

Er war heil aus dem Krieg zurückgekommen. Stand eines Abends müde lächelnd im Laden seines Schwiegervaters, dem vor Freude das Paar Schuhe aus den Händen glitt, das er gerade in sein kleines Schaufensterchen zurückstellen wollte. Er umarmte ihn still und Henri freute sich, den vertrauten Zigarrengeruch wieder einatmen zu können. Dann dröhnte seine tiefe Stimme treppauf: wenn der Meister rief, überhörte man das im Hause nur selten. Heute aber lag etwas sehr dringliches, unaufschiebbares in seiner Stimme. Fast wie vor den Bescherungen zu Weihnachten. Endsprechend reagierte die kleine Familie und war in Windeseile komplett im Schuhladen versammelt: Mutter Luise und vor allem ihre Tochter. Die umarmte ihren Liebsten und ließ ihn erst wieder nach Protest der anderen Anwesenden los, ob sie denn bitte auch zur Begrüßungszeremonie zugelassen würden. Henri hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie es sein würde, wenn er endlich endgültig aus dem Krieg zurückkehren würde. Außer diesem kleinen, liebevollen Detail: er würde sich wie immer lächelnd zu ihr herunterbeugen, damit sie ihre Umarmung und den Kuß genießen kann. Hätte er weitere Vorstellungen gehabt, sie wären wohl der jetzigen Realität sehr nahe gekommen. Er war hier von Anfang an herzlich willkommen gewesen; die flotte Fliegeruniform hatte damals den Mangel eines erlernten Berufs mehr als wettmachen können. Oberfeldwebel war er, wer war mehr!

Die wenigen, dieser Rückkehr folgenden Friedensjahre folgten allerdings einer entgegengesetzten Logik: wer war weniger, schien die Devise. Am besten war man 1945 erst aus dem Nichts aufgetaucht, ohne Vergangenheit, ohne eigene Historie. Das aber hatte Henri für sich nicht gelten lassen. Mit seiner Entscheidung, hier im Osten zu bleiben, schwamm er ohnehin gegen den allgemeinen und recht ausgeprägten westwärts gerichteten Strom. Ebenso stand er offen zu seinem letzten Dienstgrad: in keiner Armee der Welt hatte es bisher nur Soldaten und Gefreite gegeben. Eine andere Frage war sein früherer Stolz darauf, den Fallschirmjägern anzugehören. Der war nichts mehr für die hiesige Öffentlichkeit. Den bewahrte er in seinem tiefsten Inneren auf. Dort, wo noch die anderen nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Details schlummerten, von denen während seiner gesamten Zeit in Wehrmachtsuniform niemand außer seinen Dienstkameraden wußte. Nicht einmal seiner damals Freundin, dann Verlobten und Ehefrau hatte er sich anvertrauen mögen. Und jetzt als die Mutter seines frischgeborenen Sohnes sollte sie erst recht nicht belastet werden mit derlei Vergangenem.

Sie hatten sich geschworen, nie wieder in die Nähe eines Krieges geraten zu wollen. Dieser sehr persönliche gemeinsame Schwur war für ihn weit mehr gewesen als das weithin vernehmbare NIE WIEDER KRIEG! Für Henri war und ist das eine Art Eid, mit dem er sich von dem ehemals auf Adolf Hitler geleisteten Treueeid selbst erlöst hat, darin einbegriffen alle späteren Diensterweiterungen, bei deren Vollziehungen er nicht einmal mehr gefragt worden war. Inzwischen blieb ihm nicht viel mehr übrig, als sich auf die Zusicherung seiner übergeordneten Fallschirmspringer-Kameraden zu verlassen: es gibt keine Spur außer den üblichen Wehrmachtseinträgen! Vielleicht kommt ja noch Gelegenheit, sich diese im Krieg gegebene Zusicherung unter heutigen Friedensrealitäten bestätigen zu lassen …

Nachkriegsjahre

1.1.    Das Schlimmste scheint überstanden zu sein

Sie waren drei Geschwister und entsprechend selbstverständlich wuchs Henri mit dem Gefühl der Verantwortung für seinen jüngeren Bruder und die kleine Schwester auf. An eine Lehrausbildung war unter den bescheidenen, fast ärmlichen Verhältnissen nicht zu denken. Er mußte nach seinem Schulabschluß Geld verdienen, wenngleich er zu dieser schwierigen Zeit mit solchem Anliegen nahezu chancenlos blieb. Das naheliegende erwies sich als das wirkungsvollste: er verdingte sich bei einem Bauern in der Nähe. Zupacken konnte er und sein geradezu liebevolles Gespür für die Pferde war dem Bauern schnell aufgefallen. Nach der ersten Heuernte und allem, was sonst so auf einem Bauernhof anfällt, durfte der Junge bleiben und sogar zum Herbst vom Heustall in eine kleine Kammer im Nebengebäude umziehen. Dieses Bleiberecht war allerdings damit verbunden, daß ihm zusätzlich zu Kost und Logis nur eine bescheidene Zuzahlung angeboten werden konnte. Er willigte dennoch ein und brachte fortan alle Naturalien und fast alles Geld seinen dankbaren Eltern. Und Henri lernte in dieser wirtschaftlich holprigen Zeit die Nähe zur Nahrungsquelle, die ein Landwirtschaftsbetrieb mit sich brachte, zu schätzen und zu bewahren. Zumal er mit eigenen Augen feststellen konnte, daß auch die Bäuerin und der Bauer nicht auf breitem Fuße leben konnten. Als dann allerdings der Sohn des Hauses die Arbeit übernehmen konnte, war für Henri nicht mehr genug übrig und schweren Herzens blieb ihm nur der Abschied. – Ob die guten Leute wohl noch lebten? Der Sohn hatte einen angeborenen Gehfehler, könnte also vom Wehrdienst an den Fronten der Welt verschont geblieben sein. Die alten Leute könnten heute um die Fünfzig sein. Ob sie sich heute noch genauso über einen plötzlichen, meistens unangekündigten Besuch freuen würden wie damals? Er hatte zwar stets irgendwo mit angepackt bei dem, was Vater und Sohn zu zweit gerade nicht bewältigen konnten, aber er war ebenso selbstverständlich jedesmal mit einem Glas Schmalz oder Butter und ein paar Eiern verabschiedet worden. Henri erinnert sich noch an den Aufruhr, als der Bauer verärgert aus dem Hühnerstall zurückkam. In einer Hand hielt er als Ausbeute ein einziges sehr klein geratenes Ei, in der anderen eine Henne. Beide, Henne und Bauer, beschimpften sich herzzerreißend. Als die stets gutmütige Bäuerin Protest gegen die vorauszusehende Aktion einlegen wollte, konterte der Bauer ruhig, aber sehr bestimmt und überzeugend: Henri mußte gehen, weil nicht genügend Futter für uns alle da war. Die hier – die Henne gackerte ertappt, weil er sie wütend durchschüttelte vor ihrer Hinrichtung – frißt nur und legt kein einziges Ei. Woher er das wissen wolle bei so vielen Hühnern? Sonst wäre schließlich wenigstens ein größeres als dieses Mini-Ei dagewesen und bei den jüngeren bestehe immerhin Aussicht auf Besserung. Mit herzlicher Umarmung von der Bäuerin und einem geköpften Huhn unterm Arm zog Henri von seinem Besuch glücklich nach Hause. Das Ei sei zu klein, um auch noch auf dem Weg darauf achten zu wollen, hatte der Bauer mit einem verschmitzten Lächeln befunden. Das teilen wir drei uns morgen zum Frühstück … – Ja, beschloß Henri, bei den Bauersleuten würde er gern vorbeischauen. Wenn es nur nicht so weit wäre und wenn vor allem diese Reisepapiere nicht so kompliziert wären. Es war ja einiges durch den Krieg durcheinander gewirbelt worden, hörte man. Wer zum Beispiel in seine Heimat Stettin wolle, müsse jetzt nach Polen reisen. Das ließe man wohl besser bleiben. Auch die Polen im Osten kämen derzeit wohl kaum in ihre Heimat, weil dazwischen die russische Grenze gezogen worden war. Aber der Bauernhof in Westfalen lag nicht auf holländischer, sondern auf deutscher Seite der Grenze zu Holland. Und trotzdem waren Russen, Amerikaner, Engländer und die angeblichen französischen Sieger gerade dabei, mitten durch Deutschland eine handfeste Grenze zu ziehen Wann würden sie selbst, die Deutschen, wohl wieder nach ihrer Meinung hierzu gefragt werden?

Allerdings sollte das mit dem Paß und dieser für die SBZ notwendigen Aufenthaltsgenehmigung für ihn kein Problem sein. Immerhin hatte er nachweislich seine gesamte Familie in Westfalen, also in der englischen Besatzungszone. Und er selbst war jetzt hier mit Familie fest ansässig, arbeitete bei seinem Schwiegervater als Schuhmachergeselle. Da war ja wohl kaum etwas einzuwenden gegen eine Besuchsreise, um seinen Eltern und Geschwistern zu belegen: ich lebe, habe meine Familie und für alles ein Dach überm Kopf und Arbeit, von der ich – zumindest für den Moment – gut leben kann. Daran würde wohl auch die frisch gegründete DDR, in der sie jetzt lebten, kaum etwas ändern. Ja, sie sollten das mal in Ruhe bereden. Der kleine Karl war mit seinen fast 3 Jahren durchaus reisefähig und vorzeigbar. Henri spürte ein steigendes Verlangen, noch einmal in seine alte Heimat zu seinen Lieben zu reisen. Danach würde man ja sehen, wer wen wie dringlich wiedersehen wollen würde. Was das betraf, hatte er sehr zurückhaltende Vorahnungen. Wie man hörte, ging es den Leuten im Westen ja schon wieder besser. Oder sagen wir mal, es geht ihnen angeblich schon weniger schlecht als denen im Osten. Er hörte schon die spitzen Fragen und er würde sich nicht genieren, von seinen Schmuggelfahrten in der Anfangszeit zu erzählen und wie es teilweise geradezu um die nackte Existenz ging auf den Schwarzmärkten. Sollten mal nicht so tun, als wären im Westen schon alle Sorgen Vergangenheit! Jedenfalls würden sie sich viel zu erzählen haben und das allein war es schließlich wert, eine so lästige weite Reise auf sich zu nehmen.

Von seiner Frau hörte er am Abend, als sie sich über diese Idee unterhielten, ein völlig überraschendes Gegenargument: „Aber für so viele Personen können wir unmöglich Geschenke kaufen. Das verschlingt ja ein Vermögen. Und wieviele Kinder mögen deine Geschwister inzwischen haben? Und überhaupt – ich wüßte gar nicht, was wir kaufen sollten!“. Henri konnte sich wieder einmal ein Lachen nicht verkneifen. Vor kurzem noch hatte sie überhaupt nicht von ihm lassen mögen und immer wieder betont: Hauptsache, du bist wieder hier. Alles andere ist Nebensache. Natürlich hatte sie jedes Wort ernst gemeint und natürlich war ihre Freude bis heute ungebrochen. Aber in diesem Kleinstädtchen war kein einziges nennenswertes Kriegsgefecht ausgetragen worden, auf diese Idylle war keine einzige Bombe abgeworfen worden. Um so größer war ja auch das Aufschrecken gewesen, als ein endlos scheinender Marsch von Häftlingen in Streifenanzügen und von SS-Begleitern bewacht den Ort passierte. Hier hatte man zum Teil bis heute keine Vorstellungen davon, wieviel Wahnsinnsglück es tatsächlich bedeutete, einfach noch hier und unter den Lebenden zu sein. „Wir bringen uns selbst als Geschenk und unseren prächtigen Sohn. Den allerdings will ich unbedingt wieder mit zurücknehmen. Wir nehmen die Reise auf uns und geben allen die Gelegenheit, daß wir uns wiedersehen und in die Arme nehmen können. Wir werden wohl auch genug Geld mitnehmen können, um dort niemandem auf der Tasche zu liegen. Damit wird’s zwar schwieriger, aber ich werde deinen Vater um einen kleinen Vorschuß bitten. Wie ich ihn kenne, gibt auch der lieber den letzten Pfennig aus der Kasse, bevor er sich auch nur vorstellen würde, daß seine Kinder in der Fremde wegen jeder Tasse Kaffee ’nen Bückling machen müßten.“ Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber die Geschenke-Diskussion hatte auf diese Weise schneller ein Ende gefunden, als sie sich entfalten konnte. Bestehen blieb jedoch die Frage, mit welchem Geld, also in welcher Währung sie überhaupt würden reisen können. Seit über zwei Jahren gab es im Westen die DM und im Osten die daraufhin gestempelten Reichsmark und ähnliche Notlösungen. Immer öfter erwies es sich, daß die Sowjetunion mit ihren Ablehnungen in die eigene Isolierung geriet. Den Alliierten Kontrollrat von Berlin hatte sie, gewollt oder nicht gewollt, gegen die Wand gefahren mit ihrer Blockade. Aber sie wollten nun mal nicht aufgeben, was sie sich von Deutschland erbeutet hatten: der Osten blieb SBZ, auch wenn sie offiziell seit Oktober 1949 DDR hießen. Sie würden also eine Auslandsreise beantragen müssen, um in eine andere Region Deutschlands reisen zu dürfen. Hier stolpert der blanke Wahnsinn durch die Schützengräben, würde sein Fallschirmjäger-Kamerad Wilhelm dazu kommentieren. Ach ja, Wilhelm, der Westfale wie Henri. Der mit dem lockeren Mundwerk, das aber von einem bemerkenswert zielsicheren Urteilsvermögen gesteuert wurde. Den mußte er auf jeden Fall ausfindig machen und wenn’s nur wegen der aufmunternden großen Klappe wäre.

Die Befreiung von der Geschenke-Last schien auch seiner Frau sehr recht zu sein. So nahmen sie also die Reisevorbereitungen in Angriff und schickten vorsorglich einen Brief mit ihrer Besuchsankündigung ab. „Sollten wir nicht fragen, ob ihnen unser Besuch überhaupt angenehm ist?“, kehrte seine Frau wieder einmal die Taktvolle heraus. „Das fehlt mir noch in der Sammlung: Besuchserlaubnis für zu Hause habe ich den ganzen Krieg hindurch nicht erfragt und war immer gern gesehener Besucher. Überlasse mal ruhig mir die Führung vor Ort. Orientierung auf fremdem Territorium war schließlich mal mein Spezialgebiet“, erwiderte Henri schmunzelnd und schloß sie in seine Arme. „Aber mit dem Fallschirm müssen wir nicht einfliegen“, schmollte sie. Damit war auch dieses Thema abgehandelt.

1.2.    Entscheidung für den Osten und eine Reise in den Westen

Letzten Endes stellte sich dann mit den Reiseformalitäten wieder einmal heraus, daß so gut wie alles anders als gedacht sein sollte. Als ob es nicht schon so genug Gängeleien gäbe. Die Russen führten sich auf wie in ihrem großen Zarenreich – und was die nicht verhornballerten, erfüllten ihre deutschen Erfüllungsgehilfen mit unterwürfiger Haltung nach oben und arroganter Gefährlichkeit nach unten. Also wie immer: Klappe halten und etwas leiser denken. Jedenfalls sitzen sie jetzt erstmal im ersten Zug. Der Kleine ist erwartungsgemäß aufgeregt und beide Elternteile lenken ihre Gedanken dadurch ab, daß sie ihrem Sohn ihre volle Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Sehr zur Zufriedenheit des jungen Kerlchens. Er ist herausgeputzt wie zu einer Hochzeit. Sein Opa hatte nicht nur kräftig die Reisekasse aufgefüllt und Henris Bedenken mit den Worten abgetan: „Kommt nur gut hin und wieder zurück und verderbt Euch nicht die Reiselaune mit Gedanken an irgendwelche Rückzahlungen. Wie’s aussieht, wird unsereiner ja nicht gerade eingeladen, solches Reisevergnügen regelmäßig zu wiederholen. Also genießt es.“ Er hatte auch eine „zweckgebundene Spende“ für die Einkleidung der Reisenden, zur Verwendung ausdrücklich zu gleichen drei Teilen für jeden, wirksam werden lassen. Bei ihrer Abreise hatte er sich dann genüßlich eine Zigarre angezündet – seine Vorkriegsvorräte mußten schier unermeßlich sein – und sie mit den Worten verabschiedet: „So, der erste Eindruck wird schon erstmal gleichrangig ausfallen. Bessere Anzüge als diesen aus dem Westen können sie im Westen selbst ja wohl auch nicht haben.“ Und wie ich euch beide sonst so kenne, laßt ihr euch auch da drüben nicht die Wurst von der Stulle nehmen.“ Womit er recht haben dürfte, sinnierte Henri im Takt der Gleisstöße, als Mutter und Kind endlich eingeschlummert waren. Wie würde es werden, dieses Wiedersehen? Wie tiefgehend würden die Kriegsereignisse zur Sprache kommen? Immerhin hatten sie dort drüben ja offensichtlich deutlich weniger Berührungsängste mit diesem Thema. Er hatte während des Krieges gar nicht so regelmäßigen Kontakt mit allen. Seit er die Ausbildung am Wittstocker Fliegerhorst mitmachen durfte und dort in Herzensangelegenheiten hängengeblieben war, kam die eigene Familie recht kurz bei den Heimatbesuchen. „Darf ich Ihren Koffer tragen, junge Frau? Der scheint mir für Sie doch viel zu schwer zu sein.“, hörte er sich bei ihrer ersten Begegnung in der Innenstadt sagen und kannte sich selbst kaum wieder. Das war auch wirklich so etwas auf den ersten Blick! Und als sie sich dann auf den zweiten Blick wiedersahen, war’s erst recht geschehen. Seitdem blieb er viel interessierter an Reisen in die Prignitz als in das entfernte Westfalen. Außerdem war von ihrem Standort Brandenburg aus die Aussicht auf einen Kurzbesuch deutlich größer. Es mußte sie damals aber auch beide erwischt haben; denn nach erstem Zögern von Henris Seite war sie wohl ebenso oft in Brandenburg bei ihm wie er in der Prignitz bei ihr. Wie oft sie ihm um den Hals gefallen war und gar nicht wieder loslassen wollte, wenn er leibhaftig lebendig vor ihr gestanden hatte und wieder einmal dem Tod von der Schippe gesprungen war! Diese Formulierung hatte sie geprägt: „Schließlich springt ihr ja tatsächlich und du hast mir selbst erklärt, daß die ersten Momente nach dem Absprung wie ein Sprung in den Tod sind, wenn ihr hilflos und ungedeckt am Schirm hängt.“ Ja, es tat ihm gut, jemanden zu Hause zu wissen und er genoß es, ihr wenigstens ein paar Details mitzuteilen und zu erleben, wie sie alles noch einmal durchängstigte, seine Kleine. Daß sie „Die Brandenburger“ genannt wurden und eine Spezialtruppe waren, schien sie als selbstverständlich aufzunehmen und mit Stolz zu genießen. Sie mochte auch seine engeren Kameraden und trauerte um jeden mit ihm, der nicht zurückgekehrt war. Wilhelm, Richard, Franz und der lustige Otto, den alle nur Ottokar nannten, waren aber zuverlässig wie er selbst jedesmal zurückgekehrt. Wilhelm hatte ihm einmal gestanden, daß er sich jedesmal auf ihre anerkennenden Worte „Auf Euch ist doch wenigstens Verlaß!“ freue. Das sei mehr als irgendwelche herausgebrüllten Anerkennungen von Dienstvorgesetzten. Und Franz machte sich immer darüber lustig, daß Henri sich zu ihr herunterbeugte, damit sie ihn besser umarmen konnte. „Du holst dir ja vollsten Körperkontakt schon bei der Begrüßung. Gut, daß wir beim Rest dann nicht mehr dabeisein müssen. Da würde uns ja glatt der Reserveschirm platzen“, waren seine Lieblingsworte, selbst und wohl sogar mit Vorliebe in ihrer Gegenwart. Ja, Franz. Woher kam der eigentlich? Böhmen? Mähren? Jedenfalls irgendwo aus der Ecke, seinem leichten Akzent nach zu urteilen, der alles noch amüsanter klingen ließ aus seinem Munde.

„Wo sind wir, Papa?“, meldet sich sein Sohn. „Noch sehr weit zu fahren bis zum Ziel. Du hast viel Zeit, noch ein wenig weiterzuschlafen.“ Er hatte vor Aufregung am Abend kaum in den Schlaf finden können und es war auch für sie beide recht spät geworden. Trotzdem kamen auch sie erst endgültig zur Ruhe, nachdem sie intensiv miteinander geschlafen hatten. „Wer weiß, ob wir in den nächsten 10 Tagen so günstige Bedingungen vorfinden wie hier“, hatte sie ihm einladend zugeflüstert und eine solche Einladung konnte er ihr noch nie abschlagen … Als ob sie seine Gedanken hören kann, blinzelt sie ihm schmunzelnd zu und zieht ihren Sohn wieder in ihre Arme. Dort verschwindet sein Köpfchen fast in der Einbettung ihrer stattlichen Brüste, in der auch Henri schon immer gern ruhte.

Wie selbstverständlich es doch plötzlich gewesen ist, nicht mehr zu meinen Eltern auf Heimaturlaub zu fahren, hängt Henri weiter seinen Gedanken nach. Zumal er von seinen zukünftigen Schwiegereltern ohne jeden Vorbehalt herzlich aufgenommen wurde. Bei diesem Schuhmachermeister wurde kräftig zugepackt und durchaus auch über die Stunden gearbeitet, wenn Bedarf war. Und auch dann, wenn der Meister selbst wieder einmal seine Geschäfte in Berlin persönlich abwickelte. Irgendwelche terminlichen Waggonladungen entgegennehmen oder weiterleiten. Von wegen „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ … So intensiv und geradlinig, wie er seine Geschäfte betrieb, so geradlinig blieb er auch in seinem Alltag. Getrennte Mahlzeiten gab es in seinem Hause nicht. „Der Pole und der Russe arbeiten den ganzen Tag lang mit mir zusammen. Da bestehe ich auch darauf, daß sie mit mir gemeinsam essen“, hatte er dem Ortsvorsitzenden der NSDAP auf dessen diesbezügliche kritische Anmerkung erwidert und ihn dann mit den Worten hinauskomplimentiert: „Und jetzt entschuldige uns bitte, unsere Suppe wird kalt.“ Diese Worte hatte Henri von seiner Frau mehrfach zitiert bekommen; am meisten hatte sie sich jedesmal darüber amüsiert, daß es an dem Abend gar keine Suppe gab. Und er hat den schwarz-braunen Spuk, wie er ihn nannte, überlebt, während sich der Ortsvorsitzende zum Kriegsende das Leben nahm. Der hatte sich wohl zu viele persönliche Feinde gemacht während seiner kurzen Ortsherrschaft. Da blickte sein Schwiegervater doch weitsichtiger voraus und blieb sich selbst treu. Ja, Henri mochte ihn sehr, auch wenn er damals als junger Hitzkopf nicht in allem mit ihm einer Meinung war. Aber Fanatismus ohne Denken hatte er auch bei seinem Vater nie erlebt. Hoffentlich war sein alter Herr bei guter Gesundheit. Mit der war es schon vor dem Krieg nicht immer zum Besten bestellt …

Je mehr Henri darüber nachdenkt, was sie wohl erwartet, desto klarer wird ihm, daß er nicht nur Eltern und Geschwister wiedersehen will. Ich muß unbedingt diesen Wilhelm ausfindig machen. Seine und meine Schwester waren so dicke Freundinnen, daß sie anfangs schon gelästert hatten, doch einfach über Kreutz zu heiraten. Das hatte sich ja nun sehr glücklich zerschlagen. Vielleicht hatte Wilhelm ja auch sein Glück gefunden. Hoffentlich nicht am anderen Ende Deutschlands, womöglich zur Abwechslung in der amerikanischen Besatzungszone! Sein Schwesterchen würde ihn da sicherlich schnell auf den aktuellen Stand bringen und ihm weiterhelfen. Und zum Bauern aufs Land wollte er vorbeischauen, unbedingt. Henri war froh über die Entscheidung für diese Reise. Ob seine Frau sich wohl über die Hoffnungen klar war, die er damit bei seinen Verwandten und Bekannten weckte? Die gingen doch mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß sie gleich hierbleiben und nicht freiwillig in die Klauen der kommunistischen Russen zurückkehren wollen. Er spürt Anspannung mit jedem Kilometer, den sie ihrem Ziel näherkommen. Zum Glück ist es dann auf dem Bahnsteig wieder ihr Sohn, der seinen beiden Eltern über die eigenen Unsicherheiten hinweghilft: „Und wie hole ich den Kaugummi da raus?“, fragt er jetzt, bleibt breitbeinig vor dem Automaten stehen und sieht sich dann demonstrativ nach einem größeren Stein um. Henri ahnt den Gedanken und hat schnell das Kleingeld zur Hand. Die Aktion Kaugummi kann beginnen und beschäftigt den kleinen Mann vollkommen.

Endlich bei seinem Bruder angekommen, können sie zuerst dessen Familie begrüßen: eine nette Frau und zwei Söhne präsentiert er ihnen stolz. Dann stürmt seine inzwischen erwachsene Schwester herein: „Der Osten ist endlich angekommen.“ „Ja, und mit ihm dein Bruder mit Frau und Kind“, ergänzt Henri schlagfertig. „Ja, natürlich. Immer noch der alte“, tritt sie ihren Rückzug an und Henri bleibt ihr auch dafür die Antwort nicht schuldig: „Ja, und du inzwischen zwar auch etwas älter, aber immer noch der vorlaute Hitzkopf, der sich unbedingt vor beide Brüder drängeln muß. Aber drängele dich ruhig vor bis in meine Arme“, gibt er liebevoll zurück. Dann erfahren sie, daß sie zu ihren Eltern am Nachmittag mit dem Bus hinüberfahren würden. Die Schule, in der Vater einen Hausmeisterposten mit Kellerwohnung ergattert hat, liegt am anderen Ortsende.

Genau dort, in den dunklen Wohnräumen des Hochkellers passiert es dann. Mit Tränen in den Augen begrüßen sie seine Eltern und Vater stellt glücklich fest: „Endlich ist die Familie wieder komplett.“ Es entsteht eine kurze Pause, in die seine Frau mit ruhigen Worten reinplatzt: „Ja, 10 Tage lang könnt ihr euch alles erzählen, was Henri euch vorenthalten hat, weil er jeden Heimaturlaub bei mir verbracht hat.“ Ohne jeden Argwohn hat sie damit einen Satz gesprochen, der ganze programmatische Bände ausdrückt. Wie denn, sie wollten doch nicht tatsächlich nach 10 Tagen zurück in den Osten! „Nur gemach, gemach“, mahnt Henris Bruder an, der die Brisanz der Situation als erster erfaßt. „Sie sind ja gerade erst angekommen und haben noch nicht einmal einen ordentlichen Kaffee bekommen.“ Mit diesen Worten drückt er ihrer Mutter kommentarlos ein großes Päckchen Kaffee in die Hand, was diese dankend mit den Worten bedenkt: „Da müßt ihr dann aber auch jeden Tag zum Kaffee vorbeikommen. Daran trinken wir ja zwei Monate.“ Erwartungsgemäß meldet sich ihre Tochter vorwitzig: „Du sollst ja auch Kaffee und keinen dritten Aufguß kochen. Mutter denkt immer noch, morgen wird die Knappheit wieder über uns hereinbrechen wie ein Sommergewitter.“ Das aber hört die Familienmama nicht mehr, die inzwischen in die sehr klein geratene Küche geschlurft ist. Sollen doch alle jetzt über hierbleiben oder zurückfahren diskutieren, denkt sich Henri und verzieht sich zu seiner Mutter in eine Ecke der Küche. Dankbar nimmt sie seine Zuwendung entgegen und weist auf einen Hocker: „Setz dich und erzähle.“ So war es immer zu Hause gewesen, keine langen Vorreden und kein Drumherumgequatsche, wie sein Vater es nannte.

„Ihr wollt also wieder zurück in den Osten. Das müßt ihr ganz allein wissen. Was soll ich euch da schon reinreden oder ratschlagen“, mit diesen Worten hatte er zunächst jede weitere Diskussion auf später vertagt und gleichzeitig seine Position angezeigt. Sie wußten hier ja wirklich nur wenig und das noch aus der Zeitung. Seit Goebbels wußte er zumindest aber auch, daß man nicht alles glauben durfte. Gerade wenn es in der Zeitung immerzu wiederholt wurde. „Wie geht es deinem anderen Opa?“, fragt er zur Auflockerung seinen Enkelsohn aus dem Osten. „Der baut Schuhe und soo große Stiefel für die Soldaten“, kommt die Antwort prompt und löst fragende Blicke aus. Sie würden wohl doch nicht von der Politik wegkommen, auch wenn sie nur über den Alltag reden wollten. Es folgt eine kurze Erläuterung, daß die russischen Offiziere sehr interessiert an guten Stiefeln seien und dafür bestens zu zahlen bereit sind. Dann entwickelt sich ein Gespräch über versteckte Ledervorräte seines Schwiegervaters und Henri versäumt nicht, auch die anscheinend endlosen Bestände an Vorkriegszigarren zu loben. Seine Frau grinst vielsagend: na klar, sie kennt auch dieses Geheimnis ihres Vaters, der sie offensichtlich in nahezu jedes Detail seines Lebens einbezieht. Undenkbar, sie nicht wieder zu ihm zurückzubringen und auch sein Sohn würde sich endlos nach ihm verzehren hier in der Fremde …

Die nächsten Tage waren ausgefüllt mit angeregten Unterhaltungen über die Dinge des jeweiligen Alltags. Die Frauen zogen sich dabei gewöhnlich in ihre Bereiche zurück und die Brüder pafften genüßlich ihre „Amis“ und waren schnell wieder bei der Politik. Ob er denn von der Schusterei leben könne und wolle. Henri gab unumwunden zu, daß er erst einmal zugegriffen habe, als sein Schwiegervater ihm eine ordentliche Lehre angeboten hatte. Bisher zahle er ihm einen sehr großzügigen und mehr als fairen Lohn. Ob er damit sein Leben lang zufrieden sein werde, wer wisse das schon. Sein Bruder erwiderte nachdenklich: „Ja, wer weiß das schon. Irgendwie haben wir uns doch immer noch nicht abgewöhnt, von einem Tag auf den nächsten zu denken. Und gelernt hast du ja wirklich nichts mit Abschluß, bevor du zur Wehrmacht gegangen bist. Aber da“, er machte eine kurze Denkpause, als befürchte er, sein Bruder könne ihm nicht aufmerksam genug zuhören. „Aber da warst du doch offensichtlich ein sehr guter und gefragter Spezialist.“ Und dann erzählte er ihm von der sogenannten Ehrenerklärung des NATO-Chefs Eisenhower für die ehemaligen Soldaten der Wehrmacht. „Ihr wart doch Wehrmacht. Klar, die ganze Truppe des berühmten Generals Student. Das war doch ein beliebtes Wortspiel damals: mein Bruder ist bei der Studententruppe der Brandenburger. Erst wenn das Stichwort Fallschirmjäger fiel, waren die weniger Interessierten im Bilde. Nach Kreta allerdings brauchte ich nur zu erwähnen, daß du dabei warst und immer noch lebst und die Hochachtung kannte keine Grenzen mehr.“ Henri hörte sich das von der Ehrenerklärung mit großem Interesse an. Wenn er hierbleiben würde, könnte er tatsächlich erfreut darüber sein. Im Osten würde das jedoch eine wütende Hetztirade über den Westen und seine Fortsetzung nazistischer Traditionen auslösen. Nein, ihn betraf das wohl weniger im Sinne einer guten Nachricht.

1.3.    Abschied von Eltern und Geschwistern und ein sehr internes Kameradschaftstreffen

Dennoch steigerte diese Information sein Interesse an einem Wiedersehen mit Wilhelm. Hatte ihre alte, unzerbrüchliche Kameradschaft auch die jüngsten Ereignisse in Deutschland überdauert? Als sie sich nach Kriegsende getrennt hatten, gaben sie sich einen Schwur für die Ewigkeit gegenseitig auf den Weg, zueinander und füreinander einzustehen und nie gegeneinander anzutreten – selbst wenn der Himmel sich mit der Hölle verbünden würde. Henris Schwester arbeitete nach gemeinsamer Lehrausbildung jetzt sogar in der gleichen Bank wie Wilhelms Schwester. Glücksfälle muß es auch noch geben, wenn schon die halbe Welt mir das Leben schwermacht, stellte Henri erfreut fest. Wilhelm wohne immer noch nicht weit entfernt von hier und ja, er wolle ihn unbedingt wiedersehen. Was für eine Frage! Er ließ ausrichten, ihn am Freitag abzuholen und zu einem ungestörten Gespräch für den Rest des Tages zu entführen. „Was nicht etwa heißen soll, daß er sich von der liebreizenden Frau Gemahlin nicht wieder einmal ausdrücklich persönlich bestätigen lassen will, daß auf ihn wenigstens Verlaß ist“, soll ich Euch ausrichten. Die Augen seiner Schwester waren lauernd auf Henri gerichtet, als sie diese persönlichen Worte zitierte. Der prustete zeitgleich mit seiner liebreizenden Frau Gemahlin los. Die anschließende Erläuterung beider zu diesem Gruß wirkte auf Henris Schwester enttäuschend und ernüchternd zugleich; sie hatte wohl eine späte Aufklärung von irgendeiner wie auch immer gearteten Affäre oder so erhofft. „Schwesterlein, ich ahne deine schmutzigen Gedanken und kann dir nur sagen: aber nicht unter uns Fallschirmjägern.“ Seine Frau nickte zustimmend – da war nichts mehr hinzuzufügen.

Sie saßen noch beim Frühstück am Freitag, als Wilhelm überpünktlich an der Tür bimmelte. Nach herzlichen Umarmungen und der Bestätigung „Auf dich ist wirklich mehr als Verlaß!“ mußte er sich erst einmal setzen und für die nächste Stunde seine Zeitplanung ändern. „Du hast zugenommen, Wilhelm. Fehlt dir der Brandenburger Schliff? Solltest dich vielleicht wieder irgendwo bewerben, wo gesprungen und geschliffen wird. Kannst ja hinzufügen, daß du für den Ernstfall allerdings nicht zur Verfügung stehst …“, zog ihn Henris Frau auf. „Wir nehmen dann wohl den nächsten Bus“, gab der trocken zurück, vorsichtshalber ohne das Thema aufzugreifen. „Aber der nächste muß es dann sein; die fahren nämlich nur einmal in der Stunde.“ Die Kleine hat wohl schon den gleichen übersensiblen Instinkt für Unausgesprochenes wie Henri, ging es ihm beim Kaffee durch den Kopf. Als sie später nach der Busfahrt endlich unter sich waren, platzte es aus Wilhelm heraus: „Los, erzähle!“ Den Reisekram und Familienplausch hatten sie zum Glück vollständig beim Frühstück absolviert, so daß es jetzt ohne weitere Vorrede gleich zur Sache gehen konnte. „Was willst du machen? Wie sind deine Vorstellungen? Womit kann ich dir helfen?“ Henri hatte genau damit gerechnet und wäre bitter enttäuscht, wenn ihm Wilhelm nicht seine Hilfe angeboten hätte. „Haben sie dich schon angeheuert und bist du etwa sogar hier, um mich für die gute Sache anzuwerben“, fügte Wilhelm gutgelaunt hinzu. Verblüfft schaute ihn Henri einen Moment länger wortlos an: „Das würdest du mir wohl zutrauen?“, erkundigte er sich leicht angesäuert. „Natürlich nicht. Das sollte Ironie sein oder glaubst du etwa, ich würde die Sowjets für die Vertreter der guten Sache halten!“

Dennoch sträubte sich Henri im anschließenden sehr offenen Gespräch mit Händen und Füßen dagegen hierzubleiben. Dabei stand sein Hauptargument wie ein Friedensschwert im Raum. Und genau diesen Widersinn hielt ihm Wilhelm jetzt entgegen: „Wie ein edler Friedenskrieger diskutierst du wieder einmal. Aber ich weiß natürlich, was du meinst. Selbst im Olivenhain auf Kreta haben wir nichts dringlicher herbeigewünscht als den Erzengel Gabriel persönlich und mit einem furchtbaren Schwert bewaffnet, damit er endlich Frieden stiften sollte. Aber Engel wie Teufel haben weggeschaut und uns Überlebende nicht einmal weitere Zeit zum Nachdenken vor dem nächsten und dann dem übernächsten Einsatz gelassen. Und? Kannst du heute erkennen, ob sie jetzt genauer hinschauen? Da brütet doch schon wieder jede Seite ihren eigenen Machtzögling im eigenen Nest aus. Du glaubst, vom Osten aus den Frieden erhalten zu müssen. Meinst du wirklich, daß das möglich und überhaupt gewollt ist von den ganz Großen? Die sind doch in einer exklusiven Komfortsituation. Die Russen wie die Amis haben für die ersten Linien der Schützengräben ihre Deutschen gefunden. So wie wir damals als erste die Volks- und Beutedeutschen verheizt haben. Die waren auch verblödet und verunsichert genug zu glauben, daß sie Adolf ihr Deutschtum auf besonders nachhaltige Art beweisen müßten. Ich sage dir mal, wie ich das sehe. Kurz und knapp, wie bei einem letzten Befehl vorm Kommandoeinsatz: Wir haben so viel Scheiße gebaut, wir Deutschen, daß wir uns gar nicht vorstellen können, irgendwem zu widersprechen. Wir sind doch froh, wenn sie uns überhaupt weiter mitspielen lassen. Und das macht uns gefährlich blind und genauso gefährlich einsatzbereit. Die meisten von uns wollen wirklich nie wieder Krieg. Aber sie wollen auch weiterleben und zeigen, was sie draufhaben. Und genau da sehe ich den Haken: wenn wir noch etwas bestellen wollen in diesem Leben, dann bleibt für unsereinen nichts anderes übrig, als in diese Lawine einzuspringen. Die spielen doch schon wieder Krieg. Eisenhower ist das kaltblütigste Kriegsschweinchen. Sonst hätte er uns allen eine kalte Abfuhr erteilt und die Wehrmacht erst einmal in Quarantäne gesteckt. Aber nein, die stecken alle im selbstgebastelten Zugzwang. Dein Stalin genauso wie meine Amis und Co. Also sage ich dir, wie das gemeint ist: Ihr deutschen Jungens habt uns gezeigt, was ihr könnt und wir brauchen Euch. In meinen Augen kommt es nur darauf an, so schnell wie möglich aufzuspringen und in die Nähe der Lokomotive zu gelangen. Ob mit uns oder ohne: Amboß oder Hammer, das wird es auch jetzt letzten Endes für uns heißen. Darauf läuft es für einen wie dich und mich hinaus. Ich glaube, ich erkenne gerade, daß ich schon auf dem Bahnsteig stehe. Und du? Meinst du wirklich, daß du mit Schuhreparaturen ausgelastet und glücklich sein wirst?“. Dagegen konnte Henri nichts einwenden und er wollte es auch gar nicht, zumal er ja für sich weder im Westen, noch im Osten genauere Vorstellungen hatte. Dort in der beschaulichen Prignitz schien ihm das alles auszureichen für ihr kleines Glück.

Sie litten weder Hunger, noch lebten sie unter besonderer Bedrängnis. Es war fast ein wenig wie ein Leben unter den schützenden Fittichen seines Schwiegervaters. Ja, wurde ihm hier bei Wilhelm klar, es würde ihm auf Dauer zu wenig, zu beengt sein in der gemütlichen Schuhmacherwerkstatt. Selbst den Meister hatte es ja in der Vergangenheit hin und wieder hinausgetrieben in die weite Handelswelt. Selbst ihm ging es dem Erzählen nach nur wirklich gut durch einen Horizont, der weiter war als der, mit dem sich der prignitzer Durchschnitt damals begnügte. Weitblick und kluges Vorausdenken hatten ihm seine Ledervorräte und auch seinen Zigarrenbestand gesichert. Aber wenn das aufgebraucht sein wird, wie dann weiter? Sein unverwüstlicher Schwiegervater vertraute da ganz auf sein Anpassungsvermögen, wie man bei seinem Umgang mit den russischen Offizieren deutlich sehen konnte. Aber der war auch in seinem Element mit Schuhen, Leder und Zigarren. Henri jedoch mußte sich eingestehen, immer eine gewisse Distanz behalten zu haben, nie endgültig angekommen zu sein in der Schuhmacherei. Während er das gegenüber seinen Geschwistern und selbst seiner Frau nie zugegeben hatte, antwortete er jetzt nach einigem Schweigen auf die Frage von Wilhelm, der ihm ruhig zugeschaut hatte bei seinem Schweigen. Auch er wußte natürlich, daß sie an einer schicksalsschweren Kreuzung angekommen waren und nicht gerade über einen Sonntagsausflug berieten. „Du hast ja recht, lieber Wilhelm. So gern ich dir auch immer noch widerspreche, heute habe ich kein Argument. Zumindest keines, das nach vorn weisen würde. Schuhmacher will ich wohl tatsächlich nicht bleiben, weil das nicht mein Leisten ist. Jeder bestätigt mir aber auch, daß ich schließlich nichts anderes gelernt habe. Selbst mein Bruder mußte allerdings auch zugeben, daß wir als Fallschirmjäger kaum zu übertreffende Spezialisten waren. Was hast Du eigentlich vor dem Krieg gelernt?“, erteilte er Wilhelm wieder die Wortführung. „Nichts mit Abschluß. Dafür fast alles, um irgendwie zu überleben“, entgegnete der. „Bin ja sogar noch ein Jahr jünger als du.“

Dann kam er auf die Ehrenerklärung zurück und äußerte die Überzeugung, daß die für den Osten vermutlich sogar noch zu einer Verschärfung der Jagd auf Wehrmacht und SS führen wird. „Dabei war es für uns damals schon eine Beleidigung, mit diesen Eingebildeten ohne Militärausbildung gleichgesetzt zu werden. Als ob wir was dafür konnten, daß denen die Spezialisten ausgegangen sind, weil sie ständig blinden Todesmut mit Tapferkeit verwechselt haben. Die haben doch ab 1943 die Brandenburger zerrupft wie ein Festtagshühnchen. Endlich konnten sie, die allergrößte SS, sich die verhaßte Konkurrenz einverleiben. Hat uns etwa irgend jemand nach unserer Meinung gefragt?“, redete er sich jetzt in Rage. Henri hörte ihm schweigend zu. Die Ereignisse in der Hektik gegen Kriegsende waren ihm ja gleichermaßen bekannt wie Wilhelm. Schließlich hatten sie das alles Schulter an Schulter durchgestanden und zum Glück überlebt. Nein, Kriegsverbrechen im SS-Stile waren nie ihr Ding. Weder vor noch nach diesen Umstrukturierungen! „Wie man hört und sieht, haben doch etliche mit Durchblick überlebt“, setzte Wilhelm seinen Monolog fort, als hätte er Henris Gedanken auf dessen Stirn ablesen können.

„Ich habe mich umgehört und bin mir ziemlich sicher, daß hierzulande niemand auf den Gedanken kommen wird, den Kern der Division Brandenburg etwa als eine SS-Truppe zu bezeichnen. Obwohl selbst das bald niemanden hier mehr interessieren wird; zumindest nicht hinter den Kulissen. Hast du schon mal was von der Dienststelle Schwerin und vom Amt Blank gehört?“, erkundigte er sich jetzt. „Sagt mir überhaupt nichts“, entgegnete Henri. „Ist auch kein Wunder. Darüber steht ja selbst bei uns noch kein Wort in der Zeitung. Also hör zu und vergiß es gleich wieder: die Alliierten stehen offensichtlich sehenden Auges dabei und akzeptieren genüßlich, wie dieser ihr Teil Deutschlands nun doch nicht länger entmilitarisiert bleibt. Blank baut für die Bundesregierung eine Armee auf, noch inoffiziell und sicher erst einmal als Polizei und sonstige Ordnungskräfte. Wenn selbst ich davon schon Wind bekommen habe, wissen es auch schnell die Russen. Und was, meinst du, werden die tun? Ich denke, die haben von Anfang an genau gewußt, daß es sofort wieder um die Wurst geht. Hat wirklich noch keiner versucht, dich anzuwerben?“, wiederholte er jetzt ernsthaft seine Frage von vorhin. „Nein, bis jetzt war alles ruhig und gemütlich. Na ja, wenn man Schmuggel und Schwarzmarkt mit einbezieht, gelegentlich sogar ein wenig spannend. Aber absolut nichts in dieser Richtung. Ich habe allerdings auch keinerlei Kontakt zum ehemaligen Kernbestand. Die scheinen tatsächlich alle vorsichtshalber außerhalb des sowjetischen Einflußbereiches leben zu wollen“, entgegnete ihm Henri. Daraufhin setzte Wilhelm fort: „Man hört sogar, das allerdings hinter gleich drei vorgehaltenen Händen, die Amis hätten sich eiskalt den Braun mitsamt allem, was zu V2 und ähnlichem gehört hat, ’rübergeholt für ihre Raketen und deren Atombestückung. Und nun halte dich gut fest: Gerüchte sagen, auch Fremde Heere Ost mitsamt dem Gehlen und guten Restbeständen sollen bei den Amis unter genauere Betrachtung gestellt worden sein. Du merkst hoffentlich spätestens jetzt, was hier so im Busche ist. Während wir um unseren nackten Arsch gebangt haben und im Chaos versunken sind, haben unsere Siegermächte sich wie vom Servierteller bedient. Die müssen doch vorher schon genau gewußt haben, wonach sie suchen wollen.“ Wilhelm legte eine Atempause ein und blickte Henri offen ins Gesicht. Nein, das hatte er ihm eben nicht mit irgendeinem Kalkül erzählt. Darüber war er selbst ganz offensichtlich viel zu erregt. Wenn davon auch nur die Richtung stimmte … „Das ist ja nicht auszudenken, was das zu bedeuten hätte. Bist du sicher, daß ihr hier nicht nur nachträgliche Gerüchte von der glorreichen Überlegenheit der Deutschen produziert?“, versuchte Henri, das Ganze herunterzuspielen. „Habe ich auch erst gedacht, aber da stecken knallharte Fakten dahinter. Es ist die Rede von gezielten Sonderaktionen, die unsere Sache wären, wenn sie nicht gegen uns gelaufen wären. Habe jedenfalls meine Schlußfolgerungen für mich ganz persönlich gezogen. Daß sie mich noch mit Samthandschuhen einladen, dafür waren wir zu klein und unbedeutend. Aber auch ein Blank oder ein Gehlen können schließlich ihre Arbeit nicht allein machen. Ich habe gleich drei Varianten für mich selbst im Angebot und wenn du willst, bist du bei jeder gleich mit dabei. Die Gehlenmannschaft mit ihrer Geheimniskrämerei, durch die sie selbst eigentlich nicht mehr durchblicken dürften, habe ich dankend abgelehnt. Wer die nimmt, muß wirklich keine Lust darauf haben, die kleinliche Drecksarbeit selber zu machen und sich mit Verrätern von vorn und in der Deckung zu umgeben. Soll’s mir aber nochmal überlegen. Da könnte ich mir den Ausbilder für eine Fallschirmjäger-Truppe schon besser vorstellen. Wäre sicher auch nach deinem Geschmack, oder?“ Hennri deutete nur eine drei an und damit den Wunsch, erst noch die dritte Variante zu hören. „Das beste wie gewöhnlich zum Schluß“, nahm Wilhelm auch prompt den Faden wieder auf. „Ist zwar nicht unser Hauptfach, aber genau besehen nicht weit davon entfernt. Wo eine neue Armee entsteht, wird es auch schnell eine Art Abwehr für und innerhalb dieser Armee geben. Und das ist es, glaube ich. Mitreden können wir da allemal und bei unseren Einsatzerfahrungen profilieren wir uns glatt schneller als mancher Schreibtischspezialist. Auf geht’s, Henri, du bist dabei!“, beendete er triumphierend seine Ausführungen.

Schweigen. Dann nahm sich Henri eine Zigarette und ging ans Fenster, ohne sie sich anzuzünden. Er denkt also intensiv nach, stellte Wilhelm fest, nahm sich seinerseits ebenfalls einen Glimmstengel und stellte sich zum Trockenrauchen neben seinen Freund. „Das hört sich wirklich fast wie im Märchen an. Allerdings auch mit einer bösen Hexe. Ich danke dir jedenfalls für diese unglaublichen Neuigkeiten und dieses umwerfende Angebot. Was die Neuigkeiten betrifft, so wäre ich wohl besser in der verschlafenen Prignitz geblieben. Es ist manchmal eben doch besser, weniger zu wissen. Was allerdings dein Angebot betrifft, so wird das so einfach mit meiner Kleinen nicht zu machen sein. Die läßt auf keinen Fall Ihre Eltern und ihre beschauliche Prignitz allein. Wenn ich das richtig sehe, müßten wir uns jetzt und hier entscheiden; denn einfach so werden wir wohl kaum weiter hin- und herreisen können. Das läuft dann wohl doch auf ein klares Nein hinaus, sage ich dir ganz offen“, war Henris nüchterne Einschätzung seiner eigenen Lage. „Mein Angebot ist und bleibt aktuell, selbst wenn ihr wieder zurückfahrt. Ich verstehe dich wohl so gut wie kaum ein anderer und habe genau das vorausgesehen und befürchtet.

Schließlich habe ich als einer der wenigen Auserwählten aus nächster Nähe miterlebt, wie glücklich du warst in all dem Kriegsunglück. Laß uns erst einmal was essen. Es gibt hier in der Nähe eine recht brauchbare Kneipe. Ich lade dich selbstverständlich ein“, ließ sich Wilhelm schließlich vernehmen und hatte wie gewöhnlich auch gleich die nötige Denkpause mit bedacht. Während des Essens vereinbarten sie, daß Henri sich vier Tage Zeit lassen solle, um alles in Ruhe mit seiner Frau zu besprechen. Am Mittwoch würde er Henri mitsamt seiner kleinen Familie dann erneut einladen, damit sie auch seine Frau und seinen 4-jährigen Sohn und die 6 Monate junge Tochter kennenlernten. Im Anschluß an das Essen wollten sie Details besprechen, die nur sie beide etwas angingen und die auch Festlegungen für eine Zielverfehlung enthalten würden. Damit waren früher schon Parolen und Verhaltensvorgaben gemeint, die ein weitgehendes alleiniges Agieren ermöglichten, ohne jedoch einander völlig aus den Augen zu verlieren. Henri war allein bei dieser Ankündigung zutiefst traurig zumute. So waren dieser Besuch und dieses Wiedersehen überhaupt nicht gemeint. Aber genauso mußte es schließlich doch kommen, nüchtern und bei Tageslicht betrachtet.

Dann trafen sie ihre Festlegungen und machten ihre strategische Vorausschau. Wilhelm ging felsenfest davon aus, daß es nur seiner Zusage bedurfte, um in den Aufbau der neuen Militärabwehr einbezogen zu werden. „Vielleicht kann ich dir sogar am Mittwoch schon genaueres sagen. Anfang der Woche habe ich ein ziemlich entscheidendes Gespräch. Das wäre wie ein Absprung ohne Schirm, wenn ich dort mit dir zusammen aufsetzen könnte“, versuchte er es ein letztes Mal. „Laß gut sein, Wilhelm. Mach es nicht noch schwerer, als es so schon ist“, murmelte Henri mißmutig. Dennoch bat er Wilhelm unbedingt darum, nichts von ihm und ihrem Gespräch nach außen vordringen zu lassen. Er wolle hier nicht womöglich noch unter erneuten Entscheidungsdruck geraten. Sie legten daraufhin fest, daß ihre gesamte Kommunikation ihre Privatebene betreffen solle. Wilhelm bekräftigte, Henri in keinerlei dienstlich-operative Überlegungen oder Handlungen einzubeziehen, ohne nicht dessen ausdrückliche Zustimmung zuvor eingeholt zu haben. Für ihre Fernkommunikation sollte folgendes gelten. In der offiziellen prignitzer Regionalzeitung solle er sich zum Thema Jagd äußern. Fiele dabei nur das Stichwort „kapitaler Bock“, so sei er in seiner alten Umgebung geblieben und auch nicht von Militär oder Geheimdienst kontaktiert worden. Spreche er hingegen von „auch mal ein Geweihter“ (unter Umständen abgewandelt als „auch mal ein kapitaler Hirsch“), so sei er im östlichen Militärgetriebe gelandet. Sie betonten noch einmal, daß sie auch jetzt besonders darauf achten wollten, nicht gegeneinander zu handeln. Keiner von beiden hatte allerdings auch nur eine blasse Vorstellung davon, wie sie einen solchen Fall verhindern wollten. Wilhelm brachte es schließlich auf den Punkt: „Es ist sehr unwahrscheinlich, daß ich zu Euch in den Osten überlaufen will. Für den Fall aber, daß du dich doch für den Westen entscheiden solltest und dort feststeckst, laß uns wenigstens eine Nachricht vereinbaren, die du mir schicken kannst, wenn du Kontakt zu mir wünschst. Dieses Haus hier gehört mir und meinen Eltern. Ich werde also dafür sorgen können, daß die Postadresse unter meiner Kontrolle bleibt. Schreib am besten an den Namen meiner Oma mütterlicherseits, damit nicht mein Name auftauchen muß. Ihr habt doch einen Garten. Sprich also von Pfingstrosen, wenn es absolut dringend ist, und von Blumen oder fehlenden Blumen, wenn ich mir mehr als einen Monat Zeit lassen kann mit der Kontaktaufnahme. Und nenne mich einfach liebe Tante, was dann auch zu Ella, dem Namen meiner Oma, passen wird.“ Das war radikal konkret, wie alles bei Wilhelm. Aber auch bei Henri hätte er mit nichts anderem landen können. Noch vor ein paar Tagen hatte Wilhelm nichts von ihrem Wiedersehen gewußt und Henri hatte seinen Entschluß, keines der Angebote für sich in Anspruch zu nehmen, gerade erst gefaßt. Wie auch immer diese Vereinbarungen zu sehen sein würden, eines waren sie nicht: eine Absprache zu Spionage oder sonstigem Verrat. Wilhelm hielt ihm einfach eine Hintertür offen, wie es nur ein echter Kamerad für den anderen tun konnte. Sozusagen als Zusatz legten sie schließlich noch fest, wie sie sich gegenüber weiteren Fallschirmjäger-Kameraden in Bezug auf den jeweils anderen verhalten wollten. Die getroffenen Festlegungen sollten nur für sie beide gelten. Eine gemeinsame Vergangenheit, wie z.B. die bei den Brandenburgern, solle hingegen keinesfalls Berechtigung dafür sein, den anderen in ihre engeren Festlegungen einzubeziehen. So würden sie sich weitgehend vor Verrat schützen wollen, den sie schließlich für die Zukunft auch aus den bisherigen eigenen Reihen nicht ganz ausschließen könnten. Darin waren sie sich einig. Auch der jeweilige Ehepartner solle erst nach eigenem Ermessen in diese Dinge einbezogen werden, wenn konkreter Bedarf zu einer solchen Entscheidung zwingen sollte. Da sie keine Initiative zu aktiver Verbindungsaufnahme von Wilhelms Seite aus vorsahen – dazu sahen sie beide keine Notwendigkeit und wollten auch so ausschließen, daß Wilhelm seinen Freund in irgendeiner Weise unter Druck setzen oder zu einer Aktivität anregen könnte – trafen sie lediglich die Festlegung, daß Wilhelm seine Frau, Sohn oder Tochter als Übermittler einsetzen dürfe. „Wir wissen ja nicht, wie lange wir es vorziehen werden, nicht miteinander zu reden. Vielleicht wird es ein Schweigen für sehr lange und wir werden dann froh sein, den Personenkreis etwas erweitert zu haben. „Von Kurieren wollen wir gar nicht erst reden, aber wenn ich mir so anhöre, wie sich Osten und Westen im Moment voneinander wegbewegen, halte auch ich eine längere Schweigezeit durchaus für möglich“, schloß Henri ihr sonderbares Kameradschaftstreffen ab. „Und genau dann sollst du wissen, daß ich dir stets die Tür offenhalte. Selbst wenn ich mir dabei einen gewaltigen Schnupfen oder mehr zuziehen würde. Aber bei einem zukünftigen Kameradschaftstreffen oder ähnlichem darf ich doch unsere Begegnung im November 1951 erwähnen? Schließlich konspirieren wir ja nicht im eigentlichen Sinne“, entgegnete Wilhelm. „Es ist aber unter Umständen ein gemeinsames Geheimnis unter Ausschluß beider Seiten für lange Zeit. Kann ja schließlich auch sein, daß ich einfach nur die Schnauze voll habe von dieser Welt und mir dennoch nicht das Leben nehmen will. Du solltest dich also auch nach einer abgelegenen Insel mit Jagd- und Angelmöglichkeiten und ohne öffentliche Postadresse umsehen“, orakelte Henri und Wilhelm umarmte seinen Freund mit den Worten: „Habe verstanden. Vielleicht will ich dann ja auch mitkommen. Angeln kann ich und als Jäger würde ich mich immer vollkommen auf dich verlassen.“, antwortete er, wieder einmal zweideutig.

Die nächsten 4 Tage machten es sich Henri und seine Frau durchaus nicht leicht mit ihrer Entscheidung. Henri hatte ihr, wie mit Wilhelm beschlossen, nur grundsätzlich von Wilhelms verbindlichem Angebot erzählt, ihm bei einem sofortigen Neubeginn im Westen zu helfen. Entsprechend wenig detailliert blieben deshalb auch ihre Gespräche, die sie auf Spaziergängen mit ihrem Sohn in Ruhe führten. So sahen sie wenigstens nebenbei etwas vom Alltagsleben, vom Wohlstand in diesem Lande und von der unbefangenen Geschäftigkeit der Leute. Der Unterschied zu dort, woher sie kamen, blieb ihnen keineswegs verborgen. Auch darüber sprachen sie sehr offen. Dennoch stand am Ende fest, daß sie genau dorthin wieder zurückkehren würden, wieder „Nach Hause“. „Mein Vater würde dazu wahrscheinlich nur trocken kommentieren, daß ja schließlich nicht alle auswandern könnten, weil er sonst niemandem seine zerlatschten Schuhe reparieren könnte.“ Damit war die Debatte abgeschlossen und irgendwie war Henri zumindest froh darüber, daß sie eine wohlüberlegte Entscheidung gefunden hatten. Ob sie sich denn auch als eine vernünftige herausstellen würde, wer wollte das heutzutage schon wissen. Sie hatten ihrem Söhnchen versprochen, auch nachzuschauen, ob hier Pferde und Bauernhöfe waren wie bei ihnen zu Hause. Nach anfänglichen fragenden Blicken waren dann das Hallo und die Wiedersehensfreude um so größer, als sie in der Toreinfahrt standen. Der Junge war von den Tieren gar nicht mehr wegzubekommen und der Senior kommentierte nur schmunzelnd: „Bei der Tierliebe des Vaters ist das doch kein Wunder!“ Zum Kaffee gab es eine große Portion Schlagsahne, die außerdem durch Nachfüllen kein Ende zu nehmen schien. Henri erzählte die wichtigsten Dinge aus seinem Leben während des Krieges, betonte die entscheidende Koffersituation in Wittstock/Dosse und erklärte so seine familiäre Situation. „Zu arbeiten und zu essen muß es ja überall was geben und zu Hause ist schließlich zu Hause, mein Mädel.“ Damit sprach der Bauer Henri fast mehr aus dem Herzen als seiner Frau. Als dann auch noch der Sohn freudestrahlend verkündete, bald wieder zu seinem Opa und seinen Schuhen zurückzufahren, war die Angelegenheit hier auf dem Bauernhof verblüffend eindeutig geklärt. Als die Bäuerin Henri eine Tüte Eier in die Hand drückte, sagte sie nur schlicht: „Nimm sie deinen Eltern mit, wie immer. Sie werden sich freuen, auch wie immer. Und ihr laßt euch nicht von den schlauen Städtern beschwatzen. Die haben leider keine Ahnung, was so in Euch vorgehen muß.“ Zum Abschied drückte sie alle und wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augen. Als ihr Sohn daraufhin altklug versicherte: „Nicht traurig sein, Tante. Wir kommen wieder zu Besuch“, brachen denn doch alle in fröhliches Gelächter aus. Nur daß sich jetzt ausnahmslos alle zur großen Verwunderung des Kleinen die Tränen aus den Augen wischten. Mit dem Pferdewagen bis zum Bus, das würde garantiert in die Dauererzählungen ihres Sohnes eingehen …

Wie versprochen holte sie Wilhelm am Mittwoch noch einmal zur Busfahrt ab und stellte ihnen dann seine Familie vor. Dabei versäumte er nicht, sogar seine betagte Großmutter Ella mit einem Augenzwinkern vorzustellen, für das Henris Frau keine rechte Erklärung hatte und das sie schließlich als vorweggenommene Abschiedsträne interpretierte. An die liebreizende Frau Gemahlin gewandt informierte er sie schließlich, er habe ihren Rat beherzigt und sich beworben. Es sehe gut aus und somit bestehe auf absehbare Zeit auch die Aussicht, daß er wieder etwas abnehmen würde. Sie schmunzelte und Henri verstand die Botschaft, die eigentlich ja an ihn gerichtet war. Auf Details verzichteten sie beide, da auch ihre Entscheidung bereits gefallen war: wir werden getrennte Wege gehen, ohne uns je direkt gegeneinander zu stellen. Und ich werde die Tür offenhalten und regelmäßig sowohl Zeitung lesen als auch in den Postkasten schauen. Sie hatten vereinbart, ansonsten einander keine Briefe zu schreiben. Ihre Schwestern würden auch unaufgefordert die kleinen Nachrichten aus dem Osten geschwätzig weiterreichen. Wilhelms Schwester lernte Henri übrigens nicht kennen … Als sie dann mit großem Bahnhof vom kleinen Bahnhof des Städtchens verabschiedet wurden, war die allgemeine Verstimmung nicht zu übersehen. Die Geschwister hatten ihnen schließlich offen Dummheit vorgeworfen, nachdem Henri alle Versuche, ihn gar politisch anzugreifen, einfach abprallen lassen hatte. Nur seine Frau wußte, daß es diesmal nicht seine Sturheit war. Henri hatte einfach keine guten Gegenargumente und sie war ihm um so dankbarer, daß er so eindeutig zu ihr stand und sie in keinem Augenblick unter Druck gesetzt hatte. Henris Eltern hatten sich über ihren nochmaligen Besuch sehr gefreut, zumal sie allein kamen. Vater ahnte wohl bedeutend mehr, als er aussprach. Diese Generation hatte das Undenkbare eines Krieges ja auch zweimal mitgemacht und hielt sich dementsprechend mit extremen oder absoluten Äußerungen sichtbar zurück. Der Abschied war sehr herzlich; es sah aber auch deutlich nach einer Trennung für immer aus.

Der Zug rollte und sie widmeten sich wieder beide ihrem aufgeregten Sohn. Erst nachdem sie die Grenze passiert hatten, stand ihnen für eine Weile ihr Abteil allein zur Verfügung. „Und wenn du nun hier im Osten ein Angebot bekommst, auch beim Militär einen Job aufzunehmen?“, stellte seine Frau leise die Frage in den kleinen Raum. Sie hatte ihm schon gesagt, daß sie die Gespräche unter den Geschwistern auf ihre Weise sehr intensiv aufgenommen und verarbeitet hatte. Ihre Ansichten zu Militär und ähnlichem hätten sich dadurch stark relativiert. Auf der Hinfahrt hieß es für sie noch Nie wieder! Dabei war noch Militär gleichgesetzt mit Krieg. Jetzt sah auch sie darin ein chancenreiches Arbeitsangebot. Das würde zwar seine Ecken und Kanten haben, aber ihrem Henri die Möglichkeiten bieten, allen seine Spezialfähigkeiten zu beweisen. Gespannt war sie auf die Gespräche mit ihrem Vater; ihre Mutter würde sich wie immer weitgehend zurückhalten mit ihrer Meinung. Ob sie überhaupt eine eigene in Fragen hatte, die über Haus und Geschäft ihres Mannes hinausgingen? Nach dem nächsten Halt belebte sich auch ihr Abteil deutlich. Eine Station vorher war nur ein Paar eingestiegen, wollte aber offenbar kein Gespräch führen; es war ihnen recht, zumal der Junior endlich eingeschlafen war. Jetzt allerdings war auch Schluß mit der Zurückhaltung der Fahrgäste. Nach eingehender Musterung wurde Henri direkt angesprochen, wohin es denn gehen solle. Als seine Antwort eindeutig ausfiel, herrschte zunächst erstauntes Schweigen. „In die Prignitz, nach Hause“, hatte seine Auskunft gelautet. Eine Frau etwa in ihrem Alter platzte schließlich mit dem heraus, was wohl allen schweigend durch den Kopf gegangen war: „Sie fahren also nicht hierher zu Besuch, sondern kommen vom Besuch drüben. Und da sind Sie nicht geblieben, wo sie waren?“ Henris Frau erlöst ihn von dieser unangenehmen Unterhaltung: „Wir werden von meinen Eltern erwartet. Auf uns beide würden sie vielleicht noch verzichten können, aber wenn wir ihnen den hier“, sie deutet auf ihren schlafenden Sohn, der wie zu ihrer Unterstützung ein engelsgleiches Lächeln auf seinem schlafenden Gesicht trägt, „also ich bin sicher, auf ihn hätten meine Eltern nicht geschafft zu verzichten. Mein Bruder ist nicht aus dem Krieg zurückgekommen, genauer gesagt vermißt, sie wären dann völlig alleingelassen“, beendet sie ihre überzeugenden Worte. Henri fragt sich gerade, warum sie das den völlig fremden Menschen hier erzählt haben mag, als die Frau von vorhin sich erneut zu Wort meldet: „Da sollten Sie nicht so schnell aufgeben. Meiner ist auch erst vor vier Wochen heimgekommen, aus dem Osten. War vollkommen heruntergewirtschaftet, im Kopf noch mehr als auf den Rippen. Den haben sie umerzogen, so daß ich jetzt mein Tun haben werde, ihn wieder auf Normalspur zu bringen. Seit ein paar Tagen fragt er wenigstens morgens nach dem Aufwachen nicht mehr, wo er ist. Nee“, verfällt sie jetzt in abfällig schnoddrigen Tonfall, „die brauchen mir nich zu kommen, mit nix und nimmer nix. Wenn er wieder klar im koppe is und ich noch nicht den Verstand drüber verloren hab, sind wir eins fix drei weg. Gepackt haben wir schon.“ Damit erreicht sie genau das Gegenteil, was man aus ihrem Bericht schlußfolgern mußte: keine Zustimmung, nur betretenes Schweigen. Als kaum jemand sich getraut, die arme Frau auch nur anzusehen, lächelt ihr Henri zu und beendet das Gespräch auf seine Weise: „Das ist dann ihre Entscheidung, so wie wir uns eben für diese Richtung entschieden haben. Aber auf dem Bahnhof oder auf’m Marktplatz würde ich weder von dieser Absicht, noch von der Begründung so laut erzählen wie sie das gerade netterweise getan haben. Wie auch immer: ich wünsche Ihnen alles Gute.“ So ermuntert fühlt sich die kleine Reisegesellschaft jetzt wenigstens zu einem Nicken fähig.

1.4.    Ein Arbeitsangebot

Sie waren also zurück. Die Prignitz, der Osten hatte sie wieder. Der Schuhmachermeiste und seine Frau waren froh und begrüßten sie zu ihrer Verblüffung doch tatsächlich mit den Worten: „Ihr seid also wirklich wiedergekommen.“