Der Ausstieg - Carl-Heinz Scharpegge - E-Book

Der Ausstieg E-Book

Carl-Heinz Scharpegge

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Beschreibung

Henri erfährt in diesem Folge-Band zu "Korrektur eines Eides" von seinem polnischen Verbündeten Marek von seiner erwachsenen Tochter Karolina in Krakow. Nach dem Tod seiner Frau aus der Prignitz kommt er Mareks Schwester Lydia, der Mutter der gemeinsamen Tochter Karolina, näher. Mit Marek entsteht ein tollkühn anmutender Plan eines gemeinsamen Ausstiegs über Asien: Henri nutzt dabei einen Berater-Einsatz in Vietnam, Marek die Umsetzung eines geheimen Sonderauftrages als Pilot und Mitarbeiter des polnischen Armee-Geheimdienstes WSW. Um den Plan zu verwirklichen, müssen beide dieselbe polnische Familie zurücklassen: für Marek sind es Schwester Lydia und Nichte Karolina, für Henri nach seiner Heirat Ehefrau Lydia und Tochter Karolina; außerdem sein erwachsener Sohn Karl, der gerade in Polen sein Studium begonnen hat. Ohne voneinander zu wissen, werden alle 3 ehemaligen Freunde aus Henris "Kuba-Trio" in Afrika mit Schwerpunkt Angola/ Namibia aktiv. Während sich in Polen die politischen Entwicklungen wieder einmal zuspitzen, erleben die Kubaner turbulente Einsatzbedingungen und persönliche Überraschungen in Afrika, gewinnt Henri bei seiner Militärhilfe vor Ort einen zuverlässigen vietnamesischen Freund und Marek startet und landet für die CIA und deren Drogenhandel in Saigon und Laos. Erst durch solche Entwicklungen wird ihr Traum vom Ausstieg zur Realität. Beide tauchen über Laos, Bangkok, Beirut unter, ohne auch nur eine verwertbare Spur zu hinterlassen; schließlich müssen sie bei jedem ihrer Schritte den mächtigen sowjetischen Armee-Geheimdienst GRU beachten, als dessen scheinbare Verbündete sie in ihre Einsätze geschickt wurden. Erst in Südafrika können sie sich zwei weiteren Schritten widmen: Dem Versprechen an Lydia, sich um deren Ausreise zu kümmern, wenn sie denn selbst ein neues Zuhause gefunden haben werden. Dafür aber müssen sie Jurek wiederfinden, dem sie zu dessen spurlosem Neubeginn in Namibia verholfen haben, bevor sie selbst abtauchen konnten.

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Der Autor

Beruf – Psychologe, Dolmetscher … und jetzt auch Schriftsteller.Kannst du das denn überhaupt?– So viele Erinnerungen, Erfahrungen und Überlegungen wollen sortiert werden.Ja, kann ich.Meine Art der Lebensbilanz sieht eben so aus, daß ich sie gern aufschreibe. Gut, besser sollte ich wohl einstweilen von Zwischenbilanz sprechen. Jedenfalls denke ich beim Schreiben am besten nach. Außerdem ist das meine Art der Entspannung und Abstandsfindung von der täglichen Arbeit als Psychologe: Bücher lesen. Neuentdeckung: Bücher schreiben. Mit zunehmender Begeisterung auch mal keine Fachbücher über MPU und „Idioten-Tests“. Die tatsächliche Idiotie fand und findet doch in unserem Leben statt. Allem Anschein nach mit zunehmender Intensität. So etwas will aufgeschrieben werden …

Carl-Heinz Scharpegge

Der AusstiegTodgesagte leben länger

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

© 1. Auflage 2017

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Autor:

Carl-Heinz Scharpegge

Satz & Umschlag:

Marei Scharpegge

Verlag:

tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

978-3-7439-2106-1 (Paperback)

978-3-7439-2107-8 (Hardcover)

978-3-7439-2108-5 (e-Book)

Weitere Themen vom Autor:

• Besser Lügen (ertragen) mit Psychologie (2013)

• Band 3 und 4 dieses Romans folgen 2017/2018 – mit dem Autor als Romanfigur

• Band 5 dieses Romans – erlebe ich gerade. Bitte Geduld

• Außerdem sind in der Serie MPU-Selbsthilfe bereits 5 Auflagen erschienen

Laß durch nichts in der Welt dich binden als durch deine höchste innere Wahrheit.

(Emma Herwegh)

Vorwort

Sie halten den 2. Band dieser Romanserie in der Hand. Da heutzutage nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, daß Ihnen der Inhalt des 1. Bands bekannt ist, gestatte ich mir eine zusammengefaßte Einführung.

Henri, Fallschirmjäger während des 2. Weltkrieges, entscheidet sich für seine Familie und die Prignitz in Deutschlands Osten und damit gegen einen Verbleib in einem der Westsektoren. Mit der Teilung Deutschlands beginnen sogleich die versteckten, dann offenen Aufrüstungen. Henri wird als Fallschirmjäger-Fachmann angeworben und tritt in die NVA der DDR ein, zunächst über deren Vorläufer. Mit den ersten Jahren wachsen auch seine Zweifel und er erkennt das Dilemma, in dem er steckt: Weder billigt er die Entwicklungen in der DDR, noch kann er eine Alternative für seine persönliche Situation erkennen. Während er den Ausstieg naher Bekannter akzeptiert und unterstützt, weiß er eines sehr deutlich: in der BRD würde seine Fahnenflucht zwar als Sensation heiß gefeiert, doch ebenso kaltblütig würde von ihm Geheimnisverrat erpreßt werden.

Wie jedem Führungskader in der NVA wird auch ihm ein sowjetischer Verbindungsoffizier zugeteilt. Als der ihn 1961 für einen Berater-Einsatz in Kuba gewinnen will, entpuppt er sich als Mitarbeiter des Militär-Geheimdienstes GRU. Henri kann durch kluge Argumentation seine GRU-Anwerbung vermeiden. So reist er in Kuba mit dem Rätsel im Gepäck an, warum er trotz dieser Ablehnung in diesen Einsatz geschickt wird. In Kuba wirkt Henri 6 Monate lang sehr erfolgreich, als Fallschirmjäger-Ausbilder ebenso wie als Berater für Militärkader des gerade befreiten Landes. Aus beiden ihm zugeteilten Dolmetschern kann er auf deren und den Wunsch ihrer Eltern hin perspektivreiche Militärspezialisten heranbilden: Juanita wird die erste Fallschirmjägerin Kubas und deren Bruder Jose selbst Ausbilder für Fallschirmjäger. Zu deren Vorgesetzten, Kommandante Joacimo, entwickelt sich in der kurzen Zeit durch offenen Meinungsaustausch ein tiefes Vertrauensverhältnis. Gleiches bildet sich durch Henris direkte und ehrliche Art auch zu Norbert und Clementine, den Eltern seiner beiden jungen Fallschirmjäger. So gelingt es ihm, einen zufällig getroffenen Kriegskameraden, der von den Ereignissen überrascht worden und auf Kuba „hängengeblieben“ war, in Norberts Firma unterzubringen.

Während seines Einsatzes wird Henri überrascht vom Berliner Mauerbau im August 1961. Und noch etwas offenbart sich ihm: sehr beunruhigt bekommt er Kenntnis von den Vorbereitungen zur Stationierung von Atomraketen auf Kuba. Erst ab 1962 beginnt er schrittweise zu ahnen, welchem Zweck sein Kuba-Einsatz tatsächlich gedient hat. Wieder zurück in der DDR kommt Henri nicht zur Ruhe. Der junge polnische Pilot Marek reist im Rahmen einer offiziellen Militär-Delegation an, erinnert sich und erkennt sein Idol aus früher Kindheit und offenbart ihm ein zutiefst inoffizielles Geheimnis. Sie schließen tiefe Freundschaft und Marek organisiert daraufhin die Wiederbegegnung Henris mit seiner Schwester Lydia. Dort in Katowice und Krakow erfährt er von ihrer gemeinsamen Tochter Karolina. Nach dem plötzlichen Tod seiner geliebten Ehefrau überkommen Henri endgültige Zweifel, ob er nicht doch besser in der beschaulichen Prignitz, fern der großen Weltpolitik und aller Zwiespältigkeit, geblieben wäre. In dieser großen Verzweiflung festigt sich sein Entschluß zum Ausstieg. Während er diese Entscheidung konsequent umsetzt und sich selbst in einem „feierlichen Akt“ von seinem Eid auf Partei, Regierung und Armee der DDR entbindet, bleibt das Wie dieses Ausstiegs zunächst mehr Wunsch als klare Vorstellung. Vor allem ein entscheidendes Problem wird er dabei zu lösen haben: die Verantwortung für seine beiden fast erwachsenen Kinder: Karl und jetzt auch Karolina.

Prolog

Wieder steht Henri am Fenster. Es ist dasselbe wie damals, als alles neu angefangen hatte. Aber selbst dieses hat sich verändert, ist nicht mehr genauso wie vor fast 20 Jahren: im vergangenen Frühjahr haben endlich alle den lange schon fälligen neuen Farbanstrich bekommen. Vor allem aber ist Henri selbst lange nicht mehr derselbe, der er als Schuhmachergeselle und ehemaliger Fallschirmjäger kurz nach dem Kriege, zur Zeit der Gründung von DDR und BRD, war. Er ist zwar wieder Fallschirmjäger, aber er hat den geleisteten Militäreid für sich selbst korrigiert und hütet seitdem das damit verbundene Geheimnis: seine Entscheidung zum Ausstieg.

Diese Korrektur seines Eides geschah selbstverständlich, ohne seinen sowjetischen Verbindungsoffizier zu konsultieren, ohne überhaupt jemanden um seine Meinung oder gar um Erlaubnis zu bitten. Selbst seine Frau hatte er erst im Nachhinein „informiert“. Was allerdings reine Formalität war; denn zu diesem Zeitpunkt war sie bereits seit knapp 2 Monaten tot. Niemandem würde er je den Wortlaut gestehen, den er für diese zutiefst private Entscheidung gewählt hatte:Bei allen drei Frauen, die mir lieb sind und denen ich vertraue ...Das wollte er einfach so stehenlassen und niemandem erklären müssen, seiner liebreizenden Frau Gemahlin nicht einmal im Nachgang.

Aber seinem Sohn Karl würde er erklären müssen, worin er den tieferen Sinn dieses Schrittes sieht. So empfindet er seine Verantwortung und die Hilfe bei dessen Weg ins Erwachsensein. Henri würde auch gern mit Juanita darüber sprechen, obwohl er ihre Antwort bereits kennt:das ist doch wohl die zwingende Folge all deiner Zweifel, die du zum Glück auch uns vermittelt hast, Joacimo, Jose und mir.Aber mit Marek und Lydia wird er darüber reden, sobald sich wieder Gelegenheit zu einem Besuch in Polen ergibt. Wenn er ehrlich sein soll, ist auch sein Interesse an einem Wiedersehen mit Francisek groß, weniger wegen der Jagd in dessen großartigem tschechischen Jagdrevier als mehr wegen dessen Verständnis für seine Ausweglosigkeit. An Wilhelm und Richard mochte er lange Zeit lieber nicht denken; der eine war nahe und doch weltweit entfernt, der andere war mit Henris Hilfe auf Kuba geblieben. Nur er, Henri, würde letzten Endes allein seine Zukunftsentscheidungen treffen müssen. Erst aber bleibt er seiner Linie treu, gemäß derer er seltsamerweise stets für andere Menschen seiner engsten Umgebung Hilfe und Unterstützung bei deren Problemlösungen bietet. So fühlt er sich auch jetzt „erst noch“ zuständig für seine Familie, für seinen Sohn. Genauer muß es neuerdings allerdings heißen ´für meine Familien´, so paradox das auch klingen mag. Denn Henri fühlt sich durchaus auch für seine polnische Tochter Karolina und für ihre Mutter Lydia zuständig.

Und wer wird ihm helfen können, einen Ausweg aus seinem selbst geschaffenen Labyrinth zu finden? Es gibt nur wenige Altvertraute und sie alle sind entweder gar nicht oder nur sehr schwer erreichbar. Henri wagt trotzdem den nur für ausweglose Besonderheiten vereinbarten Verbindungsweg zu Wilhelm ...

Gespräche auf der Jagdkanzel - 1966

Einmal mehr sitzt Henri wieder auf seiner Jagdkanzel in der Prignitz. Es ist ein milder Märznachmittag. Heute soll es also so weit sein: sie würden sich endlich wiedersehen. Wenngleich auch unter recht besonderen Umständen. Die Wege bis zu diesem Besuch bleiben ihm nach wie vor schleierhaft, aber das liegt auch nicht in seiner Zuständigkeit. Schon allein die verschlungenen Informationspfade: ausgerechnet ein Jagdkollege aus dem angrenzenden Mecklenburg besuchte ihn an einem noch mehr winterlichen Wochenende bei hellem Sonnenschein und in voller Jagdkleidung zu Hause. Daran konnte niemand etwas Anstößiges finden. Auch wenn Henri nicht der Leiter des Jagdkollektivs war, konnte es schon mal passieren, daß dennoch mit ihm etwas abgestimmt wurde. Durch seine Gründungsaktivitäten und durch sein ungebeugtes Jagdinteresse war er allgemein bekannt und mitunter wunderte sich auch schon mal jemand: „Ach, du bist hier gar nicht der Chef? Kann ich dir das trotzdem gleich sagen ... ?“ So ähnlich sah es auch jetzt aus, als der Kollege aus Mecklenburg sich entschuldigte, mit jagdlichem Anliegen in die Wohnstube zu platzen. Henri bat ihn in sein Arbeitszimmer und da es Nachmittag war, bot er dem Gast einen Kaffee an. Ja, nahm der das Angebot dankend an, es werde schon ein paar Minuten dauern, bis sie abgestimmt hätten, was miteinander abzustimmen wäre. Dann stimmten sie zu Henris Riesenüberraschung den von ihm selbst „angeforderten“ hohen Besuch so weit in Details ab, wie das im Voraus möglich war. Mit derart raffinierten Umwegen hatte er nicht gerechnet und auch nicht mit so schneller Reaktion. Henri hatte, wie vor langer Zeit vereinbart, von Pfingstrosen auf das Grab seiner Frau geschrieben und daraufhin ließ sein heutiger Besucher nicht lange auf sich warten. Der angekündigte „hohe Besucher“ würde also bei Anbruch der Dunkelheit aufbrechen, wie jagdlich eben so üblich. Selbstverständlich in Jagdkleidung, aber zurückhaltend unauffällig. Henri würde bereits oben auf der Kanzel warten und bei kurzem Klopfen den Gast hereinlassen. Für Heizung würde gesorgt sein: Henri hatte ständig zwei seiner Katalyt-Öfen in Gebrauch, abwechselnd für die Jagd und auch mal für den PKW. Der sehr nahe liegende konkrete Tag werde ihm auf gleichem Umweg mitgeteilt: über Mecklenburg. Ohnehin war ihm schleierhaft, wie dieser Besuch zustande kommen konnte. Schon allein der Informationsweg! Gestern war es dann so weit und heute hatte sich Henri viel Zeit vorweg genommen. Über seine Jagdbegeisterung wunderte sich zum Glück schon lange niemand mehr; damit konnten denn auch schon mal untypische Jagdzeiten verbunden sein. So blieb ihm noch reichlich Zeit bei vollem Tageslicht, das er unter gewöhnlichen Umständen intensiv mit dem Fernglas genutzt hätte. Aber darauf kann er sich heute beim besten Willen nicht konzentrieren. Stattdessen läßt er seinen Gedanken freien Lauf und erinnert sich an ein Gespräch aus dem vergangenen Sommer ...

1.1.Vater-Sohn-Gespräch vor dem Sprung ins ABF-Leben

Sohn Karl hatte damals gerade die 10. Klasse beendet. Und in diesem Frühjahr 1965 wußte niemand so recht, was da auf ihn zukommen würde. Das mit der ABF war ausgelöst worden durch die harmlose Frage seiner Schuldirektorin, noch dazu gestellt fast wie nebenbei mitten in einer Unterrichtsstunde. Als er über einer schriftlichen Ausarbeitung saß, hatte sie ihn völlig unerwartet mit der Frage überfallen: „Sag mal, könntest du dir ein Studium im Ausland vorstellen?“ Dementsprechend verdattert war seine spontane Antwort ausgefallen: „Wenn es dort auch Sprachstudium gibt, warum nicht.“ Damit hatte er allerdings mehr kundgetan, wie unentschlossen er diese ewige Fragerei nach seinem Studienwunsch noch immer beiseite schob. Eine überlegte Antwort sollte das jedenfalls gar nicht sein. Schließlich machte sich kaum jemand aus seiner Schulklasse schon ernsthaft Gedanken über seinen zukünftigen Beruf! Weniger überrascht von dieser Anfrage zeigen sich zu Hause seine Eltern. Das kannte er allerdings schon aus anderen Situationen: der Schul-Buschfunk schien recht gut zu funktionieren und sicherlich hatte die Direktorin bei seiner Heimatschule angerufen und seine Mutter vorab konsultiert. Seit dem 9. Schuljahr besucht er nun die EOS in der Kreisstadt und sollte dort auch normalerweise sein Abitur ablegen, also bis zur 12. Klasse bleiben. Eigentlich und normalerweise ... – Jedenfalls fährt er daraufhin irgendwann im Frühjahr zu “irgendso ´nem Aufnahmegespräch nach Berlin-Lichtenberg für ´ne Schule in Sachsen“, ohne dem allerdings größere Bedeutung beizumessen oder gar größere Aussicht auf Erfolg zu geben. Zwar ist er vom Leistungsstand gesehen durchaus in der Lage, irgendwie mitzureden. Aber ihm fehlt das Interesse und so ist er nicht wirklich mit dem Herzen dabei. Umso überraschter reagiert er, als später mitten in den Sommerferien ein Brief ins Haus flattert, auf den zumindest er selbst überhaupt nicht gewartet hat. Warum auch. Er fühlt sich wohl an seiner Schule, an der er einen gesicherten Stand hat. Außerdem ist er gerade dabei, seine ersten Flirts auszukosten. Die Mitteilung, er sei für das beginnende 11. Schuljahr an der ABF angenommen, trifft ihn daher unvorbereitet und löst statt Freude mehr negatives Bauchgefühl aus. Ganz zu schweigen von Begeisterung. Was ist denn ABF? –Eine normale Oberschule, allerdings mit erhöhtem Leistungsniveau und eben orientiert auf die Vorbereitung eines Studiums im Ausland. Ausland bedeutet selbstverständlich SU oder so; wahrscheinlich mehr ohne diesesoder so. Alles andere würde sich ergeben. Also eben doch keine normale Oberschule. Und Halle/S. liegt übrigens dicht bei Sachsen, aber in Sachsen-Anhalt. Aber wen interessieren schon noch solche alten Strukturen. Also Halle im Bezirk Halle, aber eben weit entfernt. Und mein Motorrad? – Gerade hat er seine langweilige Mädchen-Schwalbe sehr eigenmächtig gegen eine schwarze 175-er Java CZ getauscht und die familiäre Krise war noch frisch im Gedächtnis. Auch das regelte sich am Ende dieses turbulenten Sommers beinahe von selbst: er reist nie in Halle per Motorrad an, obwohl er es auch oder gerade dort gut hätte gebrauchen können. Also bleibt ihm sein Motorrad für die spärlichen Sommermonate und die Deutsche Reichsbahn mit ihren aufschlußreichen Kursbüchern für die Wochenend-Fahrten nach Hause.Und mein Kofferradio?– Das hatte er sich von seinen Ersparnissen einschließlich Geldgeschenken zur Jugendweihe gekauft und sich damit souverän gegen jeden Versuch eines Widerspruchs durchgesetzt. Seine Eltern wußten wohl nur allzu gut um die Gefahr, die mit diesem Kofferradio und der dadurch gegebenen Möglichkeit des unkontrollierten Empfangs von Westsendern verbunden war ...

Und an dieser Stelle voller Glatteis auch im Sommer hatte Henri damals einzuhaken versucht. Ihm stand ein ernsthaftes Vater-Sohn-Gespräch bevor. Nein, nicht die nächste Phase einer sexuellen Aufklärung. Die würde sich schon noch ergeben, später. Jetzt war ihm Wichtigeres wichtig: der Einstieg in die Ideologie oder genauer gesagt der Einstieg in den Ausstieg aus derselben. Und als Einstieg in diesen Ausstieg hatte Henri sich das Thema Musik ausgesucht. Dabei wußte er genau, daß er damit ohne Regenschirm in einen Gewitterguß marschiert. Aber er ist daran gewöhnt, den Stier bei den Hörnern zu packen. Sie sitzen also wieder einmal auf der geliebten Jagdkanzel, womit auch für Sohn Karl klar ist: es steht etwas wichtiges, wahrscheinlich Unangenehmes auf dem Plan. Hier hatte damals auch die entscheidende Aussprache (oder sollte er besser sagen:Ansprache?) stattgefunden, nachdem ihn sein Vater bei einer dicken Lüge mit vorhergehendem Diebstahl aus der Familienkasse für kleine Einkäufe erwischt hatte. Die einzige Tracht Prügel in seinem Leben und 2 Wochen Stubenarrest waren gerade vorüber, als die Klassenfahrt am letzten Straf-Wochenende konsequent ohne ihn ablief. Das Kanzel-Gespräch hatte nochmalige Klarheit darüber herbeiführen sollen, daß Lügen als das Allerletzte und Diebstahl gleich dahinter einzustufen sind. Also denn.

Jagdlich ist nichts los, wer geht denn auch im Sommer schon am Nachmittag auf Ansitz. Bereits bei der ersten Frage seines Vaters weiß Karl, worauf die Jagd eröffnet ist. „Sag mal, nimmst du dein Kofferradio eigentlich auch mit nach Halle?“ „Na klar, sonst weiß ich ja nach einer Woche schon nicht mehr, was los ist.“ „Seit wann interessierst du dich denn fürs aktuelle Geschehen?“ „Seit gar nicht, wie kommst du denn darauf? Ich meine die Hitparade, die Platzierungen und neue Hits.“ So, denkt Henri, jetzt habe ich den Stier zwar vor mir, fühle mich aber genauso, als wenn ich nicht weiß, wo er Schwanz und wo Hörner hat. „Kannst du damit nicht bis zu den Wochenenden warten? Ich glaube, dort wird es etwas schärfer mit dem Lernen. Wirst wohl kaum Zeit zum Radiohören haben.“ „Wenn es so scharf wird, komme ich sehr schnell in meine alte Klasse zurück, freiwillig oder notgedrungen, eben leistungsmäßig.“ Henri merkt, er muß die Katze aus dem Sack lassen. Sonst wird es bei allem Drumherum-Gerede noch so spät, daß Wild herauskommt und er eine willkommene Ausrede hat, das Thema zu verschieben. „Also mal Klartext: da werden Westsender sicherlich nicht geduldet und es wird auch so schnell keiner zu dir halten, wenn du erwischt wirst.“ „Na ja, wenn ich am Sonnabendnachmittag Radio Luxemburg hören würde, könnte ich mir gleich ein Schild um den Hals hängen“, gibt Sohnemann zu und ergänzt auf Vaters fragenden Blick hin: „Das ist der, der so schön gestört wird, daß es gegen den Wind pfeift.“ „Und die anderen Sender? Glaub nur nicht, daß dort alle dämlich sind und dir nicht auf die Schliche kommen.“ „Ich bin eben ein Gewohnheitsmensch, der immer zur selben Abendstunde spazieren geht. Willst du wissen, wann du mich auf einem Spaziergang in sicherer Entfernung vom Wohnheim antreffen wirst? Montags, aber da läuft zur selben Zeit Quermanns Gedudel, wo die Kommentare von dem noch das Interessanteste sein könnten. Reicht übrigens, wenn ich ab 21 Uhr vom verbotenen Deutschlandfunk auf den geliebten Deutschlandsender umschalte: dann kommen bei Quermann die Siegerplätze, bevor sich um halb zehn Heinz der Quermann mit tschüs und winke, winke verabschiedet. Das wird für den Rückweg genauso reichen wie fürs Alibi. Zufrieden?“ Entwaffnend, diese Taktik bereits vor Eintreffen auf dem Schlachtfeld. Henri sollte eigentlich zufrieden sein, aber so geht das doch nicht. Und warum nicht? Hat sein Sohn ihm nicht gerade den Weg zur Brücke gewiesen, über die er in die eigentlich beabsichtigte Themenregion kommt? Der ist schneller zum Thema gekommen, als ich mitdenken wollte ... „Das hört sich nach ziemlich ausgereifter, durchdachter Taktik an. Eigentlich ist das mehr mein Bereich. Also von dieser Seite bin ich jetzt stolz auf dich, obwohl ich das eigentlich gar nicht darf“, gesteht er unumwunden ein. „Sag mal, du hast doch Soldaten bei deiner Truppe, die auch nicht viel älter als ich sind. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die nur Frank Schöbel und Christian Schafrik hören.“ „Bitte keine Details, weil ich da von vornherein verloren haben würde“, wehrt Henri ab. „Papa, heute sind die Beatles ganz vorn. Vor kurzem haben die Platz eins bis zehn der Hitparade belegt und ich meine nicht die von Tschüs und winke, winke.“ Henri muß über die ziemlich ausgereifte Ironie seines Sohnes schmunzeln. Der legt daraufhin nach, um sich seinen Rückenwind ein wenig zu erhalten: „Sagt dir DT 64 etwas? - Sagt dir nichts. Müßtest mal zusammen mit deinen Jungsoldaten Radio hören. Wenn da ein Titel von den Beatles kommt - die erkennst du am yeah, yeah, yeah - darfst du sie nicht gleich bestrafen wegen Westsender und so. Könnte nämlich DT 64 sein. Und abends Soldatensender oder Freiheitssender.“ Henri hatte es geahnt: Glatteis im Sommer. Sein Sohn klärt ihn sachlich und ohne jeden frohlockenden Unterton auf: „Seit dem Deutschlandtreffen voriges Jahr gibt es den DDR-Jugendsender DT 64. DT für Deutschlandtreffen und das Ganze, um unseren werten Besuchern aus dem Westen vorzugaukeln, was für einen tollen Rundfunk doch die DDR-Jugend hat. Wie durch ein Wunder gibt es den heute noch und der spielt 60:40 wenigstens so, daß in den 40% nicht nur Freddy Quinn und Margot irgendwie, sondern auch Beatles und Searchers gespielt werden. Ich frage mich dabei nur allen Ernstes: was macht die Beatles weniger dekadent, bürgerlich und sozialismusgefährdend, wenn sie auf DT 64 abgespielt werden? Wenn du mir das erklären kannst“, hier überlegt er seinen Einsatz genauer, „ich meine begreifbar erklären kannst, ... lasse ich mein Kofferradio zu Hause.“ Henri ist verblüfft und stolz zugleich. Derartiges Denken könnte er zwar, will es aber keinesfalls verbieten, weil das einen tiefen Bruch bedeuten würde. „Ich versuche es erst gar nicht. Hast gewonnen. Aber darin besteht gerade die große Gefahr“, fügt er hinzu. „Kaum ein linientreuer Lehrer wird so viele Gedanken darauf verwenden wie du oder sie dir nie im Leben eingestehen. Also wird er zurückschlagen, mit unfairen Mitteln. Einen solchen Kampf verlierst du als Kleiner gegen den Großen aber garantiert. Was willst du damit tun, mein Sohn?“ „Du meinst, da laufen nur blinde Stabü-Lehrer durch die Gegend?“ „Ich meine, daß es dort auch Staatsbürgerkunde als Fach gibt, du aber selbst bei Mathe, Physik oder Chemie mit verbissener Linientreue rechnen solltest, egal ob aus Überzeugung oder geheuchelt. Also mußt du auch in den sogenannten Pausengesprächen mit Lehrern wie mit Schülern darauf achten, was du besser nicht sagst.“ Sein Sohn gibt einen tiefen Seufzer von sich, was Henri zum ersten Male so bei ihm beobachtet. Stille, also ein Moment, um wenigstens formal mit dem Fernglas die Außenwelt abzulichten. „Aber ich kann doch nicht mein ganzes Leben lang immer nur kontrollieren, ob wer zu den Guten oder den Bösen gehört“, faßt Karl auf seine Weise ihr Gespräch zusammen. Henri ergänzt: „Es wird wohl sogar noch schlimmer kommen: du wirst erst einmal für dich entscheiden müssen, was du selbst als gut und böse ansehen willst.“ Nach kurzem Grübeln erwidert Junior: „Das grenzt ja an Hochleistungssport. Da hätte ich doch gleich besser an die Sportschule gehen sollen. Und was ist mit dir? Kannst du mir nicht einfach deine Definition erklären und ich prüfe sie auf Tauglichkeit für mich? Wäre doch ein echter Beitrag zur Erziehung deines Sohnes.“ Das ist einfach nur charmant und direkt entwaffnend. Henri, jetzt bist du wohl dran. Genau das legt sein Sohn ihm jetzt nahe: „Wie ist das bei dir im Dienst, zum Beispiel. Da kann doch hoffentlich nicht auch das Denken unter Befehlsgewalt stehen. Fühlst du dich wohl in deinem Job?“ Woher nimmt der Bengel dieses untrügliche Gespür dafür, ihn danach zu fragen, wo ihn dauerhaft der Stiefel drückt. Ist das der Moment, gleich das gesamte Paket auszuschütten und seine Ausstiegsabsichten zu erklären? Henri entscheidet sich für zwei Teilpakete, eins für jetzt, das zweite vielleicht nach Abschluß der ABF oder noch später, je nach Entwicklung der Dinge. Er beginnt mit seinem Werdegang bei KVP und NVA und daß er seit langem im Zweifel ist. Ohne langes Drumherum gesteht er seinem Sohn: „Du bist der erste Mensch, dem ich das erzähle; nicht einmal mit deiner Mutter hatte ich bisher Zeit für ein solches Gespräch.“ „Dann hätten wir sie am besten gleich mit hierher auf die Kanzel genommen“, entgegnet Karl spontan und ohne jeden Gedanken daran, daß sie ohnehin dankend abgelehnt hätte. Diese Neigung für das Direkte und Praktische war Henri bisher nie so aufgefallen an seinem Sohn. Vielleicht wäre weniger Hütte und dafür mehr Kanzel eine Lösung! „Es geht um den Eid, den man beim Eintritt ins Militär gewöhnlich zu leisten hat. Meinen würde ich am liebsten widerrufen, weil sich mehr und mehr mein Verdacht bestätigt: der basiert nicht auf Ehrlichkeit, sondern auf einseitigem Zwang.“ Sein Sohn denkt aufmerksam mit: „Aber ohne hättest du gleich zu Hause bleiben können, stimmt´s?“ „Stimmt aufs Wort. Das, was ich dort mache, ist das, was ich am besten kann. Und ich weiß inzwischen, daß ich sehr gut darin bin. Weißt du eigentlich, daß ich Schuhmacher gelernt habe, nach dem Krieg?“ „Ne, bei Opa? Kannst du richtige Schuhe herstellen oder wenigstens reparieren? Warum habe ich sie dann immer zu den anderen im Ort getragen, die übrigens alle oft von Opa aber nie von dir erzählt haben?“ „Das war jetzt aber ein ganzes Fragenpaket. Also: ich hätte gekonnt, reparieren meine ich. Aber schlechter als die Fachleute, weil mir die Praxis gefehlt hat. Mein eigener Meister, also dein Opa selbst, hat mir übrigens vor seinem Tode dazu geraten, das zu tun, was ich am besten kann und in die Armee bzw. den Vorläufer einzutreten. Er konnte aber ebenso wenig wie ich selbst vorausahnen, daß ich die Katze in einem sehr hinterlistigen Sack kaufe. Ich habe auf Partei und Regierung geschworen ohne zu wissen, was daraus wird, wohin sie gehen. Die Ziele, die diese beiden, Partei und Staat, anstreben, sind erstens nicht dieselben, die sie behaupten anzustreben. Zweitens sind es nicht in erster Linie ihre eigenen Ziele, sondern die ihres zeitweiligen Vordenkers, Verbündeten, Besatzers, je nach Blickwinkel.“ Henri atmet tief durch und blickt seinen Sohn forschend an. Was dann kommt, war so von ihm nicht zu erwarten: „Unterste Karte wegziehen und schon kracht das ganze Kartenhaus zu Boden. Vermutet habe ich schon länger, daß es darauf hinausläuft. Wenn alles so wie bei der Musik läuft, muß es so sein. Warum gehen dann nicht einfach alle nach Hause und spielen nicht mehr mit? Paß nur auf: demnächst wird die Fabel von Kaisers neuen Kleidern in der DDR als subversives bürgerliches Machwerk verboten.“ Henris Antwort kommt instinktiv und sofort: „Zack, der hat gepaßt“, dann erst denkt er an den Autor Jose. „Und nun?“, fragen beide gleichzeitig. „Nun weißt du ganz grob, aber auch grundsätzlich deutlich, was du auf seine Tauglichkeit für dich prüfen kannst.“ Ohne länger nachzudenken, kommt das Ergebnis dieser Prüfung: „Das Modell ist gut, zumindest ist mir noch kein besseres begegnet. Darf ich um die Lizenzbedingungen bitten?“ „Es gibt nur eine: Nur für den sehr persönlichen Eigengebrauch. Bitte keine Weitergabe, ausnahmslos.“ „Und Mutti?“, entgegnet Karl prompt. „Das ist etwas anderes. Wenn du deine Partnerin fürs Leben gefunden hast, wirst du auch oder besonders in solchen Dingen Klarheit und Übereinstimmung mit ihr schaffen müssen.“ „Aber ihr habt doch noch gar nicht ... Ich verstehe: du bist dir sicher, auch ohne daß ihr das in Einzelheiten besprochen habt.“ „Ja, ich bin mir sicher, weil wir das prinzipiell noch viel detaillierter besprochen haben in all den Jahren. Wenn wir uns also hierzu verstehen und einig sind“, sein Sohn bestätigt durch heftiges Nicken, „empfehle ich dir, die jüngste deutsche Geschichte im stillen Kämmerlein zu studieren. Vielleicht gibt es ja auch mal Sendepausen mit den Beatles. Ich empfehle besonders die im Schulunterricht vernachlässigten Daten Juni 1953, Berlin und Juni 1956, Poznan und Oktober 1956, Ungarn und die Kubakrise 1962. Bei Informationsmangel oder Interpretationsproblemen bist du jederzeit in die Hütte oder auf diese Kanzel eingeladen.“ Karl macht große Augen und versteht wieder mehr, als Henri hatte sagen wollen. „Und ich dachte bisher, gerade diese beiden sind ausnahmslos jagdliche Einrichtungen, keine Bildungsstätten der besonders interessanten Art. Ach, bevor ich das vergesse, unabhängig von diesem letzten Satz und der darin enthaltenen Erkenntnis: wenn ich demnächst vorzeitig in den edlen Bund der Studenten erhoben sein werde, könnte es ja auch sein ... Ich meine, falls ich mal ein Mädchen auf seine Tauglichkeit als Partnerin fürs Leben prüfen will ... Ich meine, ist die Hütte auch mal ohne dich für mich + Anhang nutzbar?“ Henri kann jetzt doch nicht mehr an sich halten: „Als wir hier heute die Leiter hochgekommen sind, habe ich bei mir gedacht, daß eigentlich eine ordentliche Portion Sexualaufklärung auch langsam überfällig ist.“ In beinahe väterlichem Ton kommt auch hierzu eine Sofortantwort: „Keine Unruhe bitte. Ich weiß, wie die Babys gemacht werden und wo sie rauskommen. Da genau geht´s auch erst mal rein.“ „Ich meine allerdings auch das Problem, daß es bei dir rauskommt und für Überraschungen sorgen könnte.“ Henri klopft seinem fast erwachsenen Sohn väterlich auf die Schulter und ergänzt: „Aber nicht zu viel an einem Tag. Wir haben mit der Hütte und dem Thema der Verhütung hoffentlich noch ein paar Tage Zeit. Bleiben wir noch jagdlich ein wenig hier?“ „Wenn wir schon mal den weiten Weg gegangen sind. Außerdem verdaut es sich hier sicherlich ganz gut und in Ruhe ... .“ Henri war sich anschließend sicher: das war ein gewaltiger Schritt, den sie heute gemeinsam gegangen sind. Der zweite erschien ihm jetzt nicht mehr völlig unmöglich ...

Kaum zu glauben, daß dieses Vater-Sohn-Gespräch erst im letzten Sommer stattgefunden hatte. Zu viel war in der Zwischenzeit passiert. Karl hatte gerade in Halle an der ABF etwas Fuß gefaßt, da starb ihnen die Frau und Mutter ziemlich plötzlich weg. Von Abschiednehmen konnte überhaupt keine Rede sein und bis heute war diese Unordnung aus seinem Kopf noch nicht gewichen. Allerdings ging das Leben mit brutaler Konsequenz einfach weiter: seht selber zu, wie ihr mit der völlig veränderten Situation klar kommt. Mehr aus eigenem Bauchgefühl hatte er dann, nachdem sich alles etwas beruhigt hatte, von der Möglichkeit Gebrauch gemacht und Wilhelm eine Nachricht zukommen lassen. Ob dessen Großmutter überhaupt noch lebte? Aber der Brief mußte ja angekommen sein; denn sonst würde Henri jetzt nicht hier auf der Kanzel sitzen und völlig überspannt auf seinen alten Kameraden warten. Ihm fiel erst jetzt auf, daß er sich ausgerechnet an einen Vertrauten aus seinem ersten Leben wendet, als er in diesem zweiten Leben Hilfe und jemanden braucht, dem er immer noch mehr als allen anderen vertraut.

1.2.Ein weiteres Gespräch auf der Kanzel

Dem Wetter nach zu urteilen wäre man deutlich geneigt, von Frühling zu sprechen, der Blick auf den Kalender zeigte jedoch eindeutig Ende März an. Henri war das milde Wetter sehr recht, zumal man nach diesem Winter 1965/66 weniger anspruchsvolle Erwartungen haben mußte. Vermutlich ging es seinem Besucher ebenso.

Und dann war er tatsächlich da: Wilhelm in voller Lebensgröße und als Waidmann gekleidet, was in seinem Falle als Verkleidung gelten durfte. Nach herzlicher Umarmung erkundigte sich Henri: „Die Klamotten hast du aber nicht illegal hier eingeführt?“ Das verstand sich von selbst, weil sie sich dann auch gleich bei Henri zu Hause hätten treffen können. Wilhelm drückte das Thema einfach beiseite, indem er sich bei Henri bedankte, daß dieser keine Fragen zur organisatorischen Absicherung ihrer Begegnung stellte. Henri verstand den Wink mit dem Zaunpfahl:weitere Fragen unerwünscht, sei froh, daß ich hier bin.Und genau das war er ja auch, was man ihm deutlich ansehen konnte. Die Beileidsbekundungen waren aus Wilhelms Munde ganz gewiß keine Formalität. Er wäre sicherlich ein guter Freund der Familie geworden, wenn es nicht äußerst unerwünscht wäre, daß der Westen mit dem Osten gut Freund ist. Bescheuerte Welt, bestätigten sie sich. Nachdem geklärt war, daß Henri genügend Katalyt-Vorrat zum Nachfüllen mitgebracht hatte, waren sie auch ohne weitere Umschweife mitten im Thema, was sich im Laufe des Abends als “mitten in den Themen“ herausstellte. Ein Stichwort gab das nächste. Es war schließlich einiges geschehen seit ihrem einzigen Nachkriegswiedersehen 1952. „Wie hoch bist du denn die Diensttreppe bei euch gefallen, oder sollten wir auch das lieber nicht besprechen?“, interessierte sich Henri. „Dann hätte ich ja gleich zu Hause bleiben können“, entschärfte Wilhelm. „Also da ist nach oben kaum noch Platz. Ich stehe, soweit ich das fernverfolgen konnte, dienstgradmäßig deutlich über dir: Oberst, mit demnächst zu erwartender Beförderung.“ „Da ist es wohl ganz gut, daß ich sitze. Das wird ja dann der General! Weißt du, ob es noch jemand aus unserem engeren Kreis zu so hoch hinaus gebracht hat?“ „Nein, soweit ich das überschaue, könnte ich mir etwas drauf einbilden. Und wie sind die Perspektiven bei dir?“, erkundigte sich Wilhelm ebenso direkt. Henri holte zum ersten Überraschungsschlag aus und flocht ganz nebenbei ein, daß er nach seinem Kubaeinsatz zuerst dieses Drillingsschmuckstück und danach den Major bekommen habe. Mehr beabsichtige er nach Möglichkeit nicht: „Ist alles schon viel zu weit gegangen ...“, faßte er zusammen. Als Wilhelm diesen Paukenschlag verdaut hatte, gingen die Details los: Wann? Etwa während der Krise? Was hast du denn ohne spanisch in Kuba gemacht? „Dann halte dich mal fest, damit du mir nicht vom Hocker rutschst. Ich war aus der NVA ausgeborgt als Ausbilder und Berater, im Auftrag meines sowjetischen Verbindungsoffiziers. Für 6 Monate lang da drüben.“ „Du bist dir aber schon darüber klar ... Ja, natürlich bist du. Da müßte man blind und blöd zugleich sein, womit du offensichtlich und zum Glück auch heute noch nicht dienen kannst. Das ist der GRU!“, konnte der bundesdeutsche Militärgeheimdienst in Person von Wilhelm nun doch sein Jagdfieber kaum zügeln. „Ich weiß“, gab Henri genüßlich zurück. Ihm war die Erregung natürlich aufgefallen. „Das habe ich auch schon manchmal gedacht: Wilhelm würde zweifeln bei so viel Jagdglück für seinen MAD. Das wäre waidmännisch gesehen wie zwei Achtzehnender an einem Abend erlegt.“ „Ja“, meinte dieser, jetzt schon deutlich ruhiger. „Ich erinnere mich genau wie du an unsere Abmachung: wir halten den jeweils anderen da raus!“ „Trotzdem muß ich noch einen draufsetzen: vor ein paar Wochen ist der zweite Anwerbungsversuch fehlgeschlagen und wir sind immer noch Freunde ...“, ironisierte Henri. „Nicht angeworben und trotzdem im Sonderauftrag als Militärberater bei Castro? Wie glänzend muß da wohl dein Ruf sein. Das war ja auch noch zu Zeiten von ... Hast du den Herrn Che Guevara etwa auch persönlich kennengelernt? Die hätten in unserem ehrenwerten Dienst ja gar nicht gewußt, was sie mit uns anstellen sollten. So viele Dienstgrade und Ehrungen gibt´s gar nicht.“ Betont ruhig und bestimmt entgegnete darauf Henri: „Genau darum haben wir das ja von Anfang an in weiser Vorausbefürchtung außen vor gelassen. Aber anmerken müssen wir zwei schon noch dürfen: ein Brandenburger fast General und der andere nur auf eigenen Wunsch kein GRU-Agent – und beide nur aus Anstand und ausdrücklich beiderseitigen Wunsch nicht in einen skandalösen Spionagefall verwickelt.“ Ja, bestätigten sie sich, darauf wäre es hinausgelaufen. „Da frage bitte keiner mehr, warum sich an uns die Gemüter so erhitzen: Wehrmacht hin, SS her – Fakt ist, daß wir begehrte Fachleute sind. Kannst du dich noch erinnern, daß du mir von den Amis und Gehlen, von Amis und Engländern und der Creme deutscher Atomphysiker erzählt hast. Damals hast du mir auch von einer dritten Variante erzählt, die du dann für dich gewählt hast: Militärischer Abschirmdienst. Das war 1952. Das ist einer meiner Hauptvorwürfe an unsere beiden Obrigkeiten: schlimmer als die Kirche, öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken.“ „Na klar erinnere ich mich. Habe in den Jahren öfter daran gedacht. Zwei Anmerkungen dazu: Erstens waren wir doch schon damals erschreckend weitsichtig“, lobte sich Wilhelm selbst und teilte nur deshalb mit Henri diesen Ruhm, damit es in ihrer kleinen Beratungskammer nicht allzu sehr nach Eigenlob zu stinken begann. „Und zweitens wird auf beiden Seiten dieser ach so entzückenden deutschen Grenze nicht heimlich, sondern unheimlich heimlich Wein getrunken. Ich kann dich vollkommen verstehen und sage dir erneut: du hast meine volle Hilfe, was immer du beschließt zu tun. Ich schließe mich dir nur nicht an, weil ich nicht lange etwas davon hätte. Spitzenärzte geben mir höchstens noch ein paar Jahre, bis der Krebs mich geschafft haben wird. Also zögere nicht zu lange. Das ist ein zusätzlicher Grund für mich gewesen, meinerseits keinen Augenblick zu zögern und mich auf den Weg zu dir zu machen. Dafür hätte ich mich selbst als Rumpelstilzchen verkleidet.“ Statt seinen alten Kameraden mit Fragen zu überschütten, umarmte Henri ihn wortlos. Einen langen Augenblick hatte er das Gefühl, als hielte sich Wilhelm dankbar an ihm fest.

Dann bat Henri ihn, sein eigenes ostdeutsches Gesamtpaket, wie er es nannte, zu bewerten, einzuschätzen, zu enträtseln. „Du weißt natürlich genauso wie ich, daß du das, was jetzt kommen wird, nicht einfach wieder vergessen wirst. Brauchst du auch nicht, solange du dich in allgemeinen Gewässern bewegen wirst und nicht mit einer Quelle in der DDR prahlst. Aber das könntest du auch wiederum gar nicht, weil es für euch die DDR ja überhaupt nicht gibt. Also wie sieht das dein scharfer Verstand, was mir dein Kollege vom sowjetischen Konkurrenz-Amt scheibchenweise zukommen läßt?“ „Damals, also zeitnahe wie das bei echten Spionen meisten der Fall ist, hätten wir nur als Prognose stellen können, was wir inzwischen wissen. Castro hat ganz clever reagiert. Nachdem die Verstimmungen wegen der vorenthaltenen Atomwaffen sich gelegt hatten, ist er zur Tagesordnung übergegangen, hat aus der Not eine Tugend gemacht. Castro verkauft heute Kubas Fell so teuer wie nur möglich. Die Kubaner sind selbst als Militärberater vor allem in Mittelamerika zugange. Und Info gegen Info: uns liegen zunehmend Anzeichen dafür vor, daß sie in Afrika aktiv sind oder werden. Da wir aber dort hoffentlich nicht auch noch mitzumischen gedenken, ist das nicht mein zentral brennendes Thema. Und Südwestafrika ist verdaut; sonst müßte ich im Zusammenhang mit Angola gleich noch um Namibia fürchten.“ „Weißt du eigentlich bei den Kubanern, wo ja fast jeder Militär ist oder war, genauer Bescheid?“, fragte Henri. „Nein, Fehlanzeige. Solange die nicht deutlich näher in unsere Bereiche kommen, bleibt´s auch hoffentlich so. Ich muß dir aber meine Eindrücke nicht so genau schildern: die stimmen mit deinen weitgehend überein. Breshnew interessieren die Kubaner nur als Werkzeug. So wie die Revolution immer nur gut ist, wenn sie den Sowjet-Einfluß festigt oder erweitert. Und was macht sich da besser, als ein Militärberater. Ich hoffe also, du hast dich nicht blamiert und gute Leute ausgebildet“, versuchte Wilhelm zu scherzen. Henri bekam ein sehr flaues Gefühl um Herz und Magen und wenn es nicht nahezu finster gewesen wäre in ihrem Konferenzräumchen, hätte Wilhelm sich jetzt über die plötzliche Blässe seines Gastgebers gewundert. So aber wendete der nur ihr Gespräch wieder der Hauptrichtung zu: „Das genau habe ich damals, spätestens als die Raketen mit Atomsprengköpfen ans Licht kamen, auch schon für mich selbst festgestellt. Die Sowjets haben mich im Vorfeld der Atomplänkeleien eiskalt benutzt, um ihr eigenes Image bei den Kubanern zu festigen. Das fiel übrigens für mich genau in die Berliner Mauerzeit. Wenn ich das persönlich nehmen würde, müßte ich obendrein beleidigt sein: mich weggeschickt und dann schnell mitten durch Berlin Zäune und Mauern gezogen. Ein sehr interessantes Thema übrigens auch für Kubaner, zumindest für einige von ihnen. Wir haben als strategisches Gedankenspiel Guantanamo eingemauert. Muß also gute Arbeit von mir gewesen sein, daß dort heute immer noch kein Mauerwerk steht: ich habe ihnen den strategischen Unsinn einer solchen Maßnahme nahegelegt, sozusagen als Ersatz-Frustbewältigung für mich selber.“ Wilhelm nickte zustimmend, unterbrach aber den für ihn äußerst spannenden Bericht nicht. „Vielleicht kannst du mir eine Schlüsselfrage beantworten: Was der Osten falsch macht, glaube ich aus eigener Beobachtung recht gut zu wissen. Aber warum fürchtet ihr im Westen den Kommunismus wie der Teufel das Weihwasser? Statt seinetwegen Krieg zu betreiben, braucht ihr doch nur eure Leute in den Osten zu Besuch schicken. Statt aufzubauschen, den zentralen Schwachpunkt zeigen. Aber nein, immer noch Goebbels-verdorben. Ist Lügen so viel einfacher oder macht´s einfach nur mehr Spaß?“ Wilhelm wurde nachdenklicher als bisher: „Da nehmen wir uns leider nicht viel, das ist wohl wahr. Jeder übertreibt, lügt, verfälscht. Inzwischen sind die Amis an einem Punkt in Vietnam angekommen, wo sie nur noch das Gesicht wahren und nicht als Verlierer dastehen wollen. Da hat sich überhaupt nichts vom Prinzip her geändert. Die interessiert eine ganze Region einen Scheißdreck. Weißt du eigentlich, daß die Amis in Laos mindestens genauso viele Bomben wie über Vietnam abwerfen und sogar Leute anwerben für einen Krieg, den sie Laos bis heute nicht erklärt haben? Wir müßten also vom Laos-Vietnam-Krieg sprechen und sollten wohl Kambodscha gleich mit einbeziehen! Noch dazu handelt es sich die ganze Zeit um einen sehr illegalen Krieg. Ganze Völker gegen den guten Ruf von verlogenen US-Präsidenten.“ Beide schwiegen, also Pause. „Ist hier rauchen erlaubt?“, erkundigte sich Wilhelm. „Waldbrandgefahr gering, wenn die Kippen nicht aus der Luke fliegen ...“

„Ich nehme an, wir steuern direkt auf den Grund für deine Einladung auf diese sehr kreative Beratungskanzel zu“, eröffnete Wilhelm nach seiner Nikotinstärkung das nächste Thema. Henri versuchte, sich zu rechtfertigen: „Sage mir einen Grund, aus diesem bösen Spiel nicht auszusteigen.“ „Aus deiner Sicht wird es keinen handfesten geben; aus meiner sehr persönlichen habe ich dir meinen, darauf zu verzichten, schon genannt“, entgegnete Wilhelm. „Vielleicht ist dein Sohn aber ein Grund.“ „Genau dem will ich noch ein wenig Zeit lassen. Der ist gerade dabei, sich in Richtung Abitur vorwärts zu kämpfen. An einer Art Elite-Schule: vielleicht hast du schon mal von einer ABF in Halle in Sachsen-Anhalt gehört. Mein Sohn könnte dir aus erster Hand Erlebnisberichte vom Feinsten liefern.“ Wilhelm klappte zum wiederholten Male an diesem Abend der Unterkiefer herunter. „Du mutest mir tatsächlich reichlich geheimdienstliche Enthaltsamkeit zu, lieber Henri,“ war sein kurzer, eindeutiger Kommentar. „Gilt unsere Abmachung eigentlich auch für unsere Nachkommen“, erkundigte er sich dennoch betont scheinheilig. Henri legte in alter Manier nach: „Daß ich auf den General verzichte, weil ich andere Absichten habe, bedeutet noch lange nicht, daß mein Sohn keine Karriere über das Sprungbrett eines Auslandsstudiums beginnen kann. Allerdings liegt darin fast dieselbe Zwickmühle für ihn wie meine eigene. Diese Entwicklung bringt es leider mit sich, daß ich das Ideologie-Dilemma gleich an die nächste Generation weiterreiche. Wie sehr ihn der Tod seiner Mutter dabei in der Ferne zu schaffen macht, weiß ich nicht. Hat sich gerade hier in der Nähe bis über beide Ohren verliebt, so daß er dort nicht einmal Trost in den Armen einer Mitstudentin suchen wird.“ „Ärgerlich?“ „Nein, wie das mit der sogenannten Liebe nun mal ist. Eher Stolz. Das trifft es schon sehr gut: irgendwann sollte man wohl seine Kinder der Selbständigkeit übergeben. Er muß und will doch sowieso sein eigenes Ding machen. Ob ich ihm da behilflich wäre mit ständigen Fußnoten zum Tagesgeschehen? Wenn er das Studium fest im Griff haben wird, werde ich abkömmlich, meinst du nicht? Seine eigenen Zweifel an unserem verheuchelten System habe ich schon verstärkt oder bestätigt, wo es mir ratsam erschien. Nun liebäugelt er allerdings noch mit der Illusion, daß man in die Partei eintreten müßte, um sie zu verändern.“ Wilhelm bestätigte wie so oft durch einen treffenden Vergleich: „Ich schätze, mit der Methode hat Arminius dem Varus im Teutoburger Wald größeren Schaden zugefügt. Man stelle sich vor, wir wären alle Nazis geworden, um Adolf den Großen zu verändern. Allerdings gibt es da einen grundsätzlichen Unterschied: Als Soldat sollte man kein Politiker sein wollen. Jedenfalls sehe ich mich so: Dienstleistung an der Politik, die hoffentlich Verstandesmenschen in ihren Reihen hat und das Richtige damit tut oder läßt.“ Henri nickte zustimmend: genau das traf den Kern seiner Ansichten, mit denen er aber hier im Osten fast zum Verräter werden konnte.

„Ich bin mir nur in wenigen Punkten schlüssig. Einer davon ist mein Wille, hier auszusteigen und dabei jeden scheinbar unvermeidbaren Einstieg auf der anderen Seite zu vermeiden. Das wird jetzt ohne meine Frau natürlich erheblich erleichtert. Ein weiterer Punkt, der die Erleichterung gleich wieder erschwert: ich will dabei unbedingt jeden Schaden von meinem Sohn abwenden“, sagte Henri und dachte an Karolina, entschloß sich aber, Wilhelm diese lange Geschichte vorzuenthalten, trotz aller Sympathie. „Quadratur des Kreises sagt man wohl dazu. Wenn mir jemand mit konstruktivem Rat beiseite stehen kann: hierbei bist du es. Am besten wäre es zu sterben und an anderem Ort als Totgesagter um so länger zu leben …“ Wilhelm sah eine ganze Weile durch ihn hindurch. Dann bestätigte er wie an sich selbst gewandt: „Das könnte es sein. Am liebsten sind mir die um Rat Fragenden, die wie du gerade bei der Frage gleich die Lösung mitliefern.“ Der fragende, abwartende Blick von Henri verriet nur eines: die Gewißheit, daß von Wilhelm jetzt der Knoten tatsächlich entwirrt werden könnte. Davon bemerkte Wilhelm jedoch nichts. Zu konzentriert verfolgte er eine Idee: „Wo wundert sich niemand, wenn man unschuldig stirbt und nicht einmal eine Leiche gefunden wird? Ein sehr verrückter Krieg wäre so ein Ort. Der verrückteste aller gegenwärtigen Kriege findet zweifellos an einem Ort mit Namen Vietnam statt; zu überbieten vielleicht noch durch den Ort namens Laos. Wenn du dorthin kommen könntest, wäre der Rest nur saubere Handwerksarbeit im Vorfeld und in der Nachlese.“ Jetzt schien es, als würde Henri seinen Freund kopieren. Sehr gedankenversunken kam aus seinem Munde: „Ja, das könnte der Grund sein. Mir kommt da gerade ein sehr düsterer Verdacht. Warum könnte wohl ein sowjetischer Verbindungsoffizier einen NVA-Offizier im Namen seines Armeegeheimdienstes nach Vietnam schicken wollen?“ Wilhelm war gewiß kein denkschwacher Typ, aber jetzt konnte er dem anscheinenden Themenwechsel nicht folgen. So hatte er denn einen Gesichtsausdruck, der dem von Henri vor einigen Sekunden verblüffend ähnelte. „Seit ein paar Wochen grüble ich nach einem Grund für den erneuten Anwerbungsversuch. Statt einer Antwort bin ich immer nur steckengeblieben bei meinem Stolz, wie gekonnt es mir doch gelungen ist, ihn dabei wieder einmal abzuschmettern. Ich glaube, dein Stichwort Vietnam könnte uns sehr viel weiterbringen. Woran kann ein GRU interessiert sein, was er nicht mit eigenen Leuten erfahren kann? Jetzt bist du als Fachmann gefragt, weil ich so um ein paar Ecken gleichzeitig gar nicht denken kann wie ihr Schlapphüte“, drängte er Wilhelm in die gewünschte Denkrichtung. Der sprang auch ziemlich plötzlich an: „Die großpolitische Situation dort unten ist zur Zeit nicht zu durchschauen. Ho Chi Minh scheint ein ebenso undurchschaubarer Kommunist zu sein wie es Castro ist oder zumindest mal war. Beide sind in erster Linie ausgeprägte Nationalisten. Von Kommunisten würde ich nur mit einem Zusatz sprechen: taktische Kommunisten. Zwar sind die Chinesen gerade für kurz oder lang hinter ihrer Mauer abgetaucht und machen Kulturrevolution, aber man weiß nie, was sie dabei ausbrüten. Was könnte deinen Sowjetfreund besonders an deinem Auftritt in Kuba gefallen haben?“ So näherten sie sich scheibchenweise in ihrer Denkweise an und kamen damit einer möglichen Antwort deutlich näher. „Ich denke, am meisten war er entzückt von meinem guten persönlichen Verhältnis zu den Kubanern, besonders zu dem für mich zuständigen Kommandeur.“ Wilhelm schüttelte traurig den Kopf: „Wenn ich das höre, blutet mein Geheimdienstherzchen. Was wärst du doch für ein vortrefflicher Spion. Aber nein, du gerissener Ganove hast dich abgesichert vor solch schnöder Aufgabe. Du wußtest wohl damals schon: man liebt den Verrat und verachtet den Verräter“, sinnierte Wilhelm rückfällig. Dann fragte er im Vorwärtsgang: „Hattest du schon mal irgendwas mit Vietnam zu tun, was deinen GRU-Anleiter auf die Idee gebracht haben könnte, das zu wiederholen?“. Jetzt klopfte Henri sich abwechselnd mit beiden Fäusten gegen die Stirn: „Daß ich da nicht selbst drauf gekommen bin: Ich hatte vor gut einem Jahr zwei Vietnamesen bei uns kurzzeitig unter meine Fittiche genommen und mich für den einen zum Ersatzbruder und für den anderen zum Ersatzvater entwickelt. Dein innerdeutscher Kollege vom Amt hat mich damals gefragt, ob ich denen was in den Freßnapf getan habe, daß die beiden mir so nachlaufen. Das könnte natürlich auch der sowjetischen Spürnase nicht verborgen geblieben sein …“ „Na dann fassen wir mal zusammen: bester Kontakt zu verbündeten Militärs trotz Sprachbarrieren, schnelles brauchbares und belastbares Vertrauensverhältnis. Wem gegenüber würdest du aus dem Nähkästchen plaudern, wie´s weitergehen könnte? Dein GRU-Mensch macht nur seinen sauberen Job: er sucht nach dem besten Spion. In diesem Falle könntest du ungefragt in die Adelskategorie erhoben werden: politische Beeinflussung, für die schnöde politische Informationen nur die Voraussetzung bilden. Und wenn das mit der Beeinflussung nicht klappt, bleibt immer noch erstklassige Information aus erster Hand. Ich würde dankbar sein, wenn ich bei solcher Suche so komfortabel fündig werden könnte. – Konntest du als Träger eines Normalhutes mir Schlapphut folgen?“, fragte Wilhelm mit Blick auf Henris grünen Jagdhut und einer Mischung aus Stolz und Ironie. „Am besten hat mir dabei gerade gefallen, wie psychologisch reif du die Situation durchschaut hast. Oder sagen wir mal vorsichtshalber durchschaut haben könntest. Seid ihr darin ausgebildet?“ Betont sachlich erklärte Wilhelm dazu: „Ja, auch Psychologie war im Pflichtangebot. Aber ohne meine Gesamterfahrung wäre es weiterhin dunkel wie vorher geblieben. Du meinst also, es könnte durchaus so ähnlich sein?“ Daraufhin bat Henri um Einzelheiten zur dortigen Lage. Es lief darauf hinaus, daß die Sowjets nicht sicher waren, für welche Richtung die Vietnamesen sich in den kommenden Jahren entscheiden würden. Bisher war in ähnlichen Fällen “gegen die USA“ fast gleichbedeutend mit “für die UdSSR“. Seit China sich zum Konkurrenten im eigenen Lager gemausert hat, nahm die “innerbetriebliche Brisanz“, wie Wilhelm es nannte, dramatisch zu. Als Henri Klarheit zu haben glaubte, faßte er auf seine Weise zusammen: „Und wie soll man da als betroffener Spielball nicht betroffen reagieren! Ausgangspunkt war doch die Frage, wo man am wahrscheinlichsten ums Leben kommt. Das aber scheint selbstverständlich einkalkuliert und der großen Revolutionssache geopfert zu sein, bevor es losgeht. Mich packt der Ehrgeiz, muß ich dir gestehen: da lebend durchkommen und den Spieß umdrehen, das wäre mir ein echter Zusatzantrieb. Hast du weitere so zündende Einfälle?“. Auf derartiger Grundlage besprachen sie am Ende dieses Abends die Überlegung, daß Henri tatsächlich in Vietnam landen sollte und welche Möglichkeiten sich daraus bieten könnten. Er würde Wilhelms bisherige Adresse benutzen können. „Kriegst du das wieder hin, daß dort auch tatsächlich ein Brief von dir ankommt?“, fragte Wilhelm. Henri überlegte kurz und entschied sich dann, in derart wichtiger Situation doppelt zu nähen: „Ich kann einen von hier und einen aus Polen schicken, mit sehr ähnlichem Inhalt.“ „Nein, mit völlig anderem Inhalt bitte. Auch sollte nicht erkennbar sein, daß es von demselben Absender kommt. Nur die entscheidende Information muß eindeutig erkennbar sein. Warum schlafende Hunde wecken und mit dem Feuer spielen ohne jede Notwendigkeit.“ Henri war froh, daß er nicht auch noch in dieser Branche Profi sein mußte. Sie vereinbarten also Inhalte, um die Voraussage eines Einsatzes in Vietnam sicher übermitteln zu können. Wilhelm würde dann einen Paß für Henri vorbereiten, der seinen noch zu konkretisierenden Vorgaben gerecht würde. Die “Zustellung“ würde auf die Kanzel erfolgen: „Der Briefbote wird wissen, wann du in diesem Zuhause deine Post sicher empfangen kannst.“ Henri schüttelte schmunzelnd den Kopf: „Ich kann mir so langsam vorstellen, daß man Spaß daran haben kann. Bei dir ist das ganz offensichtlich der Fall. Aber sage mal: so ein Paß kostet doch ein Vermögen oder zumindest ein halbes. Was kann ich …?“ „… gar nichts kannst du und noch weniger sollst du bitte daran überhaupt nur denken. Was meinst du, wie oft ich dir gern ein Weihnachtspaket geschickt hätte und diese bescheuerte Welt verflucht habe, weil´s ja nie ging. Da wäre inzwischen auch ein halbes Vermögen zusammengekommen; ich hätte wohl kaum nur Margarine ´reingepackt. Außerdem zahlt das die Bundesrepublik, ganz ohne die Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Nimm´s mal einfach so, daß ich uns das längst verdient habe“, unterbrach Wilhelm die Bedenken seines Freundes. „Aber wie schon gesagt: bitte nicht bummeln.“ Obwohl somit alles dringende gesagt schien, einigten sie sich auf eine Wiederholung am kommenden Abend. „Den verbuchen wir dann als total privat, obwohl wir sowieso schnell wieder in der Weltpolitik angekommen sein werden“, rechtfertigte Wilhelm diese zweite Begegnung auf der Kanzel, trotz damit verbundenen Risikos.

Und genau wie vorhergesehen nahmen echt private Dinge auch am zweiten Abend nur einen Bruchteil der Zeit ein. Dafür konnten sie sich ohne größeren Zeitdruck ein wenig weitläufiger austauschen. „Wenn ich mir das so überlege“, dachte Wilhelm laut nach, „und ich habe das schon sehr oft getan: wie hätte das eigentlich unter Ausschluß einer ganzen Generation damals weitergehen sollen? Klar, der Osten wirft uns vor, daß wir die halbe Wehrmacht übernommen hätten. Da ist was dran, daraus einen Vorwurf zu machen. Man hätte deutlicher zwischen Belasteten und Unbelasteten unterscheiden müssen. Ich meine im Sinne von Kriegsverbrechen. Allein die Zugehörigkeit zur Wehrmacht darf man jedoch nicht als Maßstab annehmen, obwohl das wohl jeden Betroffenen sein Leben lang belasten wird. Das hat doch aber schon bei den Prozessen in Nürnberg angefangen und ging weiter mit dem großen Fischfang der Spezialisten. Ich frage dich: ist ein Fallschirmjäger mehr belastet als ein Atomphysiker? Und wir wissen aus sicherster Quelle, daß die Russen dasselbe gemacht haben. Die waren nur sauer, daß sie mit der zweiten Garnitur vorlieb nehmen mußten, weil die erste schon von ihren werten Kriegsverbündeten weggefischt war. Der Krieg hatte noch kein Ende gefunden und wir beide waren noch nicht einmal zu Hause, als schon die nächste Kriegserklärung ausgesprochen wurde. Weniger mit Worten, dafür um so deutlicher mit Taten. Und weil dem Volk Sündenböcke vorgeworfen werden mußten, wurden die weniger Brauchbaren im Sinne von Wiederverwendung in die Arena geführt und zum Abschuß freigegeben. Das hat bei uns schnell aufgehört; bei euch ging das aus ideologischen Gründen natürlich nicht. Die Ideologie muß ja für alles in der großen Sache herhalten.“ „Ich bin letzten Endes ein sehr guter Beweis dafür, daß auf beiden Seiten dieselben Denkweisen angewandt wurden. Ich habe mich immer lustig gemacht, wenn die politischen Agitatoren aus der Kriegszeit sich für Fallschirm-Spezialisten hielten, nur weil sie vielleicht tatsächlich hinter den Linien in Deutschland abgesetzt wurden. Aber Politnik bleibt Politnik, zumindest sollte er es bleiben. Fazit: für den Aufbau von Spezialkräften in einer Armee wurden echte Fallschirmjäger gebraucht. Das kann man jetzt umlegen auf sehr viele Bereiche innerhalb und außerhalb der Armee. Was mich am meisten stört, ist die Verlogenheit, mit der die Hauptziele verheimlicht werden, und zwar auf beiden Seiten. Gut, ich war kein Offizier bei der Wehrmacht. Aber worin besteht denn der prinzipielle Unterschied zwischen einem gerade-mal-Unterleutnant und einem oben angekommenen Oberfeld? Zu sagen hatte doch der große Oberfeldwebel oft mehr als der kleine Unterleutnant. Das sage ich nicht, um mich nachträglich aufzuwerten, sondern weil es gegen mich in dieser NVA spricht“, regte sich Henri zum x-ten Male auf. „Weißt du, womit mich mein Verbindungs-Sowjet diesmal festnageln wollte? Erpressen wollte er mich. Sie wüßten sehr wohl, daß ich in der SS war. Ich habe ihn ausgelacht und an seinen Kollegen bei der NVA-Militärabwehr verwiesen. Dem habe ich das vor langer Zeit in Ruhe erklärt und der hat sich dafür bei mir ehrlich bedankt. Mich hat dieser hinterhältige Anlauf 23 Jahre nach Kriegsende so angekotzt, daß ich meinen Russen aufgezogen habe, daß er das nicht wissen könne, weil er damals ja noch zu klein und dumm war. Ich weiß nicht, warum er erstmalig in meiner Gegenwart rot angelaufen ist, ob aus Verlegenheit oder aus Wut. Ich glaube, beim ersten Anzeichen eines Wutausbruchs hätte ich ihn krankenhausreif geprügelt und eben auf diese Weise meine fragwürdige Karriere beendet“, erinnerte sich Henri. „Da finde ich die Version Vietnam und Fremdpaß schon bedeutend spannender als einen Russen für seine mickrige Hinterhältigkeit zu schlagen. Henri, das tut man nicht!“, lästerte Wilhelm mit erhobenem Zeigefinger. Dann erzählte Henri noch den Fall Leinenanzug mit Havanna-Zigarre und beendete so das Thema Verbindungsoffizier zu beider vergnüglicher Unterhaltung.

An diesem zweiten Abend fiel ihnen der Abschied sehr schwer. Diesmal war da kein “morgen noch“, diesmal wußte jeder, daß es der letzte Abschied sein könnte. Beide hatten Tränen in den Augen und einen dicken Kloß im Hals. Sie hatten sogar davon gesprochen, wer von ihnen beiden den schwereren Weg vor sich habe. Jetzt stand Henri mit Hochachtung vor seinem Kameraden und gestand ihm: „Es ist eben nicht dasselbe, ob man möglicherweise nicht von einem Einsatz wiederkommen könnte oder ob man mit Sicherheit weiß, daß man gegen die Krankheit verlieren wird. Ich ziehe den Hut vor dir, mein Freund. Und ich werde nicht nur Weihnachten und zu deinen Geburtstagen in Gedanken bei dir sein. Es ist gut, daß wir uns in diesem Leben begegnet sind und das Beste daraus gemacht haben. Danke, Wilhelm.“ Der umarmte Henri lange. Dann stieg er schweigend die Leiter hinab und verließ ihr wohliges Konferenzzimmerchen in Richtung Mecklenburg. Auch wenn sie sich kaum wiedersehen würden: ihren letzten gemeinsamen Absprung würden sie noch in den Zielkreis bringen. Wilhelm hatte Henri gebeten, auch in seinem Namen sein Ziel bis zum erfolgreichen Ende zu verfolgen. Als Henri jetzt noch eine lange Weile allein oben saß, nahm er sich vor: „Ich werde dich mitnehmen, wenn ich versuchen werde, dieser verdrehten Welt zu entkommen. Zu zweit kommt man auch besser durch … “

Urlaubserlebnisse - 1967

2.1.Brno 1967 – Nicht mein erster Nichtangriffspakt

Viel mehr als Vorahnungen hatte auch Henri während seines Herbstbesuchs beim tschechischen Kameraden Franz nicht gehabt, die jedoch hingen schwer wie Herbstwolken in der Luft. Er hatte sein Versprechen eines erneuten Besuches wahrgemacht, wenngleich mit einjähriger Verspätung. Wer konnte denn auch ahnen, daß er in der Zwischenzeit zum Witwer werden würde. Franz war von dieser Nachricht tief erschüttert, selbst mit so großer Verspätung. Auch er hatte Henris Frau in bester Erinnerung. „Wirst gar nicht genug Blumen gehabt haben, um deiner Kleinen von uns allen wenigstens eine mitzugeben. Sie hat ja fast schon dazugehört damals“, bedauerte er. Henri hatte schließlich einfach alles stehen und liegen gelassen und es endlich geschafft, zu Franz zu reisen. Jagd war auch im zurückliegenden Jahr die einzige Beschäftigung, bei der er Ablenkung und gleichzeitig zu seinem inneren Gleichgewicht zurückfand. Mit Ende Oktober hatte er eine nahezu ideale Zeit gewählt, um mit Franz Anfang November auf die versprochenen Hirsche zu gehen. Ja, sie wollten es sich gut gehen lassen während dieses Jagdurlaubs. Nun erst recht. Abends bis in die Nächte hinein waren sie bei gutem Mondlicht im Revier und Henri konnte seinem Freund anerkennend bescheinigen: „Du hast ja wirklich alles bestens im Griff hier in deinem Wald. Immer noch der Alte.“ Franz genoß es sichtlich, mit seinem Freund mehr Zeit zu verbringen und sich ohne Zögern und Drumherum an die gemeinsame Zeit als Fallschirmjäger zu erinnern.

So verbrachten sie die beiden ersten Tage in scheinbarer Sorglosigkeit. Die Nachmittage brauchten sie jedoch nicht auch noch zum Ausschlafen, so daß Franz seinem Gast auch etwas von seiner heutigen Heimat zeigen konnte. Dabei konnte Henri feststellen, daß Franz durchaus nicht isoliert oder abgeschirmt lebte: mehrfach wurde er unterwegs auf der Straße freundlich angesprochen – und mehrfach ließ er sich auch interessiert auf kürzere oder längere Gespräche ein. Sie hatten ja Zeit und so hatte Henri seinem Freund ausdrücklich zugeredet, unterwegs seinetwegen keinen Bekannten zu vernachlässigen. „Ich bleibe in Sichtweite und sehe mir an, was gerade geboten wird“, beruhigte er seinen Gastgeber. So kam es denn auch, daß Franz mit einem Bekannten von der anderen Straßenseite herüberwechselte, sie beide miteinander bekanntmachte und vorschlug, auf ein Bier irgendwo einzukehren. Das Gespräch sei doch nicht so kurz abzuhandeln und würde sicherlich auch ihn interessieren. Die Sprachbarrieren waren erst größer geworden, als es in Einzelheiten ging, so daß Franz vermitteln mußte. So erfuhr Henri, was auch Franz ihm derart detailliert nicht hätte mitteilen können. Die Zeiten waren äußerst schnellebig geworden: „Besonders hier bei uns tut sich derart viel, daß es langsam erschreckend wird.“ Die “neueste Neuigkeit“ brachte sein Bekannter, ein Parteimitglied, auf den Punkt. Studentenproteste, die lediglich sozial-materielle Hintergründe gehabt haben, wären auf Anweisung des Parteichefs Novotny brutal unterbunden worden. Daraufhin seien die Gegensätze in der Parteispitze noch offener zutage getreten als bisher. „Wenn du das Volk fragen würdest, wäre Dubcek noch heute an der Parteispitze. Dieser Betonklotz Novotny macht es durch seine blöde, sture Haltung doch erst schlimm: durch Meinungsunterdrückung und Mißbrauch der Partei als Maschinerie zur allgemeinen Volksunterdrückung werden die Gegensätze nur künstlich zugespitzt. Niemand sollte von imperialistischer Einmischung sprechen, wenn das Volk interne Diskussionen führen will und führt. Novotnys Haltung bedroht den Sozialismus mehr als der überhaupt denken kann. Hoffentlich ist das alles noch im friedlichen Rahmen zu halten. Jedes Kätzchen wird zum Raubtier, wenn es zu intensiv gereizt wird.“ Henri kommentierte spontan: „Es ist doch überall das gleiche. Aber ich habe bei uns noch von keinem Mann gehört, der das Format eines DDR-Dubceks hätte.“ Der einzige Parteilose in dieser Runde war Franz. Der steuerte jetzt kurz und prägnant die Zusammenfassung bei: „Dann laßt uns mal schnell noch in Ruhe ein Bier trinken und das Jagdwetter für die nächsten Tage prognostizieren. Sonst werden wir womöglich alle drei ohne Ansehen von Person, Parteimitgliedschaft oder Staatsangehörigkeit wegen konterrevolutionärer Umtriebe verhaftet. Noch ist es auch bei uns hier nicht besonders weit mit der Meinungsfreiheit ... .“