Kosmische Erziehung in der Montessori-Pädagogik - Horst Schaub - E-Book

Kosmische Erziehung in der Montessori-Pädagogik E-Book

Horst Schaub

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Beschreibung

»Kosmische Erziehung" - dieser zentrale Begriff der Pädagogik Maria Montessoris ist manchen Missverständnissen ausgesetzt. Für Montessori selbst bündelt sich in diesem Ausdruck der Grundgedanke des Bildungsprogramms für Kinder von 6 bis 12 Jahren. In der vorliegenden Darstellung führt einer der besten Kenner erstmals in dieser umfassenden Form in das Konzept der Kosmischen Erziehung ein. In diesem ersten Band zeichnet er die Entstehung des Konzepts bei Maria Montessori und ihrem Sohn Mario nach und behandelt dann ein erstes großes thematisches Feld, die Geschichte des Universums und unserer Erde. Dabei stehen nicht allein die kognitiven, sondern auch die ethisch-praktischen Lernziele gleichwertig im Mittelpunkt.

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Horst Schaub

Kosmische Erziehung in der Montessori-Pädagogik

Die Entstehung des Konzepts der Kosmischen Erziehung - Die Geschichte des Universums und unserer Erde

Impressum

Titel der Originalausgabe: Kosmische Erziehung

in der Montessori-Pädagogik

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Berres & Stenzel, Freiburg

Umschlagfoto und Kapitelbilder: © Hartmut W. Schmidt, Freiburg

E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin

ISBN (E-Book): 978-3-451-80469-4

ISBN (Buch): 978-3-451-32431-4

Erster Teil

Grundlagen der »Kosmischen Erziehung«

1.Was bedeutet »Kosmische Erziehung« in der Montessori-Pädagogik? – Eine erste Orientierung

»Kosmische Erziehung«–dieser Begriff stößt oft auf Unverständnis und ist auch manchen Missverständnissen ausgesetzt. Das erste Kapitel skizziert in einem ersten Anlauf die Bedeutung und die Herkunft dieses pädagogischen Konzepts.

Schwierigkeiten mit dem Begriff

»Kosmische Erziehung«–was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung? Der Begriff ist in der allgemeinen pädagogischen Fachsprache wenig verbreitet und außerhalb der Fachkreise erst recht weitgehend unbekannt. Eltern, die ihr Kind in einer Montessori-Schule anmelden wollen, fragen sich deshalb nicht selten, was mit der »Kosmischen Erziehung« auf ihre Kinder zukommt. Aber auch Lehrerinnen und Lehrer anderer Schulen wissen häufig wenig damit anzufangen, und wenn überhaupt, dann sind es oft mehr oder weniger esoterische Assoziationen, die sie damit verbinden – oder es herrscht bei ihnen das Missverständnis, dass die »Kosmische Erziehung« in der Montessori-Schule einfach eine andere Bezeichnung für das Fach sei, das in der Regelschule »Sachunterricht« heißt. Wegen der Gefahr solcher Missverständnisse bei Eltern, Kollegen und in der Öffentlichkeit ist es notwendig, den von Maria Montessori (1870–1952) zusammen mit ihrem Sohn Mario Montessori (1898–1982) entwickelten Begriff »Kosmische Erziehung« und seine konzeptionelle Bedeutung in der Montessori-Pädagogik zu erläutern und ihn in seiner Entwicklung nachvollziehbar und verstehbar zu machen.

»Kosmische Erziehung« als Bildungsprogramm

Der Begriff und die Konzeption der »Kosmische Erziehung« beziehen sich nicht auf ein einzelnes Schulfach, sondern auf Maria und Mario Montessoris umfassendes Bildungsprogramm als »Grundstein der Schulerziehung« für die 6- bis 12-jährigen Kinder (Montessori 1988:42). Dieses grundlegende »Bildungsprogramm« ist nicht auf einen inhaltlichen Teilbereich schulbezogenen Lernens eingeschränkt, sondern umfasst in kindgemäßer Weise alle Bereiche unserer natürlichen und kulturellen Welt auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Kinder werden in die vielfältigen Zusammenhänge dieser Welt eingeführt und erwerben Wissen und Erkenntnisse über die Beziehungen unter den Dingen und die Welt als ein Ganzes. Ihr interessegeleitetes Arbeiten (Lernen) führt zum Staunen über die Vielfalt des Lebens von Pflanzen, Tieren und Menschen auf der Erde und die prachtvolle Größe des Universums. Die Kinder erwerben dadurch gerade in diesem Alter grundlegende Einstellungen im Sinne eines verantwortungsvollen Handelns in ihrer Umwelt und für den Frieden unter den Menschen in der Welt.

Erste Ansätze

In den 1930er Jahren kommt Maria Montessoris globale und universale Sicht der Welt in ihren Friedensvorträgen aus den Jahren 1932–1939 und in ihren ersten Vorträgen zur »Kosmischen Erziehung« im Januar 1936 zum Ausdruck. Die inzwischen 65-Jährige hatte im Anschluss an einen Kurs zur Erziehung 3- bis 6-jähriger Kinder in London zum ersten Mal in sechs Vorträgen ihre Vorstellungen von der Konzeption einer »Kosmischen Erziehung« für die 6- bis 12-Jährigen dargestellt (Montessori 2007, 2008, 2009). In diesen Vorträgen geht Montessori von den »kosmischen Gesetzen« (Naturgesetzen) im Universum und auf der Erde aus, geht dann auf die Wechselwirkungen und Kreisläufe in der Natur ein und kommt in den beiden letzten Vorträgen zur Frage nach der Stellung des Menschen in der auf neuen Erfindungen und moderner Technik basierenden Kultur von heute. Zum Abschluss beschreibt sie die Konsequenzen, die sich daraus für die Erziehung der Kinder ergeben.

Weiterentwicklungen des Konzepts

Die politisch-gesellschaftlichen Lebensbedingungen in diesen Jahren führten dazu, dass Maria und Mario Montessori die praktische Umsetzung dieser Vorstellungen von »Kosmischer Erziehung« erst in den 1940er Jahren, während des Zweiten Weltkriegs, in einer Montessori-Schule in Kodaikanal (Indien) weiterentwickeln und erproben konnten. Die veröffentlichten Vorträge von Maria und Mario Montessori aus diesen Jahren informieren über die sog. Kosmische Theorie als Grundlage der Kosmischen Erziehung und darüber, wie die »packende Geschichte« des Universums und der Erde dem Kind vorgestellt werden kann. Ungefähr zur gleichen Zeit, nämlich in den Jahren zwischen 1938 und 1951, entwickelte Maria Montessori ihre »Theorie der sensiblen Phasen« zu einer »Theorie der vier Entwicklungsstufen« von der Geburt bis zur Reife weiter und veranschaulichte diese 1950 (in Perugia) und 1951 (in Rom) mit zwei farbigen Diagrammen auf Schautafeln. Montessori verknüpfte jede dieser vier Stufen mit einem entsprechenden Erziehungskonzept. Die »Kosmische Erziehung« ist dabei das Erziehungskonzept für die zweite Entwicklungsstufe, die 6- bis 12-Jährigen.

Nach ihrer Rückkehr aus Indien führen Maria und Mario Montessori 1950 in der Universität Amsterdam eine internationale Montessori-Konferenz durch, in der sie zum ersten Mal in Europa über die Entwicklung der Konzeption der »Kosmischen Erziehung« in Indien informieren. In einem seiner Beiträge erzählt Mario Montessori Beispiele aus der Schule in Kodaikanal und vermittelt uns damit einen kleinen Eindruck von der Praxis der Kosmischen Erziehung:

Erste Unterrichtserfahrungen

»Wir begannen damit, den Kindern eine Vorstellung vom Universum und vom Sinn des menschlichen Lebens im Kosmos zu geben. Wenn Fragen aufkamen, verhalfen wir ihnen mithilfe einfacher und konkreter Hilfsmittel zu einem genaueren Verständnis der Wirklichkeit und der Ordnung der Weltereignisse.« Die Kinder »glaubten, dass sich Geschichte nur auf das bezöge, was in Indien geschah, und dass ihr Volk das älteste der Welt sei, weil es eine so alte Zivilisation habe. Sie waren verzückt von unseren Geschichten über altägyptische Geschichte und darüber, dass der Mensch ein sehr junges Geschöpf auf der Erde ist. Diese letzte Tatsache illustrierten wir mithilfe eines schwarzen Bandes von 100Metern Länge, dessen 0,5cm langes, pinkfarbenes Ende die Geschichte der Menschen im Vergleich zur Geschichte der Erde darstellt. Nur über den halben Zentimeter haben wir einige Gewissheit, doch über den schwarzen Teil wissen wir fast nichts. Dies gab den Kindern eine dunkle Ahnung von etwas Enormem, über das sie mehr wissen wollten. Wie war alles entstanden?« (Montessori/​Montessori 1998:13).

Materialien

In dieser Zeit in Indien entstehen zur Umsetzung der didaktisch-methodischen Konzeption eine ganze Reihe praktischer Materialien für Kinder. Hierzu gehören Erzählungen (sog. »Cosmic Tales«), große Schaubilder, Zeitleisten, Modelle, Experimente, Bild- und Textkarten u.a. zu den Bereichen Entstehung des Universums, Geschichte der Erde, Entwicklung des Lebens, Erscheinen des Menschen, Geschichte der Zivilisationen, die Reiche der Pflanzen und Tiere usw. Mario Montessori hat 1956, vier Jahre nach dem Tod seiner Mutter, in Perugia eine vierwöchige Studienkonferenz für Montessori-Pädagoginnen und -Pädagogen durchgeführt, die bereits in Montessori-Schulen arbeiteten, um ihnen die Praxis der Kosmischen Erziehung und die Rolle der Wechselwirkungen (Interdependenzen) zwischen den verschiedenen Bereichen in Natur und Kultur sowie den Einzeldisziplinen (Fächern, Wissenschaften) »begreifbar« zu machen.

Die »Großen Erzählungen«

Mario Montessori hielt in Perugia auch Vorträge über »die kosmischen Erzählungen als psychologische Schlüssel zur Erforschung von Natur und Kultur«, die hier erstmalig als »Große Erzählungen« (»Cosmic Tales«) oder »große Lektionen in Erzählform« (»Cosmic Fables«) bezeichnet wurden (Grazzini 2006:151 mit Anm. 3). Die Großen Erzählungen, die inhaltlich aneinander anschließen, haben heute die Funktion von »Schlüsselgeschichten«, die 6- bis 12-jährigen Kindern »panoramaartige Überblicke« über die Zusammenhänge in der Natur und Kultur geben und an die sie mit ihren weiteren Interessen im Detail anknüpfen können. Im Folgenden wird die Übersicht von Camillo Grazzini aus dem Jahr 1994 zitiert, der zu den Teilnehmern an der Studienkonferenz 1956 in Perugia gehörte und seitdem von Bergamo aus wesentlich zur weiteren Entwicklung und Verbreitung der Kosmischen Erziehung beigetragen hat.

Übersicht über die sechs kosmischen Erzählungen (Grazzini 2006:151):

»Gott, der keine Hände hat – die Erzählung behandelt die Entstehung des Universums und enthält deshalb die größte Gesamtvision, die dem Kind angeboten werden kann (Einführung speziell in die Geografie).

Die Erzählung des Lebens – sie behandelt sowohl die Entstehung und den Anfang des Lebens als auch die evolutionäre Entwicklung (Einführung in die Biologie).

Die Erzählung der Anfänge menschlichen Lebens(Einführung in die Geschichte der Menschheit).

Die Erzählung ›Der Ochse und das Haus‹ (Einführung in die Entwicklung der Schriftsprache und des Alphabets).

Die Erzählung über die Entstehung der Zahlen und des Rechnens(Einführung in die Mathematik).

Die Erzählung ›Das Land oder die Nation des großen Flusses‹. Sie wird meist »Der große Fluss« genannt und handelt vom menschlichen Körper (Einführung in die menschliche Physiologie und Anatomie).«

… und ihre didaktische Funktion

Die Großen Erzählungen geben einen Überblick über komplexe Wissensbereiche, an den sich eine differenzierte inhaltliche Weiterarbeit anschließt. Dadurch schaffen sich die Kinder allmählich eine breite Wissensbasis, die viele Bereiche umfasst. Sie beginnen, Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Vernetzungen zu durchschauen und bestimmte Ursachen von Vorgängen und Phänomenen zu verstehen. Neben den Großen Erzählungen gibt es eine ganze Reihe wichtiger Schlüssellektionen und weiterer Erzählungen, wie z.B. die zu den Pflanzen. Für die Weiterarbeit an den Themen der Großen Erzählungen stehen vielfältige Materialien in der Vorbereiteten Umgebung zur Verfügung.

In der weltweiten Montessori-Bewegung strukturieren die Großen Erzählungen mit den sich jeweils an sie anschließenden weiterführenden Themen, Inhalten, Materialien und Folgeaktivitäten das Bildungsprogramm der »Kosmischen Erziehung«.

In dem hier vorliegenden zweibändigen Werk zur Kosmischen Erziehung in der Montessori-Pädagogik dienen die Großen Erzählungen ebenfalls der Strukturierung:

Band1

Erster Teil: Grundlagen der »Kosmischen Erziehung«

Zur Entwicklung der Konzeption der »Kosmischen Erziehung«, wie sie von Maria und Mario Montessori in den Jahren zwischen 1936 und 1982 gestaltet worden ist und darüber hinaus von Montessori-Pädagoginnen und -Pädagogen bis heute weitergeführt wird.

Zweiter Teil: Von der Entwicklung des Universums zu den Erfindungen des modernen Menschen

Einstieg:Die Große Erzählung von der Entstehung des Universums: Gott, der keine Hände hat

Band2

Dritter Teil: Von der Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt zu den Systematiken in Form von »Bäumen« und »Sträuchern«

Einstieg:Die Große Erzählung von der Entwicklung des Lebens auf der Erde

Vierter Teil: Von der Menschwerdung in Afrika und den Epochen der Menschheitsgeschichte zum eigenen Leben in der Welt von heute

Einstieg:Die Große Erzählung vom Erscheinen des Menschen auf der Erde

Kosmische Erziehung – eine Zusammenfassung

Am Ende dieses einführenden Kapitels soll noch einmal Camillo Grazzini zu Wort kommen, von dem eine besonders prägnante Zusammenfassung dessen stammt, was Kosmische Erziehung ist (vgl. Grazzini 2006:156 – vom Verf. leicht gekürzt und sprachlich bearbeitet):

Kosmische Erziehung ist das Aneignen einer kosmischen Sicht der Welt bzw. eine einheitliche und zweckgerichtete Vision der Welt in ihren zwei Dimensionen: ökologisch (horizontal) und evolutionär (vertikal).

Kosmische Erziehung ist das Studieren des Universums und das Wissen sowohl über seine Komplexität als auch über die verschiedenen Kräfte, die das Universum als ein strukturiertes und geordnetes bestimmen.

Kosmische Erziehung ist die Entdeckung der verschiedenen Verhältnisse von Abhängigkeit und gegenseitigen Beziehungen, die zwischen den unterschiedlichen Kräften existieren, die in der Welt aktiv sind.

Kosmische Erziehung ist die Anerkennung der kosmischen Aufgabe, die jedes Element im Universum, sei es organisch oder anorganisch, bewusst oder unbewusst ausübt.

Kosmische Erziehung ist ein kreatives Experimentieren des Einzelnen und der Menschheit im Hinblick auf neue Wege des Lebens, ein Experimentieren, das sich auf natürliche und menschliche Phänomene bezieht und in verantwortlicher Teilnahme durchzuführen ist.

Kosmische Erziehung ist ein spezieller pädagogischer Zugang, bei dem wir vom Ganzen zum Detail gehen und bei dem jedes Detail zum Ganzen in Beziehung steht, wobei sich spezialisiertes Wissen und Interdisziplinarität parallel entwickeln, integrieren und einander komplettieren können. Das Ganze besteht dabei aus einem Zusammenhang strukturierter Teile.

Abschließend mahnt Grazzini: Wir sollten »niemals vergessen, dass Kosmische Erziehung in erster Linie der natürlichen Entwicklung des Kindes entspricht; sie beantwortet das, was ein Kind im Alter von sechs bis zwölf Jahren in seiner Entwicklung braucht« (Grazzini 2006:156).

2. »Kosmische Erziehung«–Die Entwicklung zwischen 1936 und 1939

Dieses Kapitel zeichnet vor allem die erste zusammenhängende Ausformulierung des Konzepts der »Kosmischen Erziehung« nach, wie sie in Maria Montessoris Londoner Vorträgen vom Januar 1936 vorliegt. Ein wesentliches Leitmotiv ist dabei der Gedanke eines harmonischen Ganzen, dessen Teile in einer für alle notwendigen Wechselwirkung miteinander stehen. Anders als in der Natur ist die Harmonie des Ganzen in einer immer mehr von Menschen geschaffenen Welt eine Aufgabe und ein Auftrag – wobei der Pädagogik eine bedeutende Rolle zukommt.

2.1Historisch-politische Lebensumstände 1 (1930–1935)

Bedeutung der Umstände

Die Entstehung der Konzeption der Kosmischen Erziehung ist nicht ohne die historischpolitischen Lebensumstände zu verstehen, unter denen Maria Montessori sie entwickelt hat. Der aufkommende Faschismus in Europa und der Zweite Weltkrieg beeinträchtigten ihre weltweite pädagogische Arbeit, sodass die Lebensumstände ihr keine Zeit ließen, über die Kosmische Erziehung ein in sich geschlossenes, systematisches Buch zu schreiben. Aus diesem Grund sind fast alle Texte zur Kosmischen Erziehung aus Vorträgen und Vortragsnachschriften hervorgegangen.

Maria Montessori hatte im Jahr 1916 ihren Hauptwohnsitz von Rom nach Barcelona in Spanien verlegt. Hier lebte sie von 1917 bis 1936 zusammen mit Mario, seinen vier Kindern Maria Elena (geb. 1919), Mario jun. (geb. 1921), Rolando (geb. 1925) und Renilde (geb. 1929), seiner amerikanischen Frau Helen Christie und vier Mitarbeiterinnen in einer Art Lebensgemeinschaft. Von Barcelona aus startete Maria Montessori zu ihren vielen pädagogischen und sozialen Unternehmungen in der Welt.

1932 brach die inzwischen 62-jährige Maria Montessori zu einer Kampagne für den Frieden und das Zusammenleben der Menschen in der Einen Welt (»Nazione Unica«) auf. Sie begann 1932 mit dem Vortrag Frieden und Erziehung vor dem Internationalen Büro für Erziehung des Völkerbundes in Genf. Es folgten die Vorträge Für den Frieden (Brüssel 1936), Die Bedeutung der Erziehung für die Verwirklichung des Friedens (Amersfoort 1936), Erzieht für den Frieden! (Kopenhagen Frühjahr 1937), Erziehung für den Frieden auf dem Internationalen Montessori-Kongress (fünf Vorträge, Kopenhagen Sommer 1937) und Erzieht für den Frieden! (London 1939), also bis kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. All diesen Vorträgen ist das Ziel gemeinsam, für die Verwirklichung der Friedenswissenschaft, die Erziehung der Menschen zum Frieden und die kosmische Mission der Menschheit auf der Erde zum Aufbau der neuen Welt des Friedens zu werben (vgl. Montessori 1989:42ff, 54ff, 86ff). In diesen Vorträgen gibt es Begrifflichkeiten, Sichtweisen und Argumentationszusammenhänge, die parallel auch in Montessoris »Kosmischer Theorie« eine Rolle spielen und später noch genauer herangezogen werden.

Vor dem Hintergrund einer solchen Friedensinitiative und ihrer universalen Auffassung von der »Nazione Unica« hatte die Ausbreitung des Faschismus in Europa für Maria Montessori, deren Pädagogik auf die Freiheit und Würde des einzelnen Menschen ausgerichtet war, weittragende Konsequenzen. Die im Sommer 1929 in Kopenhagen gegründete Internationale Montessori-Gesellschaft (Association Montessori Internationale, AMI) sollte ihren Sitz ursprünglich in Rom haben, wich aber nach Spannungen mit Mussolini 1932 nach Berlin aus. Dort konnte sie aber nach der Machtübernahme Adolf Hitlers und der Schließung aller Montessori-Einrichtungen in Deutschland im Jahre 1933 auch nicht bleiben und wurde schließlich 1935 von Barcelona nach Amsterdam verlegt, wo sie heute noch ihren Sitz hat.

Konflikt mit dem Faschismus

Zu einem folgenreichen Zwischenfall kam es während des Internationalen Montessori-Kongresses im April 1934 in Rom, als Maria Montessori während ihres Vortrags über »Frieden und Montessori-Methode« durch lautes Gerede und Pfeifen eine Gruppe junger Lehrer hinten im Saal gestört und provoziert wurde. Nachdem Mario ihr zugeflüstert hatte, dass es sich um eine Gruppe »faschistischer Schwarzhemden« Mussolinis handelte, packte sie ihre Papiere zusammen und beendete abrupt ihren Vortrag. Sie erkannte, dass sie vor dem Machtstreben Mussolinis im eigenen Haus nicht mehr sicher war. Maria und Mario verließen Rom und kehrten erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 wieder zurück (Schwegman 2000:180–183).

Maria Montessori und Mario M.Montessori 1935

Schon 1935 – unmittelbar nach dieser Erfahrung – machte sich die 65-jährige Maria Montessori von Barcelona aus auf nach London, wo sie den 21.Internationalen Kurs für die Erziehung von 3- bis 6-jährigen Kindern durchführte. Ob sie dabei schon geahnt hat, welche einschneidenden Veränderungen im folgenden Jahr auf ihr Leben zukommen würden?

2.2Die ersten sechs Vorträge Maria Montessoris zur »Kosmischen Erziehung« (Januar 1936 in London)

In seiner Einleitung zu seinem Vortrag Die fächerübergreifende Funktion der Kosmischen Erziehung informierte Greg Macdonald auf der 2.Internationalen Fachtagung des Internationalen Montessori-Ausbildungszentrums (MIA) in Pelham Anfang Januar 2005 über Maria Montessoris erstmalige Verwendung des Begriffs »Kosmische Erziehung«. Er sagte:

»Der Begriff Kosmische Erziehung wurde von Dr.Montessori erstmals in London im Januar 1936 vorgeschlagen. Zunächst hatten sie und ihr Sohn Mario den Terminus ›Tellurische Erziehung‹ erwogen, bis sie sich klarmachten, dass Kräfte außerhalb der Erde ebenfalls mitbedacht werden müssten. In London gab Maria Montessori (1935) einen Kurs für die Erziehung von Kindern im Alter von 3–6Jahren, und bei dessen Beendigung beantwortete sie in einer Reihe von Vorträgen viele Anfragen im Hinblick auf die Erziehung auch der älteren Kinder. Das Konzept der Erziehung der 6- bis 12-Jährigen erhielt die Bezeichnung Kosmische Erziehung. Kosmische Erziehung entstand aus der Beobachtung der Charakteristika und Bedürfnisse der Kinder der zweiten Entwicklungsstufe« (Macdonald 2006:212).

kosmisch (griech.) den Kosmos, das Weltall betreffend

tellurisch (lat.) auf die Erde bezogen, von der Erde herrührend

Londoner Vorträge vom Januar 1936

Inzwischen sind die sechs Vorträge, die Maria Montessori im Januar 1936 in London zur Kosmischen Erziehung gehalten hat, in den Jahrgängen 2007–2009 der AMI-Communications in Amsterdam veröffentlicht.

Im Folgenden wird versucht, die von Maria Montessori mündlich vorgetragenen Texte – die meist keine thematischen Zwischenüberschriften enthalten–, strukturiert zusammenzufassen. An vielen Stellen erweist es sich darüber hinaus als angemessen, den jeweiligen Gedanken wörtlich in der Diktion Maria Montessoris zu zitieren. (Dabei lehne ich mich an eine vorläufige deutsche Übersetzung des Montessori-Zentrums Münster an, die mir sehr geholfen hat.)

Generell gilt dabei das, was Maria Montessori nach der einleitenden Passage ihres ersten Vortrags betont: »Was ich Ihnen in diesem Kurs gern an die Hand geben würde, wäre ein Beispiel oder Muster, wie ich es nenne. Es ist nicht für das Kind, sondern nur für Sie persönlich bestimmt« (Hervorhebung – wie im Folgenden öfter – vom Verf.).

Erster Vortrag, Anfang Januar 1936 (Verstand, Leben, Kultur)

Maria Montessori beginnt ihre »Einleitung« mit einem Zitat aus dem Buch Acqua e aria ossia La purezza del mare e dell’atmosfera fin dai primordi del mondo animato [Wasser und Luft oder Die Reinheit des Meeres und der Atmosphäre seit den Anfängen der belebten Welt] von Antonio Stoppani (1824–1891), einem Priester und Naturforscher sowie Großonkel Maria Montessoris, von dessen Arbeiten sie immer wieder inspiriert worden ist.

Dabei sind Montessori drei Aspekte wichtig:

Kosmische Gesetze

die »kosmischen Gesetze« und die »Ordnung der Erde in Beziehung zur Ordnung des Universums«. Stoppani sagt dazu wörtlich: »Unter kosmischer Ökonomie oder tellurischer Wirtschaft verstehe ich, dass das System der geordneten Kräfte, die Komplexität der Gesetze, die Kette von Ursache und Wirkung, welche die Grundlage der Welt, in der wir derzeitig leben, darstellen und auf welche die sogenannte ›Ordnung des Universums‹ aufbaut, aufrechterhalten werden.«

Naturwissenschaftlicher Fortschritt

der wissenschaftliche Fortschritt historisch gesehen: Während die alten Römer und Griechen nur die gesetzliche Ordnung der Bewegung der Sonne und die Aufeinanderfolge der Jahreszeiten bewundern konnten, die ihre Sinne ihnen offenbarten, ist die moderne Naturwissenschaft in der Lage, »die Wunder dieser Ordnung darzustellen« und die »kosmischen Gesetze« bewusst zu machen.

Wechselwirkungen

der Zusammenhang von Zusammenarbeit untereinander und von ökologischer Wechselwirkung in der universalen Ordnung: »Es handelt sich hierbei um die Pflanzen und die Tiere, ein jedes verbunden mit dem anderen und beide wiederum mit der anorganischen Welt, deren kleinste Unordnung die Zerstörung der Lebewesen zur Folge hätte« (Hervorhebung vom Verf.). (In der hervorgehobenen Aussage kommt eine Sorge und Warnung zum Ausdruck, die von Maria Montessori häufig wiederholt wird.)

Im zweiten Abschnitt geht Maria Montessori zunächst von der Kritik am System der Schule für die zweite Entwicklungsstufe (also die 6- bis 12-Jährigen) aus. Obwohl darin so viel gelernt und dafür so viel Mühe aufgewendet werden müsse, führe all das doch nicht an sich schon zum Erfolg. Bei der großen Masse der Bereiche sei es vonnöten, die geistigen Kräfte in ihrer Ganzheit und den Verstand als Zentrum zu nutzen. Warum ist der Verstand in der zweiten Entwicklungsstufe so wichtig?

Rolle des Verstandes

Der Verstand »hält die Dinge in ihrer Beziehung zueinander aufrecht, vergleicht sie, leitet etwas von ihnen ab und trifft Schlussfolgerungen. Sobald diese getroffen sind, befindet der Mensch sich in einem Zustand der geistigen Befriedigung. Dieser lässt sich als ein Zustand der Ruhe beschreiben. Aber diese Ruhe ist kein passiver oder negativer Zustand, vielmehr repräsentiert sie den erreichten Gleichgewichtszustand und eine Art innere Harmonie.«

Der Verstand ist auch eine Grundlage, auf der intellektueller Fortschritt aufgebaut werden kann. Sich an den Verstand des Kindes in der zweiten Entwicklungsstufe direkt zu wenden ist notwendig, weil ein Kind dieses Alters dazu neigt, »nach der Beziehung zwischen den Dingen zu suchen. Während das Kind zuvor noch nicht dazu fähig war, diese Beziehung zwischen den Dingen zu erfassen«, ist es jetzt »dazu in der Lage, indem es seinen Verstand einsetzt«.

Zusammenhänge

Die Beziehungen zwischen den Dingen bringen beim Kind – so entwickelt Montessori den Gedankengang weiter – einen Aktivitätsanreiz, der ein starkes Interesse an Wissen über die Dinge anregt. »Sobald das Interesse geweckt wurde, nicht nur an einzelnen Dingen, sondern an der Beziehung zwischen den Tatsachen, führt das zu einer weiterführenden Suche nach Wissen. Wissen baut sich somit selbst auf, es webt sich in die Fäden, die bereits geknüpft waren.«

Für Montessori gibt es jetzt einen »springenden Punkt«: Die Realität hat nämlich »selbst kein Bewusstsein von einfachen Dingen und getrennten Phänomenen, die miteinander verbunden sind«. Wie kann das Kind bzw. der Mensch dieses Bewusstsein bzw. diese Bewusstheit erlangen? Montessori unterscheidet zwei Ebenen: eine untere Ebene, auf der die Realität durch einzelne Elemente repräsentiert wird, sowie eine höhere Ebene, einen höheren Bereich der Realität, wo »das Prinzip das System und nicht das einzelne Objekt ist«.

Abstraktion

Montessori stellt selbst die Frage: »Kann man ein System präzise und einfach darstellen?« und versucht die folgende Antwort: »Von diesem Lichtzentrum breiten sich auf allen Seiten Strahlen aus, die die einzelnen Forschungsgebiete in allen Zweigen der Kultur erreichen, sodass alles zu einer Verbindung wird, die alle einzelnen Themen in einer Verbindung der logischen Ganzheit zusammenhält. Die logische Ganzheit schließt die Erinnerung nicht aus, sondern hilft ihr. Die Elemente, an die man sich nur schwer getrennt erinnert, werden so zusammengehalten, und die Kraft der Abstraktion, die wirklich eine natürliche Gabe des Menschen ist, ordnet sich um eine geistige Einheit an.«

An Beispielen aus dem Kinderhausbereich macht Montessori dann anschaulich, wie die Kinder über die »materialisierte und systematisierte Abstraktion« an die vorher aufgestellte äußere Ordnung der Dinge angepasst werden und so zur inneren Ordnung gelangen. »Die Ordnung dient als Grundlage der Kultur, und um das zu bekräftigen, ist die geistige Ordnung genauso wichtig wie der Drang zur spontanen individuellen Forschung. Es gibt keinen Fortschritt in einem Chaoszustand oder unter einer Anzahl von Dingen, die in keinerlei Hinsicht miteinander verbunden sind.«

Bedingungen für das Fortbestehen des Lebens

In einem inhaltsbezogenen Teil geht Maria Montessori anschließend der Frage nach der Erhaltung des Lebens auf der Erde und dem Aufbau der Welt nach. Sie erörtert diese Frage anhand der Bedeutung des Wassers und der Luft als zweier Grundlagen des Lebens, die unentbehrlich für Lebewesen sind. Der Mensch, der Luft zum Atmen braucht, wäre in seinen Lebensmöglichkeiten gefährdet, wenn die Luft verseucht oder vergiftet wäre. Denn das hätte nicht nur das Ende seines Lebens zur Folge, sondern wahrscheinlich auch das Ende anderer Lebewesen auf dieser Erde. Ähnlich müssen die Lebewesen im Meer bestimmte Elemente aufnehmen, »und jegliche zeitliche Unterbrechung der Zufuhr dieser Elemente würde ihrem Leben ein Ende setzen«, wie Montessori sagt.

Montessori schlussfolgert daraus und spricht dabei die Zuhörer direkt an: »Also hängt das Leben nicht nur mit Luft oder Wasser zusammen, sondern mit der Reinheit des Wassers und der Luft. Sehen Sie, wie das Leben im Gleichgewicht steht? Es wäre eine Bedrohung des Lebens, wenn wir die Umstände, die Beziehungen der Elemente in der Luft oder im Wasser änderten. Sie sagen jetzt vielleicht, Sie wüssten das bereits, aber es ist sehr bemerkenswert, eine Tatsache, die es zu erwägen gilt, dass nicht nur dem einzelnen Leben, sondern auch dem universalen Leben die Gefahr des Untergangs drohen könnte. Es steht fest, dass sowohl die Luft als auch das Wasser gefährdet ist, verseucht zu werden, stets verschmutzt zu werden. Wie werden sie rein gehalten? Hier ist unser Problem, ein Problem, von dessen Lösung die Existenz aller Lebewesen abhängt.«

Montessori beschreibt dann den »ganzen Kreislauf, der arbeitet« folgendermaßen: »Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass, obwohl Luft und Erde stets verschmutzt werden, sie im Laufe der Geschichte doch durch eine Vielzahl kleiner Tiere rein gehalten wurden, Jahrhundert um Jahrhundert.« Wir müssen uns der »unzähligen Faktoren, welche die Luft und das Wasser verschmutzen, bewusst sein, die dazu neigen, ihre Zusammensetzung zu verändern, und außer diesen Elementen haben wir andere Elemente, die dazu geschaffen sind, die Reinheit der Luft und des Wassers wiederherzustellen, sodass wir einen Konflikt von gegensätzlichen Kräften vorfinden«.

»Leben erhält Leben«

Maria Montessori kommt zu einer interessanten Schlussfolgerung, die sie dann auch in späteren Beiträgen wiederholen wird: »Die kosmische Energie, die diese Elemente am Leben hält, ist das Leben selbst, sodass es tatsächlich Lebewesen sind, die die notwendigen Voraussetzungen für ihr eigenes Leben aufrechterhalten. (…) Während das Leben sich selbst rettet, erhält es gleichermaßen die Welt aufrecht. Wie wird die Welt aufrechterhalten? Durch das Leben– Leben, das sich selbst rettet.« In diesem Zusammenspiel von kosmischen Energien kommt für Montessori auch »die Zusammensetzung und der Aufbau der Welt selbst« zum Ausdruck.

Die »kosmische Mission« des Menschen

In einem letzten größeren Abschnitt reflektiert Maria Montessori die »unterschiedlichen Wege zu verschiedenen Zweigen der menschlichen Kultur«, zu denen die verschiedenen Wissenschaften, Kunst und Dichtung sowie Religion und Moralität gehören. In der Passage zur Geschichte der Erde und zur Geschichte der Menschheit ist folgende Aussage beachtenswert: »Der Mensch hat eine kosmische Mission, eine schwierige und neue kosmische Mission, und er schreitet in dieser Mission auf einem abweichenden Pfad voran, der in ein Labyrinth führt und auf dem er mit tragischen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.« Und das Kind?

»Wir haben beobachtet, dass in dem Kind normale Beziehungen mit seiner Umwelt aufgebaut wurden und die überlegenen, höheren moralischen Eigenschaften in ihm an die Oberfläche drangen, wie Disziplin, Ordnung in seinen Handlungen und Ordnung in seinen Gefühlen, Liebe.«

Der erste Vortrag über Kosmische Erziehung endet schließlich mit folgender Konsequenz und Aufforderung:

»Sprechen wir vom Weitergeben oder Erwerben der Kultur, gibt es zwei verschiedene Wege, die wir gehen könnten. (…)

Es gibt einen Weg, Kultur zu erwerben, der ein Holzweg ist, nämlich Egoismus, Utilitarismus. Auf diese Weise werden wir immer mehr Waffen für die niedrigere Natur des Menschen schmieden. Genau wie die Entdeckung von Stoffen wie Radium, neue Entdeckungen in der Chemie, die bloß den zerstörerischen Kräften des Menschen Auftrieb verschaffen können.

Kultur – egoistisch oder moralisch

Andererseits kann die Kultur ein Mittel der Erhebung sein, der kontinuierlichen Beförderung, ein Mittel der stetigen Verbesserung des Gewissens, eine Disziplin, die den Menschenbefähigt, seine Umgebung, in der er lebt, und seine Mission in dieser Umgebung auszuweiten. Das können wir als den besonderen Teil der Kultur ansehen.

Eine Kultur, die kein Licht in die Wertigkeit der Individualität und keine Harmonie in die Zusammenarbeit des Menschen bringt, ist unmodern, zu alt, nicht organisiert, ohne Form und Gegenstand. Wir müssen uns bemühen, über diesen Zustand hinauszuwachsen.«

Zweiter Vortrag, 7.Januar 1936 (Kreisläufe: Leben, Kreide und Wasser)

Maria Montessori hat aus dem System der vielen Mineralreiche auf der Erde einige Stoffe wie Eisen, Salz, Marmor und Kreide zu ihrem Vortrag mitgebracht und wählt für die weitere Darstellung exemplarisch die Kreide aus.

Kreide als Beispiel

Wie Kinder sich oft über die Größe von Zahlenangaben wundern, würden auch die Zuhörer staunen, wenn sie erfahren und sich eine Vorstellung davon machen würden, wie groß die Menge der sich auf der Erde insgesamt befindenden Kreide ist: Zusammengepresst zu einem Klumpen, der 10.000Fuß [gut 3km] hoch wäre, würde sie eine Fläche einnehmen, die anderthalb Mal so groß wie ganz Europa wäre. Montessori stellt zwei Fragen: »Wo kommt Kreide her?« Und: »Was ist der Nutzen der Kreide?« In ihrer Antwort will Montessori »das Grundgesetz der Natur«–anders ausgedrückt: die »unvergänglichen Naturgesetze«–bewusst machen.

»Wasser spült weg und zerfrisst die Oberfläche der Erde.«

»Kreide formt riesige Bergmassen und sehr festes Gestein. Berge scheinen Unvergänglichkeit zu symbolisieren. Sie wirken unsterblich, ewig widerstandsfähig gegen Sturm und Unwetter. Diesen statischen Eindruck erhalten wir, weil unsere Existenz im Vergleich so kurzlebig ist.« Bei den Bergen denken wir etwa an die Schwäbische Alb, die Kalkalpen oder die Dolomiten. »Tatsache ist jedoch, dass diese Berge stetig abgetragen werden.« »Vor unseren Augen liegt der Beweis, wenn wir die Abtragung der Kontinente betrachten.« Sie folgen den Kreisläufen der »unvergänglichen Naturgesetze«.

Kreislauf der Kreide

Wasser ist ein Stoff, der eine enorme Kraft besitzt, und auch an der Abtragung der Kreide ist es beteiligt. Aber reines Wasser im chemischen Sinne (als H 2 O) kommt in der Natur nicht vor. In der Natur kommt Wasser immer in einer Mischung mit anderen Stoffen vor, und dazu gehört Kohlendioxid und in jedem Fall auch Kreide. Damit sich das Regenwasser an der Abtragung der Kreide in den Gebirgen beteiligen kann, muss es sich zuerst mit dem Kohlendioxid aus der Luft (Atmosphäre) verbinden, um dann die Kreide aus den Felsen lösen und mit sich forttragen zu können. Wasser ist das größte Lösungsmittel und trägt die gelöste Kreide überallhin. Und wenn das Wasser irgendwo verdunstet, werden aus der gelösten Kreide in ihm riesige Felsblöcke gebildet, die manchmal aussehen, als ob sie ein Bildhauer gestaltet hätte. Es entstehen schöne Naturerscheinungen wie zum Beispiel die ursprüngliche Felsbildung, aus der die Sphinx von Gizeh in Ägypten hervorgegangen ist. Was das Wasser mit der Kreide an natürlichen Formen an anderer Stelle wieder aufbaut, ist das Ergebnis der Abtragung von Felsen und Bergen aus Kreide. Und was diesen »weggenommen worden ist, erhalten sie nie mehr zurück«. Übrig bleibt »der Rest eines großen Berges, von dem eine große Menge Kreide regelmäßig weggespült« worden ist. Wasser hat also mehrere Funktionen. Es löst die Kreide aus den Felsen und spült sie fort, und es lagert sie wieder zum Aufbau neuer Kalksteingebirge an.

Kreislauf des Wassers

Bei diesem Vorgang »handelt es sich um einen Kreislauf, den Kreislauf der Kreide«. Ähnlich ist es beim Kreislauf des Wassers: »Wenn wir das Verhalten von Wasser beobachten, könnten wir sagen, dass es in Form von Regen auf die Erde kommt, diese ganze Arbeit verrichtet und dann ins Meer fließt. Dann verdunstet es und fällt wieder in Form von Regen auf die Erde.«

»Die Innenseite wird vollständiger zerfressen als die Oberseite der Erde.«

Das Wasser zerfrisst nicht einfach nur so die Oberfläche der Erde, es zerfrisst vielmehr auch die Innenseite, und zwar vollständiger, weil sich im Inneren mehr Druck, mehr Hitze und eine größere Menge Kohlendioxid befinden.

»Auf diese Weise bewegt sich das Wasser überallhin. Die Berge werden dadurch in Spalten geschnitten. Manchmal geschieht das so heftig, dass die Bergspitze nicht mehr gestützt wird und in sich zusammenfällt, und es entstehen diese Abgründe, die uns so sehr verwundern und uns den Eindruck einer heftig agierenden Kraft vermitteln.«

Höhlen – das Wasser als Künstler

»Von der Oberfläche der Erde an bis hinunter in die Tiefe von 300Metern befinden sich Tunnel, die in eine niedrige Höhle führen.« Die Gewässer rauschen in der Dunkelheit. (…) »Wenn das Wasser gesättigt ist, ist die Grenze erreicht, und es kann keine Stoffe mehr auflösen. Dann geht es seinen gewohnten Gang und folgt seinem Zyklus. (…) Es fängt an, die Substanzen auszuspucken, die es verschlungen hatte, und dann erhalten wir die uns wohlbekannten Stalaktiten und Stalagmiten. Mit jedem Tropfen Wasser wird ein kleiner Anteil Kreide hinterlassen.« (…) »Zauberhafte Grotten, wunderschön. Das in der Mitte fließende Wasser ist blau. (…) Hierbei handelt es sich nicht um bloße Zerstörungsarbeit, sondern um Konstruktionsarbeit. Das alles ist sehr künstlerisch, und das Wasser ist der Künstler.«

»Wasser trägt die Kreide mit sich weg, die es findet, und fegt alles in den Ozean.«

Montessoris Frage ist noch nicht beantwortet: Wo kommt die Kreide her?

Wasser »ist wunderschön, aber zerstörerisch. Es wirbelt die Kontinente auf und schleudert diese ins Meer. (…) Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Wasser, das verdunstet, die aufgelösten Stoffe nicht wegträgt, wird deutlich, dass einmal ins Meer beförderte Kreide daraus nicht mehr hervorkommt. (…) Wenn wir Wasser auf Kreide hin untersuchen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass sich keine Kreide im Meerwasser befindet. Das ist unser Problem.

Aktive Erhaltung des eigenen Lebensraums

Es muss jedoch etwas geben, das darin eine aktive Rolle spielt. Es handelt sich dabei um das Leben. Lebewesen steuern diesen Vorgang. Wie das Wasser der Schlund ist, der Dinge verschlingt, sind die Tiere die Schlunde, die Kreide aufnehmen. Große und kleine Muscheln und sogar die Korallen absorbieren den Stoff. (…) Die aktive Rolle bei der Steuerung dieser Vorgänge spielt also das Leben in Gestalt von Krebstieren, Muscheln, Schnecken und Korallen, die die Kreide aus dem Meer aufnehmen und für ihr Außenskelett (Schalen, Gehäuse) verarbeiten. Sie erschaffen damit seit Millionen von Jahren ihren Lebensraum nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für die Fische, die im kreidehaltigen Meerwasser nicht leben könnten. Wenn das Meerwasser Kreide enthielte, hätte das eine allgemeine Zerstörung des Lebens zur Folge. Nach ihrem Absterben werden die Überreste der Schalentiere als Sedimentgestein aus Kreide auf dem Meeresboden abgelagert. Sie stellen die Grundlage für die Entstehung neuer Kalksteingebirge dar. Und wenn wir heute die oben genannten Felsen und Gebirge untersuchen, finden wir in der harten Kreide die Reste von fossilen Schalentieren. »Das ist auch der Schlüssel zur Bildung von Kontinenten. Das Wasser trägt Kontinente ab, und Kontinente werden erneut im Meer gebildet.«

Montessori verallgemeinert den beschriebenen Zusammenhang des Lebens:»Leben bedeutet Bewegung, und das Leben durchläuft immer wieder diese Kreisläufe. Wir könnten den Kreislauf als Symbol für das Leben sehen. Wir wissen, dass es kontinuierlich so weitergeht, aber wir können nicht sagen, dass es irgendwo anfängt oder aufhört.«

Die »aktive Harmonie« des Lebens

»Es handelt sich hierbei um eine Zusammenarbeit des ganzen Systems, das die Voraussetzung des Lebens aufrechterhält.« »Wenn wir dabei den höheren Plan betrachten, fällt uns auf, dass alle Lebewesen, und seien sie noch so unterschiedlich, ihren Teil dazu beitragen, uns das Leben und die Harmonie des Universums aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund genießen die Tiere nicht die Voraussetzung des Lebens, sondern erschaffen sie und erhalten sie aufrecht.« (…) »Diese Tiere tun das seit Millionen von Jahren, sie schaffen sich ihren eigenen Lebensraum und beschützen ihn gleichzeitig. Alle arbeiten, jeder seiner Natur gemäß. Und wenn wir die Felsen und Berge untersuchen, finden wir in der harten Kreide die Reste von Tieren. Diese waren die Arbeiter, die die Berge geformt haben. (…) Wir fragen die Erde: ›Woraus bist du gemacht?‹ Die Antwort kann nicht lauten: ›Aus Stein.‹ Die Antwort sollte stattdessen lauten: ›Aus Leben.‹ ›Ich bin aus Leben gemacht. Das, was in mir steckt, ist die Arbeit von Lebewesen.‹«

Montessori schließt ihren zweiten Vortrag mit der Feststellung: »Diese Harmonie ist eine aktive Harmonie.«

Dritter Vortrag, 9.Januar 1936 (Kreisläufe: Muscheln, Korallen, Erdteile)

Maria Montessori hat den Zuhörern an diesem Abend ein paar Steine aus einer Sammlung und eine Auswahl Muscheln mitgebracht, die zwei Seiten eines Kreislaufs darstellen sollen. Sie wird sich in dem Vortrag mit dem Kreislauf von Wasser, Meer und Kalk, dann mit den Lebewesen, die Riffe und Muscheln aufbauen und dabei das Meer rein halten, sowie mit der Entstehung und der Rolle der Korallenriffe beschäftigen. An diesem »einzigen Detail« will sie die grundsätzliche »Wichtigkeit des Lebens und die Rekonstruktionsarbeit, die Lebewesen leisten, beweisen«. Es geht ihr im Prinzip darum, die Bedeutung dieses Lebenszusammenhangs für das Leben auf der Erde und im Universum im Allgemeinen deutlich zu machen, und nicht um den Kalk.

Sie setzt dann nach ihren Vorbemerkungen ihren Vortrag fort: »Wir haben das Leben als die Lebewesen in ihrer Beziehung zueinander angesehen, aber jetzt betrachten wir das Leben in einem anderen Bereich, im Bereich des gesamten Universums. (…) Wir könnten das Leben als eine Aktivität in der Natur ansehen, die die Manifestation von Kraft ist, einer Kraft, die jene Elemente betrifft, welche die natürliche Ordnung bilden.«

Das Leben als »natürliche Energiequelle«

Montessori erwähnt dann zum Vergleich die Sonne als natürliche Energiequelle, als Herkunft des Lichtes und als Grundlage der Elektrizität. Sie ist also für das Leben (auch) des modernen Menschen von zentraler Bedeutung. Und ihr stellt Montessori dann das Leben gegenüber: »Wir haben eine andere natürliche Energiequelle, das Leben, das sich in einer Reihe von Lebewesen widerspiegelt, in einer unendlichen Anzahl von Lebewesen, die mit ein und derselben Bestimmtheit in Verbindung gebracht werden, als ob sie ein Kräftesystem wären, das sich in die Entwicklung der Erde einbringt.«

Wenn Montessori die Zuhörer mit solchen Vergleichen konfrontiert hatte und etwas unsicher geworden war angesichts möglicher Überforderungen, dann schob sie – wie an dieser Stelle – folgenden Satz ein: »Sie dürfen jetzt nicht denken, dass ich hier biologische Wunder philosophisch erörtern werde!«

Biosphäre