Kränkungen (Fachratgeber Klett-Cotta) - Frank-M. Staemmler - E-Book

Kränkungen (Fachratgeber Klett-Cotta) E-Book

Frank-M. Staemmler

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum treffen uns Kränkungen in intimen und anderen nahen Beziehungen oft so tief? Der Autor untersucht Entstehungsbedingungen und Dynamik dieser seelischen Verletzungen, analysiert die typischen Reaktionsmuster und zeigt bessere Verhaltensalternativen auf. Sie sind so alltäglich wie schmerzhaft: Kränkungen unter Paaren, engen Freunden und im Berufsleben. Warum verwunden uns ein Vorwurf, eine unbedachte Kritik, zu wenig Rücksichtnahme oder Aufmerksamkeit manchmal so tief, dass wir glauben, aggressiv zurückschlagen oder gleich die Beziehung in Frage stellen zu müssen? Der Autor untersucht die Dynamik von Kränkungen und die dahinter stehenden Denkmuster, denen wir aufgrund unserer kulturellen Prägung meist automatisch verfallen. Sie zwingen uns in einen Kreislauf von schmerzlichen Gefühlen, beleidigtem Rückzug und Racheimpulsen. Das Buch zeigt, wie wir mit einem tieferen Verständnis das geläufige Täter-Opfer-Schema hinterfragen, besser einordnen und auf konstruktive Weise überwinden können. Partnerschaften wachsen daran ebenso wie andere nahe Beziehungen. - Emotionspsychologische Hintergründe werden gut nachvollziehbar erläutert - Mit Fallbeispielen aus der Praxis Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen aller Schulen - Auch für Interessierte und Betroffene geeignet

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 260

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frank-M. Staemmler

Kränkungen

Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © Artem Furman/fotolia

Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94585-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10965-8

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20332-5

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliographische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

1 Vorbemerkung

2 Ohne böse Absicht

3 Sechs Beispiele

Erstes Beispiel: Eine wortlos verlassene Frau

Zweites Beispiel: Einige zurückgeschickte Aktfotos

Drittes Beispiel: Ein verweigerter Abschiedskuss

Viertes Beispiel: Ein unerfüllter Wunsch

Fünftes Beispiel: Ein nicht bereitgestellter Porsche

Sechstes Beispiel: Eine hintergangene Ehefrau

4 Persönlich genommen

5 Metaphern, die die Welt (be-)deuten

6 Mechanik des Täter-Opfer-Schemas

7 Unterstellte Motive

8 Verrückte Tauben

9 Erster Wendepunkt

10 Emotionspsychologie

11 Beeinträchtigung des Selbstwerts

12 Leid des Getrenntseins

13 Unsichtbare Horizonte

14 Bis hierhin

15 Zweiter Wendepunkt

16 Sofortmaßnahmen: Minderung von Leid

16.1 Die Beiträge des Einen

16.2 Die Beiträge der Anderen

16.3 Gemeinsame Beiträge

17 Prävention: Verhinderung von Leid

17.1 Den Anderen weniger Anlässe für Kränkungen liefern

17.2 Die eigene Kränkbarkeit reduzieren

18 Zu guter Letzt

Literatur

Dieses Buch widme ich all jenen Menschen, die die Courage haben, sich ihrem psychischen Leid zu stellen, und die herausfinden wollen, welchen Einfluss die eigenen psychischen Prozesse dabei ausüben. Sie haben es sich ehrlich verdient, die Früchte ihres Muts zu ernten.

Ich widme dieses Buch außerdem allen jenen, die sich dafür engagieren, dass sie in ihren Beziehungen mit Anderen zum gemeinsamen Wohl beitragen und dass auftretende Schwierigkeiten konstruktiv verarbeitet werden.

(Die Menschen, die zu der einen bzw. zu der anderen Gruppe gehören, sind oft identisch.)

1 Vorbemerkung

Vom Einfluss der Kultur, der Opfermentalität und der Suche nach Würde

»Entschuldigung«, sagte ein Fisch aus dem Ozean zu einem anderen. »Du bist älter und erfahrener als ich und kannst mir wahrscheinlich helfen. Sag mir doch, wo kann ich die Sache finden, die man Ozean nennt? Ich habe vergeblich überall danach gesucht.« »Der Ozean«, sagte der ältere Fisch, »ist das, worin du jetzt gerade schwimmst.« – »Das? Aber das ist ja nur Wasser. Ich suche den Ozean«, sagte der jüngere Fisch enttäuscht und schwamm davon, um anderswo zu suchen. (de Mello 2013, 213)

In der psychotherapeutischen Arbeit lernt man seine Klientinnen und Klienten1 sehr genau kennen. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie stark viele von ihnen in ihren Beziehungen von sozialen Ängsten, Schamgefühlen und erlebten Kränkungen beeinträchtigt sind. Das gilt sowohl für Partnerschaften und Ehen als auch für andere familiäre Beziehungen, aber auch für Freundschaften sowie für Beziehungen zu Kolleginnen und Vorgesetzten am Arbeitsplatz. Im Berufsleben, wo Probleme wie Burn-out oder Mobbing immer häufiger auftreten bzw. thematisiert werden, spielen Kränkungen eine große Rolle.

Weil man in der Arbeit mit Paaren beide Seiten des Problems unmittelbar miterleben kann, zeigen sich hier die Entstehungsbedingungen von Kränkungen in allen Einzelheiten und mit besonderer Deutlichkeit. Außerdem kann man hier sehen, wie frühere und aktuelle Kränkungen es den Beteiligten schwer machen, ihre Verbundenheit und Liebe zueinander deutlich zu spüren und zu genießen. Trotz vielfältiger Bemühungen gelingt es ihnen seltener, als ich es ihnen wünschen würde, aus dem Kreislauf von leidvollen Gefühlen, beleidigtem Rückzug und aggressiven Vorwürfen auszusteigen, sich einander wieder anzunähern und – vor allem – wieder anzuvertrauen. Das hat sowohl erhebliche Auswirkungen auf das seelische Wohlbefinden und die Qualität der Beziehungen zwischen den Betroffenen als auch auf deren körperliche Gesundheit und Lebenserwartung (vgl. Holt-Lunstad, Smith & Layton 2010).

Nach meinem Eindruck sind die Schwierigkeiten im Umgang mit Kränkungen nicht nur – bzw. nur zu einem Teil – auf die persönlichen Schwächen und Empfindlichkeiten der Beteiligten zurückzuführen, sondern überwiegend darauf, dass die in unserer Kultur gängigen Denkmodelle den Entstehungsbedingungen und der Dynamik von Kränkungen kaum gerecht werden. Aber die in einer Kultur üblichen Denkmuster sind sehr mächtig. Sie schlagen sich, von den Betroffenen oft unbemerkt, im Denken und Erleben der Menschen nieder, die in dieser Kultur aufwachsen und leben, und haben einen starken Einfluss darauf, wie diese Menschen sich dann fühlen und verhalten. Die Wirkungen solcher Denkmuster zeigen sich nicht nur in den zwischenmenschlichen Beziehungen, um die es mir hier geht, sondern z. B. auch auf den Ebenen politischer und internationaler Konflikte.

Eine Kultur ist für den Menschen ungefähr das, was für einen Fisch der Ozean ist: Weil die Kultur den gesamten Lebensraum umfasst, ist in vieler Hinsicht kaum noch zu erkennen, wie umfassend ihr Einfluss ist und in wie vielfältigen Formen sich ihre Wirkungen bis in die kleinsten Nischen unseres Lebens hinein erstrecken. Mein Kollege Gordon Wheeler hat das einmal sehr schön formuliert, als er sagte,

dass all jene Muster in unserer Erfahrung, die am tiefsten kulturell geprägt sind, zugleich meistens jene sind, derer wir uns am wenigsten bewusst sind. … Die tiefste Ebene der Kultur ist daher die ›Realität‹ selbst: alle die Dinge, die ich nicht für kulturell halte, weil ich meine, dass die Welt nun einmal so sei. (2005, 94)

Zwischenbemerkung 1: In vieler Hinsicht ist die Art und Weise, wie Menschen eine Situation erleben, folglich bereits mit kulturellen Einstellungen ›imprägniert‹. Es gibt nicht zuerst eine ›natürliche‹ Erfahrung, die dann erst nachträglich interpretiert würde: »Kulturell geprägte Annahmen, Wertvorstellungen und Einstellungen sind kein konzeptueller Überzug, den wir nach Belieben unserer Erfahrung überstülpen können oder auch nicht. Es wäre korrekter zu sagen, daß alle Erfahrung durch und durch kulturabhängig ist, daß wir unsere ›Welt‹ in einer Weise erfahren, derzufolge die Erfahrung selbst unsere Kultur schon in sich trägt.« (Lakoff & Johnson 1998, 71 – vgl. auch Bruner 1997)

Was das Verständnis von Kränkungen betrifft, so herrscht in unserer Kultur meist das auffällig simple Täter-Opfer-Schema vor. In diese Schablone werden die vielschichtigen Interaktionen gepresst, die eine Rolle dabei spielen, dass ein Mensch sich durch einen anderen gekränkt fühlt; und im Rahmen dieses Schemas spielen sich dann die – leider meistens unbefriedigenden – Versuche ab, mit Kränkungen fertig zu werden. Sie, liebe Leserinnen und Leser, kennen all das sicher aus eigener Erfahrung und werden sich vermutlich in manchen Beispielen, die ich im Weiteren gebe, wiedererkennen.

Vielleicht werden Sie auch bemerken, dass es nicht immer leicht ist, sich von solchen Schablonen frei zu machen; sie sind in unserer Kultur einfach zu allgegenwärtig: Wir sind mit ihnen aufgewachsen, und sie werden uns in den Medien und vielen menschlichen Begegnungen immer wieder vorgeführt. Wir gewinnen dabei manchmal den Eindruck, die Welt bzw. die Menschen seien nun einmal so, wie das Denkschema es suggeriert. Und dann wehren wir uns sogar gelegentlich dagegen, wenn es infrage gestellt wird; ja, wir halten bisweilen lieber an etwas Gewohntem fest, selbst wenn es Nachteile mit sich bringt, als uns für Neues zu öffnen.

Von daher wird Ihnen die eine oder andere meiner Überlegungen vielleicht zunächst ›gegen den Strich‹ gehen, besonders wenn ich über Verantwortungen und Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Erlebnisse spreche, denen gegenüber Sie sich bisher machtlos und ausgeliefert gefühlt haben. Möglicherweise empfinden Sie meinen Ansatz, Kränkungen zu verstehen und mit ihnen umzugehen, auch als anspruchsvoll; gemessen an der tiefen Verwurzelung unserer kulturellen Denkmuster ist er das auch. Selbst wenn es mir gelingen sollte, Sie von meinen Ansichten zu überzeugen, wird es Ihnen deswegen nicht auf Anhieb und durchgängig gelingen, das gewohnte Denken und Fühlen durch ein neues zu ersetzen. Ich empfehle Ihnen daher, sich darauf einzurichten, dass die alten Muster sich gelegentlich wieder bemerkbar machen; Gewohnheiten sind mächtig. Lassen Sie sich dadurch nicht entmutigen! Begegnen Sie solchen Déjà-vu-Erlebnissen mit Freundlichkeit und Geduld und experimentieren Sie weiterhin mit den neuen Möglichkeiten – bis auch diese zur Gewohnheit werden und Ihnen als Alternative zuverlässig zur Verfügung stehen.

Ich möchte Ihnen die folgenden Überlegungen ungeachtet solcher zu erwartenden Schwierigkeiten zumuten, weil ich der Ansicht bin und Ihnen zutraue, dass Sie letztlich davon profitieren werden. Denn obwohl das Täter-Opfer-Schema so weit verbreitet ist, ist es nach meiner Erfahrung nicht geeignet zu verstehen, was bei Kränkungen geschieht; es ist bedauerlicherweise noch viel weniger geeignet, den Betroffenen dabei zu helfen, Kränkungen auf konstruktive Weise zu verarbeiten und so ihre Beziehungen wieder auf einen tragfähigen Boden zu stellen. Im Gegenteil: »Die Opfer-Mentalität führt zur Reduktion der menschlichen Erfahrung und der Komplexität sozialer Beziehungen auf eine einzige, monotone Weltanschauung« (Sykes 1992, 19). Die zur Rolle des Opfers komplementäre Täterrolle (und manchmal auch die des Retters) gehört unausweichlich zu dieser Weltanschauung dazu.

Diese bei uns übliche Art, Kränkungen zu verstehen und mit ihnen umzugehen, verschärft nach meinem Eindruck das mit ihnen verbundene Leid eher noch und erschwert oder verzögert eine baldige Erholung davon. Das ist deswegen von so großer Tragweite, weil sich Kränkungen in jeder zwischenmenschlichen Beziehung und ganz besonders in nahen und intimen Beziehungen ereignen können. Dabei geht es aus meiner Sicht letztlich um die Frage, ob es den an einem Kränkungsgeschehen Beteiligten gelingt, ihre gemeinsame Situation mit Würde und in Verbundenheit zu bewältigen.

Diese Frage lässt sich in mehrere Teilfragen unterteilen, und zwar erstens die Frage, wie ich selbst den Anderen behandele; respektiere ich dabei seine Würde? Damit hängt die zweite Frage eng zusammen: Wie wirkt mein Verhalten gegenüber dem Anderen auf meine eigene Würde zurück? Und das führt zur dritten Frage: »Welche Art, mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, gibt mir die Erfahrung der Würde?« (Bieri 2013b, 13)

Nach meinem Verständnis besteht Würde im Wesentlichen in einer verkörperten Einstellung, einer zentrierten und aufrechten Haltung, mit der ein Mensch in Ruhe und Bescheidenheit seinen Standpunkt auch im Angesicht von ernsthaften Unannehmlichkeiten einnimmt. Es handelt sich um eine schwer zu erschütternde Haltung der Ernsthaftigkeit, Verantwortlichkeit und Wahrhaftigkeit; sie zeigt sich im Respekt vor anderen Menschen und in einer Selbstachtung, die einen unempfindlich für Zweifel an den eigenen Menschenrechten und denen von Anderen machen. Die Haltung der Würde führt überdies zu einer Abneigung dagegen, die eigenen Wünsche und Ziele mithilfe manipulativer sozialer Strategien zu verfolgen, durch die man entweder sich selbst oder Andere zu Mitteln zum Zweck degradieren würde.

Mit dem folgenden Text möchte ich allen Menschen, die in irgendeiner Weise mit Kränkungen zu tun haben – und wer hat das nicht? –, einige meiner Gedanken zu diesem Thema zur Verfügung stellen, die sich im Laufe der Jahre für mich persönlich und in meiner psychotherapeutischen Tätigkeit als nützlich erwiesen haben. Ich hoffe, auf diesem Weg etwas dazu beizutragen, dass die Betroffenen die Fallen besser erkennen, die das kulturell vorgegebene Deutungsschema ihren Beziehungen und ihrem Empfinden von Würde stellt – und dann auch seltener hineintappen bzw., wenn sie schon einmal hineingetappt sind, sich leichter wieder daraus befreien.

Außerdem möchte ich alternative Sichtweisen anbieten, die ich für zwischenmenschliche Beziehungen für förderlicher und für die beteiligten Personen für würdevoller halte. Es wäre ein schöner Lohn für meine Arbeit, wenn es Ihnen, liebe Leserinnen, dadurch in Zukunft besser gelingt, die Häufigkeit, die Intensität und insbesondere die Destruktivität von Kränkungen in Ihren Beziehungen zu verringern bzw. da, wo sie schon stattgefunden haben, so mit ihnen umzugehen, dass Ihre Beziehungen sich nicht nur davon erholen, sondern möglichst gestärkt daraus hervorgehen.

Ich habe den Text in relativ kurze Abschnitte unterteilt, um die Lektüre meiner Überlegungen möglichst leicht zu machen. Ab und zu habe ich in den Text sogenannte »Zwischenbemerkungen« eingefügt, die grafisch mit einem grauen Rand gekennzeichnet sind und in denen ich zusätzliche Erläuterungen oder Hinweise gebe; das Stichwort, auf das sich die jeweilige Zwischenbemerkung bezieht und das sie ankündigt, ist im vorangehenden Haupttext fett gesetzt. Diese Zwischenbemerkungen können Sie, wenn Sie mögen, auch übergehen, ohne dass dabei der Sinn des Haupttextes unverständlich würde. Wenn Sie aber den darin enthaltenen Anregungen und Literaturhinweisen nachgehen, können Sie Ihr Verständnis für das Thema noch erweitern.

Ich würde mich freuen, wenn dieser Text Ihnen dabei hilft, Ihre Beziehungen mit den Menschen, die Ihnen am Herzen liegen, auf für Sie befriedigende Weise zu gestalten. Wenn Sie mir Rückmeldungen geben möchten oder zusätzliche Fragen haben, können Sie mir gerne schreiben. Sie erreichen mich über meine Website:

www.frank-staemmler.de

Am Ende dieser Vorbemerkungen möchte ich noch jenen Personen danken, die mir beim Schreiben dieses Buches behilflich waren. Dazu gehören vor allem viele meiner Klientinnen und Klienten, die durch das, was sie mir offen und detailliert von ihren Erlebnissen mitteilten, wesentlich zu meinem Verständnis von Kränkungen beigetragen haben. In manchen Fällen war ich mit ihnen auch persönlich in ein Kränkungsgeschehen involviert, und zwar sowohl als derjenige, durch den sie sich gekränkt fühlten, als auch als derjenige, der selbst gekränkt war. Gerade diese unangenehmen Erfahrungen und die Bemühungen, sie zu verarbeiten, haben mir selbst sehr geholfen zu verstehen, wie Kränkungssituationen sich aus beiden Perspektiven anfühlen und was die Beteiligten zu deren Bewältigung beitragen können.

Wertvolle Anregungen zur Verbesserung meines Manuskripts habe ich besonders meiner Lebenspartnerin Barbara Staemmler zu verdanken, die seine Entstehung Schritt für Schritt begleitet und immer wieder mit vielen hilfreichen Gedanken kommentiert hat. Unsere nunmehr 45-jährige Partnerschaft ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Quellen für meine Erfahrungen damit, wie es möglich werden kann, eine nahe menschliche Beziehung tragfähig und lebendig zu gestalten. Und auch meiner Tochter Katinka Staemmler, meiner Freundin Sonja Reiner, meinem Freund Rolf Merten sowie meiner Lektorin bei Klett-Cotta, Frau Dr. Christine Treml, möchte ich herzlich für ihre freundlich-kritische Beschäftigung mit dem Manuskript und für ihre nützlichen Anmerkungen danken. Es ist schön, mich mit diesen (und vielen anderen) integren Menschen verbunden und von ihnen unterstützt zu fühlen.

2 Ohne böse Absicht

Von der Unschuldsvermutung und dem Wesen der Tragik

Ich möchte diesen Text mit zwei Behauptungen beginnen, die Ihnen vielleicht auf den ersten Blick schwer verständlich erscheinen. Mir sind dafür zwar keine empirisch-wissenschaftlichen Belege bekannt (die wären methodisch wohl auch schwer zu erbringen), sie entsprechen aber vielen Erfahrungen aus meinem privaten und beruflichen Leben.

Die beiden Behauptungen, die ich zum Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen machen möchte, lauten:

Wenn Kränkungen zwischen Menschen stattfinden, sind sie in der Regel unbeabsichtigt.

Deswegen (und aus mehreren anderen Gründen) kann man auch in den meisten Fällen keinem der Beteiligten die alleinige Verantwortung oder gar die Schuld dafür zuschreiben.

Obwohl ich von dieser ›Unschuldsvermutung‹ überzeugt bin, halte ich mich nicht für naiv und will keineswegs abstreiten, dass Menschen einander absichtlich kränken können und dies auch gelegentlich tun. Sie tun das jedoch in der Regel nicht im Sinne einer initiativen Handlung, sondern wenn sie es tun, dann eher als subjektiv erlebte Reaktion, z. B. wenn – meist nach einer bereits erfolgten Kränkung – ein Streit entbrannt ist und ein böses Wort das andere gibt. Gerade das Gekränktsein wird ja häufig als Lizenz zum Äußern von kleineren oder größeren Gemeinheiten oder als Legitimation zum Intrigieren aufgefasst.

Aber in zwischenmenschlichen Beziehungen wie in Partnerschaften, Freundschaften und therapeutischen Beziehungen zwischen Erwachsenen oder auch unter Kolleginnen am Arbeitsplatz, die meinen Erfahrungshintergrund bestimmen und die ich beim Schreiben im Sinn habe, sind die Beteiligten nach meinem Eindruck einander in der Regel erst einmal wohlwollend zugewandt und daran interessiert, dass es ihnen miteinander gut geht. Keiner nimmt Kontakt auf, nur um den Anderen zu kränken, und keiner hat sich vorgenommen, sich vom Anderen kränken zu lassen.

Wenn dennoch Kränkungen passieren, dann geschieht das meist für beide Beteiligte unerwartet und überraschend; darin liegt eine nicht zu unterschätzende, manchmal geradezu schicksalhafte und verhängnisvolle Tragik. (Dass ich diese Behauptung nicht einfach aus der Luft greife, sondern dass es neben meiner persönlichen Erfahrung auch gute Gründe dafür gibt, wird weiter unten noch deutlich werden.)

Zwischenbemerkung 2: Die klassische griechische Tragödie, z. B. die von König Ödipus (Sophocles 2012), schildert in besonders plastischer Weise die Situation von Menschen, die in bester Absicht Entscheidungen treffen, deren Schicksal aber gerade darin besteht, dass ihre Entscheidungen sich dennoch als falsch erweisen; sie werden ›unschuldig schuldig‹: Der Versuch, das Schlimme zu vermeiden, bleibt erfolglos oder erweist sich sogar als maßgeblich dafür, dass es entgegen der ursprünglichen Hoffnung eintritt.

Diese Tragik ist oft schwer zu verstehen. Die Unterstellung böser Absichten lässt sich als der Versuch interpretieren, das komplexe Geschehen übersichtlicher zu machen; sie vereinfacht den Sachverhalt jedoch über die Maßen und wirkt auf mich in vielen Fällen wie der hilflose und wenig hilfreiche Versuch, sich einen Reim auf etwas zu machen, das auf den ersten oder auch zweiten Blick undurchschaubar und unverständlich erscheint.

Daraus ergibt sich die Frage: Wenn Kränkungen in persönlichen Beziehungen häufig unbeabsichtigt sind und keiner sie gewollt hat, wie können sie dann überhaupt stattfinden?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist es notwendig, sich zunächst mit einer anderen Frage zu beschäftigen, nämlich der Frage danach, was Kränkungen eigentlich sind. Dazu gebe ich im folgenden Abschnitt 3 ein paar Beispiele; in Abschnitt 4 beschreibe ich dann einige bedeutsame Verhaltens- und Erlebensweisen, wie sie in den Beispielen zum Ausdruck kommen.

3Sechs Beispiele

Von einer wortlos verlassenen Frau, zurückgeschickten Aktfotos, einem verweigerten Abschiedskuss, einem unerfüllten Wunsch, einem nicht bereitgestellten Porsche und einer hintergangenen Ehefrau – mit einer Zwischenbemerkung über Mobbing

Ich beginne mit einigen Beispielen, die verdeutlichen sollen, worin die Kränkungssituationen bestehen, von denen die folgenden Überlegungen handeln werden: Ich stelle mir dabei volljährige, verantwortliche Personen vor, die sich freiwillig an partnerschaftlichen, freundschaftlichen, kollegialen, therapeutischen und anderen mehr oder weniger nahen Beziehungen beteiligen.

Zwischenbemerkung 3: »Natürlich gibt es reale Opfer. Weder Rassismus noch Sexismus sind Mythen; zu viele Männer und Frauen erleben immer noch die Ungerechtigkeit von Vorurteilen. Und auch Menschen mit Handicap sind immer noch mit entmutigenden Barrieren im Alltag konfrontiert« (Sykes 1992, 18 – H. i. O.), von der grausamen Realität von Völkermorden oder Massenvergewaltigungen ganz zu schweigen. Doch das ist hier nicht mein Thema, weswegen ich im Weiteren u. a. das Verhältnis von Erwachsenen zu Minderjährigen sowie Fälle von körperlicher Gewalt beiseite lasse.

Was ich in diesem Text über »Opfer« sagen werde, ist im Zusammenhang von Kränkungen zwischen selbstverantwortlichen Erwachsenen im Sinne einer psychologischen Konstellation zu verstehen und kann z. B. nicht ohne Weiteres auf Menschen angewandt werden, die zu Leidtragenden sozialer Diskriminierung oder sexuellen und anderen Machtmissbrauchs gemacht werden (vgl. auch meine Zwischenbemerkung 4 zum Thema »Mobbing« am Ende dieses Abschnitts). Es stellt einen kategorialen Unterschied dar, ob eine autonome Person sich den Opferstatus im Sinne einer sozialen Rolle selbst zuschreibt oder ob einem Menschen durch Macht- oder Gewaltausübung von außen der Status des Opfers aufgezwungen wird.

In den Beziehungen, von denen dieser Text handelt, kennen die Beteiligten Kränkungen meist aus beiden Perspektiven, wenn auch zu verschiedenen Zeitpunkten: Mal sind sie diejenigen, die bei ihrem Gegenüber eine Kränkung hervorrufen, mal sind sie diejenigen, die sich durch den Anderen gekränkt fühlen. Und häufig wechseln sie zwischen beiden Positionen in schneller Folge hin und her.

Erstes Beispiel: Eine wortlos verlassene Frau

Er war abends spät nach Hause gekommen, hatte etwas von einem »sehr anstrengenden Tag« vor sich hin gemurmelt und war ins Bett gegangen. Sie schliefen seit einigen Monaten auf seinen Wunsch hin in verschiedenen Zimmern. Er hatte das damit begründet, dass er in der letzten Zeit so schlecht schlafe und sie nicht stören wolle.

Nun saß sie am Frühstückstisch und wartete auf ihn. Als er schließlich aus dem Bad kam, wirkte er irgendwie verstört auf sie. Oder war er nur verschlafen? Sie fragte ihn, was mit ihm los sei. Er antwortete ausweichend, nahm sich im Stehen eine Tasse Kaffee, sagte, »Ich muss heute schnell weg«, nahm seine Aktentasche und ging.

Als sie im Laufe des Vormittags den Briefkasten öffnete, fand sie zu ihrer großen Überraschung darin einen Brief von ihm vor. Sie begann, ihn zu lesen, und ihr wurde schwindelig. »Liebe X., es tut mir leid, aber ich kann nicht anders. Ich konnte es Dir nicht sagen. Ich habe mich unsterblich verliebt. Ich möchte nur noch mit ihr zusammen sein und komme nicht zurück. Ich wünsche Dir alles Gute, Dein Y.«

Ein paar Tage später kam sie zu mir zum Erstgespräch; sie wirkte immer noch fassungslos, wie benommen. Dabei ging es für sie nicht nur um die Tatsache, dass er sie verlassen hatte; das war schon schockierend genug. Fast noch mehr ging es für sie um die Art, wie er sich von ihr getrennt hatte – ohne ein persönliches Gespräch, ohne jede Auseinandersetzung, ohne Vorwarnung … Sie fühlte sich nicht nur verlassen, sondern auch extrem gekränkt.

Zweites Beispiel: Einige zurückgeschickte Aktfotos

Einer meiner Klienten hatte von einer Frau, während er mit ihr eine Affäre hatte, Aktfotos gemacht. Nachdem sie die Affäre beendet hatte, empfand er es als unpassend, dass die intimen Bilder noch in seinem Besitz waren. Er wollte sie aber aus Respekt davor, dass sie für seine frühere Geliebte und für ihn selbst wichtig gewesen waren, auch nicht einfach vernichten. Daher entschied er sich, die Fotos an die darauf abgebildete Frau zu schicken und es ihr zu überlassen, was sie damit machen wollte. In diesem Sinne hatte er ein kurzes Begleitschreiben formuliert und beigelegt.

Da sie sich nach der Trennung von ihm mit der Bitte um Unterstützung an mich gewandt hatte, lernte ich auch ihre Seite des Vorgangs kennen: Sie verstand die Zusendung als Ausdruck mangelnder Wertschätzung der Beziehung, die sie miteinander gehabt hatten, und fühlte sich durch die »Entsorgung« der Fotos, wie sie seine Zusendung nannte, entwertet und gekränkt: Sie meinte, ihr ehemaliger Liebhaber wolle nun die frühere Liebesbeziehung mit ihr ungeschehen machen und auch die Erinnerung an sie, die Geliebte, loswerden.

Drittes Beispiel: Ein verweigerter Abschiedskuss

Eines morgens, als er das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, bat er seine Frau um einen extra Abschiedskuß. Seine Frau … verweigerte ihm diesen extra Kuß auf eine schelmische Art und Weise. Auf dem Weg zur Arbeit vergaß er diesen Vorfall und war bereits ganz mit den Aktivitäten in seinem Büro beschäftigt, als er von seiner Frau angerufen wurde. Diese sagte ihm, daß es nicht sehr nett von ihr gewesen wäre, ihn nicht zu küssen, als er das Haus verließ, und entschuldigte sich dafür. Gnädig akzeptierte er die Entschuldigung: Die Unterhaltung war sehr kurz. Einige Momente später bemerkte er, daß er zunehmend deprimiert und wütend darüber wurde, daß seine Frau ihn am Morgen so schlecht behandelt hatte. Den ganzen Tag über dachte er zwanghaft daran, wie grausam und kalt sie doch sei, wie wenig sie seine Bedürfnisse verstünde und daß er nicht den ganzen Rest seines Lebens damit verbringen wolle, von dieser Frau, die ihn nicht ernst nahm und ihn nicht schätzte, so erniedrigt zu werden. Den ganzen Tag über schwankte er zwischen dem Gefühl der Depression angesichts des Gedankens daran, wie unglücklich er doch war, das Ziel solcher Bösartigkeiten zu sein, und dem Gefühl stolzer Wut, wenn er daran dachte, daß er dies nicht mehr länger mitmachen würde. Er wiederholte in Gedanken verschiedene sehr eloquente Formulierungen dessen, was er seiner Frau am Abend sagen wollte. Als er nach Hause zurückkam, war seine Ehefrau in guter Stimmung, er aber begann sofort mit dem längst geplanten Angriff. Er erzählte der Ehefrau, wie sehr er durch ihr Verhalten vom frühen Morgen verletzt worden sei, daß diese Verletzung nur ein Glied in einer endlosen Kette von Verletzungen gewesen sei, die sie ihm mit ihrer Kälte angetan hätte, und daß er dies nicht mehr länger aushielte. (Cooper 1996, 45)

Viertes Beispiel: Ein unerfüllter Wunsch

Eine langjährige Klientin hatte ca. zwei Stunden nach einer unserer Therapiesitzungen, die kurz vor 13 Uhr endete, noch eine andere Verabredung in der Nähe meiner Praxis. Sie fragte mich zu Beginn unserer Sitzung, ob sie danach die Mittagspause in meiner Praxis verbringen könne, was ich ihr mit der Begründung verweigerte, dass ich selbst nicht da sei und die Praxis mit ihren vertraulichen Akten und schutzwürdigen Daten in meiner Abwesenheit niemandem zugänglich machen wolle. Sie schien das zunächst zu akzeptieren, und wir arbeiteten wie üblich miteinander, ohne dass mir etwas Beeinträchtigendes aufgefallen wäre.

Am Ende unserer Stunde, nachdem wir uns für das nächste Mal verabredet hatten, wiederholte sie – dieses Mal in nachdrücklicherem, forderndem Ton – ihren Wunsch, während meiner Mittagspause die Praxis nutzen zu wollen. Ich antwortete ihr kurz, dass ich diese Bitte schon beantwortet und sich an meiner Haltung dazu nichts geändert hätte. Sie schnappte sichtbar ein und verließ mich ohne ein weiteres Wort, d. h. auch ohne Abschiedsgruß.

Die folgenden Sitzungen verbrachte sie überwiegend damit, mir vorzuwerfen, wie uneinfühlsam ich mit ihren Bedürfnissen umgegangen sei, in welch eiskaltem Ton ich mit ihr gesprochen hätte, dass sie dergleichen nie von mir erwartet hätte, ich vielmehr die Hoffnungen, die sie in die Therapie gesetzt hatte, zerstört und sie wie ein Stück Dreck behandelt hätte. Wahrscheinlich sei ich sowieso ein Scharlatan. Sie überlege sich ernsthaft, die Arbeit mit mir zu beenden, obwohl sie dadurch um Jahre in ihrer Entwicklung zurückgeworfen würde – wenn ich nicht einsähe, was ich ihr angetan hätte, und mich ausdrücklich bei ihr entschuldigen würde. Nur dann könne sie einigermaßen sicher sein, dass ich sie nie wieder so miserabel behandeln würde, und könne dann – vielleicht! – eines schönen Tages wieder Vertrauen zu mir fassen.

Fünftes Beispiel: Ein nicht bereitgestellter Porsche

Omar Sharif ist nach einem handgreiflichen Streit mit einem Parkplatzwächter zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Ein Richter in Beverly Hills erlegte dem »Doktor-Schiwago«-Darsteller zudem 15 Therapie-Stunden auf, damit dieser seine Wutanfälle in den Griff bekommt. Der Streit … entbrannte, weil Sharif verärgert war, dass sein Porsche nicht bereitstand, als er das Restaurant verließ. (Main-Post 15. 2. 2007)

Sechstes Beispiel: Eine hintergangene Ehefrau

Linda ist mir eine gute Freundin und enge Vertraute. Als wir uns vor vielen Jahren kennenlernten, ›verliebten‹ wir uns ineinander – rein platonisch, was mich zunächst verwunderte, denn ich fand Linda durchaus attraktiv, und sie mich wohl auch. Erst später erfuhr ich, dass sie auch mit ihrem Ehepartner eine zwar intensive und vertrauensvolle, aber unerotische Beziehung lebte. Irgendwann erzählte sie mir dann, dass sie als Jugendliche einen traumatischen sexuellen Missbrauch erlebt habe, der nachhaltige Wirkungen auf ihre Körperlichkeit mit sich gebracht hatte und mir ihre asexuelle Ausstrahlung nachvollziehbar werden ließ.

Eines Tages erhielt ich von ihr die Nachricht, sie habe herausgefunden, dass ihr Mann über mehrere Jahre hinweg, wenn er auf Auslandsreisen unterwegs war, eine Affäre gehabt hatte. Was sie vor dem Hintergrund ihres eigenen sexuellen Desinteresses weniger belastete, war die Tatsache, dass ihr Mann mehrfach mit der Geliebten geschlafen hatte. Es machte ihr viel mehr aus, dass er sie hintergangen und ihr vorgegaukelt hatte, er sei ihr treu. Der Vertrauensbruch war die wesentliche Kränkung und stellte für sie das Hauptproblem dar, bei dessen Bewältigung sie mich nun um Unterstützung bat.

In der ersten Zeit drehten sich unsere Gespräche hauptsächlich um die Frage, wie es ihr gelingen könnte, sich ihrem Mann trotz des stattgefundenen Vertrauensbruchs wieder so weit zu öffnen, dass eine konstruktive Kommunikation möglich und damit die Voraussetzung für eine eventuelle gemeinsame Verarbeitung der eingetretenen Beziehungskrise geschaffen würde. Nachdem sie und ihr Mann diese erste Phase großenteils gemeistert hatten, wandte sie sich mit der Frage an mich, wie ich als Mann es mir erklären könnte, dass ihr Partner fremdgegangen war. Ich äußerte u. a. die Vermutung, er könnte, auch wenn er nach eigenem Bekunden die sexuellen Begegnungen mit ihr nicht wirklich vermisst hatte, dennoch nach Bestätigung für seine Männlichkeit gesucht haben.

Linda reagierte gekränkt. Meine Vermutung war für sie gleichbedeutend mit einer Kritik daran, dass sie ihrem Partner die eventuell gewünschte Anerkennung als Mann vorenthalten hatte. Mit dieser vermeintlichen Kritik an ihr hatte ich nun in ihren Augen Partei für ihren Mann ergriffen und seinen Vertrauensbruch nicht nur gerechtfertigt, sondern darüber hinaus auch noch ihr die Schuld daran zugewiesen.

Die beschriebenen sechs Beispiele beziehen sich auf Kontakte zwischen Menschen in privaten Lebenslagen, wie sie im Mittelpunkt meiner weiteren Überlegungen stehen werden. Daneben gibt es natürlich auch andere Situationen, speziell berufliche, in denen Kränkungen eine Rolle spielen können; diese sind allerdings nicht das Hauptthema des vorliegenden Buches, da sie sich hinsichtlich der Faktoren, die dort wirksam werden, durchaus von privaten Interaktionen unterscheiden können, z. B. wenn in Betrieben oder Behörden versucht wird, Kränkungen von Mitarbeiterinnen systematisch hervorzurufen, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Hier ist das gemeint, was unter dem Stichwort »Mobbing« in zahlreichen Veröffentlichungen, nicht aber in meinem Text diskutiert wird. Leserinnen und Lesern, die sich damit eingehender befassen möchten, schlage ich vor, in der entsprechenden Literatur nachzulesen (z. B. bei Litzcke, Schuh & Pletke 2013).

Zwischenbemerkung 4: Wenn es um Kränkungen geht, die im beruflichen Kontext stattfinden, kommt in den letzten Jahren immer häufiger das Wort »Mobbing« ins Spiel. Das ist aus meiner Sicht nicht unproblematisch, da mit diesem Wort eine ganze Bandbreite von Ereignissen beschrieben wird, die sich zwischen zwei Extremformen erstreckt: Das eine Ende des Spektrums betrifft das, was mit dem Wort »Mobbing« ursprünglich gemeint ist, nämlich dass »eine Person am Arbeitsplatz häufig und über einen längeren Zeitraum schikaniert, drangsaliert oder benachteiligt und ausgegrenzt wird. . . . Konkret kann man sich Mobbing beispielsweise so vorstellen: Gespräche verstummen, wenn der Betroffene ins Zimmer kommt, die Türe wird vor der Nase geschlossen, Arbeitsabläufe werden so unzureichend erklärt, dass es Probleme geben muss, oder die Arbeit wird dem Betroffenen ganz entzogen. Menschen sollen ausgestochen werden durch Falschinformationen, Denunziationen, Bloßstellen, sexuelle Belästigung oder Rufmord. Mobbing ist ein Begriff für Dinge, die es schon lange gibt: Ignorieren, Einschüchtern, Bloßstellen, Intrigenspinnen« (Litzcke, Schuh & Pletke 2013, 101 f.).

Der Hintergrund für solche Schikanen besteht z. B. darin, dass in Firmen Arbeitsplätze abgebaut werden sollen. Vorgesetzte und auch Mitarbeiterinnen werden dann dazu veranlasst, den nicht mehr erwünschten Arbeitnehmern das Leben schwer zu machen, um sie dazu zu bringen, dass sie von sich aus kündigen, weil die Firma auf diese Weise in ihrer Handlungsfreiheit weniger eingeschränkt ist (etwa wegen bestehenden Kündigungsschutzes) oder Kosten sparen kann (etwa wegen ansonsten fälliger Abfindungszahlungen). Da Arbeitnehmerinnen sich in einer gewissen Abhängigkeit hinsichtlich der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes befinden, spielen hier objektive Machtverhältnisse eine Rolle (vgl. meine Zwischenbemerkung 3 am Anfang dieses Abschnitts).

Am anderen Ende des Spektrums findet man Berufstätige, die alle Vorgänge, die ihnen nicht gefallen (z. B. eine unterbliebene Beförderung), als bösartig gegen sich persönlich gerichtete Schikane interpretieren und auf eine Weise als Kränkung verarbeiten, bei der sie sich in die Selbstdefinition als Opfer geradezu hineinsteigern – manchmal in beinahe paranoider Form. Dies kann dazu dienen, dieselbstkritische Auseinandersetzung mit eigenen Leistungs- und Per sönlichkeitsproblemen sowie sozialen Ängsten und problematischen Verhaltensweisen zu vermeiden.

Zwischen diesen Extremen findet man vielerlei Mischformen, bei denen es für den Außenstehenden oft kaum möglich ist herauszufinden, welche Komponenten in welchem Ausmaß eine Rolle spielen. Hier ist vieles eine Frage der Interpretation. Ohne schikanöses Verhalten von Vorgesetzten oder Mitarbeiterinnen deswegen zu ignorieren, zu bagatellisieren oder zu entschuldigen, kann man denen, die sich von Mobbing betroffen fühlen, aber in jedem Fall psychotherapeutisch helfen, an ihrer Kränkbarkeit etwas zu ändern, sodass sie wenigstens im Hinblick auf diese Komponente eine Entlastung erleben und die Schikanen, denen sie ausgesetzt sind, weniger persönlich nehmen und weniger selbstdestruktiv verarbeiten. Für die anderen (z. B. arbeitsrechtlichen) Komponenten gibt es vielerorts Hilfsangebote, z. B. durch Beratungsstellen bei Gewerkschaften und anderen Institutionen.

2

4Persönlich genommen

Von nicht erhaltener Aufmerksamkeit, beleidigtem Rückzug, aggressiver Flucht in die Aktivität, der Suche nach Rettern, dem Loswerden von Ärger, von Rache und ›Gefühlsstürmen‹