Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie - Frank-M. Staemmler - E-Book

Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie E-Book

Frank-M. Staemmler

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Beschreibung

Fritz Perls entfaltete sein therapeutisches Können mehr intuitiv als in theoretisch gesichertem Rahmen. Die Autoren dieses Buches folgen in einer kritischen Revision der Entwicklung der Gestalttherapie und legen eine neue, systematische Beschreibung vor. Ein Buch, das aus mehr als einem Vierteljahrhundert der praktischen und theoretischen Beschäftigung mit Gestalttherapie erwachsen ist. Es ist inzwischen zu einem Klassiker in der deutschsprachigen Gestalt-Literatur geworden.

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Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Einleitung

1. Kapitel

Fritz Perls und die Entwicklung der Gestalttherapie

Die Lehrzeit in Deutschland

Von der Psychoanalyse zur Konzentrationstherapie

Die Frühform der klassischen Gestalttherapie

Die Entdeckung des Engpaß

Die Spätform der klassischen Gestalttherapie

2. Kapitel

Das Erbe der klassischen Gestalttherapie – eine kritische Aufarbeitung zentraler Konzepte

Bewußtheit und Bewußtsein

»Schichten der Neurose« und Phasen im Prozeß

Ganzheit und Ganzheitlichkeit des Menschen

3. Kapitel

Die Struktur des Veränderungsprozesses

Die erste Phase

Die zweite Phase

Die dritte Phase

Die vierte Phase

Die fünfte Phase

4. Kapitel

Ganzheitliche Veränderung als Wandel von Gestaltqualitäten

Die Katalysatoren

Der erste Übergang: Von Stagnation zu Polarisation

Der zweite Übergang: Von Polarisation zu Diffusion

Der dritte Übergang: Von Diffusion zu Kontraktion

Der vierte Übergang: Von Kontraktion zu Expansion

Merkmale des Gesamtprozesses

5. Kapitel

Die Aufgabe des Therapeuten

Quellenverzeichnis

Zur Künstlerin des Covers

GEORGIA VON SCHLIEFFEN

Georgia von Schlieffen, geb. 1968. »Seit meiner Studienzeit intensive Beschäftigung mit der Malerei. Jedoch ging ich erst einmal ganz andere Wege über ein Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft und der Internationalen Beziehungen und einer mehrjährigen Tätigkeit im Bereich Projektmanagement und Flüchtlingsarbeit für mehrere Nichtregierungsorganisationen. 2010 nahm ich an Studienwochen bei Markus Lüpertz und Gotthard Graubner an der Reichenhaller Akademie teil. Ab 2011 studierte ich Malerei bei Professor Jerry Zeniuk, Akademie für Farbmalerei, Kunstakademie Bad Reichenhall, und derzeit bei Heribert C. Ottersbach.«

Georgia von Schlieffen illustrierte zwei Lyrik-Bände von Stefan Blankertz, »Ambrosius: Callinische Hymnen« und »Ruan Ji: Zustandsbeschreibungen« sowie den Gedichtband »kleine gebete« von Paul Goodman, der in der gikPRESS erschienen ist.

Bitte besuchen Sie die Seite der Künstlerin auf theartstack.com oder verbinden Sie sich auf linkedin.com mit ihr.

Vorwort zur Neuausgabe

Mit der vorliegenden Neuausgabe gehen die in diesem Buch formulierten Gedanken über den Verlauf des gestalttherapeutischen Veränderungsprozesses in das zweite Jahrzehnt ihrer abwechslungsreichen Geschichte. In den zehn Jahren seit der Erstfassung dieses Textes hat die Gestalttherapie in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewonnen (vgl. Bock 1996; Staemmler 1997a). Sie hat sich gegen manche Anfeindungen behauptet, ist in fachlichen Auseinandersetzungen inhaltlich gereift und heute – in ihrem 46. Lebensjahr – als seriöse, eigenständige und wirkungsvolle Therapieform weitgehend anerkannt. Dabei hat sie sich ihre Radikalität bewahrt und ihre »gesellschaftliche und politische Sensibilität« (Nogala 1990, 5) behalten. Die Arbeit von Gestalttherapeuten und Gestalttherapeutinnen erzeugt immer noch eine »… Stimmung der Rebellion gegen das Alte, ein Aufbegehren gegen ›unverdaute Introjekte‹, die der Gestalttherapie ihren eigenen Geruch verleiht« (Jaeggi 1995, 253). Und sie ist in Theorie und Praxis immer noch offen für neue Entwicklungen. Das vorliegende Buch hat seinen Platz inmitten dieses Feldes.

Es erschien in seiner ursprüngliche Form 1987 unter dem Titel »Neuentwurf der Gestalttherapie – Ganzheitliche Veränderung im therapeutischen Prozeß« und löste damals in Fachkreisen intensive und zum Teil sehr kritische Diskussionen aus (vgl. Herzig 1989; Ladenhauf u. Moser 1987; Lobner 1989; Müllerhöltgen 1988; Petzold 1987; Schulthess 1989). Unsere Stellungnahme zu den wichtigsten Punkten dieser Kritik haben wir in einer separaten Publikation zusammengefaßt (Staemmler u. Bock 1991).1 Unser Buch wurde aber auch als eines der wenigen »Beispiele intensiver theoretischer Auseinandersetzung mit Gestalttherapie und Versuche der Weiterentwicklung im europäischen Raum« (Krisch u. Ulbing 1992, 101) eingeschätzt und gewürdigt.

Die Aufarbeitung der Kritik hat zu einer Reihe von Änderungen, Verbesserungen und Ergänzungen geführt, die so weit gingen, daß die im Jahr 1991 erschienene, gründlich überarbeitete und mit beispielhaften Transkripten von Therapiesitzungen angereicherte Version des Textes uns einen neuen Titel sinnvoll erscheinen ließ: »Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie«. Die vorliegende Neuausgabe enthält den noch einmal leicht überarbeiteten, aber im wesentlichen unveränderten Text, der bisher überwiegend positive Resonanz (vgl. z. B. Schuster 1994) sowie weite Verbreitung unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten fand; in einigen Ausbildungsinstituten ist er inzwischen fester Bestandteil der Ausbildung geworden. Auch außerhalb des gestalttherapeutischen Rahmens wurden Teile dieses Buches anerkennend aufgenommen: Walker (1996) übernahm z. B. unsere »Rekonstruktion« der Entwicklung der Gestalttherapie im Rahmen seiner historischen Forschungen zum Thema »Abenteuer Kommunikation«; Stauss (1993) integrierte die von uns entwickelte Prozeßtheorie in sein Konzept für die stationäre Behandlung sogenannter »Borderline«-PatientInnen.

Für uns selbst ist die in diesem Buch beschriebene Prozeßtheorie bis heute ein Eckpfeiler unseres Verständnisses der Gestalttherapie, der mit anderen, später veröffentlichten Konzepten in Einklang steht, z. B. mit dem von der therapeutischen Beziehung und von der Diagnostik in der Gestalttherapie (vgl. Staemmler 1993) oder dem von den Anwendungsmöglichkeiten und -kriterien bestimmter gestalttherapeutischer Techniken (vgl. Staemmler 1995 u. 1997b).

Wir freuen uns daher sehr darüber, daß dieses Buch durch die Neuausgabe weiterhin erhältlich ist. Wir danken Anke und Erhard Doubrawa vom Gestalt-Institut Köln und dem Peter Hammer Verlag für ihr Engagement und ihre Kooperation, die wesentlich zur Realisierung dieses Projekts beigetragen haben.

Würzburg, im April 1997

Frank-M. Staemmler und Werner Bock

1 Diese und weitere Texte aus der Reihe der »Gestalt-Publikationen« können über das Zentrum für Gestalttherapie, Kardinal-Döpfner-Platz 1, 97070 Würzburg, bezogen werden.

Einleitung

Seit Beginn der 70er Jahre, als wir damit anfingen, gestalttherapeutisch zu arbeiten, waren wir begeistert von der Vielfalt der Möglichkeiten, die diese von Fritz Perls, Laura Perls, Paul Goodman und anderen entwickelte Therapieform ihren Klienten und Therapeuten eröffnet. Mit dieser Begeisterung hatten wir in unzähligen Therapiestunden mit Klientinnen und Klienten sowie in mehreren Jahren als Ausbilder und Supervisoren unsere Erfahrungen gemacht und uns selbst persönlich sehr verändert.

Anfang 1984 begann jedoch, für uns selbst zunächst überraschend, ein intensiver Klärungsprozeß, der uns für unsere therapeutische Arbeit und unser theoretisches Verständnis von Therapie zwei sehr anregende Jahre bescherte. In dieser Zeit verdichteten sich die vielen Eindrücke, die wir während unserer langjährigen Arbeit in uns aufgenommen hatten, immer mehr. Gleichzeitig gerieten sie in Spannung mit den von anderen Praktikern und Theoretikerinnen übernommenen Vorstellungen und Konzepten, mit denen wir unsere eigenen Eindrücke und Erfahrungen nicht mehr angemessen fassen konnten.

Wenn wir versuchten, an diesen alten Vorstellungen festzuhalten, stieg die Spannung in uns und wurde schließlich unerträglich. Also begannen wir damit, die bisherigen Konzepte anhand unserer vielfältigen Erfahrungen zu überprüfen; dabei lösten sich die für uns nicht mehr stimmigen Theorien Stück für Stück auf. Wir waren dadurch zunächst orientierungslos, lernten aber diese (vorübergehenden) Phasen schnell als besonders kreative Zeiten zu schätzen. Denn wir erlebten immer wieder, wie die in uns nach der Auflösung alter Vorstellungen entstandene Leere nach einer Weile fruchtbar wurde und sich aus ihr heraus neue Sichtweisen entwickelten, mit denen wir unsere neuen Erfahrungen genauer verstehen und angemessener beschreiben konnten.

Nach vielen Gesprächen entschieden wir uns, diese neuen Erkenntnisse aufzuschreiben, um sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Ausbildungsprogramme zugänglich zu machen. Das Schreiben selbst wurde dann zu einer Form der Selbstunterstützung in unserem Prozeß zunehmender Klarheit, dessen Resultate wir mit diesem Buch allgemein zugänglich machen.

Schon vor vielen Jahren kennzeichnete Joslyn den Stand der theoretischen Entwicklung in der Gestalttherapie mit den folgenden Worten: »Andere therapeutische Schulen könnten zu Recht die Gestalttherapie kritisieren, sie sei in vielen Bereichen nur ›suggestiv‹, ihr würde eine gründlicher ausgearbeitete Theorie fehlen. Kein Gestalttherapeut hat bisher die Arbeitskittel-Theorie, wie sie von Perls ursprünglich entwickelt wurde, systematisch aufgearbeitet. In seinem Alter schien Perls weniger geneigt zu sein, sich um eine systematische Theorie zu bemühen, und seine Schüler waren zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Methoden zu entwickeln. Vielleicht wird in Zukunft ein anderer Genius von Perls’ Kaliber einen neuen Versuch machen, alle Entwicklungen in Perls’ letzten Jahren ebenso wie alle Neuerungen seit Perls’ Tod zu systematisieren. (…) Wenn Gestalttherapie Gestalttherapie bleiben soll, dann muß irgend jemand in den nächsten Jahren eine neue systematische Darstellung in Angriff nehmen« (Joslyn 1977, 212).

Diese Zustandsbeschreibung der gestalttherapeutischen Theoriebildung hat auch heute noch eine gewisse Gültigkeit. Wer Fritz Perls, diesen Meister des Augenblicks, zu Lebzeiten unmittelbar oder nach seinem Tode durch die Medien von Filmen und Transkripten in Büchern bei der Arbeit beobachtet hat, war und ist immer wieder fasziniert von seiner Intuition und manchen seiner Interventionen. Diesen stand jedoch ein ausgeprägter Mangel an Bereitschaft und Fähigkeit gegenüber, in klaren theoretischen Begriffen zu erläutern, was er praktisch tat. Die theoretischen Teile seiner meistgelesenen Bücher (1974, 1976), die er im Unterschied zu anderen auch selbst verfaßt hat, sind eher assoziativ als systematisch.

Systematik empfand Fritz Perls anscheinend als einen Anspruch, den er zwar einerseits an sich stellte, dem er sich andererseits aber trotzig widersetzte. Er blieb damit in dem von ihm so oft verspotteten inneren Dialog zwischen seinem eigenen ›Topdog‹ und seinem ›Underdog‹ stecken, was er in seiner Autobiographie auch öffentlich bekannte: »Topdog: … Mann, wer zum Teufel soll ein klares Bild von deiner Therapie bekommen? – Underdog: Du meinst, ich soll eine Tafel nehmen, Tabellen zeichnen und jeden Begriff, jeden Gegensatz fein säuberlich kategorisieren? – Topdog: Das ist keine schlechte Idee. Das könntest du tun. – Underdog: Nein, das werde ich nicht tun« (1981, 126).

Perls war damit zufrieden, daß er verstand, was er als Therapeut zu tun hatte, und war begierig, sich als jemand zu zeigen, der wußte, wie Neurosen zu therapieren sind: »Ich glaube, daß ich der beste Therapeut für jede Art von Neurose bin. (…) Wenn ich arbeite, bin ich nicht Fritz Perls. Ich werde nichts, no-thing, ein Katalysator und ich liebe meine Arbeit. Ich vergesse mich selbst und unterwerfe mich euren Bedürfnissen. Und sobald wir eine Lösung gefunden haben, kehre ich zurück zum Publikum, eine Primadonna, die Anerkennung heischt« (a.a.O., 253f.).

Sein Bedürfnis nach theoretischer Deutlichkeit war diesem Wunsch nach Selbstdarstellung eindeutig nachgeordnet; er war, wie er selbst schrieb, »… nicht bereit, eine systematische Darstellung der Gestalt-Philosophie zu schreiben« (a.a.O., 308). Für die Entwicklung der Gestalttherapie hatte das hauptsächlich zwei Folgen:

Erstens leidet die Gestalttherapie bis heute unter einem gewissen Defizit an überzeugender Theorie. Fritz Perls’ Wort vom »mindfucking«, mit dem er Rationalisierungen zu charakterisieren pflegte, die den Zweck haben, Menschen an realem Erleben zu hindern, wurde nach ihm oft mißbraucht, um theoretisches Denken überhaupt zu disqualifizieren und sich im Mangel an theoretischer Prägnanz dem Meister nahe zu fühlen. Zweitens – und das wiegt schwerer – bedeutete Perls’ Theoriedefizit auch eine ungenügende Fähigkeit zu lehren und zu vermitteln. Daß Fritz Perls weniger erklärte, was er tat, und mehr demonstrierte, wie genial er arbeiten konnte, führte dazu, daß die neuen therapeutischen Techniken oft für das Entscheidende in der Gestalttherapie gehalten wurden. Viele Therapeuten imitierten eifrig die Perlssche Technik und meinten, daß sie schon deshalb Gestalttherapeuten seien. So entstand ein weitverbreitetes Bild von der Gestalttherapie, das sich aus einer ebenso wirren wie oberflächlichen Mischung von Mosaiksteinchen zusammensetzt. Da gibt es einen ›heißen‹ und einen ›leeren‹ Stuhl, Klienten führen laute Selbstgespräche oder hämmern schreiend mit ihren Fäusten auf Kissen ein; der Therapeut ist wenig einfühlsam, eher unfreundlich und frustrierend.

Wir haben diese Situation als eine Herausforderung verstanden, für das, was wir als Therapeuten in unserer praktischen Arbeit intuitiv tun, adäquate theoretische und systematisch geordnete Begriffe zu suchen. Eine solche Theorie ergänzt die intuitive Leistung eines Therapeuten um die kognitive Dimension und macht seine Arbeit damit überprüfbar, belegbar und – woran uns als Ausbildern in Gestalttherapie besonders gelegen ist – lehrbar.

Es liegt uns viel daran, jeden einzelnen Schritt unserer Weiterentwicklung der klassischen Gestalttherapie nachvollziehbar darzustellen. Wir beginnen deshalb mit einem historisch gegliederten Überblick über die Entwicklung der Gestalttherapie und zeigen, wie diese vor dem Hintergrund der persönlichen Entwicklung von Fritz Perls verständlich wird. Perls’ Theorie entstand nicht am Schreibtisch, sondern kam aus seinem Leben und hatte immer eigene Erfahrungen als Ausgangspunkt. Uns fasziniert dieser direkte Bezug der Entstehung einer neuen Therapieform zu der oft kompromißlos gelebten Entwicklung ihres Entdeckers.

Die wesentliche Antriebskraft dieser Entwicklung sehen wir in dem persönlichen Bedürfnis von Perls, kontaktfähiger zu werden. Daran arbeitete er sein ganzes Leben, und in dem Maße, in dem er seine persönliche Kontaktfähigkeit entfaltete und begann, diese auch therapeutisch einzusetzen, entstand die Gestalttherapie als eine revolutionär neue Form von Psychotherapie (Kapitel l). In Kapitel 2 beschreiben wir ausführlich die für Perls zentralen theoretischen Konzepte. Wir machen die sich hier ergebenden Unklarheiten und Widersprüche deutlich und leiten daraus entsprechende Forderungen ab, die an eine konsistente Veränderungstheorie gestellt werden müssen.

Auf dieser Basis wird der Prozeß ganzheitlicher menschlicher Veränderung begrifflich faßbar (Kapitel 3), und der Veränderungsprozeß in der Gestalttherapie kann als Wandel von Gestaltqualitäten dargestellt werden (Kapitel 4). Das 5. Kapitel zeigt die Konsequenzen auf, die sich für die Aufgabe des Therapeuten aus einem solchen prozessualen Verständnis von Therapie ergeben. Der zentrale Stellenwert von persönlichem Kontakt in der therapeutischen Beziehung wird deutlich.

1. Kapitel

Fritz Perls und die Entwicklung der Gestalttherapie

Fritz Perls (1893 -1970) war eine faszinierende Persönlichkeit. »Halb Prophet und halb Landstreicher« nannte ihn seine Frau Laura; Perls fand diese Beschreibung passend und war stolz darauf (vgl. Shepard 1975, 3).

Er wird als Begründer einer neuen Therapieform, der von ihm so benannten »Gestalttherapie«, bezeichnet. Er selbst wollte sich nicht so sehen, sondern eher als »Entdecker oder Wiederentdecker«, denn: »Gestalt ist so alt wie die Welt« (Perls 1974, 24). Zurecht sieht Fritz Perls sein Verdienst darin, alte Weisheiten, die schon lange vor ihm in verschiedenen kulturellen Traditionen und Religionen (z. B. in der Bibel und im Zen-Buddhismus) existierten, für die Psychotherapie neu entdeckt zu haben (vgl. Gorton 1983).

Er hat sie mit den neuen philosophischen Strömungen der Phänomenologie und des Existentialismus, mit Erkenntnissen der Psychoanalyse und der Gestaltpsychologie verbunden (vgl. Smith 1976 und Kogan 1976) und diese verschiedenen Ansätze, Konzepte und Ideen in einem aufregenden, lebenslangen persönlichen Entwicklungsprozeß zu einer damals völlig neuen Form von Psychotherapie integriert – der seiner Meinung nach ersten wirksamen Form von Psychotherapie überhaupt (vgl. Perls 1980, 179). Die wichtigste Station in diesem Entwicklungsprozeß der Gestalttherapie war die Entdeckung des »Impasse« (ins Deutsche übersetzt als »Engpaß«, »Blockierung« oder »Sackgasse«).

Nach unserer Kenntnis seiner Biographie machte Perls diese »wesentlichste Entdeckung seines Lebens« (Cohn, in: Farau u. Cohn 1984, 304), mit der er seine Genialität und die Überlegenheit der Gestalttherapie gegenüber anderen Therapieformen begründete (vgl. Perls 1980, 99), in einem intensiven persönlichen Prozeß zwischen 1961 und 1964, in dem er die tödliche Bedrohung durch seine Herzkrankheit überwand und sich dabei völlig veränderte. Dadurch änderten sich auch sein Verständnis von Neurose und Therapie und seine Art, mit Klientinnen und Klienten zu arbeiten, noch einmal entscheidend – zwölf Jahre, nachdem er 1951 den Begriff »Gestalttherapie« geprägt hatte, und sechs Jahre vor seinem Tod.

Ilana Rubenfeld berichtet: »It’s interesting for me to see people who met him. I can tell when they met him – at what stage of his life he was at – because they latch on to a certain period of his life and they work like that. I feel lucky that I met him in the last four years because those four years were like a melting pot of many, many things. People of twenty years ago will say that he wasn’t doing Gestalt in the last few years. Or that he was doing a different Gestalt. He was a different Gestalt« (in: Shepard 1975, 203).

Perls hat also in verschiedenen Phasen seines Lebens therapeutisch sehr unterschiedlich gearbeitet. Er begann als Psychoanalytiker, entwickelte dann zwischen 1936 und 1940 erste eigene therapeutische Ansätze, die er unter dem Begriff »Konzentrationstherapie« zusammenfaßte und als eine »Revision der Psychoanalyse« verstand. Ab 1951 nannte er seine jetzt weiter ausgereifte neue Therapieform »Gestalttherapie« und arbeitete bis zu seinem Lebensende ständig an ihrer Weiterentwicklung. »Für Fritz war Gestalt immer das, was er zuletzt tat«, sagte uns Laura Perls etwas ironisch in einem Gespräch (Bock 1986). Wir sehen darin einen Ausdruck seiner stetigen Veränderung als Person und Therapeut.

Nach unserer Einschätzung kann die Entstehungsgeschichte der klassischen Gestalttherapie grob in zwei Phasen unterteilt werden: die Zeit von 1951 bis 1961, also die Gestalttherapie vor der Entdeckung des Engpaß; in bezug darauf, wie in dieser Zeit von Perls und anderen gestalttherapeutisch gearbeitet wurde, sprechen wir von der ›Frühform‹ der Gestalttherapie. Die Gestalttherapie, wie sie von Fritz Perls nach dieser wesentlichen Entdeckung praktiziert wurde, also in der Zeit von 1964 bis 1970, nennen wir ihre ›Spätform‹.

Beide Formen sind inhaltlich sehr unterschiedlich, und so haben sich nach Perls’ Tod, vermittelt durch seine jeweiligen Schülerinnen und Schüler aus diesen Phasen, offensichtlich auch verschiedene Traditionen und Formen von Gestalttherapie gebildet. Dementsprechend werden in Deutschland heute so unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen mit diesem Begriff verbunden, daß man von einer einheitlichen Bedeutung des Begriffes »Gestalttherapie« nicht mehr sprechen kann.

Interessanterweise wurde die erwähnte Veränderung von Fritz Perls, aus der heraus die Spätform der Gestalttherapie entstand, bis heute – wenn überhaupt – fast nur als persönliche Veränderung gewürdigt. Die weitreichenden Konsequenzen für Perls’ therapeutische Arbeit wurden auch von Gestalttherapeuten bisher kaum erkannt. Der für Perls am Ende seines Lebens so wichtige Begriff »Impasse« kommt z. B. in der Biographie von Martin Shepard (1975) überhaupt nicht vor.

Typisch für die übliche Perls-Rezeption in Deutschland ist z. B. die Darstellung der Gestalttherapie von Helmut Quitmann im Rahmen seines Buches über »Humanistische Psychologie« (1985). Er rezipiert im wesentlichen Inhalte des Buches von Perls, Hefferline und Goodman aus dem Jahre 1951, das bis heute offensichtlich immer noch als das theoretische Hauptwerk der Gestalttherapie gewertet wird (deutsch: 1979a, 1979b); er bezieht sich damit, wenn man unserer Unterteilung folgt, ausschließlich auf die Frühform der Gestalttherapie. Perls selbst hat angeblich außer den Ideen und dem Titel nichts zu diesem Buch beigetragen (vgl. Shepard 1975, 63), und seine theoretischen Überlegungen gingen nach 1964 in eine völlig neue Richtung. Um seine wichtigste Entdeckung, den Weg durch den Engpaß, umfassend im Zusammenhang darstellen zu können, entwickelte Perls 1964 sein Modell von den »Schichten der Neurose«, das Quitmann mit keinem Wort erwähnt.

In seinen letzten Lebensjahren wollte Perls in einem neuen Buch über die Gestalttherapie neben den neurotischen Mechanismen vor allem diese Schichten der Neurose ausführlich beschreiben (vgl. Petzold, in: Perls 1976, 7); er kam nicht mehr dazu. Das zweite Hauptwerk der Gestalttherapie blieb unvollendet. Perls’ letzte theoretische Überlegungen existieren daher nur als unsystematische Skizzen (Perls 1976; Perls u. Baumgardner 1990).

Wir beschreiben in diesem Buch unsere Form der Gestalttherapie als eine Weiterentwicklung der Perlsschen Spätform. Um die einzelnen von uns gemachten Entwicklungsschritte nachvollziehen zu können, ist es wichtig, zunächst die Entstehung der klassischen Gestalttherapie von ihrem Anfang an zu kennen – eine Entwicklung, die, wie gesagt, eng mit dem persönlichen Leben von Fritz Perls verbunden ist.

1. Die Lehrzeit in Deutschland

Nach zwei Mädchen wird Fritz Perls am 8. 7 1893 als das dritte Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren. Er erinnert sich an viel Streit der Eltern in seiner Kindheit; den Vater haßt er sein Leben lang, gegen die besitzergreifende Mutter wehrt er sich, so gut er kann. Schon früh sucht er Kontakte außerhalb der Familie.

Er ist als Heranwachsender fasziniert von Max Reinhardt, dem damaligen Leiter des Deutschen Theaters in Berlin (»the first creative genius I ever met« – in: Shepard 1975, 22). Er entdeckt hier die vielfältigen Aspekte des nonverbalen Ausdrucks und der Körpersprache. Max Reinhardt achtet bei der Ausbildung seiner Schauspieler sehr auf die Kongruenz von verbalem und nonverbalem Ausdruck zur Steigerung der schauspielerischen Leistung. Für Perls wird dies zu einer exzellenten Schulung seiner Wahrnehmung von Inkongruenzen zwischen dem was jemand sagt und wie er es sagt – eine seiner stärksten Fähigkeiten in seiner späteren Arbeit als Therapeut.

Die Schule interessiert ihn nur am Rande; er macht sein Abitur und studiert in Berlin Medizin. Das Studium wird unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg. Perls meldet sich 1916 freiwillig zur Armee, kommt nach Belgien an die Front und entgeht nur knapp dem Tod; bei einem Gasangriff wird er verwundet. Um die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Krieges reicher, nimmt Perls 1919 sein Medizinstudium wieder auf, geht für ein Semester nach Freiburg und macht 1920 sein Examen in Berlin. 1921 promoviert er und eröffnet eine Praxis als Psychiater und Neurologe.

Privat hat er Kontakt zu den Künstlerinnen und Künstlern der Bauhaus-Gruppe und zur politischen Linken (»Wir Narren glaubten, wir könnten eine neue Welt aufbauen ohne Krieg« – 1981, 55). Er begegnet dem Philosophen Salomo Friedlaender, der 1918 sein Werk »Schöpferische Indifferenz« veröffentlicht hatte. Darin entwickelt dieser – in der Tradition von Hegel und Marx – eine neue Spielart der Dialektik: Alles existiert in Gegensätzen. Das Eine ist nicht ohne sein Anderes zu bestimmen; beide haben einen gemeinsamen Ursprung, aus dem heraus sie sich differenzieren und sich dann als Polaritäten gegenüberstehen. Ihr gemeinsamer Ursprung ist die »Indifferenz«, ein »Nichts an Differenziertheit«. Da sich aus diesem Nullpunkt heraus die Gegensätze entwickeln, dieser also ein kreatives Potential darstellt, nennt Friedlaender ihn »schöpferische Indifferenz« (vgl. Frambach 1993, 41ff., u. 1996).

Die Erkenntnis, daß nichts so viel miteinander zu tun hat wie Gegensätze, daß also Gegensätze eine Einheit bilden, indem sie sich gegenseitig bedingen, voneinander leben, einen inneren funktionalen Zusammenhang bilden, ist für Perls revolutionär. Er hatte im bisherigen Verlauf seines Lebens die verschiedensten philosophischen Ideen und Konzepte in sich aufgenommen und war in einem geistigen Wirrwarr gelandet. Seine Versuche, dieses Durcheinander durch die Auflösung der Widersprüche zu ordnen, war gescheitert. Jetzt lernt er von Friedlaender, die Existenz von Widersprüchen als natürlich gegeben zu akzeptieren und sie sogar als das eigentliche Ordnungsprinzip zu benutzen. Das verhilft ihm zu neuer kognitiver Klarheit und gibt ihm dauerhafte Orientierung in einer Welt voller Widersprüche.

Noch 49 Jahre später würdigt er Friedlaender: »Als Persönlichkeit war er der erste Mann, in dessen Gegenwart ich mich niedrig fühlte und in Bewunderung verneigte. Es gab keinen Raum für meine chronische Arroganz« (1981, 79), und dokumentiert, daß das »Denken in Gegensätzen«, das er von Friedlaender lernte, noch immer sein Denken bestimmt: »Was immer ist, differenziert sich in Gegensätze. Wenn ihr euch von einer der entgegengesetzten Kräfte einfangen laßt, sitzt ihr in der Falle oder verliert zumindest das Gleichgewicht. Wenn ihr im Nichts des Nullpunktes bleibt, bewahrt ihr die Balance und Perspektive. Später wurde mir klar, daß dies das wesentliche Äquivalent zur Lehre Lao-tses ist« (a.a.O., 80).

So ist Friedlaenders Philosophie für Perls auch die »… erste Begegnung mit dem Nichts im philosophischen Bereich« (a.a.O., 73) – das Nichts in der Gestalt des Nullpunkts zwischen zwei Gegensätzen. Dieses neue Verständnis von Nichts als einem kreativen Potential, als der Anfang und das Ende von Gegensätzen, wird für Perls eine wichtige Voraussetzung für seine erst viele Jahre später erfolgende Entdeckung des Engpasses.

Perls wird nämlich später der erste Therapeut sein, der Klientinnen und Klienten auch an dieser Stelle ihres Prozesses ermutigt, bei dem zu bleiben und das wahrzunehmen, was in diesem Moment passiert. Und er kann das später nur tun mit dem Wissen, daß die häufige Aussage von Klienten an diesem Punkt (»Nichts«) deren angemessene Beschreibung für das ist, was sie gerade in sich erleben. Dieses »Nichts« ist also etwas – ein Etwas, das genau den kreativen Punkt in jedem Klienten beschreibt, an dem er beginnt, die inneren Gegensätze seines Konfliktes aufzulösen. Dieses Wissen macht es Perls später möglich, seinen Klienten den Weg aus ihren Konflikten heraus und durch dieses Nichts hindurch zu zeigen und sie dabei zu begleiten.

Perls ist von Friedlaenders Denken in Gegensätzen begeistert. Er erkennt in diesem »differenzierenden (oder differentiellen) Denken« eine neue Möglichkeit, die innerpsychischen Vorgänge des Menschen angemessener zu verstehen, als das mit dem bis dahin üblichen kausalen Denken (Ursache-Wirkung) möglich war. Hegels Dialektik, ein Versuch, das Weltgeschehen umfassend zu verstehen, wurde so, vermittelt durch Friedlaender, von Perls für das Verständnis der inneren Welt des Menschen fruchtbar gemacht (vgl. Stewart 1974, 14).

Perls übt sich in der »Kunst des Polarisierens« (1978, 23) und beginnt mit dem Studium der Schriften von Sigmund Freud. Da Freud im wesentlichen noch dem naturwissenschaftlichen Denken der damaligen Zeit verhaftet war, kommt Perls von Anfang an in eine kritische, spannungsvolle Distanz zu ihm. Trotzdem hat auch Freuds Psychoanalyse (»das erste System einer wirklichen strukturellen Psychologie« – Perls 1978, 17) zunächst einen ordnenden und klärenden Einfluß auf Perls. Nach einem Aufenthalt in New York (Oktober 1923 bis April 1924) kehrt er nach Berlin zurück und beginnt 1926 seine psychoanalytische Ausbildung mit einer Therapie bei Karen Horney.

Karen Horney, später eine der führenden Vertreterinnen der »Neopsychoanalyse« in Amerika, hatte schon damals begonnen, im Rahmen der Psychoanalyse eigene Wege zu gehen (vgl. Horney 1939). Sie hilft Perls aus seiner emotionalen Verwirrung, die aktuell ausgelöst worden ist durch Kontaktprobleme in seiner ersten längeren Beziehung mit einer Frau. Auf Horneys Rat hin trennt sich Perls von dieser Frau, verläßt Berlin, geht 1926 nach Frankfurt und setzt dort seine Analyse bei Clara Happel, einer Schülerin von Karen Horney, fort.

Ein wesentlicher Teil dieser Therapie besteht in der Bearbeitung seiner von den Eltern und der Gesellschaft übernommenen Wertvorstellungen und dem Finden eigener Werte. Für Perls selbst überraschend erklärte ihn Clara Happel nach einem Jahr für »komplexfrei« und empfiehlt ihm, seine analytische Ausbildung jetzt in Form von Kontrollanalysen fortzusetzen.

Beruflich arbeitet Perls in Frankfurt am Institut für hirnverletzte Soldaten. Er ist Assistent von Kurt Goldstein und lernt bei ihm die damals neueste Strömung der Psychologie kennen, die Gestaltpsychologie.

Die Psychologie, damals noch eine junge Wissenschaft, hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Philosophie abgegrenzt und sich zu einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt. Das war jedoch nur möglich durch die Übernahme des damals vorherrschenden naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnisses. Vor allem von Wilhelm Wundt – die Gründung seines Psychologischen Instituts an der Universität Leipzig 1879 gilt als offizielle Geburtsstunde der modernen Psychologie – war die Psychologie zu einer naturwissenschaftlich orientierten Disziplin (»physiologische Psychologie«) geformt worden.

Man erforschte nach physikalischem Vorbild die Sinnesphysiologie der Wahrnehmung. Die grundlegende Annahme dieser Forschung war, daß das Seelische aus einzelnen diskreten Elementen besteht, die isoliert voneinander existieren. Um die Jahrhundertwende waren gegen diese Auffassung vom Wesen des Seelischen zunehmend mehr Einwände erhoben worden. In leidenschaftlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen wurde die »Elementenpsychologie« schließlich korrigiert und durch eine Sichtweise ersetzt, die den Zusammenhang des seelischen Erlebens hervorhob. Mit zwei Begriffen wurde dieser Zusammenhang von den Forschungsgruppen um Felix Krüger bzw. Max Wertheimer beschrieben: »Ganzheit« und »Gestalt«.

Beide Begriffe meinen im wesentlichen das gleiche: Einzelne Elemente bilden zusammen immer ein Ganzes, eine Gestalt. Dieses Ganze ist mehr als die bloße Summe seiner Teile. Es ist wesensbestimmend für die es konstituierenden Elemente und wahrnehmungsmäßig vorrangig: Drei Punkte werden z. B. in der Regel zunächst als Dreieck und erst dann als einzelne Punkte gesehen.

Krüger ging es mehr um die »psychische Ganzheit«, also in Abgrenzung zur Elementenpsychologie darum, daß das Seelische in sich eine Einheit bildet; die Trennung von Seele und Körper wurde nicht in Frage gestellt. Die Gestaltpsychologen zielten dagegen auf eine Einheit der ganzen Person ab, auf den Zusammenhang von Seele, Körper und Geist. Mit dem Begriff des »Organismus« versuchte Kurt Goldstein diesen Zusammenhang zu beschreiben; er kennzeichnete so den Organismus als unteilbare Ganzheit von Körper, Seele und Geist (vgl. Goldstein 1934 u. 1974). Wie wir im einzelnen noch sehen werden, bleibt diese Grundidee, daß der Mensch ein ganzheitlicher Organismus ist, für Perls’ Verständnis von Neurose und Therapie von da an bestimmend.

Bezeichnenderweise wurden viele der Ganzheitspsychologen um Felix Krüger (»Leipziger Schule«) später aktive Nationalsozialisten, die die Ideologie der Nazis wissenschaftlich untermauerten, indem sie den Vorrang des Volksganzen gegenüber dem einzelnen Individuum propagierten. Die Gestaltpsychologen (»Berliner Schule«) kamen dagegen zu ganz anderen politischen Überzeugungen; sie betonten mehr den Wert und die Einzigartigkeit des Individuums, der unteilbaren Person; sie emigrierten 1933 fast ausnahmslos in die Vereinigten Staaten.

Kurt Goldstein, bei dem Perls nun arbeitete, erforschte in Frankfurt Aphasien bei Hirnverletzten auf der neuen wissenschaftlichen Grundlage seiner ganzheitlichen Auffassung der Gehirnvorgänge. Dabei interessierte er sich u. a. für die gehirnphysiologischen Korrelate des Gestaltbildungsprozesses, der sogenannten »Aktualgenese«: Alle Gestalten durchlaufen unter geeigneten Bedingungen eine Entwicklung von diffusen Vorgestalten zu prägnanten, klar gegliederten Endgestalten (vgl. auch Votsmeier 1995).

Perls ist tief beeindruckt von diesen neuen psychologischen Sichtweisen und Erkenntnissen. Parallel zu der persönlichen Neuorientierung im Rahmen seiner Therapie bei Clara Happel lernt er von Goldstein eine neue Art, wissenschaftlich zu denken, die sich für ihn gut mit dem von Friedlaender gelernten differentiellen Denken verbinden läßt. (»Die Absolutheit der Reiz-Reaktions-Theorie wurde von Kurt Goldstein über Bord geworfen.« – Perls 1981, 39) Freud gehört für ihn zu den Elementenpsychologen, genauer zu der alten »Assoziationspsychologie«, die die Seele als eigenständiges Wesen vom Körper abtrennte und sie dann noch in einzelne Instanzen zerteilte. So kommt Perls auch in dieser Hinsicht in kritische Distanz zur klassischen Psychoanalyse.

Ebenfalls um die Jahrhundertwende wurde die zeitgenössische experimentelle Psychologie auch von der Philosophie her scharf kritisiert. Vor allem die von Edmund Husserl begründete Phänomenologie setzte der empirisch-experimentellen Wissenschaft eine deskriptive Wissenschaft entgegen. Sie geht davon aus, »… daß Seelisches prinzipiell sinnvoll und verstehbar sei« (Hehlmann 1967, 281), und versucht, diesen Sinn in dem jeweils spezifischen Zusammenhang der Elemente zu finden. Nicht in der Auflösung des Psychischen in seine einzelnen Elemente, wie es das Anliegen der »Elementenpsychologie« war, müsse das Forschungsbemühen liegen, sondern genau in der entgegengesetzten Richtung.

Dem methodischen Vorgehen der empirischen Psychologie setzt die Phänomenologie die »Wesensschau« entgegen, die mit Hilfe der »phänomenologischen Reduktion« erreicht wird (vgl. Husserl 1962). Durch Wahrnehmung und Beschreibung der Phänomene sowie die Reduktion auf das Wesentliche werden die sinnvollen Strukturen erkennbar. Einer der bedeutendsten Schüler Husserls war der Philosoph Max Scheler, und Perls hört seine Vorlesungen (vgl. Simkin 1978, 216, und Perls 1981, 63). Einige spätere Konzepte von Perls (z. B. das der Bewußtheit) haben inhaltlich große Ähnlichkeiten mit zentralen Ideen von Scheler (vgl. Scheler 1947 und Hehlmann 1967, 293f.).

Außer der Phänomenologie lernt Perls in Frankfurt am Rande auch die Existenzphilosophie kennen. Neben Husserl hatte auch Martin Heidegger, der Begründer dieser philosophischen Richtung, die empirische Psychologie wissenschaftstheoretisch scharf kritisiert und seine Ontologie des menschlichen Daseins u. a. mit dem Ziel entworfen, einen grundsätzlichen philosophischen Rahmen zu liefern, innerhalb dessen spezielle Einzelwissenschaften erst ihren Sinn erhalten. (»Die existentiale Analyse des Daseins liegt vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht Biologie.« – Heidegger 1963, 45) In der Frankfurter Zeit von Perls lehrten dort zwei Existenzphilosophen, Martin Buber und Paul Tillich, in deren intellektueller Umgebung er sich bewegte. Allerdings lernt er sie nicht persönlich kennen, da »… ich nur mit Psychoanalyse beschäftigt war …«, aber »… so viel war durchgedrungen: die Existenz-Philosophie verlangt, daß man die Verantwortung für seine Existenz übernimmt« (Perls 1981, 63).

Im Herbst 1926 trifft er am Goldstein-Institut auch seine spätere Frau Lore, die hier schon seit zwei Jahren Gestaltpsychologie studierte und später bei Adhemar Gelb, einem Kollegen von Kurt Goldstein, promovierte. 1927 geht Perls – dem Rat von Clara Happel folgend – nach Wien, dem damaligen Zentrum der Psychoanalyse. Er bekommt eine Stelle in der Nervenklinik. Seine Kontrollanalytiker sind Helene Deutsch (»sehr schön und kalt« – a.a.O., 58) und Eduard Hitschmann (»ein warmer, unkomplizierter Mann« – ebda.). Freud selbst (»der Meister im Hintergrund« – ebda.) zu treffen, ist ihm noch nicht vergönnt.

Er erlebt ein persönlich enttäuschendes Jahr in Wien (»Trotz ihres Rufes zogen mich die Wiener Mäderln nicht besonders an.« – a.a.O., 57) und geht 1928 wieder zurück nach Berlin. Dort eröffnet er eine psychoanalytische Praxis und hat seine ersten eigenen Psychotherapieklienten. Er ist persönlich nach wie vor unzufrieden und begibt sich deswegen auch wieder als Klient in Therapie.

Sein dritter Analytiker ist Eugen Harnik, ein Vertreter der »passiven Analyse«. Perls schreibt später: »Dieser widersprüchliche Begriff bedeutet, daß ich achtzehn Monate lang zu ihm ging, fünfmal die Woche, und auf seiner Couch lag, ohne analysiert zu werden. In Deutschland gibt man sich die Hand: er gab mir die Hand weder wenn ich kam, noch wenn ich ging. Fünf Minuten vor Ablauf der Stunde kratzte er mit dem Fuß über den Fußboden, um anzudeuten, daß die mir zugewiesene Zeit bald um sein würde. Er sprach maximal einen Satz pro Woche … Ich wünschte, ich könnte irgendwie den Zustand von Dummheit und moralischer Feigheit beschreiben, auf den mich seine sogenannte Behandlung reduzierte« (a.a.O., 49f.).

Offensichtlich hat Perls in dieser Analyse ein höchstmögliches Ausmaß an Kontaktlosigkeit erlebt; er braucht 18 Monate, bis er die Unsinnigkeit dieser Therapie für sich erkennt und die Fähigkeit entwickelt, sie abzubrechen. Unabhängig geworden von der Einschränkung der psychoanalytischen Therapiebedingung, während der Analyse keine wichtigen Lebensentscheidungen zu treffen, ist er nun frei, (am 23. 8. 1930) Lore zu heiraten.

Auf Rat von Karen Horney (»einer der wenigen Menschen, denen ich wirklich vertraute« – a.a.O., 50) macht er danach seinen vierten Versuch als Klient und geht zu Wilhelm Reich in Analyse. Reich war damals einer der führenden Köpfe der jüngeren Analytiker (vgl. Boadella 1981; Sharaf 1994). Auf Reichs Vorschlag hin hatte Freud in Wien 1922 ein »technisches Seminar« gegründet, das »Wiener Seminar für Psychoanalytische Therapie«, dessen Leitung zunächst Eduard Hitschmann innehatte. In diesem Seminar wurde kontinuierlich an Problemen der Behandlungstechnik gearbeitet. Reich, seit 1922 Hitschmanns Assistent an der Psychoanalytischen Poliklinik in Wien, übernahm von 1924 bis 1930 die Leitung des Seminars und widmete sich hier intensiv dem bis dahin ungelösten »Problem Widerstand«.

Freud hatte versucht, die analytische Behandlungssituation von vornherein durch die sogenannte »Grundregel« zu strukturieren. Er forderte seine Patienten auf: »Sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht. (…) und gehen Sie nie über etwas hinweg, weil Ihnen diese Mitteilung aus irgendeinem Grund unangenehm ist« (1975, 194f.). Zur Absicherung mußten die Patienten »volle Aufrichtigkeit« versprechen. Freud machte sich damit bei der Gewinnung des therapeutisch relevanen »Materials« von der gutwilligen Mitarbeit der Patientin oder des Patienten abhängig. In der Praxis zeigte sich schnell, daß die Aufforderung, die Grundregel zu befolgen, oft zu scheinbar paradoxen Reaktionen führte: Für viele Patienten war diese Aufforderung geradezu eine Einladung, ihre Neurose durch Boykottieren der Grundregel auszuagieren (z.B. durch stundenlanges Schweigen). Damit war aber der analytischen Behandlung ihre Grundlage entzogen; die Grundregel diente manchmal offenbar mehr der Neurose als der beabsichtigten Therapie. Diesem Phänomen, von Freud zunächst »negative Reaktion« und später »Widerstand« genannt, standen die Analytiker zunächst ratlos gegenüber.

Reich hatte sich ab etwa 1926 nicht mehr an dem offensichtlich vergeblichen Bemühen beteiligt, die Widerstände auszuschalten, und war statt dessen davon ausgegangen, daß die Widerstände selbst das eigentlich interessante Material in der Therapie sind. Er hatte begonnen, die Widerstände seiner Patientinnen und Patienten zu akzeptieren und sie systematisch zu untersuchen. So entdeckte er bei verschiedenen Patienten, wie diese sich auf jeweils unterschiedliche Weise gegen den Fortschritt der Behandlung an bestimmten Stellen ihrer Therapie wehrten.