Kreideweifl - Letzte Schreie - Tom Wolf - E-Book

Kreideweifl - Letzte Schreie E-Book

Tom Wolf

4,6

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Juli 1772: Friedrich der Große gibt ein Geburtstagsfest für seine Schwester Ulrike. Eingeladen sind auch Couturiers aus Paris und London, die ihre Entwürfe erstmals an lebenden Modellen zu zeigen beabsichtigen. Mehrere Hofdamen der Königin probieren die Roben, doch eine nach der anderen erstickt - aufgrund zu enger Korsagen, wie es scheint. Der König jedoch vermutet perfide Manöver ausländischer Agenten und beauftragt Honoré Langustier, der Sache auf den Grund zu gehen.Weitere Titel der PreußenKrimi-Reihe als ebook:Königsblau (1740)Silbergrau (1743)Muskatbraun (1746)Purpurrot (1750)Rosé Pompadour (1755)Schwefelgelb (1757)Smaragdgrün (1759)Glutorange (1760)Rabenschwarz (1766)Goldblond (1778)Kristallklar (1786)

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Seitenzahl: 355

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Tom Wolf

Kreideweiss

Letzte Schreie

Die Handlungen dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit tatsächlichem Geschehen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen desUrheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und dieEinspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs,Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2012

© der Originalausgabe:berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbHBerlin-Brandenburg, 2008KulturBrauerei Haus 2Schönhauser Allee 37, 10435 [email protected]: Gabriele Dietz, BerlinUmschlag: Hauke Sturm, Berlin, unter Verwendung einesGemäldes von Adolph Menzel »Flötenkonzert Friedrich desGroßen in Sanssouci« 1850-52, bpk BerlinGestaltung: Magde Blues, BerlinISBN 978-3-8393-6118-4 (epub)ISBN 978-3-8393-6119-1 (pdf)ISBN 978-3-89809-512-9 (print)

www.bebraverlag.de

Für O.

Historische Personen undfiktive Hauptakteure

Albino, Federico di – Puppenspieler

Amalie, Schwester Friedrichs II.

Bergé, Hermès de – Couturier

Bianchini, Antonia di – Hofdame Amalies

Bromberg, Luise Cornelie von – Hofmeisterin Ulrikes

Burney, Robert – Komponist

Calau, Benjamin – Wachsmaler

Daschkowa, Jekaterina Fürstin – Herausgeberin des »Courrier des Modes«

Elisabeth Christine, Königin – Gemahlin von Friedrich II.

Falk, Anselm – Prediger an der Reformierten Parochialkirche

Friedrich II. – König von Preußen

Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen – Neffe Friedrichs II.

Huber, Carlotte Adelheid – Leibköchin Elisabeth Christines

Huberty, Serge de – Couturier

Kannenberg, Amalie Gräfin von – Hofmeisterin Elisabeth

Christines

Karsch, Anna Luise – Dichterin

Kellner, Dietrich Baron von – ehemaliger Generalfeldstabsprediger Lakefield, Charles – Couturier

Langustier, Honoré – Zweiter Hofküchenmeister Friedrichs II.

Lehndorff, Graf Heinrich von – Kammerherr Elisabeth Christines Léonard, Jean – Couturier

Luise Ulrike – Königin von Schweden, Schwester von

Friedrich II.

Philippi, Karl Johann von – Berliner Polizeipräsident

Quandt, Marie von – Tochter Honoré Langustiers

Rahn, Ewald von – Potsdamer Polizeipräsident

Roche, Hortense de la – Hofdame Luise Ulrikes

Roedern, Nathalie von – Hofdame Elisabeth Christines

Seeacker, Karl – Journalist

Seelig, Johann Georg Friedrich – Hofglockenist (Hofcarillonneur)

Silkstedt, Johan Jonatan – Hofgarderobenmeister Luise Ulrikes

Theden, Johann – Generalchirurg, Charité-Chef

Valencia, Cristobal – Couturier

Das schönste Kleid einer Frau sind die Arme ihres Liebhabers.Yves Saint Laurent

Ich sterbe lieber im Domino als im Büßerhemd.Friedrich II.

Schönheit vergeht, der Putz bleibt.Jekaterina Daschkowa

Montag, 29. Juni 1772

Sanft knisterte die Seide zwischen ihren Fingern. In allen Nöten half ihr die Berührung dieses edlen Stoffes. Warum konnte Gott die Dinge nicht einfacher gestalten? Sie wollte keine ménage à trois, aber es hatte sich so ergeben … Und genauso gering war ihr Verlangen nach einer ménage à quatre … Aber jetzt liebte sie die beiden und ihn dazu!

Wie sollte sie ihn bei sich nennen? Le Constant nannte er sich selbst. Sie liebte die Art, wie er sich gab, wie er sie behandelte. Er hofierte sie seit Magdeburg, wo sie seiner Gattin ein Kleid angemessen hatte. Er verwöhnte sie, trug sie auf Händen, o ja, er war stark! Und wenn er auch eigentlich nicht schön war, so besaß er doch mehr als alle Männer, die sie kannte … Er hatte Humor und Geist, war reich an Gefühl, mit- und einfühlend … Er konnte so warm und zärtlich sein … Sie glaubte, ihn schon immer zu kennen, dabei waren es erst ein paar Wochen …

Die Geschenke, die ihr die beiden machten, waren kurioserweise viel teurer als seine … Und seit die beiden mitbekommen hatten, dass es ihn gab, empfanden sie eine geheime Lust daran, es zu übertreiben. Aber wenn sie ihr beilagen, hatten alle drei das gleiche elementare Feuer. Jeder von ihnen behauptete, es störe ihn nicht, dass es sich so verhalte und er nicht der Einzige wäre …

In Paris würde all dies niemanden aufregen. Doch hier, in diesem puritanischen Land, wo das Leben sich abspulte wie ein Soldatenmarsch auf einer Drehorgel, könnte es einen unsäglichen Skandal machen … spaßig sicher, zu hören, was die Amtmannsgattinnen X und Y darüber reden würden! Eigentlich, so hatte man ihr erzählt, seien die Berlinerinnen genauso freizügig in ihren Amouren wie die Pariserinnen. Manche ihrer Freundinnen glaubten sogar gehört zu haben, dass es an der Spree noch lustiger zuginge als an der Seine. Jetzt konnte sie es besser beurteilen. Das waren Gerüchte, die von einflussreichen Berliner Pietisten in die Welt gesetzt wurden. Er hatte ihr die entsprechenden Stellen in der Schrift des ehemaligen Generalfeldstabspredigers vorgelesen, und sie hatten sich köstlich darüber amüsiert. Der alte frivole Spruch, demzufolge eine Dame nur vor dem Schminkspiegel errötete – in Berlin stimmte er ganz bieder.

Die Nacht ummäntelte sie sanft, doch die Gedanken waren noch zu rege. Der Schlaf wich zurück. Warum kehrte sie nicht einfach den beiden den Rücken und widmete sich ganz ihm? Nun … erstens mochte sie die beiden zu sehr, und zweitens … so ganz traute sie ihm nicht … Zu wetterwendig konnten Männer seines Schlages sein … Oder sie wünschte die Männer generell zum Teufel und ginge in ein Kloster! Das wäre vielleicht ihre Rettung.

Sie dachte an Prinzessin Amalie, die Äbtissin von Quedlinburg, bei der sie den Nachmittag mit Kaffee und Plausch zugebracht hatte – entspannte Stunden auf hohen, aufgequollenen Plumeaus. Diese Schwester des Königs von Preußen hatte wohl eine Grabesstimme und sah ein wenig zerknittert aus, doch was sie sagte, war geradeheraus. Sie wollte unbedingt die erste Berlinerin mit einer robe à la polonaise nach neuestem Pariser Zuschnitt sein … Eigentlich, dachte sie amüsiert, sollte man es hintertreiben, damit eine solch schöne Novität nicht in schlechtem Licht herauskäme, unter einem so missmutigen Gesicht. Und erst Amalies Hofdamen! Die Hofmeisterin Blaspiel war siebzig und hatte schluchtentiefe Falten. Alle hatten sie dieses Verlorene, das an kleinen Höfen so typisch war … Nur Antonia di Bianchini aus Neapel nicht, die besaß echten chic, war sichtlich weiter herumgekommen als die anderen. Die Bianchini hatte das Fräulein von Krähl vom Hof der Regierenden Königin boshafterweise dazu überredet, ein neues Kleid anzulegen. Es hatte an ihr geschlottert wie ein bunter Sack. Sie musste jetzt noch lachen, wenn sie daran dachte. Die Bianchini hatte freilich nicht gezögert, sich über den schlechten Sitz lustig zu machen. Das Fräulein von Roedern, das mit der Bianchini befreundet war, und eine Bäurin namens de Laroche aus der schwedischen Hofgesellschaft hatten sich gleichfalls sehr amüsiert. Die beiden passten äußerlich gut zueinander – grau-schwarze Betschwestern dieses neuen, empfindsamen Typs.

Wie hatten die Augen der Krähl geleuchtet, die sich vorher scheint’s auch eher in gedeckten Farben gekleidet hatte, als dank ihres kundigen Blickes und drei Dutzend Stecknadeln aus dem bunten Segel eine schnittige Robe geworden war, die ihre Schönheit ausstellte wie ein gläserner Spind … Das Fräulein Krähl hatte ihre Zofe sofort ihr altes Kleid holen lassen, das sich als feine, indes irgendwie traurige Robe des unseligen Lakefield herausstellte. Als Gegenleistung fürs Anpassen war es akzeptabel. Das neue Kleid, verkündete Demoiselle Krähl, wolle sie, sobald es geändert sei, nie mehr ausziehen. Sie hatte der Zofe gezeigt, wie sie es zu nähen hätte. Das Ding war flink, wenngleich ungeübt. Doch am Ende des Kaffeekränzchens war schon alles getan.

Ob er wohl andere hatte? Ihr gegenüber machte er ein Geheimnis daraus, wie er sich scheinbar oft darin gefiel, in Verkleidung herumzulaufen … Doch sicher wussten es alle. Wenn sie nur Deutsch verstünde, dann könnte sie sicher in der nächsten boulangerie danach fragen … Aber es gab ja keinen Anlass für solche Fragen! Nur eine Törin fragte so etwas. Oder eine schamhafte Berlinerin. Sie musste aufhören, darüber nachzudenken, sonst würde sie selbst noch eine! Auch bei den beiden hätte sie nie nach derlei gefragt. Sie schwebte, wie auf einem Hochgefühl. Die laue Sommerluft kam durchs offene Fenster. Eine Nachtigall sang. Berlin lag im Dunkel des Neumonds. Abertausend Sterne funkelten. Das Leben, es pulste in ihr.

Der Schlaf kam nahe heran. Sie wurde zur marquise, zur reine … drehte sich wohlig. Die Bilder fluteten … alles wurde weich und leicht …

Doch da: Hatte es nicht eben geklopft?

Oder hatte sie es geträumt?

Nein, jetzt hörte sie es deutlich.

Es klopfte wieder. Wer konnte das sein?

Sie war wieder wach.

»Ja? Wer ist das?«

Wer war da draußen? War es ein Diener des Hotels? Dazu war es zu spät. Wer aber sollte sonst zu dieser Zeit bei ihr klopfen? Sie fragte noch einmal.

»Qui est là?«

Erneutes Klopfen. Auch ihr Herz stimmte jetzt darin ein. Wenn es gar einer von beiden wäre? Nein, das konnte nicht sein, sie waren in Potsdam. Doch hatte vielleicht die Sehnsucht einen zu ihr getrieben?

Viel wahrscheinlicher aber war er es!

Sie atmete heftig, hüpfte heraus aus dem Bett und sprang zur Tür, versuchte, durch das Holz etwas zu hören.

»Wer ist draußen?«, fragte sie lächelnd. Es musste er sein!

Sie war direkt hinter der Tür. Wer auch immer davor stand, musste sie gehört haben. Sie drehte den Schlüssel, trat dann erwartungsvoll zur Seite. Mit einem Ruck flog die Tür auf. Sie konnte nichts erkennen. Kein Licht, alles dunkel … nur diese Hand auf ihrem Mund … nur diese brennende Schlinge um den Hals … nur diese eiserne Klammer um den Brustkorb, die sie an jeder Bewegung hinderte … nur noch diese Wiese, über die sie lief, über der ein blauer Himmel stand … All ihre Bänder und Borten und Schnittmuster flatterten durch die Luft … Weiße Quellwolken über dem ersten Maiengrün … Hitze … klares Wasser … Nebel … Schnee … Dunkelheit … am Ende nichts mehr … So war das also … und ihr letztes Gefühl war grenzenloses Erstaunen …

Dienstag, 30. Juni 1772

»Mein Vater ist ebenfalls Koch gewesen«, verkündete Honoré Langustier, Zweiter Hofküchenmeister des Preußenkönigs Friedrich. »Der Sonnenkönig aß eine seiner Pasteten und machte Alphonse René Langustier zum Ersten Bratenmeister und Zweiten Pastetenbäcker in Versailles! Ich wurde Küchengehilfe am sonnigsten Hof der Welt, eine prägende Erfahrung für einen Zwölfjährigen. 1740 kam ich nach Berlin.«

Sie lächelten einander wissend an. Jekaterina Fürstin Daschkowa lebte abwechselnd in Paris und Sankt Petersburg, war Chefredakteurin des Courrier des Modes und immer unterwegs im Dienste des guten Geschmacks. Das ist groß! war ihre Lieblingswendung. Sie beriet die französische Königin in Fragen der Mode; derzeit war sie auf der Suche nach einem Liebhaber, den sie durch eigene Schuld verloren hatte, aber um alles auf der Welt wiederhaben wollte.

Ach, wenn sie wüsste, dachte Honoré Langustier und schmunzelte. Gerade mal 29 Lenze zählte sie, doch es lag etwas Verwegenes in ihrem Gesicht, das sie viel älter erscheinen ließ und ihn unglaublich anzog: sinnliche Lippen, braune Augen, hohe Stirn und dunkelbraune Haare, zu einem einfachen Knoten hochgeschlungen. Sie war nicht völlig schlank, aber eisern geschnürt. Ihr Reise-Négligé bestand aus einer dunkelblauen Schoßjacke mit großrapportigem gelbem Früchtedekor und einem hellblauen Rock mit Blütenmuster. Sie reiste unfürstlich-journalistisch, ohne Zofe, mit kleinem Gepäck – von zwei riesigen Schrankkoffern abgesehen –, und ihr Lachen war ein kleines Geläut.

»Und ich war fünfzehn, als ich an den Kaiserhof kam und Katharinas Freundin wurde!«

Sie meinte die große Katharina, die sich gerade mit seinem König Polen geteilt hatte. Friedrich, der seit Jahren aller Welt Theater vorspielte, liebte es, zu überraschen. Marie Antoinettes Lieblingscouturiers mit 40 Kleiderentwürfen nach Charlottenburg zu holen, war wie ein Angriff auf Frankreich – kaum dass ihm kampflos sein Stück vom polnischen Kuchen in den Schoß gefallen war. Preußen lag trotz des entbehrungsreichen siebenjährigen Krieges nicht am Boden. Mochte es seinen Untertanen auch dreckig gehen – der König tat, was er konnte, um die gewaltige Fassade aufrechtzuhalten. Das Neue Palais stand symbolisch für diese Anstrengungen. Der König war ein Finanzgenie, denn trotz des immensen Aufwands, den er trieb, lagen fünf Millionen Friedrichsdor in den Schatzkammern im Untergeschoss des Berliner Schlosses.

Langustier sehnte sich zu Rahel, seiner Frau, zurück und verfluchte sich selbst, dass er dem König in Antwort auf den letzten Express-Brief versprochen hatte, die Daschkowa erst sicher in Berlin abzuliefern. Der Regent hatte sie nicht direkt eingeladen, doch er wusste um ihre einflussreiche Stellung als Herausgeberin des führenden europäischen Modemagazins. Die Vorankündigung im Journal de Berlin, die Langustier ihr in London gezeigt hatte, hatte sie magisch angelockt. Jetzt gedachte sie das kleine Berlin einer weltstädtischen Beurteilung zu unterziehen – anlässlich der geplanten Mode-Revue.

»Werden meine geliebten Pariser Couturiers denn wirklich alle da sein und den Königinnen und reichen Damen ihre neuesten polnischen Roben vorführen?«, fragte sie. »Valencia, Huberty, Léonard und Bergé? Das ist groß! Die schönste Geschichte für sämtliche Gazetten! Die Teilung Polens in der Mode! Der Vorstoß Preußens in der Mode!«

»Fürstin – sicher werden alle da sein. Alle!« Er hatte das alle besonders betont. »Ich kenne doch meine Termine. Einer wird sogar bei dieser hübschen Gelegenheit eine der ersten Töchter Preußens ehelichen. Hermès de Bergé ….«

»Hermès wird heiraten? Ach, was Sie nicht sagen … Wen? Ich habe mich in London, so sieht es wohl aus, viel zu weit vom Weltgeschehen entfernt und trotz aller Bemühungen doch nicht herausgefunden, wo Lakefield geblieben ist … Die Mode in England ist übrigens wirklich das Allerletzte. Was sagen Sie dazu? Weshalb waren Sie noch mal da?«

Langustier griente.

»Wegen des englischen Botschafters, wegen des großen James Cook – und einer alten Freundin namens Gloria.«

»Cook, natürlich. Das hätte ich mir ja denken können! Und die Suche nach alten Freunden … oder Geliebten … kenne ich aus eigener Erfahrung nur zu gut. Was meinen Charles, ich meine: Lakefield betrifft – ich glaube, er hat mich in die Irre geführt, indem er behauptete, zwanzig Jahre in London gewesen zu sein. In ganz Britannien schien man von ihm nie etwas gehört zu haben.« Sie lachte sarkastisch, wohingegen er lächelte, gedanklich scheinbar noch ganz bei den bevorstehenden Festterminen. Er hatte sein kleines schwarzes Notizbuch gezückt und las:

»12. Juli, Charlottenburg: Moden-Fest. Mittags Bankett für 150 Personen, darunter auch die Regierende Königin Elisabeth Christine. Abends Büfett nach Aufführung der königlichen Puppen-Comedie ›Die Maulaffen‹ und Präsentation der Entwürfe der Pariser Couturiers. Nachher Ball en domino und Illumination des Schlossgartens …«

»Wenn ich nur wüsste, was ich für eine Audienz bei Ihrem König tun muss …«

»Fürstin, jetzt verspotten Sie aber mich armen alten dicken Koch! Für ein tête-à-tête mit dem König von Preußen benötigt eine einstige Kampfgenossin Katharinas wahrlich meine Hilfe nicht. Mir kommt da gerade ein Einfall, Fürstin, der Ihre Zustimmung finden wird!«

Sein Gesicht spannte sich vor Freude.

»Lassen Sie uns eine Rast in Meyenburg einlegen, wo ihr geliebter Bergé gerade Verlobung mit Adelheid von Rohr feiert! Auf meinem Weg nach Hamburg vor drei Wochen landete ich zufällig in Wolfshagen, wo ich eine Kutsche sah, die ich mir zu kaufen in den Kopf gesetzt. Unser Tolpatsch von Kutscher hat etwas gutzumachen – er wird uns nach Wolfshagen bringen, ich werde die schnelle Kutsche kaufen, Pferde leihen, eigenhändig lenken und Sie entführen …«

Die Daschkowa kam ihm einen halben Meter entgegen vor Aufregung, bevor sie sich wieder langsam in die entspannte Sitzposition zurückgleiten ließ.

»Nein! Ich dachte, er sei … Das dachte ich eigentlich von allen meinen Couturiers. Sie schwergewichtiger Engel – ich wäre die glücklichste Frau der Welt, wenn ich so ein Abenteuer mit Ihnen erleben dürfte. Indessen vergessen Sie eine Kleinigkeit …«

Langustiers überbordender Eifer zerschmolz wie Eis an der Sonne. Er folgte dem Blick der Daschkowa, deren Augen plötzlich den Platz neben ihm fixierten. Zugleich hörte er das Hüsteln jenes spindeldürren jungen Mannes, der in seinem schwarzen Rock, den gleichfarbenen culottes und Strümpfen und dunkelschwärzesten Schuhen vorm abgeschabten schwarzen Leder der Sitze vollends unsichtbar gewesen wäre, wenn ihn nicht die vornehme Blässe seines schmalen Gesichts und die filigranen Klavierspielerhände als menschliches – englisches – Wesen verraten hätten.

»Oh … Mister Burney!«, sagte Langustier und war die Zerknirschung selbst. »Verzeihen Sie mir mein ungestümes Gemüt …« Robert Burney, der junge Komponist, der in Berlin seinen Bruder Charles zu treffen beabsichtigte, sagte mit fast unhörbarer Stimme:

»Marvellous! Das klingt so verführerisch, dass ich ein Esel wäre, nicht darauf einzugehen.«

Hausherr Ludwig von Rohr strahlte die späten Gäste mit von Wein und Tanz geröteten Wangen an. Noch ehe Langustier seiner Freude über das Wiedersehen Ausdruck verleihen konnte, hörte man bereits den Sopran der Daschkowa, die mit gespieltem Erstaunen verkündete:

»Nein! Die Welt ist klein! Wie wunderbar! – Hermès! Das ist ja nicht zu glauben – wir wähnten Sie längst in Berlin! Und sagen Sie: Wiieeeso wusste ich nichts … davon? Wie konnten Sie mir dieses – hm – Wunder – verbergen?«

Adelheid von Rohrs Bräutigam indes flötete, als er die Dame zu Gesicht bekam, die ihm mehr als bekannt zu sein schien:

»Sürpriiise!«

Die Fürstin klatschte ihm mit ihrem hübsch watteauisch bemalten Fächer leicht auf die beseidete Schulter.

»Meine Pariser! Sie sind überall! Sagen Sie, wie haben Sie einander kennengelernt? Nein, das ist fast zu viel …« Zu Adelheid: »In Paris hält man ihn für einen ewigen Einzelgänger …«

Ihr Lachen war glockig, tremolierend, und legte sich allen wie ein klingender Schal um die Ohren.

Bergé lächelte süß und fragte:

»Wenn ich für meine Zukünftige antworten darf?« Dabei fasste er seine Braut an der Hand und zog sie sanft an seine Seite.

Adelheid von Rohr, eine vornehme, hochgewachsene Brünette, die am kurpfälzischen Hof durch ihre Schönheit Furore gemacht hatte, konnte und wollte durchaus selbst das Wort ergreifen:

»Von wem ist dieser hübsche Fächer? Von Ricci? Sie sehen umwerfend aus, liebste Fürstin! Wir lernten uns am kurpfälzischen Hof in Schwetzingen kennen, schon vor einem Jahr, beim Ball nach Le Misanthrope von Molière. Ein entfernter Onkel von mir ist Jagdaufseher beim Kurfürsten Carl-Theodor.«

Langustier betrachtete Bergé, ein Paradiesvogel inmitten der Prignitzer Ländler. Seine Haartracht zeigte sich ganz à la mode: stark gepudert und karottenförmig aufgezwirbelt. Er trug einen Samtanzug in zwei Farben – mauve die Jacke und bourgognerrot die Culottes –, mit weißem Seidenbesatz paspeliert. Aus weißer Seide waren auch die Strümpfe und bestickten Gamaschen. An den Füßen prangten Mariguin-Pumps mit roten Absätzen (ein absolut geschmackloses Vorrecht des Adels, wie Langustier fand) und Schnallen mit Steinen, die wie Diamanten glänzten. Auch an den Knien waren ein paar dieser Schnallen … Ein Degen mit Goldgriff zierte seine Seite, Brüsseler Spitze seine Brust und seine Hände, ein Band mit einem Solitär seinen Hals.

»Incroyable! Unglaublich!«, sagte Bergé, als er erfuhr, wer da an der Seite der Fürstin vor ihm stand.

»In der Tat, sehr erfreut, Monsieur Bergé«, sagte Langustier. »Sollten Sie nicht wirklich schon in Potsdam sein? Wenn mich nicht alles täuscht, steht ein déjeuner für die Artisten auf dem Programm …«

Er zog das kleine Schwarze hervor.

»Ja genau, aber – ach so – erst übermorgen. Aber ob Sie das schaffen bei unseren Wegen?«

»Ich fahre morgen. Was soll das übrigens heißen? Für die Artisten? Ich sehe mich nicht als Trapezkünstler …«

»Die Neapolitaner Opernsängerinnen und -sänger, die im Neuen Palais gastieren, werden ebenfalls … äh … abgespeist. Aber – Sie und ihre werten Mit-Couturiers sitzen selbstredend an der Tafel des Königs, während alle anderen an der Beitafel platziert sind, nicht einmal im gleichen Raum, wenn der Plan nicht geändert wurde.«

Er klappte sein Notizbuch zu. Bergé lebte noch ganz in seiner Paris-Versailler Welt. Er hatte die Unterarme angewinkelt und wendete nun die feinen Handflächen entzückt himmelswärts:

»Wunderbar! So soll es sein! Wir bei König und Königin, alle anderen draußen!«

Die von Rohrs, das Brautpaar und die späten Gäste begaben sich in die gute Stube des winzigen Schlösschens, einen etwas größeren Raum im Parterre, an die winzige Vorhalle anschließend, der mit breiten Sandsteinplatten gepflastert war. Das Fest draußen ging ohne ihr Beisein weiter. Ein Kachelofen strahlte wohlige Wärme ab, was trotz des heißen Monats im kühlen Schlosskern mitten in der Nacht sehr nötig war. Langustier und Burney weideten sich an der Eleganz der Damen, die alles daran setzten, vor den Augen des Fachmannes Bergé zu bestehen. Adelheid von Rohr kontrastierte farblich in einer roten robe à l’anglaise aus leichtem Baumwollstoff mit der grün gekleideten Herrin des Hauses, Ilsabe von Rohr. Die Mutter hatte ihr Haar zu einem kleinen Bollwerk aufmodelliert. Das der Tochter dagegen war zu einem flachen Chignon aufgeschlagen und fiel im Rücken lose à la conseillère herab.

»Es ist ein unglaubliches Glück, den Mann zum Schwäger zu bekommen, der den modischen Puls des Kontinents mitbestimmt!«, sagte Ilsabe von Rohr.

Bergé war selbstredend geschmeichelt.

»Ich tue, was in meinen Kräften steht – doch Sie glauben nicht, wie schwer es ist, Marie Antoinette für etwas zu begeistern. Sie ist äußerst wählerisch, restlos eitel und völlig unberechenbar im Interesse. Hat sie sich etwa gerade für einen grün-goldenen redingote à l’amazone – einen Reitmantel – oder für gelb-violett gemusterte Schuhe begeistert, stopft sie im nächsten Moment Konfekt in sich hinein und will nichts mehr hören und sehen als Hüte. Sie kann nach etwas verlangen und es schon vergessen haben, wenn sie den Raum verlässt. Glauben Sie mir – so jemanden als Kundin zu haben, ist ein Kreuz! Allerdings – jemand der mit einem Wort eine Farbe zum neuen Modetrend machen kann, ist nicht zu verachten. Wie schade, dass meine Kleider so billig sind – sie hat einmal für Schmuck 150 Millionen Livres ausgegeben, in einer Viertelstunde … Ich bin auf die Berliner und Potsdamer Damen gespannt, die uns ein ganz hübsches Geschäft versprechen. Jede Menge kleine Salons. Hoffentlich geht es dort etwas weniger oberflächlich zu. Auch Couture ist in gewisser Weise Kunst. Ich verstehe mich eher als Porträtmaler, ich zeichne Charaktere oder bin Skulpteur: Ich arbeite etwas heraus, das ohne mich nicht sichtbar wäre … Ich bin kein Dekorateur, wie viele Menschen glauben. Viele sagen, die Kleider verhüllen nur, und man könnte einer Bohnenstange Chic verleihen, indem man sie mit edlen Stoffen drapiert. Cristobal Valencia etwa sagte einmal zur Gräfin von Bismarck-Crevese, an der wirklich Hopfen und Malz verloren schien: ›Sie brauchen nicht schön zu sein, Madame – das übernehmen meine Kleider für Sie!‹ Ein wenig mehr steckt aber schon dahinter, denn man muss die Trägerin eines Kleides inspirieren. Das ist, glaube ich, das Geheimnis bei aller Kunst: Natur, gesehen durch ein Temperament, aber zugleich: ein Temperament, erleuchtet und erhoben durch Kunst. Der Betrachter muss verzaubert sein, muss ein Lächeln im Gesicht tragen. Wir müssen mit einem Kleid die Trägerin und ihre Verehrer zum Leben erwecken. Erst dann ist wirklich gut, was wir gemacht haben.«

»Diese Philosophie gefällt mir«, sagte die Daschkowa, und Langustier erhob sein Glas gegen Bergé.

Der tat ein Gleiches und fragte:

»Glauben Sie nicht, man könnte den König einmal neu einkleiden?«

Alle lachten, denn die Vorstellung war mehr als spaßig.

»Nun ja, er ist kein großer Freund neuer Gewänder, und seine Beine sind nicht danach, ohne Stiefel gut auszusehen, die Strümpfe hängen an seinen Waden wie kleine faltige Schläuche. Aber er gleicht der Königin Antoinette im laisser faire, laisser passer. Er umgibt sich mit den schönsten und kostbarsten Dingen. Ich glaube aber nicht, dass er in der Straße der boutiqiers des modes auftauchen würde, um einzukaufen … tout la boutique ist ihm gleichgültig.«

»Solch majestätisches Qualitätsbewusstsein ist beispiellos. Umso mehr schmerzt es doch zu sehen, wie wenig Wert er auf Veränderung legt. Ihr König wird nie wanken, was Mode betrifft, und er wird sie verachtenswert finden, wenn sie sich ändert.«

Das stimmte, musste Langustier zugeben. Die schiefe Schlachtordnung, vom Thebaner Epaminondas 371 vor Christus erfunden, galt ihm noch immer für den dernier crie der Kriegskunst. Er dankte dem Himmel dafür, dass er als Einziger dem König behutsam Neues beibringen konnte – über die Kochkunst.

»Vielleicht bringt ihn die Aufführung zu einer neuen Sichtweise. Ich glaube, der Anblick meiner Kreationen …«, hob Bergé an, doch Langustier lachte.

»Oh, das soll nicht despektierlich sein, Monsieur, und Sie in Ihrem Eifer nicht stören. Ich will Sie durchaus nicht entmutigen.«

Er fragte Adelheid von Rohr:

»Werden Sie Ihren Bräutigam nach Charlottenburg begleiten? Wann soll denn überhaupt Hochzeit sein?«

»Unmittelbar vor dem Fest – in der Berliner Reformierten Parochialkirche! Der Hofprediger Falk wird uns trauen!«, entgegnete sie und schmachtete Hermès an, der hinzusetzte:

»Adelheid wird anschließend in Charlottenburg meinen schönsten Entwurf vorführen – ihr eigenes Brautkleid!«

»Dort steht ein, wie mir scheint, höchst modisches Klavier, Mister Burney!«, sagte die Daschkowa. »Möchten Sie uns nicht, zur Krönung des wunderbaren Abends, ein paar Stücke von sich spielen?«

Burneys Herz hüpfte. Das Tafelklavier von J. A. Stein lockte mit neuester Wiener Mechanik. Er wärmte die Finger am Kamin, ging zum Instrument, verbeugte sich lächelnd und setzte sich. Dann spielte er etwas, das er Summerville nannte, und alle entschwebten – der trefflichen Formulierung der Fürstin entsprechend – »auf den leichten Kähnen des Wohllauts«.

Mittwoch, 1. Juli 1772

Amalie Gräfin von Kannenberg betrat das Schlafzimmer im ersten Obergeschoss des Schlosses Schönhausen. Elisabeth Christine, Königin von Preußen, blinzelte benommen ins funzelige Licht einer Handlaterne und seufzte erleichtert, als sie ihre Hofmeisterin erkannte.

»Ach, Ihr seid es, welch ein Glück! Ich glaube, mir träumte schlecht. Mir war, als hätte ich einen Schrei gehört.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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