Kremulator - Sasha Filipenko - E-Book

Kremulator E-Book

Sasha Filipenko

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Beschreibung

Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrautem Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen. Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen?

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Sasha Filipenko

Kremulator

Roman

Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer

Diogenes

Alles in diesem Buch ist wahr – selbst das Erfundene.

TEIL EINSVoruntersuchung

Hausdurchsuchung und Verhaftung erfolgen am 23. Juni 1941. Alles zusammen dauert sechs Stunden. Ein Routinevorgang, und doch ist die Atmosphäre angespannt – tags zuvor hat Deutschland der Sowjetunion den Krieg erklärt. Während die Brester Festung dem ungeheuerlichen Druck der Faschisten standhält, wird die Hauptstadt der Sowjetunion von einer Welle unauf‌fälliger Beschlagnahmungen überrollt. In Wohnungen und Parks, in Instituten und Volkskommissariaten werden potenzielle Spione gefasst. Trotz des Ausmaßes der Aktion ist die Zahl der Verhaftungen gar nicht so hoch – gerade mal 1077 Personen sind es, in denen die wachsamen sowjetischen Behörden Verräter und Trotzkisten, bakteriologische Saboteure und »Sonstige« erkennen (für die Festnahme genügt auch diese Kategorie). Es sind nur mehr wenige, weil die sowjetischen Beamten den Großteil ihrer Listen schon 1937 abgearbeitet haben, als sie über hunderttausend Menschen wegen des bloßen Verdachts auf pro-polnische Umtriebe zum Tod durch Erschießen verurteilten (111091 Bürger, um genau zu sein). Tatsächlich zählte der polnische Geheimdienst auf der ganzen Welt keine zweihundert Agenten, aber was soll’s, Liebste, du kennst ja den Eifer unserer Behörden, wenn es um Vernichtung geht.

»Wem du’s heute kannst besorgen, den verschone nicht bis morgen«, merkt einer der Tschekisten an, während er meine Bibliothek zerlegt. Von ihrer Grobheit dreht es meiner winzigen Wohnung den Magen um, mich führen sie auf die Straße hinaus.

Zum Zweck der Ermittlungen nehmen sie meinen Wehrpass mit, Notizbücher (sechs Stück) und allerlei Aufzeichnungen (30 Blatt). Außerdem interessieren die Genossen Koslow und Ljagin, die die Durchsuchung leiten, Adressen und Telefonnummern (auf 76 Blättern), persönliche Korrespondenz (fast 200 Seiten) und drei Bücher: über Magie, über die freikirchliche Gemeinschaft der Stundisten und über Karma-Yoga.

Am gleichen Abend bringen sie mich ins Gefängnis des Kommissariats für Staatssicherheit, wo sie mich fotografieren, meine Personalien erfassen und mir meine Sachen wegnehmen:

graue Decke – 1 Stk.

Leintücher bw – 2 Stk.

Handtuch – 2 Stk.

Kissenbezug – 2 Stk.

Taschentücher – 6 Stk.

Hemden div. – 2 Stk.

Unterhose bw – 1 Stk.

Socken div. – 2 Paar

Zahnbürste – 1 Stk.

Seife – 1 Stk.

Serviette – 1 Stk.

Das alles habe ich überstürzt eingepackt, das alles ist jetzt natürlich nutzlos.

 

Später in der Zelle fange ich nicht an zu jammern, ich weine nicht und schlage nicht mit dem Kopf gegen die Wand. »Ein Irrtum!« – oh nein, ich liege den Wächtern nicht mit solchen Dummheiten in den Ohren. Sinnlose, banale Äußerungen menschlicher Emotionen sind meine Sache nicht. Stattdessen setze ich mich auf den kalten Boden und betrachte ohne besonderes Interesse meinen Mithäftling, den Zinker, der den Auf‌trag hat, mich zu verpfeifen:

»Erschießen sie dich?«, fragt er taktlos.

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil sie zwar meine sechs französischen Taschentücher konfisziert haben, mir aber trotzdem ein sowjetisches Leintuch aushändigen …«

 

Der Tod ist meine erste Kindheitserinnerung, schreibe ich eines Tages, lange vor meiner Verhaftung, in eins der Tagebücher, die sie jetzt mitgenommen haben.

Jeden Tag, wenn meine Mama und ich zusammen aus dem Haus gehen, egal wohin, führt unser Weg durch den Dorf‌friedhof. Manchmal bleibt Mama bei einem bestimmten Kreuz stehen, meistens geht sie beschleunigten Schrittes daran vorbei. Eins ist gewiss: Auch wenn wir in eine ganz andere Richtung müssen, sind wir jeden Tag kurz hier – wie in einem Bannkreis.

Eines Tages, als ich schon buchstabieren kann, fällt mir auf, dass auf diesem Kreuz mein Name steht.

»Mama, ist das für mich? Legen sie mich da hinein, wenn ich groß bin?«

»Aber nein, du Dummerchen. Hier liegt einer deiner Verwandten. Du wurdest nach ihm benannt.«

Jeden Tag gehen wir an dem Grab mit meinem Namen vorbei, und ich nehme mir fest vor, niemals zu sterben …

 

»Und wisch dir bitte das Blut ab«, sagt Mama liebevoll zu mir. Wie du weißt, hatte ich als Kind schon schwache Gefäße.

 

Das erste Moskauer Verhör verläuft zügig und nicht frei von Komik. Der Ermittler gratuliert mir zum baldigen fünfundfünfzigsten Geburtstag und behauptet, vor ihm sitze ein Spion. Für welchen Geheimdienst ich arbeiten soll, verrät er nicht, dafür schnalzt er, als er, ohne den Blick zu heben, die noch mädchenhaft schlanke Aktenmappe aufschlägt, gekünstelt mit der Zunge und fügt nur hinzu, dass mir, Nesterenko Pjotr Iljitsch, Artikel 58 droht, also eine Anklage als Volksfeind.

»Und?«, frage ich gelassen.

»Ab-füh-ren!«, bellt er plötzlich.

 

Fehlstart. Nächster Versuch.

 

Im Laufe von vier Monaten wiederholt sich diese absurde Szene immer wieder. Wie einen Gymnasiasten heißt mich der Ermittler auf einem Stuhl Platz nehmen, liest mir die Leviten und stellt mir nutzlose Fragen. »Wer? Wozu? Warum?« Dann versucht er mich einzuschüchtern, weil er aber keine Zeit hat für eine richtige Folterung (solche wie mich hat er scharenweise), tut er das immer recht oberflächlich und einfallslos. Jedes Mal, wenn er sich wieder davon überzeugt hat, dass ich mich nicht selbst belasten werde, seufzt der Vernehmungsbeamte schwer und lässt mich abführen.

So was Dummes, wir stecken fest.

 

Der Ermittler ist verärgert – der Ball liegt bei mir. Das mag seltsam klingen, aber im Sommer und Herbst 1941 bin ich leicht im Vorteil. Die Zeiten sind günstig für mich. Das Jahr 1937, in das der Beamte sich zurückzusehnen scheint, ist längst vorbei. Das neue Quasirechtswesen verlangt von ihm, wenn auch nur pro forma, so doch Verhöre, erfordert Zeugenaussagen, zumindest herausgeprügelte (gern auch gelogene). Jammerschade, aber ganz grundlos kann er mich nicht erschießen lassen. Im belagerten Moskau muss der Ermittler so vorgehen wie in jeder anderen sowjetischen Angelegenheit, muss, auch wenn es komplett sinnlos ist, die Norm erfüllen. Dieser unnütze Mensch muss irgendetwas über mich zusammentragen, aber die Begleitumstände sind denkbar hinderlich. Die Deutschen stehen schon vor Moskau. Hitler schickt seinen Soldaten Gala-Uniformen, und die Moskauer lernen ihre ersten deutschen Worte – »Guten Tag!«, »Wie ist Ihr Befinden?«, »Heil Hitler!« – und kippen Porträts von Lenin und Stalin stapelweise auf den Müll. Die hastig verbrannten Dokumente färben alles schwarz, und allenthalben ist das Zerreißen von Parteibüchern zu hören. Mein armer Vernehmer hat jedes Mitleid verdient – unter so widrigen Umständen die nötigen Geständnisse aus jemandem herauszupressen ist wirklich schwierig.

 

»Was bist du denn so fröhlich, hm? Kapierst du nicht, dass wir bald abziehen und die Tschekisten uns alle erschießen werden?« Der feige Schakal, mit dem ich die Zelle teile, springt mir bald hysterisch gestikulierend entgegen, bald weicht er zurück.

»Werden sie nicht …«

»Wieso bist du dir da so sicher?«

»Weil die Deutschen nach der Eroberung Moskaus unsere Leichen zu Propagandazwecken nutzen würden – am Beginn eines Krieges darf man sich keine derartigen Fehler erlauben …«

»Bist du sicher?«

 

Ja, weil die deutschen Faschisten in Lemberg genauso vorgehen. Sie marschieren ein und stoßen auf ein Gefängnis voller Leichen, und statt den Menschen diesen grausigen Anblick zu ersparen, lassen sie die Angehörigen kommen. »Seht!«, sagen die neuen Herren der Stadt. »Das haben die Roten beim Rückzug mit euren Vätern, Brüdern und Söhnen gemacht. Überlegt euch gut, auf welcher Seite ihr jetzt kämpfen wollt …«

Das ist alles sehr nachvollziehbar. Es gibt Spielregeln, die im Frieden gelten, und im Krieg sind es andere. Man muss nur darauf achten, sich rechtzeitig umzustellen und den Mut nicht zu verlieren. Natürlich herrscht Chaos, aber manche Ereignisse sind im Grunde gar nicht so schwer vorhersehbar. Der Krieg folgt keiner Logik – das ist das Erste, was man über ihn wissen muss.

Genau deswegen kaue ich, als ich in einer Septembernacht plötzlich aus der feuchten Zelle geholt werde, nicht auf meiner Lippe herum und streiche auch meine schütteren, seit einigen Jahren immer dünneren Haare nicht zurecht. Zum Abschied denke ich weder an die Lichter des Bosporus (obwohl ich könnte) noch an dein spitzes Kinn, Liebste. Ich weiß, dass sie mich nicht zum Henker führen, und wie so oft im Leben behalte ich recht …

BESCHLUSS

(zur Eröffnung des Ermittlungsverfahrens)

Saratow, 17. September 1941

 

Ich, Oberuntersuchungsführer der Ermittlungskommission der 2. Hauptverwaltung des NKWD der UdSSR, Leutnant der Staatssicherheit Perepeliza, komme nach Durchsicht des Materials in der Akte Nr. 2716 zur Anklage gegen Nesterenko Pjotr Iljitsch zu folgender

FESTSTELLUNG:

Nesterenko P.I. wurde am 23.6.1941 in Moskau aufgrund des Verdachts auf Spionage verhaftet und nach Saratow überstellt.

Da der Fall die Durchführung weiterer Ermittlungen erfordert, treffe ich unter Berufung auf Art. 110 und Art. 96SPOUdSSR folgende

ANORDNUNG:

die Untersuchungsakte Nr. 2716 zu Nesterenko Pjotr Iljitsch für weitere Ermittlungen zum Verfahren zuzulassen.

Ob.untersuchungsführer Erm.abt. 2. Hauptverw. NKWDUdSSR

Leutnant der Staatssicherheit Perepeliza

Wie du schon verstanden hast, meine Liebe, werde ich der Spionage bezichtigt und zockle nun zwei Wochen lang in einem vergitterten Waggon nach Saratow an der Wolga. Die Wachmänner zechen, diskutieren die antisowjetischsten politischen Themen, wühlen in meinen Sachen – Dreckschweine – und geben uns fast nichts zu essen.

Aus Mangel an Beschäftigung starre ich durch die Gitterstäbe und sinniere während endloser Standzeiten über mein Schicksal: ›Hast du dein Leben recht gelebt, Alter, wenn du jetzt, mit fünfundfünfzig Jahren auf dem Buckel, im Bauch dieser Staatsraupe gelandet bist, die sich mal staucht, mal voranschiebt, um dich zum Ort des nächsten Verhörs zu schleppen? Hast du deine Rolle gut gespielt, junger Falke, wenn du jetzt im Alter in einem Zug reist, in dem nicht der Champagner zischt, sondern der Atem eines verreckenden Passagiers …‹

Lauter müßige Fragen, natürlich. Eigentlich hänge ich ihnen nur nach, um nicht an dich zu denken und mich irgendwie abzulenken. Die zweiwöchige Fahrt nach Saratow ist eine Qual, diese Art zu reisen mühevoll und langweilig.

 

»Die scheren sich ja nicht gerade viel um uns, hm?«, sagt plötzlich ein Witzbold mit einem Mund voller fehlender Tasten, der hinter einer Schulter hervorlugt.

»Diese Reise, mein lieber Freund, ist genau wie der Bürgerkrieg …«

»Bist du etwa ein Weißer?«

»Ein Grauer …«

»Wie, ein Grauer?«

»Das ist eine lange Geschichte, Verehrtester …«

»Wie’s aussieht, haben wir genug Zeit für lange Geschichten …«

»Verbringen wir sie lieber schweigend …«

 

Das Gefängnis von Saratow, wegen seiner Form Titanic genannt, erweist sich als im Boden verankerte Fortsetzung des Transports. Ein Zuchthaus eben: warmes Wasser mit Salz zum Frühstück, Mehlbrühe mit Fischkopf zu Mittag. Am Abend Suppe aus grünen Tomaten und bestenfalls einmal im Monat Zucker, den sie einem direkt in die Hand streuen. Dann sehen meine Handflächen aus wie eine vertrocknete Steppe, auf die der Schnee rieselt.

Aus dem Brot forme ich Schachfiguren, aber alle drei Tage gibt es irgendeinen Blödmann, der sie stibitzt und aufisst. Einer meiner Zellengenossen ist der Natur- und Agrarwissenschaftler Nikolaj Wawilow, mein Verdacht fällt auf ihn – hinter einem großen Namen kann man sich leicht verstecken. Wawilow geht tagelang auf und ab und murmelt etwas von wegen, sein Kollege und Kontrahent Lyssenko sei Schuld an seiner Verhaftung (als ob das jetzt noch einen Unterschied macht). Manchmal hält der große sowjetische Gelehrte inne und leistet, als hätte ihn jemand darum gebeten, seinen Beitrag zur Volksbildung.

»Wenn wir versuchen, unsere Zeit zu begreifen«, beginnt er, »dann sehen wir, Genossen, dass wir es einfach nicht schaffen, die Volksmassen zu veredeln. Nicht alle Flächen sind kultivierbar, und genauso ist uns auch – noch! – nicht die Züchtung eines neuen Menschen gelungen. Allen Schwierigkeiten und Hindernissen zum Trotz werden immer mehr Menschen geboren, während die Zahl der Gebildeten gleich bleibt. Folglich wächst der Graben zwischen gebildeten Menschen und solchen ohne Bildung. Wenn es so weitergeht, werden wir eines Tages feststellen, dass das Unkraut unsere größte und einzige Kultur ist!«

»Macht nichts, der Krieg pflügt alles durch«, tönt es von den oberen Pritschen.

 

Ich höre zu und schmunzle. Du weißt ja, meine Liebe, ich habe ein Faible für Metaphern. Natürlich hält sich jeder über Wasser, wie er kann. Dieser Pechvogel tut mir sogar ein bisschen leid. Seine Chancen, jemals hier rauszukommen, stehen schlecht. Er wird verhungern, und das Einzige, worauf er noch zählen kann, ist die Straße nebenan, die viele Jahre später, wenn die Partei ihre Fehler eingesteht, nach ihm benannt werden wird.

›Wenn ich mal in der richtigen Stimmung bin‹, denke ich, ›werde ich dir erzählen, guter Mann, womit diese Erde tatsächlich gedüngt wird.‹

Aber jetzt halte ich mir die Ohren zu und lerne nach Französisch und Türkisch, nach Polnisch und Bulgarisch, in Gedanken dich küssend, eine neue Sprache:

Achter – Handschellen

Marie – Geld

Maschke – Getränk

Maro – Brot

maukes – tot

Zinker – Spitzel

singen – preisgeben

Ich präge mir die wichtigsten Wörter für mein neues Leben ein, schließe die Augen und bin schon am Einschlafen – da holen sie mich zu meinem ersten Verhör in Saratow.

Erstes Verhör #

Ich betrete die dämmerige Kammer und muss mir das Lachen verkneifen. Doch, wirklich, glaub mir! Es fällt schwer, ernst zu bleiben, am liebsten würde ich losprusten. Mein Ermittler ist keine dreißig Jahre alt. Ein sauberes, rotbackiges Pioniergesicht. Pawel Andrejewitsch Perepeliza – sehr erfreut!

Auf den ersten Blick sehe ich, dass durch die Wangen dieses Wonneproppens frisches Tschekistenblut strömt. Ein nigelnagelneuer Staatsdiener. Das Bürschchen ist offenbar nach der letzten Säuberungswelle eingestellt worden. Ein Adlerküken in einem noch fremden Nest. Allem Anschein nach fleißig – so jung und schon Chefermittler. Während seine Altersgenossen in der aufziehenden Schlacht einer nach dem anderen verheizt werden, stempelt er – ein graues Mäuschen – eifrig Erschießungsurteile ab. Dafür kriegt Perepeliza eine neue Wohnung in der Moskauer Gorki-Straße – die Mühe lohnt sich.

›Nur die Nachbarn‹, denke ich, ›sind etwas unheimlich: Gegenüber hat sich wahrscheinlich Minos eingemietet, der Richter der Toten in der Unterwelt, einen Stock höher Hekate, die Göttin der Finsternis, und unter ihm verrücken die Oberstleutnants Thanatos und Hypnos von Zeit zu Zeit die Möbel.‹

 

Ermittler Perepeliza legt sofort los. Meine Biografie erfasst er Pi mal Daumen, befragt mich zu meiner Arbeit, dann wieder zum Krieg. Sein Urteil über mich will er möglichst schnell zusammenbasteln, aber dabei kann er nicht auf mich zählen – du weißt ja, ich sterbe nicht gern.

»Na, immer noch bockig?«

»Keineswegs, Genosse Ermittler …«

»Ich bin nicht euer Genosse!«

»Auch wieder wahr …«

Obwohl Charon genauso wie Perepeliza eine Festanstellung beim NKWD hat, folgt seine Fähre in die Unterwelt doch einem gewissen Kursbuch – die ersten paar Fahrten lasse ich lieber aus.

»Nesterenko, wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder gestehst du mir jetzt alles ganz ehrlich, und das Gericht wird unter Berücksichtigung deiner Kooperation ein gerechtes sowjetisches Urteil fällen, oder …«

»Oder?«

»Oder wir nehmen den anderen Weg … Ich glaube, einem Armeemann wie dir muss ich nicht erklären, wie der aussieht. Ich will nur sagen, dass dieser Weg mir die Anwendung jeglicher Untersuchungsmethoden abverlangt …«

»Wirklich jeglicher?«

»Ja, Nesterenko, jeglicher!«

»Na, wenn das so ist, dann ist mir der lieber.«

»Du willst den Helden spielen?«

»Ich will, dass meine Unschuld mit allen erdenklichen Mitteln bewiesen wird, Bürger Ermittler!«

»Nun gut …«

 

»Soso«, knurrt Charon missmutig, wirft die Kippe weg und stößt sich mit dem Ruder vom Ufer ab.

 

Noch gehen wir getrennter Wege.

 

Oberuntersuchungsführer Perepeliza, der es auch nicht geschafft hat, mich in Charons Barke zu verfrachten, startet gezwungenermaßen einen Verhörmarathon. Manche unserer Begegnungen sind zielstrebig wie ein Rendezvous, andere wieder ziehen sich hin wie Schmerzen.

 

»Also, Nesterenko, heute fangen wir mal so an: Sag mir, wie lange braucht ein Mensch, bis er verbrannt ist?«

»Wie bitte?«

»Ich frage dich, wie lange ein Mensch zum Verbrennen braucht!«

»Ein Leben lang«, sage ich, während ich mir ein Nasenhaar ausreiße.

»Nesterenko!«

»Ein Mensch verbrennt binnen eineinhalb Stunden, Genosse Ermittler.«

»Ich hab dir schon gesagt, ich bin nicht dein Genosse!«

»Verzeihen Sie gnädigst …«

»Weiter!«

»Beim Tod durch Erschießen«, erkläre ich ruhig und detailliert, »bleiben im Eimer mit der Asche die Kugeln zurück – eine, manchmal zwei …«

»Schmelzen die Geschosse bei so hohen Temperaturen nicht?«

»Das hängt vom Kern ab …«

»Verstehe. Erzähl weiter.«

»Was weiter?«

»Setze deine Aussage da fort, wo die Ermittlungen in Moskau stehengeblieben sind. Beschreibe die Nacht, als der Tschekist Grigori Golow ins Krematorium kam und die Asche von Sinowjew und Kamenew verlangte.«

»Verstanden, ich führe fort: Normalerweise holte niemand die Kugeln aus der Asche …«

»Warum nicht?«

»Weil wir nicht genug Eimer für alle Kugeln gehabt hätten …«

»Na komm, ohne literarische Ergüsse!«

»Von mir aus …«

»Also: Golow hat von dir die Asche von Sinowjew und Kamenew verlangt, richtig?«

»Richtig. In jener Nacht hat Golow mir befohlen, ihm die Asche der beiden hochrangigen Genossen und einstigen Mitglieder des Zentralkomitees zu bringen, aus der er vor meinen Augen eigenhändig die Kugeln herausholte …«

»Wozu?«

»Woher soll ich das wissen? Womöglich wollte er sich Zähne daraus gießen lassen?«

»Nesterenko, einigen wir uns gleich darauf: ohne Witze! Ohne Witze, hab ich gesagt, verstanden?«

»Ja …«

»Solche wie dich hab ich hier in Hülle und Fülle! Ich lasse mir von dir nicht die Zeit stehlen, kapiert?«

»Absolut …«

»Und jetzt weiter. Wozu, glaubst du, hat Golow die Kugeln aus der Asche von Sinowjew und Kamenew geholt?«

 

Gute Frage, aber soll ich sie wirklich beantworten? Was meinst du, wäre der Genosse Ermittler bereit, mir zu glauben? Und wenn er es glaubt, was hat er davon? Was kann ihm das bringen? Innerparteiliche Rituale sind eine spitzfindige und komplexe Sache. Braucht er eine Orientierungshilfe?

 

»Antworte mir!«

»Ich glaube, Golow hatte den Befehl, die Kugeln zu putzen und sie dem Geheimdienstchef Jagoda zu bringen …«

»Und was, glaubst du, wollte Jagoda mit diesen Kugeln?«

»Schwer zu sagen …«

»Dann denk nach.«

»Ich glaube, er ist ein sentimentaler Mensch. Zu seiner privaten Freude – aus Eitelkeit oder aus Rache, vielleicht auch beides – hat Genrich Jagoda diese Kugeln eine Weile in seinem Schreibtisch aufbewahrt. Als er dann selbst erschossen wurde, wanderten diese Souvenirs in die Schuf‌ljadka seines Nachfolgers, des Genossen Jeschow, der, wie Sie wissen, ebenfalls erschossen …«

»Was soll Schuf‌ljadka heißen?«

»Als ich in Baranowitschi, südwestlich von Minsk, im Dienst war, wurden so die ausziehbaren Behälter in einem Tisch genannt.«

»Aha. Weiter mit den Kugeln.«

»Es ist anzunehmen, dass die Kugeln nach Jeschows Tod wiederum seinem Nachfolger, dem Genossen Berija, angeboten wurden, doch der hat als Mensch, der eher zu Aberglauben als zu Klugheit neigt, vermutlich verzichtet …«

»Nesterenko, ich warne dich ein letztes Mal – lass deine Witzchen und Seitenhiebe!«

»Liebend gern. Aber Sie fragen ja, und ich antworte …«

»Behauptest du, dass Jagoda und Jeschow die Kugeln der erschossenen Genossen Sinowjew und Kamenew nur zu ihrem Privatvergnügen aufbewahrt haben?«

»Andere Gründe sehe ich nicht …«

»Verstehe. Ist dir bekannt, wer die beiden erschossen hat?«

»Wer hinter der Erschießung stand oder wer sie unmittelbar ausgeführt hat?«

»Wer sie ausgeführt hat.«

»Wozu wollen Sie das wissen?«

»Die Fragen stelle hier ich!«

»Natürlich. Sinowjew und Kamenew wurden von Blochin erschossen.«

»Warum bist du dir da so sicher?«

»Das war mit bloßem …«

»Erklär das!«

»Ich kenne Wassili Michajlowitsch Blochins Handschrift sehr gut und schätze seine Arbeit überaus …«

»Inwiefern?«

»Insofern, als Genosse Blochin immer gründlich ist. Er ist ein Freund der Arbeit und ein echter Profi. Er geht seine Tätigkeit mit Respekt an und somit auch mit Respekt vor meiner. Solche Leute sind rar.«

»Eine Erklärung, habe ich gesagt!«

»Blochin schießt immer von unten nach oben in den Nacken, so, dass die Kugel im Kopf und der Schädel intakt bleibt. Wenn seine Gehilfen das Urteil vollstrecken, dann muss ich beim Stapeln der Leichen oft Fetzen der Köpfe einsammeln, was unnötig Zeit in Anspruch nimmt. Wenn man in einer Nacht fünfzehn, zwanzig Leichen verbrennen soll, dann hält man sich nicht gern mit solchem Mumpitz auf. Manchmal unterlaufen freilich auch Blochin Fehler. Vor ein paar Jahren hat eine Männerleiche, die ich schon in den Ofen schieben wollte, plötzlich ein Lebenszeichen von sich gegeben. Wahrscheinlich hat Blochin in seiner Routine schlecht gezielt, und die Kugel hat das Gehirn verfehlt – keine Ahnung. Blochin hat ja zigtausende Verurteilte erschossen, bei solchen Mengen kann auch mal was danebengehen … Jedenfalls, dieser Mann war noch am Leben. Er schien sogar mitzubekommen, was mit ihm geschah …«

»Und?«

»Was, und?«

»Was hast du gemacht?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Ich bin dem Genossen natürlich zu Hilfe gekommen.«

»Welchem Genossen?«

»Na, Blochin. Wem denn sonst.«

»Nesterenko!«

»Als ob Sie, Bürger Ermittler, nicht wüssten, was man mit einem Menschen machen muss, der auf dem Papier bereits erschossen ist, aber in Wirklichkeit noch am Leben?«

»Ich frage dich, was du gemacht hast! Hast du noch mal geschossen?«

»Womit hätte ich denn schießen sollen? Mit einem bösen Blick? Ich habe keine Dienstwaffe. Außerdem, wozu eine Kugel verschwenden? Blochin war ja noch da, er hat den Mann an den Haaren gepackt und sein Genick mehrmals gegen den Karren geschlagen. Als wir uns alle davon überzeugt hatten, dass der Verurteilte wieder tot war, habe ich ihn kremiert …«

 

So etwas kommt tatsächlich vor, Liebste – das Pensum ist gewaltig. In den letzten Jahren sind so viele erschossen worden, und trotzdem sollen die Kapazitäten immer noch weiter erhöht werden. Alle wollen Moskau ihre Ergebenheit beweisen. Diese unausgesprochene Spartakiade der Henker führt natürlich zu Schlampigkeitsfehlern. Mehr Hobel, mehr Späne. Obwohl – trotz der harten Konkurrenz kommt an Blochins Ergebnisse doch kaum jemand heran. Ein richtiger Held der Arbeit! Nur Kommandant Seljony aus Charkow, der eigenhändig fast siebentausend Menschen erschossen hat, kann es vielleicht mit dem großen Blochin aufnehmen. Dennoch, selbst ein Blochin muss auch mal jemanden obendrein noch erschlagen – Berufsrisiko. Und vor ein paar Jahren hat er einen gewissen Herrn Tschasow zum zweiten Mal erschossen …

Beim Wodkatrinken hat Blochin mir einmal erzählt, wie in Nowosibirsk der Kulake Tschasow, den eine Gerichtstroika verurteilt hatte, seiner Hinrichtung entkam und sich dann in Moskau über die Willkür der Tschekisten beschwerte. Tschasow gab zu Protokoll, er sei in Nowosibirsk unrechtmäßig verurteilt, auf den Schießplatz geführt und nach ein paar Gewehrkolbenschlägen auf den Hinterkopf in eine Grube zu anderen, ebenso halbtoten Verurteilten geworfen worden. Die faulen NKWDler wollten sie alle zusammen von oben, vom Rand der Grube aus, erschießen. Pro forma leerten sie ein paar Magazine, doch Tschasow, der sich nicht rührte, blieb verschont. Die Henker hielten ihn für bereits tot und zielten nicht eigens auf ihn (obwohl sie natürlich dazu verpflichtet gewesen wären, denn viele stellten sich tot). Und als diese Schlendriane weg waren, machte Tschasow sich davon. Zuerst hinaus aus der Grube, dann auch aus Nowosibirsk. Tschasow fuhr in die Hauptstadt, um den Moskauer Ermittlern zur Kenntnis zu bringen, dass da weit weg in der Provinz der Bogen gehörig überspannt wurde. Betrübt – vor allem ob der Schlampigkeit der Nowosibirsker Kollegen – hörte der Moskauer Beamte ihm zu. Die nachlässigen Henker wurden zur Rechenschaft gezogen, und Tschasow sollte noch einmal und nunmehr endgültig erschossen werden. Mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe wurde der erfahrenste Henker der Sowjetunion betraut: Genosse Blochin. Und ich muss sagen, Liebste, dass Wassili Michajlowitsch nicht enttäuschte.

 

»Was kannst du noch über Blochins Arbeit sagen?«

»Was soll ich noch sagen? Ein zielstrebiger Genosse, allerdings …«

 

Allerdings kenne ich auch Leute, die Blochin kritisieren. Die einen sagen, er veranstalte nach jeder Schicht Besäufnisse (was der Wahrheit entspricht), die anderen, er nehme sich hin und wieder Kleidungsstücke von Getöteten (was ebenfalls stimmt). Ich persönlich sehe weder in Ersterem noch in Letzterem etwas Anstößiges. Auch in der Sowjetunion hat jedes Produkt seinen Preis – und jede Arbeit ihre Steuer. Man muss nur einmal verstehen, wie schwer erstens Wassili Michajlowitschs Arbeit ist (manchmal muss er in einer Nacht ein paar hundert Menschen erschießen), und zweitens … Was ist so schlimm daran, wenn irgendein Sakko oder eine hübsche Weste ihm oder seiner Frau einen guten Dienst erweist?

Wozu diese Aufregung um fremde Sachen, frage ich mich manchmal.

Wenn man sich schon unbedingt aufregen will, dann lieber über die Warendefizite in unserem Land. Könnte Blochin all diese feinen Kleider im Laden kaufen – würde er sie dann einer Leiche ausziehen und seiner Frau schenken?

Manchmal passiert es in irgendeinem stillen Gässchen von Moskau, dass Verwandte von Hingerichteten an einem zufälligen Passanten plötzlich Habseligkeiten ihrer verschwundenen Angehörigen wiedererkennen: hier einen Schal, da ganz unverwechselbare Schuhe, und auf jenem Nasenrücken kündet eine ausgesucht schöne französische Hornbrille lautstark vom verschwundenen Gatten. (Ja gibt’s denn das, sie passt! Was für ein Zufall, dass Henker wie Opfer kurzsichtig sind.) Verständlicherweise sind solche Begegnungen sowohl Blochin als auch den anderen Exekutoren peinlich, ganz zu schweigen von ihren vollkommen schuldlosen Ehefrauen. An solchen Tagen kann es schon mal zu Eskalationen kommen – und es bleibt nichts anderes übrig, als diejenigen festzunehmen, die die Sachen ihrer Verwandten entdeckt haben. Ein Geheimnis muss ein Geheimnis bleiben – Massenrepressionen gibt es in der Sowjetunion (fast) nicht.

 

Ich bin fest davon überzeugt, dass Menschen zu verschiedenen Zwecken existieren – die einen sind dazu geboren, erschossen zu werden, die anderen zum Töten. Es gibt zum Beispiel Frauen, mit denen es schön ist, nackt in einem dunklen Zimmer zu sein, aber nicht, danach mit ihnen zu reden. Es gibt Männer, mit denen man gern in den Krieg zieht, ohne jedoch im Schützengraben auch nur ein Wort mit ihnen zu wechseln. Ich habe Männer gekannt, die ich in verschiedenen Phasen meines Lebens Freunde nannte, denen ich mein Herz ausschütten konnte, die ich aber niemals auf einem der Schiffe nach Konstantinopel hätte sehen wollen. Und vice versa. Unser Leben ist bevölkert mit Menschen, mit denen wir interessante Gespräche über Theater, Ballett oder Oper führen können, aber neben ihnen im Publikum sitzen – bloß nicht. Kommandant Blochin ist genau so ein Mensch. Mit Wassili Michajlowitsch lässt es sich gut arbeiten, aber als Freund muss man ihn nicht haben.

 

»Dank Wassili Michajlowitsch«, setze ich fort, während ich meine Nägel betrachte, »bleibt mir zusätzliche Arbeit erspart. Wie Sie wissen, Bürger Ermittler, hab ich selbst genug zu tun. Zum Beispiel verheize ich ja nicht nur Leichen, sondern auch die Sachen der Verurteilten. Das eine oder andere Hemd sehe ich mir genauer an und werfe es dann mit Bedauern ins Feuer, stelle mir vor, dass es hier einen Fleck hätte bekommen können oder da eine Milchspur …«

»Nesterenko!«

»Außerdem muss ich immer mal wieder die Plane des Lastwagens verbrennen, mit dem die Leichen angeliefert werden. Der olivgrüne Stoff saugt sich leider schnell mit Blut voll, beginnt zu müffeln, und für lange Fahrten ist das unaushaltbar. Hier, finde ich, könnte Wassili Michajlowitsch durchaus mehr tun. Diese Plane müsste er meiner Meinung nach selbst austauschen, oder einer seiner Mitarbeiter, aber ja, darüber könnte man diskutieren …«

»Die Zeit zu diskutieren hast du nicht mehr, Nesterenko! Zurück zu Golow. Was weißt du noch über seine Verbrechen?«

 

Darauf antworte ich nicht sofort. Ich sehe ihn erst einmal prüfend an. Warum nur stellt er mir Fragen zu Golow, frage ich mich. Was bringt ihm das? Wozu braucht er Informationen über einen Mann, der bereits hingerichtet wurde? Wieso verschwenden wir so viel Zeit? Was will er? Will er wissen, ob ich einen Deppen verpfeife, der gar nicht mehr lebt? Will er austesten, inwieweit auch ich ein Schwein bin? Mich betasten wie ein Arzt, wie weit ich mit meinen Aussagen gehen und wen ich noch verraten könnte? Ja, darauf ist er jetzt wohl aus. Sehr bald wird er sich davon überzeugt haben, dass die Anklage wegen Spionage nicht standhält, und dann wird er mit mir Schlitten fahren mit dem einzigen Ziel, neue Namen zu hören oder Namen, die schon durch das eine oder andere Verfahren geistern …

 

»Also, was weißt du noch über Golow?«

 

›Na gut, wenn du unbedingt willst – da hast du deinen Golow. Tote ausliefern fällt mir nicht schwer‹, denke ich.

»Ich weiß mit Sicherheit, Bürger Ermittler, dass er es manchmal zugelassen hat, dass Leichen nicht kremiert, sondern auf dem Kalitnikowskoje-Friedhof bestattet wurden …«

»Das heißt – wie bitte?«

»Das heißt, genau so wie ich es …«

»Willst du damit sagen, die Angehörigen erfuhren, dass ihre Verwandten erschossen worden waren, und ihnen wurde sogar erlaubt, die Leichen zu bestatten?«

 

Ich möchte einen ehrlichen Menschen mimen, der sich bei den Ermittlungen kooperativ verhält, und das weißt du ganz genau, Bürger Ermittler.

Ich weiß nicht mehr, Liebste, ob ich jemals mit dir darüber gesprochen habe, aber als ich Taxifahrer in Paris war und auch viel früher, als es meine Offizierspflicht war, Kriegsgerichten vorzusitzen, da habe ich die Menschen gründlich studiert. Ich habe meinen Beobachtermuskel trainiert und verfüge jetzt, das wage ich zu behaupten, über eine gewisse anthropologische Erfahrung.

Also, dieser Perepeliza zum Beispiel, an dem ist wirklich kein Schauspieler verlorengegangen. Er ist noch zu jung – hat noch nicht gelernt, Erstaunen vorzutäuschen. Er spielt grottenschlecht. Vom Theater hast du natürlich viel mehr Ahnung als ich – ich will dich keinesfalls von der Bühne drängen, mein Liebes … Über die Leichen, die nicht in den Gruben und Schluchten landen, weiß der Ermittler selbstverständlich Bescheid, das Bild des ehrenhaften Sowjetmenschen verpflichtet ihn jedoch dazu, den Ahnungslosen zu spielen. Andererseits fällt mir schon beim ersten Verhör auf, dass mein Gegenüber trotz seiner Jugend und seines mittelmäßigen Schauspieltalents auch Stärken hat. Perepeliza scheint ein begabter Beamter mit feinem professionellem Gehör zu sein. Er hält nur fest, was für das Verfahren relevant ist. Bei meiner aufmerksamen Beobachtung seiner Tschekistenhand entgeht mir keiner der raren Momente, in denen sein Bleistiftstummel zum Einsatz kommt. Einseitig und wählerisch reagiert Perepeliza nur auf einzelne Wörter, die in Zukunft von Nutzen sein könnten. In anderen Zeiten wäre er ein guter Lektor geworden. Alles Überflüssige weg, das alles streichen wir, und da haben Sie eine Wiederholung drin … Oh, die Handwerkskunst des funktionalen Menschen! Schlächter und Detektiv in einer Person, besitzt mein geschätzter Gesprächspartner wie kein anderer die Fähigkeit, Dinge herauszufischen, die er zu den Akten nehmen kann. Wie der Orgelstimmer in meinem Moskauer Krematorium beherrscht Perepeliza das Instrument zwar nicht, weiß aber genau, wie es gebaut ist. Ohne selbst zu spielen, bereitet er alles für seine Kollegen vor, die eines Tages in vollen Tönen und in rasender sowjetischer Kakophonie mein Urteil fällen werden.

 

»Jede Diktatur, Bürger Ermittler, hält sich durch Korruption aufrecht«, spreche ich nach einer Pause lächelnd weiter.

»Ist das deine persönliche Meinung?«

»Das ist ein Zitat.«

»Von wem?«

»Fällt mir nicht mehr ein …«

 

Und da, meine Liebe, hat Perepeliza zwar mit der Zunge geschnalzt, aber ein Lächeln hat er nicht zustande gebracht. Ein Jammer, diese endlosen Nächte mit einem Menschen ohne jeglichen Sinn für Humor verbringen zu müssen. Gestutzte Ironie, kastrierter Sarkasmus. Bissigkeit, Spott,