Krieg im Schatten - Andreas Reinhardt - E-Book

Krieg im Schatten E-Book

Andreas Reinhardt

0,0

Beschreibung

Ein rasanter Politthriller, der die Säulen der Demokratie wanken lässt und dessen Realitätsnähe nachdenklich stimmt. Der Autor rückt Machtfülle und Machtmissbrauch politischer Akteure sowie der Leitmedien im heutigen Deutschland ins Zentrum des gesellschaftskritischen Ansatzes.Im Mittelpunkt der Handlung stehen die ebenso vorausschauend wie kaltblütig agierende EX-BND-Eliteagentin Melanie Holländer und der von Temperament und Alkohol beherrschte Sensationsjournalist und Zyniker Jonathan Ehrlicher.Der Mord an Holländers Bruder, gefolgt vom mysteriösen Unfalltod von Ehrlichers Lebensgefährtin und Berufskollegin, führt das ungleiche Gespann zusammen. Schritt für Schritt kommen sie einem konspirativen Netzwerk auf die Spur, dessen Mitglieder hohe Positionen in Sicherheitsbehörden, Justiz und Geheimdienst bekleiden. Der Kopf der Verschwörung, Karsten Fechter Kanzlerkandidat und Vorsitzender der populären Oppositionspartei FWD plant nicht weniger als den Staatsstreich.Ein mörderisches Katz- und Mausspiel durch Berlin nimmt seinen Lauf, bei dem es die beiden Helden wider Willen u.a. mit Auftragsmördern, Neonazis und einem Waffendealer zu tun bekommen. Der Kampf gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner lässt sie über sich hinauswachsen

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 295

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Andreas Reinhardt

Krieg im Schatten

Chronologie eines Staatsstreichs

Ein Politthriller

Impressum

© NIBE Media © Andreas Reinhardt

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Created by NIBE Media

Komplett überarbeitete Neuveröffentlichung

Erstausgabe 2015 / EWK–Verlag Elsendorf

Titel: „Operation Reiner Tisch“

Covergestaltung: TomJay – bookcover4everyone / www.tomjay.de

NIBE Media

Broicher Straße 130

52146 Würselen

Telefon: +49 (0) 2405 4064447

E-Mail: [email protected]

www.nibe-media.de

Inhaltsverzeichnis:

Kapitel 1

Der Schatten hinter der Staatsmacht

– Von Pflicht und Gewissen –

Kapitel 2

Recht oder Unrecht

– Die Stunde der Wahrheit –

Kapitel 3

Die Politik ruft zur Macht

– Aufstieg eines Erlkönigs –

Kapitel 4

Operation Reiner Tisch

– Eine Verschwörung fordert erstes Blut –

Kapitel 5

Falsches Spiel beim LKA

– Widerstand in den eigenen Reihen –

Kapitel 6

Das Interview

– Ein Janusgesicht zum Anfassen –

Kapitel 7

Eine Journalistin wird zu Grabe getragen

– Zeit des Erwachens –

Kapitel 8

Mordprozess der Offenbarungen

– Sein und Schein –

Kapitel 9

Joe Ehrlicher

– Geburt eines Antihelden –

Kapitel 10

Profis am Werk

– Zwei Morden auf der Spur –

Kapitel 11

Melanie Holländer

– Der Schatten im Sturm –

Kapitel 12

Wenn ein Antiheld Haus und Hof verliert

– Tod auf leisen Sohlen –

Kapitel 13

Eine Verschwörung bekommt Gesicht

– Freund oder Feind? –

Kapitel 14

Karsten Fechter

– Das Auge des Sturms –

Kapitel 15

Journalist trifft auf Ex–Agentin

– Gegensätze ziehen sich an –

Kapitel 16

Im Gespräch mit dem staatstragenden Feind

– Von der Kunst des Krieges –

Kapitel 17

Der Krieg beginnt

– Sieg und Verlust –

Kapitel 18

Selbstzweifel schreien nach einem Freund

– Mehr als man selbst –

Kapitel 19

Ein Schützenverein im Zwielicht

– Die Sache mit dem Waffendealer –

Kapitel 20

Duell auf der Spree

– Verschwörer ahoi –

Kapitel 21

Golfclub der Ehrenmänner

– Von Stadtstreichern aufs Kreuz gelegt –

Kapitel 22

Neue Mitspieler, abgeschriebene Mitspieler

– Abgang eines Ganoven –

Kapitel 23

Von Neonazis gekidnappt

– Aufklärung aus ungeliebtem Mund –

Kapitel 24

Auf der Jagd

– Daumenschrauben für Mitverschwörer –

Kapitel 25

Nadelstich um Nadelstich

– Krieg am Wendepunkt –

Kapitel 26

Schach

– Der Rechtsstaat zeigt sich wehrhaft –

Kapitel 27

Schachmatt

– Tod dem Tyrannen –

Kapitel 28

Ein Blick in die Zukunft

– Von Happy End und gesunder Paranoia –

Kapitel 1

Der Schatten hinter der Staatsmacht

- Von Pflicht und Gewissen -

Eine beachtliche Ruhe lag über dem Areal, dessen Abgeschiedenheit und aktuelle Bedeutung selbst Vögel und Wind ihrer Stimme zu berauben schienen. Umso majestätischer präsentierte sich das Hotel im Stil eines mittelalterlichen Festungsbaus - traditionsbewusst und geschmackvoll zugleich. Die helle Steinfassade mit den unzähligen Rundbögen und Zinnen wurde von je einem Rundturm an jeder Ecke überragt. Das hölzerne Eingangsportal wiederum lag zentral unterhalb eines Erkers im Rundturmdesign, der auf zwei filigranen Säulen ruhte.

An diesem überwältigenden Ort konnte man bedenkenlos selbst Staatsgäste unterbringen. Er genügte höchsten Ansprüchen, selbst, was die Sicherheitsstandards betraf, ging es Melanie Holländer durch den Kopf. Und nicht zuletzt dank der Lage auf einem Plateau außerhalb der Stadt Ferizaj, näherte sich niemand unbeobachtet. Sicher würde kaum ein Ausländer vermuten, dass solch ein Luxus ausgerechnet im Kosovo zu finden war.

Die Spezialagentin des Bundesnachrichtendienstes betrachtete jeden ästhetischen Eindruck zugleich aus strategischer Sicht. Dazu gehörte auch die Freianlage mit den Spazierwegen aus Stein und den hölzernen Sitzgelegenheiten inmitten von Wasserspielen und gepflegter Gartenpracht. Schließlich war sie die verantwortliche Sicherheitsbeauftragte. Es galt, potentielle Sicherheitslücken zu identifizieren und gegebenenfalls zu schließen, sowie gegnerische Attentäter oder Abhörteams zu neutralisieren.

Sie trat aus dem Schatten des Hoteleingangs hervor. Dank der Sonnenbrille blieb der Blick auch bei frühherbstlich gleißender Sonne ungetrübt. Gerade kam ein Agent ihres Teams in der Gartenanlage in Sicht - ein „Frischling“ - weshalb sie jedem seiner Schritte besondere Aufmerksamkeit schenkte.

»Kos4, etwas Auffälliges?«, sprach sie diesen durchs verdeckte Mikro an und las die Antwort gleichsam von den Lippen ab.

»Negativ«, antwortete der junge Anzugträger knapp.

Sein aufmerksamer Blick und die souveräne Körperhaltung gefielen der Vorgesetzten, die im nächsten Augenblick einen Lieferwagen ins Auge fasste, der den Kiesweg Richtung Hotel hinauffuhr.

»Kos4, behalten Sie den Blumenlieferanten im Auge. Kos3, klären Sie beim Management, ob die hier was zu suchen haben.«

»Verstanden.«

Während die BND-Agentin den handwerklich hochwertigen Holzzaun erreichte, welcher den Beginn der Außenanlage markierte, und sich mit dem unteren Rücken dagegen lehnte, gab sie noch das kosovarische Fahrzeugkennzeichen mit Bezirkscode 05 durch. Anschließend galt ihre Aufmerksamkeit zunächst der gesamten Gebäudefassade, dann dem rechten vorderen Turm.

»Kos5, lassen Sie sich mal Richtung Eingang sehen.«

Wenige Sekunden später erschien der Kopf einer brünetten Frau zwischen zwei Zinnen. »Alles okay, hier oben.«

»Gut, ich geh jetzt rein.«

Auf dem Weg zurück zum Hotelportal steckte Melanie Holländer die Sonnenbrille in die Brusttasche ihres leichten Businessanzuges.

Beiläufig sah sie zu den beiden Agenten eines US-Auslandsgeheimdienstes hinüber, die unweit in ein Gespräch vertieft zusammenstanden und weder ihr noch dem Lieferwagen Beachtung schenkten. Diese „Plaudertaschen“ waren ihr längst schon ein Dorn im Auge. Unter ihrem Kommando wären die bereits ohne viel Palaver ersetzt worden. Aber es waren ja die Jungs vom „großen kapitalistischen Bruder“. Die wussten was sie taten - natürlich …

Über Funk erfolgte die Bestätigung, dass der Blumenlieferant bestellt war.

»Verstanden. Kos6, wie sieht es hinter dem Haus aus?«

Erwartungsgemäß gab es keine besonderen Vorkommnisse zu vermelden. Es war Zeit für eine neue Anweisung: »An alle, ab jetzt Statusmeldung im 15-Minutenrhythmus. Ende.«

Die Enddreißigerin mit den zum Pferdeschwanz gebändigten, naturgewellten blonden Haaren, betrat eine wohl temperierte Empfangshalle. Die Ruhe lud eigentlich zum Innehalten ein. Das Zusammenspiel aus steinernem Mauerwerk und antik anmutenden Möbeln verlieh dem Ganzen zusätzliche Atmosphäre. Unter anderen Umständen hätte sie sich dem gerne hingegeben. So aber durchquerte sie in der ihrem athletischen Körper eigenen, lässigen Art die Halle bis zum Hotelrestaurant, das vor Holzvertäfelung und eisernen Wandleuchtern strotzte. Schilder wiesen darauf hin, dass der Zugang bis zum Abend nicht möglich war und verwiesen auf die kleinere Hotelbar.

Schnell hatte die Deutsche ihre beiden verbliebenen Teamkollegen ebenso ausgemacht, wie weitere US-Agenten. Aus dem Hintergrund beobachtete sie sechs Männer und eine Frau an dem einzigen besetzten Tisch in diesem für gut und gerne einhundertfünfzig Personen ausgelegten Saal. Bei Softdrinks und Kaffee waren die Unterhändler der USA und Deutschlands in einen geheimen Gedankenaustausch vertieft. Auch ohne Details der Agenda zu kennen, war Holländer klar, dass es nur um die nahe US-Militärbasis Camp Bondsteel gehen konnte, welche nicht nur Hauptquartier des US-KFOR-Kontingentes im Kosovo war, sondern auch das wichtigste Foltergefängnis der USA in Europa beherbergte. Es handelte sich zweifelsohne um eines jener Zusammenkünfte, die offiziell nie stattgefunden haben würden und bei Bedarf als Hirngespinst von realitätsfernen Verschwörungstheoretikern abgetan werden würden. Die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates von 1999 zur Übergangsverwaltung im Kosovo spielte jedenfalls keine tragende Rolle bei Tisch, davon konnte man wohl getrost ausgehen. Auch stellte die Bundeswehr selbst kein starkes KFOR-Kontingent mehr. Offenbar musste auf diesem Weg von Zeit zu Zeit sichergestellt werden, dass die zwielichtigen Aktivitäten der Hegemonialmacht aus Übersee weiterhin Verschlusssache blieben. Beim Bundesnachrichtendienst war jedem klar und annähernd jeder darauf geeicht, dass Deutschland vor allem seiner Bestimmung als willfähriger Vasall zu folgen hatte.

Ein Disput, der sich hinter Melanie Holländer anbahnte, entging ihrer Aufmerksamkeit nicht, und sie ließ ihre persönlichen Gedanken los. Gerade versuchte ihr Stellvertreter Kos2, einen geschäftsmäßig wirkenden Herrn davon zu überzeugen, dass das Restaurant auch für diesen bis auf Weiteres tabu war.

»… Nein, das akzeptiere ich nicht! Ich bin Hotelgast und bezahle hier teures Geld! Ich will selbst entscheiden, wo ich meinen Kaffee zu mir nehme!«, beharrte der unwirsche Gast auf sein Recht.

»Ich kann Sie durchaus verstehen, muss Sie aber dennoch bitten, den Kaffee woanders zu trinken«, antwortete der BND-Mann höflich aber bestimmt, gefolgt von einer zwingenden Geste.

»Holen Sie auf der Stelle den Hotelmanager«, kam die Erwiderung arrogant und mit verschränkten Armen daher, »mit Ihnen wechsle ich kein Wort mehr. Sie sind unter meinem Niveau.«

Die zur Schau gestellte Arroganz, der teure Maßanzug und nicht zuletzt der italienische Akzent, welcher trotz bestem Englisch unverkennbar war, bestimmte die Strategie der federführenden Spezialagentin. Noch während sie auf die Zielperson zuging, entfernte sie das Haargummi. Die wilde Haarpracht setzte ihre herbe Attraktivität betörend in Szene.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Mein Mitarbeiter hat wohl nicht den richtigen Ton getroffen«, wandte sie sich mit dem tiefen Timbre ihrer Stimme und einem sinnlichen Lächeln an den Italiener. Mit Augen, deren dunkles Braun wie Schwarz anmutete, fixierte sie beiläufig Kos2, der daraufhin den Rückzug in Richtung Restaurant antrat.

»Aber ich bitte Sie, eine Frau wie Sie sollte sich niemals entschuldigen«, wurde die Blondine verzückt und mit vollendetem Handkuss begrüßt. »Wollen wir uns nicht gemeinsam ins Restaurant begeben?«

»Ich fürchte nein, mein Dienst lässt das nicht zu.« Wie zum Beweis tippt sie auf den Empfänger im Ohr. Mit gedämpfter Stimme fuhr sie fort: »Sagen Sie es nicht weiter, aber das Hotel wird gerade einer Sicherheitsprüfung unterzogen.«

Ihr Gegenüber reagierte verunsichert: »Eine Sicherheitsprüfung?«

»Ja, in den nächsten Wochen wird ein wichtiger Staatsgast erwartet.«

Er sah die Agentin argwöhnisch an. »Was, und da schauen Sie sich jetzt schon hier um?«

»Tja, so läuft das bei uns. Da wird jede Schraube herausgedreht und Hotelgäste im Vorfeld genauestens überprüft.«

Während der Gesprächspartner im Edelzwirn keinen Ton mehr herausbrachte, trieb Melanie Holländer das Spiel weiter: »Sie sind unübersehbar Italiener, nicht wahr?« Ihr eigenes Nicken verlieh dem Nachdruck. »Ja, das spürt man sofort. Ein Mann der Tat.«

Sein gequältes Lächeln verriet ihr, dass sie auf etwas gestoßen war. »Sie sehen wie ein Geschäftsmann aus. Ein Geschäftsmann aus Italien, hier im Kosovo? Was sind denn das für Geschäfte?«

Sein verschämter Blick auf die Uhr sprach Bände. »Ach, schon so spät? Ich fürchte, ich muss gehen. Und Sie haben ja auch zu arbeiten.« Mit einem flüchtigen »Arrivederci« auf den Lippen, entfernte er sich Richtung Treppe.

Schon band die Spezialagentin ihre Haare wieder zusammen, und der Teamkollege erschien erneut auf der Szene. »Kompliment, den hast du schnell vergrault. Was hast du dem erzählt?«

»Der verhökert bestimmt keine Espressomaschinen«, sah sie der Zielperson ernst hinterher. »Frag mal dezent nach, was das für einer ist. Du weißt schon, wann angekommen, Name, ob Stammgast und so weiter.«

Daraufhin nahm sie ihren alten Platz wieder ein. Am gewohnten Bild hatte sich nichts geändert. Die sieben Unterhändler saßen noch immer beisammen. In kurzer Folge gingen nun Statusmeldungen der untergebenen BND-Agenten ein: Keine besonderen Vorkommnisse.

Die Gedanken kreisten wieder um den Vasallenstatus ihres Landes gegenüber den USA. Sogar Daten über eigene Bürger, Unternehmen und Institutionen hatte ihr Arbeitgeber tausendfach preisgegeben. Und was musste als Begründung dafür herhalten: Man hätte im Gegenzug hochbrisante Informationen zum islamistischen Terror erhalten. Der reine Hohn. Zum einen waren Informationen von US-Geheimdiensten selten verlässlich, zum anderen leistete sich der deutsche Auslandsgeheimdienst allein in Berlin einen Neubaukomplex für über 4.000 Mitarbeiter und verfügte über einen Jahresetat von annähernd einer halben Milliarde Euro. Wofür das, wenn man doch auf Dritte angewiesen war? Nein, wirklicher Grund war die eigene Souveränität, die Deutschland seit dem letzten Weltkrieg nur teilweise zurückerlangt hatte.

Einmal mehr kam ihr ein Begriff in den Sinn, der sein Dasein in der Welt der bundesdeutschen Mythen und Legenden fristete: „Die Kanzlerakte“. - Dass die Bundeskanzler seit 1949 partiell gezwungen sein sollten, einen Schwur der Treue beziehungsweise der Folgsamkeit gegenüber den USA zu leisten, mochte auf den ersten Blick abwegig erscheinen. Doch wer sich die Vorgänge und Entscheidungen deutscher Regierungen in den letzten Jahrzehnten kritisch vornahm, konnte auch leicht zu einem anderen Schluss kommen. - Wie auch immer, als BND-Agentin diente sie Deutschland. Sie verließ sich zwangsläufig darauf, dass Grundgesetz und demokratische Rahmenbedingungen die Volksvertreter zu ausgewogenen Entscheidungen führten, die mit dem Gewissen zu vereinbaren waren. Sie, Melanie Holländer, tat derweil ihre berufliche Pflicht. Sollten andere sich Gedanken darüber machen, ob eine nur teilweise durchgesetzte nationale Souveränität geeignet war, dem Wohle des deutschen Volkes zu dienen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Ihr eigener Gemeinsinn war ohnehin nicht sonderlich stark ausgeprägt, und von je her wurden die Kleinen von den Großen dominiert. Allerdings würde sie sich auch weiterhin des eigenen Verstandes bedienen, um nicht doch irgendwann falschen Propheten in den Untergang zu folgen.

Die Lufthansa-Maschine war nicht ausgebucht, und Melanie Holländer wollte die Ruhe für ein kraftspendendes Schläfchen nutzen. Es war ohnehin sinnlos darüber nachzudenken, weshalb man sie nach Pullach zitierte und um welchen Spezialauftrag es sich wohl diesmal handeln würde. Nichtsdestotrotz war der Unterton eine Spur geheimnisvoller gewesen als sonst …

»Und, Melanie, was hältst du von unserem Abstecher in den Kosovo?«, vernahm sie die matte Stimme des BND-Agenten Kos2 neben sich, dem sie aufgrund mehrerer gemeinsamer Auslandseinsätze ein gewisses Vertrauen entgegenbrachte.

Ihre Augen blieben geschlossen: »Ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber. Solltest du auch nicht.«

»Komm schon, wir sind unter uns.«

In der Tat saßen sie in der hintersten Reihe, und die nächsten Passagiere befanden sich drei Reihen weiter vorne.

»Es ist wie vor zwei Monaten in Libyen. Was hatten wir dort zu suchen? Willst du dir darüber auch Gedanken machen? Ich sag dir, vergiss es.«

Der stellvertretende Operationsleiter setzte ein provokantes Grinsen auf. »Was war denn mit Libyen? Nordafrika ist doch nicht der Balkan.«

»Zu viel Neugier kann einem den Hals brechen. Und mit deinen Schlussfolgerungen wirst du auch niemanden begeistern. Du darfst sie nämlich mit keinem teilen.« Lustlos öffnete seine Vorgesetzte die Augen. »Also gut. Nordafrika, Balkan - verschiedene Namen, derselbe Job. Scherben auffegen, für die andere verantwortlich sind.«

Der Agent betrachtete sie zweifelnd. »Wir helfen den Amerikanern dabei, die Welt ein wenig sicherer zu machen. Die Gaddafis, Saddams und bin Ladens wegzuputzen, das stürzt mich nicht in Gewissenskonflikte.«

Jetzt öffnete sie die Augen und wandte sich ihm zu. In ihrer Stimme schwang Verachtung mit: »Ist das alles? Ich dachte, du willst ernsthaft reden. Mit diesen Männern haben US-Regierungen und andere NATO-Staaten zeitweise zusammengearbeitet, von ihnen profitiert, solange die bei Fuß gingen. Was war denn mit Gaddafi? In Italien stützte er die Wirtschaftskraft und sicherte die Energieversorgung, in Frankreich finanzierte er Wahlkämpfe von angehenden Staatspräsidenten. Im eigenen Land hat er den höchsten Lebensstandard und das beste Gesundheitssystem in Afrika etabliert, für Kranke zudem kostenlos. Die Landwirtschaft brachte er mit Tiefenwasser aus der Sahara zum Erblühen und bescherte seinem Land damit weitgehende Nahrungsmittelautonomie. Von den unermüdlichen Versuchen, diesen Autonomiegedanken zu exportieren und den afrikanischen Kontinent in diesem Sinne zu einen, ganz abgesehen. Etwas, wogegen nicht nur US-Agrarkonzerne Sturm liefen. - Der Grund, weshalb du und ich uns letztlich die Finger schmutzig machen, ist der unermessliche Rohstoffreichtum Afrikas und des Nahen Ostens. Es geht einzig um Destabilisierung und Kontrolle. Denke an Libyen, Irak, Syrien heute: Bürgerkrieg, Anarchie, eine nie dagewesene Flüchtlingsflut.«

»Bleibt die Frage, was hält dich beim BND?«

Die hochdekorierte Spezialagentin wandte sich von ihm ab und schloss erneut die Augen: »Wie gesagt, ich zerbreche mir nicht den Kopf über das Warum meiner Einsätze. Ich beherrsche meinen Job, er füllt mich aus. Verantwortung für die Ergebnisse tragen andere.«

Mehr hatte sie ihm nicht zu sagen. Die umfassendere Erklärung lag tief in ihrem Wesen begründet. Irgendwo dort tobte eine Leidenschaft, die sie in einem normalen bürgerlichen Leben nie würde besänftigen können. Zu heiraten, Kinder großzuziehen oder Tag ein Tag aus einem geregelten Büroalltag nachzugehen, hätte sie seelisch wie körperlich verkümmern lassen. Auch ein Leben als darstellende oder bildende Künstlerin hätte keine Erfüllung bedeutet. Was sie liebte, das war der handfeste Kampf, die Auseinandersetzung. Je härter die Bedingungen, desto mehr lief sie zu Höchstform auf.

Liebevoll dachte Melanie Holländer an ihren Bruder Markus. Er war zwei Jahre jünger und hatte das sanfte, ausgleichende Gemüt des Vaters. Sie hingegen kam nach dem rastlosen und kämpferischen Onkel Jacques. Als Geschwister waren sie beide wie zwei Seiten einer Medaille. Doch an der engen Verbundenheit änderte das nichts. Selbst über weite Entfernungen und bei längerer zeitlicher Trennung blieb diese bestehen. „Amazone“ nannte Markus sie neckisch, für Melanie war er „Gandhi“.

Markus, der vielgereiste Fotojournalist, Melanie, die Auslandsagentin. Wann hatten sie sich das letzte Mal gesehen, vor fünf oder sechs Monaten? - Leichter Dämmerschlaf überkam sie und brachte eine lang verschollene Kindheitserinnerung zurück:

Die Sonne in Marseille ist bereits untergegangen. Melanie und Markus sitzen vor dem kleinen Hotel am Hafen, in welchem sich ihr Vater und Onkel Jacques aufhalten. Der lebt längst in Frankreich, war Jahre zuvor in die Fremdenlegion eingetreten.

Die Geschwister genießen eine angenehme Abendbrise, die verschiedenste kulinarische Düfte aus den nahen Fischrestaurants heranführt, und beobachten von der Kaimauer aus die sanft auf und ab wippenden Boote und kleinen Yachten. Markus macht Melanie auf die hoch über der Stadt thronende Basilika „Notre-Dame-de-la-Garde“ aufmerksam, die hell erleuchtet mit einer Kuppel, einem hohen eckigen Turm und sogar einer goldenen Heiligenfigur beeindruckt. Die zwölfjährige Melanie will ihrem Bruder nicht sagen, dass der Festungsbau am Hafen sie wesentlich mehr beeindruckt. Und warum auch, gemeinsam mit dem Vater wollen sie ohnehin noch die ganze Stadt besichtigen.

Da kommt diese fünfköpfige Bande elf- bis dreizehnjähriger Jungen, die sich zunächst nur über die deutsche Sprache lustig macht. Ihrem Bruder zuliebe schafft Melanie es, ihr Temperament im Zaum zu halten. Doch schnell wird klar, dass die Störenfriede es auf Markus abgesehen haben und es keine friedliche Lösung geben würde. Als einer der Jungen ihm seinen geliebten Yo-Yo wegnimmt und ein anderer ihn lachend zu Boden stößt, ist es um die Selbstbeherrschung der Schwester geschehen. Sie tritt dem Aggressor so kraftvoll zwischen die Beine, dass der laut aufschreiend zusammenbricht. Als Nächstes fällt sie über den perplexen Yo-Yo-Dieb her und prügelt mit geballten Fäusten auf ihn ein. Stark aus der Nase blutend, kann er sich nur noch wegducken und zum Schutz die Hände hochreißen. Ein drittes Bandenmitglied reißt sie an den Haaren zurück, wirft sie ebenfalls zu Boden. Doch bevor er sich auf sie stürzen kann, tritt Melanie ihm wuchtig gegen das Knie, worauf er mit schmerzverzerrtem Gesicht neben ihr landet. Dem Wutausbruch und Schlag ins Gesicht entgeht sie reaktionsschnell. Stattdessen erwischt sie per Fingerstoß eines seiner Augen, was den Angreifer aufheulend davonkriechen lässt.

Die zwei verbliebenen Jungs starren sich ängstlich an. Hinter ihnen sind zwischenzeitlich einige Passanten stehengeblieben, die ihrerseits unschlüssig ausharren. Ein einzelnes Mädchen, das eine Gruppe von Jungs derart verprügelt, ist ihnen neu. Dieses Mädchen springt nun auf und stürmt wie eine Furie auf die beiden letzten Gegner zu, welche daraufhin panisch davonrennen. Melanie bleibt schließlich stehen und wendet sich ihrem Bruder zu. Ihr Atem rast, doch sie grinst triumphierend. Später einmal würde Markus ihr erzählen, mit den zerzausten Haaren hätte sie wie ein wildes Tier ausgesehen.

Der Vater und Onkel Jacques kommen aus dem Hotel herangeeilt, bekommen aber nur noch mit, wie ein Junge humpelnd zu gehen versucht und dabei das lädierte Auge bedeckt, ein zweiter sich von Erwachsenen gestützt und von Schmerzen gepeinigt zwischen die Beine fasst und der dritte sich ein Taschentuch vor die blutende Nase hält.

»Was ist denn hier passiert, habt Ihr euch etwa geprügelt?!«, stellt Vater Holländer seine Kinder vorwurfsvoll zur Rede.

»Unsere Zwei gegen drei Bengels von hier, und da hinten rennen noch zwei Feiglinge«, stellt der Onkel stolz fest.

»Markus hat nichts getan! Die haben ihn bestohlen! Und dann haben die ihn noch umgestoßen!«, erwidert Melanie trotzig. »Niemand packt meinen Bruder an! Niemand!«

Gerade schleicht der Junge mit der blutigen Nase vorbei. »Hau bloß ab, sonst kriegst du noch eine!«, brüllt sie ihn an.

Ihr Vater packt sie. »Hör auf, das reicht doch wohl! Mit Prügeleien löst man keine Probleme. Was soll denn als Nächstes kommen, Knüppel?! Es gibt schon genug Mord und Totschlag auf dieser Welt, auch ohne, dass Ihr Kinder übereinander herfallt!«

»Jetzt lass die Kirche mal im Dorf«, schaltet sich der Onkel ein. »Sie hat ihren Bruder beschützt und sich behauptet. Das sollte dich stolz machen.«

»Aha, dann schau dir die Jungs mal an! Als hätte sie jemand durch den Wolf gedreht! Wir reden hier von meiner Tochter. Sieh sie dir an, kein bisschen Bedauern. So sollte sich deiner Meinung nach ein Mädchen von zwölf Jahren verhalten?«

Sein hünenhafter Bruder reagiert mit verständnislosem Kopfschütteln: »Hätte sie zugucken sollen, wie Markus von fünf älteren Raufbolden verprügelt wird, nur weil das in deinen Augen damenhafter ist? Wäre das mehr nach deinem Geschmack gewesen? Melanie hat den Kampf nur zu Ende geführt. Weder hat sie ihn begonnen noch provoziert.«

Eine ältere Frau mischt sich pikiert ein: »Eine Schande, diese Mädchen von heute. Treiben sich herum und haben kein Benehmen.«

Melanies Vater, der der französischen Sprache mächtig ist, hält sofort dagegen: »Halten Sie sich da raus! Sie können sich um die verkommenen Bengels in Ihrer Stadt kümmern! Mit denen hat der Ärger doch erst angefangen!« Wieder wendet er sich seinem Bruder Jacques zu, der gerade ein Buch auspackt: »Und jetzt zu dir, du Kriegstreiber …!«

»Natürlich, das musste ja kommen!«, fällt der ihm wutentbrannt ins Wort. »Wer deinen saudummen Pazifismus nicht teilt, ist ein Kriegstreiber! Ihr seid die Guten, die aller Welt Frieden und Gewaltlosigkeit predigen, aber andere müssen dafür leiden und Schläge einstecken! Verschone mich endlich damit!«

Mit den letzten Worten kniet er sich zu seiner Nichte hinunter und beruhigt sich augenblicklich: »Hier, meine Kleine, ein Geschenk von deinem Onkel.«

Melanie umarmt ihn innig, bevor sie das Buch entgegennimmt. »Sunzi. Die Kunst des Krieges«, liest sie den Titel geradezu ehrfurchtsvoll vor. »Was steht in dem Buch?«

»Das wirst du ganz alleine herausfinden.«

»Dankeschön. - Kann ich bei dir wohnen, Onkel Jacques?«, fragt sie mit einer Spontanität und Überzeugung, die sowohl Onkel wie Vater schlucken lassen …

Kapitel 2

Recht oder Unrecht

– Die Stunde der Wahrheit –

Der Bundesnachrichtendienst in Pullach. Wie jedes Mal musste Melanie Holländer das Rolltor passieren, welches zur Hälfte hinter einer hohen Betonmauer mit stilisiertem Bundesadler verborgen lag. Das und die dahinterliegenden Schrankenhäuschen erinnerten sie an die ehemaligen DDR-Grenzübergänge – eine trostlose Betonlandschaft mit ebenso teilnahmslosen Mitarbeitern. Melanie fühlte sich immer wieder aufs Neue unwohl, wenn sie zu Fuß diesen Weg nahm und konnte es demzufolge auch nie erwarten, das Areal wieder zu verlassen. Die ganze Atmosphäre war geprägt von Uniformität, Anonymität sowie der paranoiden Vorstellung, jeder Bürger sei ein potenzieller Landesverräter, Extremist oder Terrorist. Dabei war es doch diese Behörde selbst, der es kaum gelang, eigene Gesetzesverstöße vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

In letzter Zeit schreckte Melanie immer wieder vor ihren eigenen Gedanken zurück. Was war aus ihrem Prinzip geworden, staatstragende Entscheidungen nicht zu hinterfragen, dahingehende Operationen und Strategien als per se notwendig zu akzeptieren? Gut, ihr Verstand war immer schon ein kritischer Beobachter gewesen, aber etwas hatte sich mittlerweile dazugesellt: Innerer Widerstand aufgrund der Möglichkeit, durch vorenthaltene Fakten zum seelenlosen Werkzeug und dumpfen Vollstrecker zu verkommen, der den Interessen des eigenen Landes mehr schadete als nutzte. Sie fühlte sich immer mehr wie ein Puzzlespieler, der erst nach und nach das komplexe Bildmotiv erkennt – Teil um Teil. Nur waren ihre Puzzleteile sensible Informationen. Und einzelne Fragmente, die sich über Jahre der Agententätigkeit im Gedächtnis verewigt hatten, mutierten in der Gesamtheit zunehmend zum mahnenden Störfeuer.

Sie hatte die Torkontrolle längst hinter sich gelassen und steuerte bereits auf einen der Eingänge des unüberschaubaren Gebäudekomplexes zu, als jemand hinter ihr laut pfiff. Da nicht viele Personen zu Fuß unterwegs waren, drehte sie sich um.

Ein Mann ihrer Altersgruppe, der sich mit schnellen Schritten näherte, löste Wiedersehensfreude aus. »Melanie Holländer, du verdammtes Flintenweib. Immer noch kein Auto angeschafft?«

Der Überschwang wirkte auf sie ansteckend. Sie revanchierte sich mit einem Lächeln: »Ich glaub's ja nicht. „Tommy Gun“, du krummer Hund. – Kennst mich doch, ich mag keinen Ballast mit mir rumschleppen. Eine eigene Spritschleuder bedeutet früher oder später Ärger.« Sie tastete ihn spielerisch ab. »Was ist das denn? Ganz schön abgebaut, in den Innendienst versetzt?«

»Du kannst mich mal, Innendienst. So viel Alka Selza könnte ich gar nicht saufen, um die Nebenwirkungen loszuwerden. – Immer noch dasselbe lose Mundwerk. Das schreit nach einer Abreibung. Wähle, Schießstand oder Boxring?«

Die Herausgeforderte setzte eine siegesgewisse Miene auf. »Beides, du hohle Nuss.«

Eine vorübergehende Gruppe quittierte das doppelte Gelächter mit abfälligen Blicken.

Thomas Schlüter, dessen Spitzname „Tommy Gun“ auf verwegene Einzelaktionen während verschiedener Auslandseinsätze zurückging, sah angriffslustig hinterher: »Jetzt schau dir diese gelackten Säcke an. Die würden am liebsten eine Lachen-verboten-Memo rumschicken.«

Ein Anflug von Melancholie bestimmte die nächsten Worte: »Ich kann mir nicht helfen, Melanie, wir Zwei gehören zu den Letzten unserer Art.«

Zärtlich küsste sie ihn auf den Mund, während sie seine Gefühle nur allzu gut verstand. »Ich werde erwartet. 19 Uhr in unserem Stammcafé?«

Die Anordnung von schier endlosen Büro- und Sitzungsräumen in verschiedenen Etagen, Gängen und Bereichen war ohne geschulte Ortskenntnis kaum zu überblicken. Melanie kannte den vorgegebenen Sitzungsraum aus früheren Besprechungen. Er befand sich in einem Gebäudetrakt, der selbst innerhalb des BND nur einen begrenzten Zugang erlaubte. Das Öffnen der Code-geschützten Türen ermöglichte eine Sicherheitskarte, die sich die Spezialistin um den Hals gehängt hatte.

Im Zielraum selber erwarteten sie drei Männer: Ihr direkter Vorgesetzter Gernot Pollack und jene beiden zu seiner Linken, die sie noch nie gesehen hatte. Insofern war es eine andere Ausgangssituation als sonst. Normalerweise hatte Pollack nur einen Beisitzer, der ihr zudem immer bekannt war. Ansonsten hatten die anwesenden Herren nichts Auffälliges an sich. Sie schienen in jeder Beziehung über einen Kamm gebürstet zu sein. Interessant wäre höchstens gewesen, welcher Sektion sie angehörten und in welcher Position. Melanie erwartete nicht, diese Informationen zu erhalten.

Während Gernot Pollack die Gesprächsleitung übernahm, öffneten die beiden Namenlosen das vor ihnen liegende Dossier, welches zweifelsohne auch aussagekräftige Informationen zu ihr enthielt: »Frau Holländer, ich freue mich zunächst, Sie gesund wiederzusehen. Wie erwartet, haben Sie sich in der Kosovo-Sache glänzend bewährt.«

Die nächsten Ausführungen waren das übliche Einerlei wie vor und nach jeder Mission. Ihre Gedanken schweiften ab und kreisten plötzlich um den Sitzungsraum mit seinen zwölf zweckmäßigen Stühlen um den zweckmäßigen Tisch. Selbst die Rollos waren heruntergelassen und so zweckmäßig auf Sichtschlitz gestellt, dass keine belebenden Sonnenstrahlen von der Ernsthaftigkeit des Agentenlebens ablenken konnten. Gleich zwei Flipcharts machten sich Konkurrenz, so als sollten diese außerordentlichen Arbeitseifer suggerieren. Und wo waren eigentlich die Zierpflanzen, wie sie selbst in einem drittklassigen Unternehmen längst selbstverständlich waren? Nicht das kleinste bisschen Leben. Oh Gott, hier konnte man ja ersticken. – Da war es wieder, dieses Aufbegehren, dieser innere Widerstand, der an ihr nagte.

Eine fremde Stimme holte sie abrupt zurück: »Frau Holländer, Ihr psychologisches Profil zeigt eine latente Gewaltbereitschaft mit Tendenz zur Obsession. Aber wie es scheint, haben Sie die rechtlichen Grenzen des Einsatzes tödlicher Gewalt noch nie überschritten«, stellte der Anzugträger in der Mitte nüchtern fest.

Seine zierliche Erscheinung wirkte neben den deutlich kräftigeren Männern verloren. Alles andere an ihm zeigte Melanie jedoch, dass er das Heft der Entscheidung in Händen hielt. Körperhaltung und Gesicht des etwa Sechzigjährigen geboten Respekt. Und zweifellos war er sich seiner Wirkung bewusst, als er sie fordernd ansah. Doch eines hatte die gestandene Agentin in diesem Narrenkäfig zu ihrem Gebot gemacht: Antworte nur auf direkte Fragen. – Dem folgend, erwiderte sie den Blick ihres Gegenübers abwartend.

Als die Stille das erträgliche Zeitmaß überschritt, folgte doch noch eine Frage: »Gab es Situationen, in denen Sie weitergegangen wären, wenn Sie freie Hand gehabt hätten – um Ihr Ziel zu erreichen, meine ich?«

»Ich stelle mir keine hypothetischen Fragen.«

»Einige dieser Fragen sollte sich jeder stellen, besonders, wenn es die eigenen Prinzipien und ethischen Grundsätze tangiert, meinen Sie nicht?«

Sie goss sich einen Orangensaft ein und ließ sich beim Trinken betont viel Zeit. »Antworten darauf werden oft genug von der konkreten Situation eingeholt und widerlegt.«

»Sie sind eine gerissene Person, Spezialagentin Holländer, mit einem beachtlichen IQ«, stellte der ranghohe BND-Mann mit flüchtigem Lächeln fest. »Natürlich, denn gerissen zu sein ist in der Regel Ausdruck hoher Intelligenz. Aber genau die kann auch dem besten Profi zur Stolperfalle werden. Plötzlich beginnt man den Auftrag zu hinterfragen, zweifelt an der Verhältnismäßigkeit des eigenen Tuns. Kennen Sie das auch? Gibt es Momente, in denen Sie an ihrer Mission zweifeln?«

Mit einem abschätzigen Blick zu ihrem direkten Vorgesetzten machte Melanie deutlich, dass ihre Geduld zur Neige ging. Im Grunde lief die Art der Befragung auf etwas hinaus, das eine existenzielle Dimension für sie haben würde. Jedes weitere Hinauszögern empfand sie deshalb als Schikane.

»Meine Herren, ich bin sicher, Sie kennen mein psychologisches Profil besser als ich, und Herr Pollack dürfte Sie über alles Sonstige in Kenntnis gesetzt haben. Ich schlage deshalb vor, Sie klären mich über meine nächste Mission auf oder setzen mich nicht ein. Es geht doch um einen Einsatz oder nicht?«

»Wie viele Menschen haben Sie gezielt im Dienst getötet?«, setzte der Wortführer die Befragung unbeirrt fort.

»Sieben«, erwiderte sie kühl distanziert.

»Hätte es einen anderen Weg gegeben?«

»Nein«, erfolgte die Antwort umgehend und mit fester Stimme. »Und weil Sie das sicher auch gleich fragen werden, es geschah ausschließlich zur Selbstverteidigung, zur Verteidigung eines Schutzbefohlenen oder zum Schutz meines Teams.«

»Verstehe.« Vor der nächsten Frage sah er kurz zu seinem linken Nebenmann, so als würde er ein unsichtbares Okay einholen. »Und wenn wir Sie nun mit einem konkreten Tötungsauftrag betrauen würden?«

Endlich ist es ausgesprochen, hörte Melanie die eigene innere Stimme widerhallen. Ihre kaltblütige Präzision gepaart mit einer überragenden Erfolgsquote sollte also honoriert werden, indem man sie in den elitären Kreis der Auftragsmörder im Dienste des Staates aufnahm. Für die Dauer einer Sekunde wurde die Versuchung übermächtig, ihrem Gegenüber die Zähne einzuschlagen. Dann wurde ihr bewusst, dass es weniger ein Problem sein würde abzulehnen, als vielmehr, anschließend am Leben zu bleiben.

»Wer ist die Zielperson?«, blieb sie beherrscht.

»Alles zu seiner Zeit.«

»Wohin geht die Reise?«

»Osteuropa.«

Die Überraschung über ein Attentat innerhalb Europas ließ sie sich nicht anmerken. »Wann muss ich reisefertig sein?«

Der Wortführer hielt weiterhin an seiner Leidenschaftslosigkeit fest: »Ist das ein Ja?«

»Ich werde tun, was getan werden muss.«

»Gut. In einer Woche. Die Details erhalten Sie noch.«

Thomas Schlüter verstand es nicht. Warum war Melanie nicht aufgetaucht? 19 Uhr war vereinbart gewesen, und er hatte eine Stunde vergeblich gewartet. Es sah ihr gar nicht ähnlich, zu spät zu erscheinen. Er musste über ihre liebenswerte Marotte schmunzeln, praktisch immer zu früh aufzutauchen. Was für eine ungewöhnliche Frau. Sie schloss wahrlich nicht viele Leute ins Herz, aber wen sie zu ihrer erklärten Familie zählte, für den war sie mit Klauen und Zähnen zur Stelle – jederzeit und bedingungslos. Ihre sexuelle Beziehung war sporadisch aber intensiv gewesen. Mal hier, mal da – irgendwann waren beide übereingekommen, dass ein rein platonisches Miteinander in dem gemeinsamen Job weit wertvoller war, frei von störenden Zwischentönen und Abnutzungserscheinungen.

Unweit des Stammcafés nestelte er in seiner Hosentasche nach dem Wagenschlüssel. Der neue 5er BMW war Schlüters ganzer Stolz. Selbst das Einsteigen kostete er genüsslich aus.

Mit Einschalten der Zündung wurde die Beifahrertür geöffnet, und die überfällige Melanie Holländer stieg ein. »Fahr los!«

Ohne weiter darüber nachzudenken, fädelte er sich in den Verkehr ein. Die gewünschte Erklärung würde seine langjährige Vertraute ihm schon noch nachreichen.

Nachdem sie sich eine ganze Weile ausschließlich auf Innen- und Außenspiegel konzentriert hatte, wandte sie sich dem Fahrer zu: »Bist du als Freund hier oder auf Befehl?«

Schlüter reagierte erbost: »Was?! Du spinnst wohl! – Was ist nach unserem Wiedersehen vorgefallen?«

Das ließ sie erleichtert ausatmen. »Typen, die ich nie vorher gesehen habe, verlangen etwas von mir, was ich nicht tun werde. Ich schmeiße hin.«

Sein Mitgefühl ging mit der Ahnung einher, dass es sich nur um eine befohlene Tötung handeln konnte. »Die werden dich nicht einfach so aussteigen lassen.« Auf ihren argwöhnischen Blick reagierte er verletzt: »Du denkst, ich soll dich aushorchen oder schlimmeres? Scheiße, Mann, du solltest mich besser kennen.«

»Ist ein verrücktes Geschäft, in dem wir uns bewegen.«

»Also deshalb die geplatzte Verabredung. Du hast mich observiert, ja?!« Er schüttelte anerkennend den Kopf. »Du bist wirklich einmalig. – Okay, du musst untertauchen, sofort. Keine alten Kontakte, keine alten Gewohnheiten. So sehr ich dir auch helfen möchte, die werden jeden meiner Schritte überwachen, soviel ist sicher. Das würde dich nur in Gefahr bringen.«

Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. »Mach dir keine Sorgen. Ab sofort gibt es nur noch den „Schatten“.« Beiläufig zog sie ihre griffbereite Pistole hervor und sicherte sie. »Halt irgendwo da vorne an. Ich steige aus.«

Kapitel 3

Die Politik ruft zur Macht

– Aufstieg eines Erlkönigs –

Zunehmende Graupelschauer machten den frühen Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages zu einem ungemütlichen Konzentrationsmarathon für den Fahrer des Audi A8. Besonders seit sie die Autobahn verlassen hatten und die Monotonie der Bundesstraße vorherrschte, empfand dieser es so. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte, dass den Mann im Fond ganz andere Sorgen plagen mussten. Schon die ganze Fahrt über hatte Winfried Seeger sich in Schweigen gehüllt, was für den Vorsitzenden der Oppositionspartei FWD untypisch war. Gewöhnlich pflegte der seit Jahren einen sehr persönlichen Umgangston mit seinem Fahrer. Gerade zu später Stunde, wenn das Telefon seltener anschlug und die Hektik des Alltagsgeschäftes von ihm abfiel, kam er gerne ins Plaudern. Mal war es das Weltgeschehen, mal die Stimmung in der Bevölkerung zu innenpolitischen Themen oder ganz neutrale Dinge wie Sport. Gerne informierte Seeger sich auch über Befinden und Familiensituation seines Fahrers – doch nicht heute.

Der Mann am Steuer glaubte den Grund dafür zu kennen. Den gelegentlichen Andeutungen der letzten Zeit nach zu urteilen, bereitete der aktuelle Generalsekretär der Partei, Karsten Fechter, Sorgen. Winfried Seeger hatte Fechter bereits gekannt, als dieser noch stellvertretender Chef des BND gewesen war. Ein smarter Typ, der Auftritte im Scheinwerferlicht und die Nähe zu einflussreichen Persönlichkeiten schon zu jener Zeit geradezu erzwungen hatte. Aber auch einer, der sein Handwerk beherrschte und den Bundesnachrichtendienst überzeugend organisiert hatte. Es wäre wohl nahezu unmöglich gewesen, nicht auf diese charismatische Erscheinung aufmerksam zu werden. – Als der damalige Generalsekretär die mitunter konträren Strömungen und Stimmungen innerhalb der Partei nicht mehr abzufedern und überzeugend nach außen zu kommunizieren verstanden hatte, sowie eigene medienwirksame Scharmützel mit dem Bundesgeschäftsführer überhandgenommen hatten, war die Zeit reif gewesen für eine unverbrauchte Persönlichkeit. Es musste ein Macher her, der den Posten des Generalsekretärs ausfüllen konnte, der darüber hinaus dem Bundesgeschäftsführer bei der Organisation beziehungsweise den disziplinarischen Fragen innerhalb der Partei zur Hand gehen konnte. Und es war Winfried Seeger noch um etwas anderes gegangen, das lag für seinen Fahrer auf der Hand. Gesucht war ein starker Erfüllungsgehilfe mit der Fähigkeit, die drückenden Machtambitionen des Bundesgeschäftsführers einzudämmen. Das Problem dabei: Wer Feuer mit Feuer bekämpfen wollte, lief immer Gefahr, dass das Gegenfeuer außer Kontrolle geriet. Karsten Fechter sollte dieses Gegenfeuer sein …

Sie hatten ihr Ziel erreicht. Der kleine Ort unweit von Würzburg wirkte wie in Kälte erstarrt. Bis auf wenige Straßenlaternen beschränkten sich die Lichtquellen vornehmlich auf weihnachtliche Festbeleuchtung in den Fenstern und an Nadelbäumen in den Vorgärten. Auf der Straße ließ sich niemand blicken. Es war diese angepasste Monotonie, die traditionsbewusste Geister in Verzücken versetzte, losgelöste Individualisten jedoch innerlich aufschreien ließ. Der Mann am Steuer fühlte sich in Traditionen gut aufgehoben. Dass alle Gartenhecken gleich geschnitten waren, die Häuser mehr oder weniger austauschbar wirkten und selbst Weihnachtsschmuck und Weihnachtsbeleuchtung in Menge und Anordnung wenig variierten, empfand er als anheimelnd.

Ein letzter Blick in den Rückspiegel zeigte einen Parteivorsitzenden mit geschlossenen Augen. Der Dienstwagen hielt vor einem Bungalow, der zwar durchaus als groß zu bezeichnen war, in seiner insgesamt schlichten Anmutung jedoch nicht auf den Bundesgeschäftsführer einer etablierten politischen Partei hindeutete.