Großstadtmelancholie … mit Pfiff - Andreas Reinhardt - E-Book

Großstadtmelancholie … mit Pfiff E-Book

Andreas Reinhardt

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Beschreibung

Ein einfühlsam und mit Augenzwinkern erzähltes literarisches Roadmovie um Liebe, Freiheit und Freundschaft im urbanen Umfeld. Für alle Freunde der Romantik, die sich ihre kindliche Fantasie und den Sinn für Humor bewahrt haben. Wenn ein Mann seine persönliche Freiheit im passionierten Lesen von Romanen und dem leidenschaftlichen Studieren von Falken in Berlin vermutet, kann das für die wahre Liebe zum steinigen Hindernisparcours werden. Umso mehr, wenn der Betreffende mit einem imaginären Dackel konfrontiert ist, er sich in Tagträumen regelmäßig Personen aus Historie und Literatur gegenüber sieht und die Herzdame zwei schwerwiegende Geheimnisse hütet. Der eigenwillige Taxifahrer Leo ist exakt dieser Mann, und sein gewohntes Leben gerät vollends aus den Fugen, als es für ihn heißt: Liebe jagt Freiheit. - Mit Witz und höchst unterschiedlichen Freunden in Alter, Herkunft, Glauben und sexueller Orientierung, wird aus bloßer Melancholie ein Trip der ganz besonderen Art, bei dem auch gesellschaftskritische Zwischentöne nicht ausbleiben. Humor und wohldosierte Toleranz sind Trumpf!

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Seitenzahl: 202

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Andreas Reinhardt

Großstadtmelancholie

… mit Pfiff

Ein Berliner Roadmovie

Impressum

© NIBE Verlag © Andreas Reinhardt

Komplett überarbeitete Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Created by NIBE Media

Covergestaltung: TomJay - bookcover4everyone / www.tomjay.de

NIBE Media

Broicher Straße 130

52146 Würselen

Telefon: +49 (0) 2405 4064447

E-Mail: [email protected]

www.nibe-media.de

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis:

Kapitel 1

Wenn Freunde sich sorgen

- Wo ist Leo? -

Kapitel 2

Die Gedanken eines Großstadtmelancholikers

- Von Menschen und Habichten -

Kapitel 3

Wo die Liebe hinfällt

- Gestatten, MacTeckel -

Kapitel 4

Freiheit über der Stadt

- Leos offenes Geheimnis -

Kapitel 5

Ein Zuhause

- Leo, Lilli und die lieben Nachbarn -

Kapitel 6

Zeit des Wartens

- Von Tommy Guns, Kräuterhexen und dreisten Falschparkern -

Kapitel 7

Der Wahrheit erster Teil

- Den Tod vor Augen -

Kapitel 8

Der Wahrheit zweiter Teil

- Ein kleiner Mann namens Jay -

Kapitel 9

Ein neuer Anlauf

- Der Teufel steckt im Detail -

Kapitel 10

Wie man sich besser kennenlernt

- Gedankenspiele auf Papier -

Kapitel 11

Katastrophe gefolgt von Lebenstraum

- Leo in der Zwickmühle -

Kapitel 12

Willkommen in Klein-Schrillwitz

- Asterix und Obelix lassen grüßen -

Kapitel 13

Leo und Lilli von Zweifeln geplagt

- Freunde haben das Wort -

Kapitel 14

Der alltägliche Wahnsinn

- Das Ende der Toleranz -

Kapitel 15

Die Wolken lichten sich

- Showdown im Theater -

Kapitel 16

Hoch oben unter dem Sternenhimmel der Stadt

- Sag es mit Musik -

Kapitel 17

Im Dunkeln ist gut Munkeln

- Ein Träumer als Realist -

Kapitel 18

Dem Himmel so nah

- Ein Traum wird Realität -

Kapitel 1

Wenn Freunde sich sorgen

- Wo ist Leo? -

Es waren zwei Stadtstreicher, wie sie selbst in einer Millionenmetropole wie Berlin als ungewöhnlich gelten konnten. Die beiden Endsechziger waren alleine schon in ihren ehemals hochwertigen Herrenanzügen, deren robuste Verarbeitung dem Zahn der Zeit letztlich doch Tribut zollen musste, und mit den extravaganten Kopfbedeckungen ortsbekannte Originale. Was sie außerdem auszeichnete, konnte nichts besser beschreiben als ihre Spitznamen. Hinter vorgehaltener Hand nannten die wenigen Freunde nicht ohne Grund den einen „Waldorf“, den anderen „Statler“. Was sie in ihrem früheren Leben einmal dargestellt hatten oder wie ihre wirklichen Namen lauteten, blieb seit jeher ihr Geheimnis. Umso indiskreter und schelmischer interessierten sie sich für das Leben der anderen Leute, belegten alles und jeden mit ihren höhnischen Kommentaren. Zurückhaltung oder gar Kleinmut waren ihnen fremd. Wie gesagt, sie waren Originale – mit Ecken und Kanten. Und solche zeichneten sich in aller Regel nicht durch falsche Bescheidenheit aus.

Waldorf richtete seinen breitkrempigen, ausgebleichten Hut gegen die Sonne aus, auch wenn diese gar nicht bis in die verlassen wirkende Lieferantendurchfahrt seitlich des Lebensmitteldiscounters schien.

Der neben ihm auf der Laderampe sitzende Statler schmiegte sich derweil an das Metallgeländer und schlug die herabbaumelnden Füße lautstark gegeneinander.

Ein aufmerksamer Beobachter musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass die beiden Männer entweder nichts mit ihrer Zeit anzufangen wussten oder auf ihre ganz eigene Art über Bedeutsames nachdachten oder aber auf irgendetwas warteten. Nun, dass sich Waldorf und Statler langweilten, ließ sich getrost ausschließen. Dafür waren sie zu unternehmungslustig, ihre Redseligkeit normalerweise zu überschäumend und die Metropole Berlin zu abwechslungsreich.

Gedankenverloren zog Statler sich die speckige Schiebermütze tiefer ins Gesicht. »Seit drei Tagen ist er jetzt schon verschwunden.«

Wenn auch um Gleichgültigkeit bemüht, so wusste sein langjähriger Weggefährte dennoch, worum es ging und fühlte sich genötigt zu antworten: »Sonst beschwerst du dich, wenn du ihn mal drei Tage hintereinander sehen musst.«

»An ausfallende Haare hat man sich auch irgendwann gewöhnt. Wehe, die traurigen Überbleibsel würden wieder anfangen zu sprießen …«

Abrupt beendete Waldorf die konzentrierte Arbeit an seinem Hut und sah den Nebenmann ungehalten an. »Du fängst wieder an zu faseln. Wenn du philosophieren willst, philosophiere. Wenn du faseln willst, quatsch in die Mülltonne. – Wie ein seniler Siebzigjähriger.«

Daraufhin hob Statler stolz den Kopf. »Achtundsechzig und klar wie nie. Du sogar neunundsechzig, aber …«

Hinter ihnen wurde ein Türflügel geöffnet. Der heraustretende Filialleiter stellte eine Palette mit Fruchtjoghurt und Streichkäse, einer Plastiktüte mit Obst sowie ferner einer Papiertüte mit Brötchen auf den Boden. Die mit Haargel streng nach hinten gezwungene Kurzhaarfrisur konnte die fehlende Reife des jungen Mannes ebenso wenig wettmachen wie der weiße Kittel.

Verstohlen ließ dieser den Blick nach links und rechts schweifen. »Aber denkt dran, wenn Ihr noch andere anschleppt, endet unser Arrangement sofort.«

Selbst der Versuch einer strengen Ansage aktivierte lediglich Waldorfs Lachfalten. Und schon legte der junge Herr über die Filiale nach, als er den mit Alltagsgegenständen überfüllten Discounter-Einkaufswagen eines Mitwettbewerbers ins Auge fasste: »Und nehmt keinen von unseren, klar?!«

»Nicht doch, Chef. Versprochen.«

Amüsiert sah Waldorf zu, wie der Kittelträger sich ins Innere des Flachbaus zurückzog und die Tür hinter sich schloss. Er spitzte die Lippen und äffte diesen nach: »‚… endet unser Arrangement sofort‘ – ach Gottchen, verbieg dir bloß nicht deinen Heiligenschein. – Keine Sorge, euer Wägelchen setzen wir nur bei der Konkurrenz ein.«

Die beiden Stadtstreicher verfielen in spöttisches Gelächter.

Schließlich stand Statler auf, um sich pikiert vor der geschlossenen Lagertür aufzubauen. »Junger Schnösel! Was hat der überhaupt für 'ne Frisur! Ich dachte, so was ist seit fünfundvierzig verboten! Und außerdem, wie redet der eigentlich mit uns Fachkräften?!«

Der nach wie vor sitzende Waldorf sah perplex zu ihm auf. »Wie, Fachkräfte? Seit wann nennt man das, was du anno dazumal gemacht hast, Fachkraft?« Abwinkend wendete er sich ab. »Du faselst schon wieder.«

»Neuerdings kann jeder „Fachkraft“ sein.«

»Bist du vielleicht Flüchtling?«

Von seiner Behauptung voll und ganz überzeugt, gesellte sich Statler wieder zu seinem Freund. »Auch das. Ich sage nur: Gleichbehandlungsgesetz … oder auch Antidiskriminierungsgesetz – für den Laien.«

Waldorf lachte auf und klopfte dem jüngsten Ziel seines Spotts auf die Schulter. »Erst Fachkraft, jetzt schon Jurist. Wenn du Bundespräsident geworden bist, gib einen aus.« Plötzlich hielt er inne, wurde schlagartig ernst. »Wo waren wir vorhin stehengeblieben?« Hilfesuchend blickte er in das Gesicht seines Gegenübers, der aber nicht Willens war, Hilfestellung zu leisten. Doch schon nahte der rettende Gedankenblitz: »Ach ja, um den verschwundenen Leo ging‘s. Der wird mal wieder in seinem literarischen Nimmerland gefangen sein.«

Es war das Thema „Leo“, welches den gerade noch verspotteten Statler dazu bewegen konnte, seinen Redeboykott aufzugeben. Besorgt meldete er sich zurück: »Oder er hat Ikarus gespielt und ist abgestürzt.«

Es gab so Äußerungen, die, wenn man sie im richtigen oder falschen Moment tat, beste Stimmung augenblicklich kippen und jeden Frohsinn beerdigen konnten. Eben das geschah genau jetzt – wohl mit einiger Berechtigung. Immerhin ging es um Leo, und der war wahrlich eine Gattung für sich. Wenn der tagelang verschwand, durfte man sich in der Tat fragen, was er wieder Absonderliches erlebt, gesehen oder getan hatte.

Die Stirn in Sorgenfalten gelegt, schritten die beiden Stadtstreicher ihrem Einkaufswagen entgegen. In welchem Zustand würden sie den Sonderling wohl das nächste Mal antreffen?

Waldorf kramte nach den Löffeln, während Statler zwei der ergatterten Joghurts öffnete – auch das nach wie vor wortlos. Erst der frische Erdbeergeschmack brachte die Lebensgeister zurück und sorgte für zufriedenes Lächeln.

Der Mittag war schon längst vorbei, bis zur Feierabendzeit war es noch ein gutes Stück hin. So lag der Friedrich-Wilhelm-Platz in einem vorübergehenden Schlummer, der auch die alteingesessene Bäckerei einbezog. Nur eine Kundin wartete vor Murat darauf, dass Lilli ihr fingerfertig den ausgewählten Kuchen einpackte. Der Ur-Berliner mit türkischen Eltern gehörte zu einer überschaubaren Gruppe von Taxifahrern, die diesen Ort zum Hort ihrer Kaffeepausen auserkoren hatten. Er scherte sich weder um Religion noch um Herkunft, fühlte sich nur als Gleicher unter Gleichen in einer Stadt, die er von ganzem Herzen liebte. Um sein Wesen in aller Kürze zu beschreiben genügte es beinahe, auf ein Herz aus Gold und eine grenzenlose Treue gegenüber Freunden zu verweisen. Zweifellos erwähnenswert war auch seine Lebensintelligenz trotz wenig gehaltvoller Schullaufbahn sowie der unverblümte Umgang mit der Wahrheit. Kurzum, man musste ihn einfach gerne haben.

Durch das Abdeckglas verfolgte Murat die Aktivitäten Lillis. Sie war ein maßgeblicher Grund, weshalb es ihn und seine Kollegen seit langem hierher zog. Das hatte nichts vorder- oder hintergründig Sexuelles, nein, es war vielmehr ihr bisweilen polternder Humor und das selbstbewusste Auftreten, das immer auch Menschlichkeit verströmte. Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Gerade hatte er sich dabei ertappt, wie er sich selber etwas vormachte. Mann blieb eben immer Mann. Selbstverständlich durfte man ihre weiblichen Attribute und die attraktive Natürlichkeit nicht ausklammern.

»So, bitteschön.« Lilli reichte der Kundin das Kuchenpaket mit unwiderstehlichem Lächeln über den Tresen. »Ich bin sicher, der Bienenstich wird Ihnen schmecken. Einen schönen Tag.«

Mit einem breiten Grinsen trat Murat näher. »Hallo, Lilli. Machst du mir ein Tässchen Kaffee?«

Unbeeindruckt sah die Angesprochene der Kundin nach, bis diese den Laden verlassen hatte. Ihr Lächeln war dahin, als sie sich nun ihm widmete: »Sag du mir erst mal, wo Leo ist. Drei Tage, das ist selbst für ihn eine lange Zeit.«

»Keine Ahnung. Ich bin sein Freund, nicht seine Geliebte.« Sein Grinsen bekam etwas Lausbubenhaftes. »Klingt ja, als wenn du den freien Job übernehmen willst.«

Die Mittdreißigerin beugte sich so energisch zu ihm hinüber, dass er die Arme hochriss und einen Schritt zurückwich. Allerdings hinderte ihn das nicht daran, sich amüsiert zu zeigen. Nur ein Toter würde nicht merken, wie sie für Leo empfand – und umgekehrt. Doch beide, Leo genauso wie Lilli, strichen umeinander, ohne dass einer von ihnen den entscheidenden Schritt machte. Er, Murat, konnte und wollte das nicht länger mitansehen.

»Hör auf, den Kuppler zu spielen! Das steht dir nicht!«, fauchte sie ihn an.

»Dann hör' auf zu bohren, wo er ist. Der taucht schon wieder auf.«

Mit der nächsten Bemerkung lief er Gefahr, den Bogen vollends zu überspannen: »Ich wette, Leo hätte seinen Kaffee längst.«

»Wie wär's mit 'nem Tässchen Gift«, schlug es Murat entgegen, der mittlerweile mit Lillis Rücken vorlieb nehmen musste, die sich dem frustgeladenen Putzen der komplexen Kaffeemaschine widmete.

Sein Blick bekam etwas Mildes, geradezu Fürsorgliches. »Mal ehrlich. Ich finde, Ihr würdet gut zusammenpassen.«

Die einsetzende Stille schien kein Ende mehr zu nehmen, und schon hatte sich Leos Taxikollege und Freund damit abgefunden, die Bäckerei unverrichteter Dinge zu verlassen.

»Ein Tagträumer zu meinen Alltagssorgen fehlt mir gerade noch«, kam es doch noch über ihre Lippen, wenn auch kraftlos und traurig.

Unfähig sich zu rühren oder etwas zu erwidern, starrte der Deutschtürke erneut auf ihren Rücken.

»Hat er denn etwas gesagt?«, fragte sie beinahe ängstlich.

Sofort kehrte seine Zuversicht zurück. »Nee, nicht direkt. Der ist so verstockt wie du.«

Eine Gruppe betrat die Bäckerei. Lilli würdigte Murat nur noch eines letzten beiläufigen Blickes. »Geh schon, ich bring dir dein Gift raus.« Ihr einsetzendes Lächeln galt bereits den neuen Kunden.

Ihm war es gleich. Er fühlte sich bestätigt und würde nicht mehr lockerlassen. Wozu waren Freunde sonst da?

In der für zwei Künstler ausgelegten Theatergarderobe waren gerade auch zwei Personen zugegen, die optisch kaum unterschiedlicher hätten sein können. Der größere, hünenhafte Mann passte kaum in den zierlichen Besuchersessel. Er schien in sich zu ruhen, hatte die Beine weit ausgestreckt. Eine Hand strich über den kahl rasierten Schädel. Die sanften Augen, welche durch einen Irrtum der Natur in das grobschlächtige Gesicht geraten zu sein schienen, ruhten auf dem Spiegel eines Schminktisches, in dem sich das deutlich zartere Antlitz des zweiten Mannes wiederfand, welcher alles andere als ruhig wirkte. Dessen Umgang mit den Schminkutensilien hatte etwas Weibliches, was durch den zierlichen Körperbau noch verstärkt wurde.

Die zur Schau gestellte Aufregung übertrug sich auf die gezierte Sprechweise: »Ich meine, gut, er steht öfters mal neben sich. Aber dass er im Treppenhaus an mir vorbeiläuft, ohne mich zu bemerken …«

»Er ist nicht der erste und ganz sicher nicht der letzte Mann, der mit den Gedanken von Zeit zu Zeit woanders ist«, entgegnete der stattliche Sascha sachlich. »Du zum Beispiel räumst deinen Schminkkram schon zum dritten Mal von einer Seite zur anderen.«

Harry erstarrte, verweilte zunächst regungslos. Als er sich dann betont langsam umdrehte, kam sein Gesichtsausdruck einem einzigen Vorwurf gleich. »Du nimmst mich nicht ernst. Mal wieder. Bestimmt schenkst du deinen Muskelmännern auf dem Bau mehr Beachtung.«

Einem eingespielten Ritual folgend, erhob sich Sascha. Sein muskulöser Körper von etwa einem Meter neunzig kam nun vollends zur Geltung. Einzig die sich abzeichnende Wölbung in Bauchhöhe ließ einen Vergleich mit Adonis hinken. Als er hinter den sich abgewendeten Harry trat und sanft den Arm um ihn legte, hatte dieser Anblick der so unterschiedlichen Männer etwas Surreales. Gleichwohl waren die Gefühle echt, die Vertrautheit über lange Zeit gewachsen.

»Du weißt, dass ich nur dich liebe.« Zärtlich küsste er den Hals des Ehepartners. »Du hast doch schon eine Theorie, was mit Leo los ist, stimmt's?«

»Nein!«, gab sich Harry noch immer gekränkt.

Sascha küsste seinen Hals erneut, noch hingebungsvoller. »Bitte.«

Zögerlich drehte Harry sich zu ihm um. »Na schön, du Piratenseele mit dem Herzen eines Poeten.« Im nächsten Augenblick wurde er erneut von Aufregung erfasst. »Leo ist verliebt!«

Sascha gab sich schockiert, wich zurück und ließ sich theatralisch zu Boden fallen. »Gott, die arme Frau.«

In einer Mischung aus gespielter Wut und ausgelassener Lebensfreude, tupfte der Theaterschauspieler zu Kugeln geformte Watte in die Abschminkcreme. Lauthals lachend, versuchte der damit Beworfene dem Beschuss auszuweichen. Am Ende liefen bei beiden die Lachtränen.

Grund dafür war zunächst einmal ihr kindliches Gemüt, welches sich von Zeit zu Zeit Bahn brach und nur eines geeigneten Anlasses bedurfte. Leo seinerseits bot eben solche Anlässe in gewohnter Regelmäßigkeit. Ein Nachbar wie er lieferte Gesprächsstoff ohne Ende, denn so einen Zeitgenossen traf man in der Tat selten – jedenfalls in freier Wildbahn. Darüber waren sich Harry und Sascha einig, insgeheim, denn ein verbaler Austausch darüber war längst nicht mehr erforderlich.

Kapitel 2

Die Gedanken eines Großstadtmelancholikers

- Von Menschen und Habichten -

Berlin, du herbe Schönheit. Es ist Ende Mai voller Wärme und Sonnenschein, und ich bewege mich in deinem dichten Gefäßsystem aus Grautönen. Eigentlich müsste mich das Grün und Blau deiner permanent präsenten Natur zu allen Seiten für dich einnehmen. Aber du wirkst mehr und mehr wie ein billiges Flittchen, verunstaltet von zu viel Make-up und aufdringlich behängt mit niveaulosem Schmuck. In deinem Fall ist es die erdrückende Flut schillernder Werbung in jeder Größe und Farbe, die das Hohelied auf ewige Jugend, Vitalität und Erfolg singt. Und schau dir die Menschen an, die du beherbergst. Anstatt sich der Sonne entgegenzustrecken, halten sie ihr Haupt gebeugt, ihre Mitmenschen und dich ignorierend. Denn was der Fernseher in den eigenen Vier Wänden, ist die mobile Telefonie außerhalb. Bereitwillig inhaliert Homo Sapiens Sapiens auch auf diesem Weg die trügerischen Freuden des Konsums und lässt sich von der vorherrschenden Meinung einiger Weniger prägen. – Berlin, du trägst Generation um Generation neuer Menschenkinder aus, die zunehmend das selbständige Denken verlernen, die ihre Instinkte und Empathie auf dem Altar der Bequemlichkeit und des medialen Stumpfsinns opfern, ihre eigene Existenz seelenlosen Technologien anvertrauen – nicht etwa verzweifelt oder ohnmächtig, nein, bereitwillig oder gar süchtig.

Es erinnert an die „Brot und Spiele“-Kultur des untergegangenen Römischen Reiches. Natürlich, niemand wird mehr reißenden Bestien zum Fraß vorgeworfen oder das gemeine Volk mit Almosen abgespeist, um es unmündig und gleichgeschaltet zu halten. Von wegen – wer bereit ist, die Realität anzuerkennen und die Augen zu öffnen, wird eines Besseren belehrt. Natürlich – subtiler, einfach moderner ist alles geworden.

Die Rolle der reißenden Bestien übernehmen mittlerweile die Leitmedien. Politische Kaste und Lobbyisten geben die Dompteure. Für das leibliche Wohl verarmender Massen sind Sozialindustrie, seichte Fernsehunterhaltung und elektronische Spielereien zuständig. Und nicht zu vergessen, als Meinungskompass fungiert die allgegenwärtige Politische Korrektheit. Wehe dem, der ausschert. Die Folterknechte der modernen Inquisition sind schneller bei der Hand, als man sich den Anklägern erklären könnte.

Leo war es leid, sich immer wieder solchen Gedanken hinzugeben. Doch es war nun mal, wie es war. Eine Realität, die er als Taxifahrer jeden Tag hautnah erlebte. Wie schon die Boxlegende Joe Louis zu sagen pflegte: 'Du kannst davonlaufen aber verstecken kannst du dich nicht.' – Selbst die Tatsache, dass Leo weder Fernseher noch Radio besaß, sich mit einem altersschwachen Uralt-Handy begnügte oder er sich von Zeit zu Zeit sogar den Freunden entzog, konnte dem Ganzen nur bedingt entgegenwirken.

Da waren die Unmengen von Literatur, die sein Verstand und seine Seele in einem Jahr verschlangen, wie der reine Balsam. Allerdings beförderte das wiederum eine Nebenwirkung zutage, welche Sigmund Freud vermutlich in höchste Verzückung versetzt hätte. Das nächste gedankliche Minenfeld, welches er an diesem schönen Tag ganz sicher nicht beschreiten wollte.

Einem beiläufigen Blick rechts durch die Frontscheibe seines Taxis folgte unmittelbar der zweite, diesmal gleichermaßen erregt wie ungläubig. Von seinen lästigen Überlegungen abrupt befreit, steuerte Leo den Wagen in eine freiwerdende Parklücke. Dass seine rasante Aktion aus Bremsmanöver und Spurwechsel lautstarken Unmut bei den Nachfolgenden auslöste, entging ihm völlig.

Der Enddreißiger stieg wie in Trance aus. Er wirkte jugendlich in seinen Jeans, dem offenen Kurzarmhemd über einem zitronengelben T-Shirt und nicht zuletzt mit dem schmalkrempigen Hut, welcher an die Kopfbedeckung eines Rocky Balboa erinnerte. Sein nachdenkliches, wenngleich auch durchaus humorvolles Wesen hatte sich über Jahre in den Gesichtszügen verewigt. Das tat der Attraktivität des sportlich agil anmutenden Mannes keinen Abbruch, verlieh ihm vielmehr Reife und Charakter.

Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem oberen Ende einer Straßenlaterne. Dort vollführte eine stattliche Nebelkrähe eine aufgeregte Choreografie aus engem Rundflug und Angriffsmanövern. Ziel ihrer Erregung war ein Habicht von gut sechzig Zentimetern Größe, der in majestätischer Würde über allem thronte. Bis auf gelegentliche Seitwärtsbewegungen von Kopf und Hals, wirkte der urbane Greifvogel wie aus Stein gemeißelt.

Aufgrund der Größe schloss der faszinierte Beobachter auf ein Weibchen. Kopf und Schnabel waren im Verhältnis zum Körper filigran. Die breite Brust zierte ein hell dunkles Wellenmuster. Mit welcher Gleichmut der Beutegreifer dem in fast allen Belangen unterlegenen Rabenvogel begegnete, war schon erstaunlich. Denn auch, wenn Tauben seinen Speisezettel dominierten, so konnte durchaus auch der schwarzgraue Wüterich zur Mahlzeit werden.

»Was macht der da?«, wollte ein Mädchen von fünf Jahren in Erfahrung bringen. Sie war neben Leo stehengeblieben, während die Mutter samt Kinderwagen und Baby unbeteiligt weiterging.

Als er nicht reagierte, zog sie mit einem Gesichtsausdruck, der ihre ganze Entschlossenheit zum Ausdruck brachte, an seinem Ärmel. »Was macht der da?«, wiederholte sie ein gutes Stück nachdrücklicher.

Irritiert sah der Angesprochene zu ihr hinunter und wurde auch der Mutter gewahr, die gerade stehenblieb und ungeduldig zurückblickte. »Tja, also, das ist eine gute Frage«, erwiderte er lächelnd.

Keck reckte die wissbegierige Gesprächspartnerin ihm eine Gesichtshälfte entgegen. »Na klar, und die Antwort?«

Während Erwachsene solch einem animalischen Schauspiel, obwohl mitten in der Innenstadt, keinerlei Beachtung schenken, sind Kinder neugierig und aufgeschlossen. Ein Jammer, dass diese Tugenden aberzogen werden und verloren gehen, ging es Leo durch den Kopf.

Er hob die Kleine auf die Motorhaube seines Taxis und stellte sich daneben, woraufhin nun zwei faszinierte Augenpaare den Habicht beobachteten.

»Vielleicht hat die Krähe ihre Kinder in der Nähe. Oder sie denkt, Angriff ist die beste Verteidigung. Der Habicht könnte sie nämlich locker auffressen.«

»Wenn die so weiter kräht, frisst der Habicht die bestimmt.«

Mit überraschtem Gesichtsausdruck lachte er auf. »Donnerwetter, du bist ja ganz schön schlau. Wie heißt du eigentlich?«

»Judith.«

»Ich bin Leo. Also, kluge Judith, weißt du, wie viel Einhundert ist?«

Sofort zeigte sich Empörung auf ihrem Gesicht. »Ich kann schon bis Tausend zählen.«

»Gratuliere, das ist echt stark. Also, in Berlin leben etwa einhundert Habichtpaare.«

»Booh!«, kam postwendend die staunende Reaktion. Doch dann sah das Mädchen zur Mutter, deren Geduld unübersehbar erschöpft war. Sie ließ sich von der Motorhaube gleiten und glättete ihr Kleid. »Tschüss, Leo, ich muss gehen.«

Er winkte ihr zum Abschied zu, machte aber selbst keine Anstalten weiterzufahren. Der Arbeitstag würde noch lang genug werden. Da kam ihm die gefiederte Eleganz als kurzes Zwischenspiel gerade recht. Auf die Art kreisten seine Gedanken wenigstens um etwas Erhabenes.

Kapitel 3

Wo die Liebe hinfällt

- Gestatten, MacTeckel -

Das BVG-Wartehäuschen am Friedrich-Wilhelm-Platz war nicht etwa nur eine überdachte Sitzgelegenheit für wenige Minuten, bevor der nächste Bus kam. Für die Herren Waldorf und Statler, die quasi zum Kiez-Inventar gehörten, war es eine Anlaufstelle, wie sie verschiedene auserkoren hatten. Unnötig zu erwähnen, dass sie jeden Anwohner zumindest dem Aussehen nach kannten, keine Aktivität ringsum ihnen entging und es zu ihrem Selbstverständnis gehörte, solche auch ausgiebig zu kommentieren. Sofern sich gerade nichts Spannendes ereignete, gab es ja immer noch die abgelegten Zeitungen und Zeitschriften, die die Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel stetig zurückließen. Nebenbei sei noch erwähnt, dass wohl keiner der vielen Kiez-Kenner je den einen ohne den anderen angetroffen hatte. Was die beiden Stadtstreicher so untrennbar aneinander band, musste allerdings den Kräften der Fantasie und Spekulation überlassen bleiben, so wie ihre Vergangenheit oder ihre bürgerlichen Namen. Der Taxistand gegenüber nahm gerade einen Neuankömmling auf, was von beiden demonstrativ ignoriert wurde. Immerhin schickten sich Waldorf und Statler in diesem Moment an, wichtige gesellschaftliche Zusammenhänge zu erörtern. Da musste ein banales Taxi schon mal warten.

»Arabischer Frühling, ha! Dass ich nicht lache!«, erklang die lebhafte Stimme Waldorfs hinter einer aufgeschlagenen Tageszeitung. »Wenn das der Frühling war, möchte ich nicht den Herbst erleben.«

Statler hatte sich derweil in einen Lokalartikel auf der anderen Seite eingelesen. »Is‘ doch ein alter Hut. Danach kam ganz schnell der eisige Winter«, kommentierte er beiläufig. »Und wieder hat nicht der die Bratwürste gefressen, der sie verbrannt hat.«

»Meinst du den „Ami“? Yankees und Verantwortung übernehmen? Die haben doch so viele Flüchtlinge und Drohnen-Opfer produziert, das hätte ihnen nur schwerste Magenverstimmung eingebracht.«

Ganz in Gedanken, ließ sich Statler auf dem Sitz zurückgleiten. »Einen Teil der Flüchtlinge hätten die ja an ihren Kumpanen Saudi-Arabien abtreten können. Warum wollten die eigentlich keine? So hätten auch gleich alle zum selben Gott gebetet. Hat Deutschland bombardiert? Was ist mit dem Verursacherprinzip?!«

Waldorf faltete die Zeitung ordentlich zusammen, um sie anschließend auf einen unachtsam zusammengeschobenen Haufen aus Druckerzeugnissen zu legen. Dabei hatte sein Gesichtsausdruck etwas Fragendes. »Wusstest du schon, dass wir zu den bösen alten weißen Männern zählen?«

Der Mann mit der speckigen Schiebermütze betrachtete ihn von oben bis unten. »Weiß ja, alt auch, ließ sich nicht vermeiden. Aber böse?«

»Die Sache ist die«, begann sein Freund vielsagend und andächtig, »als alte weiße heterosexuelle deutsche Männer gehören wir zu einer Bevölkerungsmehrheit und sind damit neuerdings an allem schuld.«

Statler suchte angestrengt nach einem Sinn dahinter. »Und die noch nicht so alt sind?«

»Wir sind schlimmer. Wir hatten mehr Zeit Böses zu tun. Dass wir rassistisch, schwulenhassend, frauenverachtend und dazu noch kriegslüstern sind, wird einfach vorausgesetzt. Kollektivschuld, verstehste?«

Statler begann unsicher zu lächeln. »Du willst mich doch auf die Rolle nehmen.« Schon verfinsterte sich sein Gesicht wieder. »Wer peitscht denn schwule Paare am Kottbusser Tor mit Gürteln aus, sorgt dafür, dass sich Juden in Neukölln nicht mit Kippa zu erkennen geben, misshandelt Obdachlose wie uns nachts in U-Bahnhöfen, kontrolliert den Drogenhandel auf Berlins Straßen?«

»Minderheiten sind eine geschützte Spezies«, zuckte Waldorf mitleidig mit den Schultern.

»Sind Juden keine Minderheit? Weshalb wird muslimischer Antisemitismus toleriert?«

»In diesem Fall greift wieder Regel Nummer 1. Schuld hat immer die weiße heterosexuelle deutsche Mehrheit, zuerst natürlich die Älteren.«

Daraufhin begann Statler verzweifelt zu grübeln. Es hatte den Anschein, als bereitete ihm das Denken körperliche Schmerzen. Schließlich sprach er wie zu sich selbst: »Und was ist mit Frauen gleich welcher Hautfarbe und Religion, die ihr Grundrecht ausüben, auf deutschen Straßen gegen ihre Herabwürdigung, Misshandlung, Ermordung oder das Tragen von Vollverschleierung und Kopftuch zu demonstrieren? Das wird doch auch nicht gerne gesehen?«