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Leichenblass saß der Hauptmann auf seinem Pferde und blickte starren Auges in den Tumult. Das war Meuterei — geplante Meuterei, die Soldaten hatten sich verabredet, in die Luft zu schießen — er hätte das wissen können — nun war alles verloren — ja schlimmer, ihm drohte Gefahr, wer weiß, wozu sich die empörten Soldaten hinreißen ließen, er kannte diese Meutereien aus seinem russischen Dienst — die Ermordung der Offiziere war stets der Anfang oder das Ende — aber das sollte ihnen nicht gelingen — sie sollten sterben, gleich wenn er ins Hauptquartier zurückkam, wohin sie ja auch kommen mussten, würde er sie wegen ihrer Meuterei anzeigen und alle würden erschossen werden — alle — alle! Er riss sein Pferd herum und jagte davon.
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Seitenzahl: 85
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Kriegsbilder
aus
Ost und West
von
Karl Pauli
_______
Erstmals erschienen im:
Hesse & Becker Verlag,
Leipzig, 1915
__________
Vollständig überarbeitete Ausgabe.
Ungekürzte Fassung.
© 2021 Klarwelt-Verlag
ISBN: 978-3-96559-247-6
www.klarweltverlag.de
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Bärenzwinger
Die Rache der Mutter
Am Weihnachtsabend in Feindesland
Unter russischer Flagge
Kastor und Pollux
Die sitzengelassenen Russen
Bauernmut
Der Einsiedler
Spione
Osterglocken
Die Meuterer
In russischen Fesseln
Die Spionin
Auf Posten am Weihnachtsabend
Der Ersatzmann
Der Bärenzwinger
Eine kleine Strecke hinter dem polnischen Schlosse Sava, welches nahe der russischen Grenze liegt, steht auf einer kleinen Anhöhe ein Mauerwerk von etwa zwanzig Metern Höhe, welches aussieht wie ein alter Galgen — aber es ist kein Galgen, es hat nie der menschlichen Gerechtigkeit gedient, und doch sollte dort ein ruchloses Verbrechen seine blutige Strafe finden. Das Gebäude war ein Bärenzwinger, den der Besitzer des Schlosses für drei Bären hatte bauen lassen, die er aus Sibirien mitgebracht hatte.
Ja, Graf Techo war in Sibirien gewesen, zwanzig Jahre, aber nicht als Reisender oder Jäger, sondern als Karrensträfling in einem sibirischen Silberbergwerk — und warum? Weil der russische Fürst Rudinow seiner jungen schönen Frau nachstellte und er ihn mit der Hetzpeitsche aus seinem Hause gejagt.
Zwanzig Jahre hatte er da unten gesessen, in der ewigen Nacht, an eine Karre angekettet, und auf das taube Gestein losgeschlagen und geweint und geflucht und gebetet, Gott möge die Stunde kommen lassen, wo er den Schädel seines Verderbers ebenso zerschlagen könnte wie diese Steine.
Aber sie war nicht gekommen; doch seine Strafe war mit der Zeit abgelaufen und der Tag war gekommen, wo er dem Leben wiedergegeben wurde, aber welchem Leben? Gebeugt und gebrochen hatte er sich auf sein Schloss zurückgezogen, auf jede Rache verzichtend; denn er wusste wohl, dass jeder Versuch, seinen Verderber zur Rechenschaft zu ziehen, ihn nur wieder ins Bergwerk gebracht hätte.
Aber die Stunde kam doch, die Stunde der Rache, ehe er es sich gedacht, ja es gewollt.
Der Krieg war ausgebrochen, die russischen Scharen wälzten sich der deutschen Grenze zu, überall brennend und sengend, obwohl sie im eigenen Lande waren, aber sie wussten, dass ihnen die Bewohner nicht freundlich gesinnt waren, und Einschüchterungen sollten einem Aufstand vorbeugen.
Auch Schloss Sava würde wohl ihrer Zerstörungswut zum Opfer gefallen sein, wenn es nicht, seiner günstigen Lage wegen, zum Hauptquartier eines Armeekorps gewählt worden wäre. Der Führer dieses Korps war Fürst Rudinow. Graf Techo erbleichte, als er das erfuhr, aber er dachte nicht einen Augenblick an Flucht, zu der es auch zu spät gewesen wäre; mit festem Blick trat er dem Feind entgegen. Der aber sah ihm gar nicht in die Augen, er streckte die Hand aus, die der Graf leicht berührte, und sagte kordial:
„Na, alter Schwede, jetzt müssen wir Brüder sein, was geschehen, ist vergessen, jetzt haben wir beide nur einen Feind!“
„Gewiss!“ entgegnete der Graf, „ich habe auch nur einen Feind!“ In Gedanken aber setzte er hinzu: Und der bist du!
Der Fürst ging schnell auf ein anderes Thema über.
„Sagen Sie mir, lieber Graf, da haben Sie ja dort hinter dem Hofe so ein rundes Gebäude stehen, ist das ein Turm oder ein Wirtschaftsgebäude?“
„Weder ein Turm noch ein Wirtschaftsgebäude“, gab der Graf zur Antwort.
„So, nun das ist ja gleichgültig, es ist jedenfalls fest gebaut?“
„Sehr fest“, antwortete der Graf.
„Gut, gut“, sagte der Fürst, „da könnten wir vielleicht ein Geschütz darauf stellen. Es ist möglich, dass wir hier angegriffen werden.“
„Gewiss, sehr gut“, erwiderte der Graf, „aber dann müsste erst ein flaches Dach angebracht werden, denn der Zwinger ist oben offen!“
„Da müssten allerdings starke Balken dazu genommen werden“, sagte der Fürst, „kommen Sie, sehen wir uns die Geschichte einmal an — ich will mich selbst überzeugen, ob die Mauern stark genug sind, den Rückstoß des Geschützes auszuhalten! — Bleiben Sie hier, meine Herren“, wendete er sich zu den ihn begleitenden Offizieren. „Der Herr Graf wird mich führen, es genügt, wenn ich allein gehe.“
Sie gingen nach dem Bärenzwinger. Eine Leiter führte von unten nach einer kleinen Tür, sie stiegen hinauf und traten auf die schmale Galerie, die rings um den Innenraum angebracht war.
Der Fürst neigte sich und betrachtete die Bären, drei starke Tiere. Der Graf warf ihnen Stücke Zucker zu, die sie gierig haschten, wobei sie ihr scharfes Gebiss und ihre mächtigen Pranken zeigten.
„Donnerwetter!“ sagte der Fürst, „das sind ja prächtige Tiere, wo haben Sie die her?“
„Die habe ich mir aus Sibirien mitgebracht!“ rief der Graf mit Bedeutung, „aus Sibirien, wohin du gehörst, Schuft!“ und im nächsten Augenblick hatte er den Fürsten am Kragen und an der Taille gefasst und stürzte ihn in den Zwinger hinunter.
Ein grässlicher Aufschrei war das Letzte, was er von ihm hörte, dann stürzte er fort — jubelnd im Herzen, dass er nun doch gerächt sei. Dann eilte er ins Schloss zurück und rief den Offizieren zu:
„Kommen Sie, meine Herren, nehmen Sie Waffen mit, der Fürst ist verunglückt, er hat das Gleichgewicht verloren und ist in den Bärenzwinger gestürzt. Schnell, schnell, ehe es zu spät ist!“
Aber es war zu spät. Als die Offiziere vor dem Gitter erschienen, das den Blick in das Innere des Zwingers freigab, sahen sie nur noch eine zerfleischte Leiche. Die Bären hatten den Fürsten zerrissen.
Am ganzen Körper zitternd, die Augen vom Weinen gerötet, das Gesicht leichenblass, stand horchend eine Frau an der großen eisernen Schiebetür der Scheune und lauschte auf das Schreien und Lärmen der Kosaken, die drinnen auf Strohschütten lagen und saßen, Schnaps aus ihren Kochgeschirren tranken und mit Zähnen und Fäusten über große Fleischstücke herfielen, die sie aus einem riesigen Kessel, der mitten in der Scheune stand, herausholten.
Ja, es waren Kosaken, fürchterliche Kosaken, früh am Morgen hatten sie das einsame Gasthaus, das auf dem Wege, welcher von Tilsit nach Memel führte, lag, überfallen. Das schöne Gasthaus, dessen Bau erst vor kurzem fertig geworden war und das mit seinen roten Backsteinmauern gerade wie ein Herrenfitz aussah, und es lag auch inmitten dreier Scheunen, alle mit Ziegeln gedeckt und mit großen eisernen Toren geschlossen. Deshalb hatten sie es wohl aufgeschoben, es zu zerstören, und sich begnügt, die ganze Einrichtung des Wohnhauses zu zerschlagen — aber das genügte ihnen nicht, sie hatten auch gemordet, streng nach dem Befehl ihres Generals, alles Lebende zu vernichten, was ihnen in die Hände fiel (historisch). Und so hatten sie alles umgebracht, den Besitzer des Hauses, den Knecht, die Magd, ja sogar zwei Kinder, die noch in ihren Betten lagen — wie die Teufel hatten sie gehaust; die Frau zitterte noch, wie sie jetzt daran dachte, nur sie hatte man am Leben gelassen — aber warum? — nicht aus Menschlichkeit, sondern weil sie ein Essen herrichten sollte — ein Essen — denn sie hatten seit sechs Tagen nur von verschimmeltem Brot gelebt und nur dumpfiges Moorwasser getrunken. Nun aber wollten sie schwelgen. Sie schlachteten einen Hammel und schleppten die Frau in die Küche, wo sie sie zwangen, jeder mit einer Pistole in der Hand, das Fleisch des Hammels in einem großen Kessel zu kochen. Zitternd gehorchte die Frau, was hätte sie auch tun sollen? — Als das Fleisch gar war, ergriffen zwei Kosaken den Kessel und trugen ihn in die Scheune und sagten der Frau, sie solle mitkommen und vor der Scheune warten, um da zu sein, wenn sie etwas wünschten.
Nun stand sie an der Scheune und wartete mit Todesangst, was da kommen sollte; es war ihr gewiss, dass die Kosaken, wenn sie das Fleisch aufgegessen hatten, in der Plünderung des Hauses und der Ställe fortfahren würden — und dann würde wohl auch ihre letzte Stunde geschlagen haben, sie würden sie ermorden. Schaudernd zuckte sie zusammen — und dabei stieß sie mit der Schulter an die eiserne Schiebetür der Scheune — ein Gedanke durchzuckte sie: wenn sie jetzt die Türe zuschob — sie war nur von außen zu öffnen. Kein Fenster in der Scheune, durch das sie herauskommen könnten, keine Leiter darin, den Scheunenboden zu erklettern, um von dort herauszukommen. Wenn sie die Türe zuschob, waren sie alle gefangen; sogar der Kosak, der Wache gestanden hatte, saß mit drin. Ja, sie schob die Türe zu — aber was würde das nützen, einmal würde sie sie doch wieder aufmachen müssen und da war ihr Leiden vielleicht noch schlimmer! — Brauchte sie das zu erwarten? Konnte sie nicht dafür sorgen, dass keiner mehr herauskäme — sie haben mir den Mann und die Kinder ermordet — sie werden mich auch ermorden — es ist kein Mord, es ist Notwehr, was ich tue. Und schnell ergriff sie die Krampe, die der Tür als Griff diente; mit der ganzen Kraft ihres Körpers stemmte sie sich gegen die Tür, die mit einem lauten Kreischen ins Schloss fiel. Dann legte sie den Haken vor, der die Tür festhielt, und stürmte fort — sie hörte gar nicht hin, wie die Kosaken wider die Türe hämmerten, sie stürzte ins Haus, in die Küche, riss ein brennendes Scheit aus der Glut, stürmte fort, zur Scheune zurück über die Leiter hinauf, die zu dem Fenster führte, durch welches die Strohschütten auf den Boden gereicht wurden, öffnete die ziemlich große Bodenluke und schleuderte das brennende Scheit in das trockene Stroh.
Knisternd lief die Glut über die Halme hin, dann lohte die Flamme in die Höhe, und der Bodenraum war ein Feuermeer. Schnell schob die Frau brennendes Stroh durch die Öffnung in der Diele der Scheune, die nach unten führte und kletterte die Leiter herunter.
Unten stand sie lauschend still. —
Furchtbare Verzweiflungsschreie klangen aus der Scheune; Schläge, Fußtritte dröhnten gegen das Tor, „Aufmachen, aufmachen!“ tönte es — „Um Gottes willen aufmachen!“ und neu hagelte der Sturm des Angriffs gegen das eiserne Tor.
Die Frau hatte einen Augenblick still gelauscht, dann schrie sie auf: „Gebt mir meinen Mann, gebt mir meine Kinder wieder, dann will ich euch aufmachen! Euch trifft nur die gerechte Strafe! Euch trifft die Rache einer Mutter!“
Dann stürzte sie davon, ins Haus, zu ihrem toten Mann, zu ihren ermordeten Kindern, warf sich vor ihren Betten nieder und weinte.