Krontenianer - Erasmus Herold - E-Book

Krontenianer E-Book

Erasmus Herold

4,6

Beschreibung

Im Alter von achtzehn Jahren verlässt Marla Santiago die Erde, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es ist ihr Wunsch, den Weltraum zu bereisen und fremde Planeten kennenzulernen. Nach der Ausbildung an der Akademie Gayas heuert sie auf einem krontenianischen Transportschiff als Navigatorin an. Während der mehrere Monate andauernden Reise, versucht sie sich den Respekt ihrer Kollegen zu erarbeiten. Eines Tages entdeckt Marla abseits der Handelsroute einen Planeten, den ein besonderes Naturspektakel, genannt Bogen, erwartet. Das Phänomen verleitet den Captain zur Kursänderung, denn das austretende Gas bietet eine zusätzliche Chance auf Profit. Das Zeitfenster ist knapp, da das Ende des Himmelskörpers naht und eine energiefreisetzende Fusionskette droht, den Planeten und alles in seinem Umfeld zu zerstören. Ist es Zufall oder haben die Entführung der Waffenoffizierin, die Sabotage im Maschinenraum und die anderen Übergriffe mit dem Flug zum Bogen zu tun?

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Über den Autor:

Erasmus Herold wurde 1969 in Bonn-Beuel geboren. Aufgewachsen in Paderborn, wohnt er heute in Stromberg (bei Oelde), ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann arbeitete er erst in Paderborn, später in Gütersloh.

Seit 2009 schreibt Erasmus Herold Romane. Laut eigener Aussage entspricht die Idee zum thematischen Aufbau seiner Krimis oft persönlichen Interessen, seien es die komplexen Verstrickungen innerhalb seiner Bücher, die lebensnahe Beschreibung seiner Protagonisten oder die Einbindung der Geschichte seiner Heimat Westfalens.

Erasmus Herold ist Mitglied in der Autorenvereinigung Das Syndikat. 2011 wurde Erasmus Herolds Debütroman „Krontenianer - Rendezvous am Bogen“ für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert und erreichte Platz 5. 2015 wurde sein Krimi "Und ich richte ohne Reue" für den Buchpreis nominiert und erreichte Platz 3.

Veröffentlichungen:

2010: Krontenianer – Rendezvous am Bogen

2012: Und ich vergebe dir nicht

2013: Und dein Lohn ist der Tod

2014: Und ich richte ohne Reue

2015: Die Frau am Kreuz

Zusätzliche Informationen und Leseproben unter:

www.ErasmusHerold.de

Für dich

Eine fremde Welt.

Fast wie daheim.

Und doch anders.

Inhaltsverzeichnis

Prolog (1,5 Stunden bis zum Bogen)

Nachtschicht (3 Tage bis zum Bogen)

Acht Monate zuvor (237 Tage bis zum Bogen)

Havarie (237 Tage bis zum Bogen)

Glück im Unglück (237 Tage bis zum Bogen)

Das Wiedersehen (3 Tage bis zum Bogen)

Bericht beim Captain (3 Tage bis zum Bogen)

Suche nach Arbeit (237 Tage bis zum Bogen)

Ein waghalsiger Plan (3 Tage bis zum Bogen)

Tom (2 Tage bis zum Bogen)

Die „Neue“ (237 Tage bis zum Bogen)

Erste Freundschaft (236 Tage bis zum Bogen)

Ende mit Schrecken (236 Tage bis zum Bogen)

Erst Worte, dann Taten (2 Tage bis zum Bogen)

Abenteuer auf Siberius (554 Tage bis zum Bogen)

Der Umbau beginnt (2 Tage bis zum Bogen)

Frachtraum 1 (2 Tage bis zum Bogen)

Kein Lebenszeichen (236 Tage bis zum Bogen)

Abflug von Gaya (235 Tage bis zum Bogen)

Was ist ein Bogen? (1 Tag bis zum Bogen)

Unbekannter Raum (233 Tage bis zum Bogen)

Unerwartete Gefahr (29 Stunden bis zum Bogen)

Die Auszeichnung (27 Stunden bis zum Bogen)

Der Ausflug ins All (27 Stunden bis zum Bogen)

Konsequenzen (26 Stunden bis zum Bogen)

Den Feinden ausgeliefert (233 Tage bis zum Bogen)

Geheime Vorbereitungen (232 Tage bis zum Bogen)

Marla und Jandin (232 Tage bis zum Bogen)

Mongalis System (232 Tage bis zum Bogen)

Besorgt um Richard (25 Stunden bis zum Bogen)

Entspannung und Stress (10 Stunden bis zum Bogen)

Das geheime Treffen (232 Tage bis zum Bogen)

Auf der „Inpramanie“ (232 Tage bis zum Bogen)

Ein Funke Hoffnung (231 Tage bis zum Bogen)

Chirurgischer Eingriff (8 Stunden bis zum Bogen)

Das mysteriöse Buch (6 Stunden bis zum Bogen)

Handelspläne (231 Tage bis zum Bogen)

Landgang (231 Tage bis zum Bogen)

Plan zur Flucht (231 Tage bis zum Bogen)

Rückruf (231 Tage bis zum Bogen)

Überraschender Gast (231 Tage bis zum Bogen)

Monecs Schwester (5 Stunden bis zum Bogen)

Fatale Folgen (4 Stunden bis zum Bogen)

Revanche (3,5 Stunden bis zum Bogen)

Gefahr auf sechs Beinen (3 Stunden bis zum Bogen)

Tod (3 Stunden bis zum Bogen)

Neue Freunde (226 Tage bis zum Bogen)

Der Unfall (226 Tage bis zum Bogen)

die Vision (2 Stunden bis zum Bogen)

Recherche (1,5 Stunden bis zum Bogen)

Flucht nach vorne (1,5 Stunden bis zum Bogen)

Ein Überlebender (226 Tage bis zum Bogen)

Ein Visionär an Bord? (226 Tage bis zum Bogen)

Aufräumarbeiten (226 Tage bis zum Bogen)

Zeit für Abschied (226 Tage bis zum Bogen)

Zweifel an Bord (225 Tage bis zum Bogen)

Die Jagd (1,25 Stunden bis zum Bogen)

Neue Partner (1,25 Stunde bis zum Bogen)

Wo ist Monec? (1 Stunden bis zum Bogen)

Offizier überflüssig (1 Stunde bis zum Bogen)

Das Warten endet (1 Stunden bis zum Bogen)

Unerwünschter Besuch (15 Minuten bis zum Bogen)

Erfüllung der Aufgabe (der Bogen ist vor wenigen Minuten erloschen)

Lumpur (einen Tag nach der Explosion des Sterns)

Anhang: Personen (alphabetisch)

Anhang: Zusatzinfo

1. Prolog (1,5 Stunden bis zum Bogen)

Nach krontenianischer Zeitmessung errechnete sich das Jahr 2271, nach irdischer Rechnung das Jahr 2361 AD. Die „Beautiful Decision“ würde in den nächsten Tagen ihre Handelsroute durch das Garman-System beenden, um nach acht Monaten Reise auf dem Planeten Lumpur zu landen. Doch zuerst einmal hatte die einundsechzigköpfige Crew alles daran gesetzt, das krontenianische Frachtschiff für das bevorstehende Ereignis umzubauen.

Die Kartografin Jandin Wellers und ihre beiden Kollegen beobachteten argwöhnisch, wie die Veränderungen eines Sterns, auf seinem Weg in den bevorstehenden Gravitationskollaps, auf die unmittelbare Nähe ihres Raumschiffs wirkten. Ein leiser Summton signalisierte die Ankunft des Aufzugs. Die Tür glitt seitwärts und Captain Rati val’ men Porch betrat die Navigationszentrale. Im sogenannten „Auge“ des Frachters wurden Strahlungseffekte und Anomalien aufgespürt, um mögliche Gefahren für das Schiff zu erkennen und sicheren Flugrouten für die Piloten bereitzustellen.

„Uns bleiben eine, vielleicht zwei Stunden“, informierte Cole, einer der beiden Mannschaftsdienstgrade. „Wann erwarten Sie unsere Navigatorin zurück in der Nav-Zentrale?“

Ich hoffe bald. Wir werden Marla hier oben brauchen, wenn es losgeht, überlegte der Captain.

Doch er wusste, sie und sein Stellvertreter Vanti val’ tech Dahr verfolgten eine heiße Spur. Seit Kurzem verdichteten sich die Hinweise auf einen Saboteur an Bord der „Beautiful Decision“ und so galt es zu klären, wem der Erste trauen konnte und wem nicht.

„Holen wir uns einen Rapport. Später wird Marla euch bei der Ausrichtung der Scanner unterstützen.“

Rati val’ men Porch griff zum Kommunikator und rief die beiden Kollegen.

„Marla, Vanti. Wie kommt ihr mit der Suche auf der Krankenstation voran?“

„Wir prüfen derzeit die Logdateien, doch es ist aufwändiger als erwartet. Ich erkläre später wieso. Sobald wir etwas gefunden haben, melde ich mich“, erwiderte sein Stellvertreter.

„Okay. Ich benötige Marla in fünfzehn Minuten in der Navigationszentrale.“

„Sie hat es gehört und wird passend zurück sein.“

Der Captain trat an eines der beiden großen Bullaugen und betrachtete die vereinzelt funkelnden Sterne im Dunkel des nicht enden wollenden Weltalls.

„Können Sie uns sagen, wie es Richard geht? Wir haben gehört, der gestrige Außeneinsatz ist nicht ohne Komplikationen verlaufen. Etwas soll ihn getroffen haben?“, unterbrach Cole die angespannte Stille.

Der Erste drehte sich zu Cole, rieb mit der rechten Hand über sein Gesicht und verließ das Fenster, um zu den drei Crewmitgliedern zu gehen. „Ich kann Ihnen nicht viel sagen. Er wurde operiert und wir müssen abwarten.“ „Aber Sie wirken besorgt“, hielt Jandin dagegen.

„Ja. Richard hatte Kontakt zu mehreren kleineren Objekten, kurz bevor er mit den anderen des Außenteams die Arbeiten am Sonnensegel beenden konnte. Es war uns möglich, eines von diesen Dingern zu separieren und zu zerlegen. Wir erhoffen wir durch die Analyse weitere Aufschlüsse. Ich werde zu gegebener Zeit ...“

„Captain, Entschuldigung. Ich empfange eine Videoaufzeichnung aus Lagerraum 17“, fiel ihm Cole ins Wort. „Sie sollten sich das anschauen, denn laut Sensoren hält sich niemand dort unten auf.“

„Übertragen Sie das Bild auf den Großbildschirm.“

Cole tätigte zwei Eingaben auf seiner Konsole. Anschließend schauten die vier gespannt auf ein dunkles, flackerndes Bild.

„Die Frachtraumbeleuchtung ist stark gedimmt. Ich werde versuchen, die Helligkeit von hier aus zu erhöhen“, informierte Norman, das zweite Mannschaftsmitglied.

Er unternahm einen Versuch, die Kontrolle des Lagerraums an die Navigationszentrale zu übertragen – erfolglos.

„Der Zugriff wurde mit einer Sperre blockiert“, rechtfertigte sich Norman.

„Das ist Ina!“, rief Jandin überrascht. „Was macht sie im Lager?“

Ina Netson verharrte einige Sekunden regungslos im Kamerabild, trat dann näher heran, bis ihr Gesicht die gesamte Bildfläche füllte. Ihre Augen wirkten glasig und leer.

Sie verhält sich merkwürdig, grübelte val’ men Porch, betätigte sodann den nächstbesten Kommunikator und rief sein Crewmitglied.

„Frau Netson, was machen Sie in Lagerraum 17? Warum ist der Zugriff für die Beleuchtung blockiert?“ Vergeblich versuchte er, einen plausiblen Grund zu finden. „Sind Sie alleine? Brauchen Sie Hilfe?“

„Ina kann uns nicht hören. Das Sprachsystem reagiert nicht. Wahrscheinlich ebenfalls abgeschaltet“, mutmaßte Cole.

„Norman, laufen Sie los! Ich will sofort jemanden in diesem Raum haben!“, befahl der Captain. Norman sprang auf und verschwand nur wenige Sekunden nach der Anweisung im Aufzug.

„Sie scheint etwas sagen zu wollen“, stellte Jandin aufgeregt fest und nun nahmen auch die anderen wahr, wie Inas Gesicht entspannte, fast schon fröhliche Züge entwickelte. Cole prüfte die Übertragung und nickte als Zeichen, dass sie ihre Stimme hören würden.

„Hallo Captain, oder wer immer mich in diesem Moment an meinem Arbeitsplatz empfängt ...“, begann Ina und legte danach eine Pause ein.

Hallo Ina, dachte Rati bei sich. Was wird das?

Jandin lief ein kalter Schauer den Rücken entlang. Ihre Kollegin war wie verwandelt, so verhalten und in sich gekehrt. Gestern hatten die beiden noch eine gemeinsame Schicht in der Nav-Zentrale gearbeitet und der Kartografin war dabei nichts Ungewöhnliches an Ina aufgefallen.

„Nun ist für mich die Zeit gekommen ...“, Ina blickte dabei direkt in die Kamera. „... mich dafür zu verantworten, was ich getan habe.“

„Ina!“, schrie Jandin.

Im gleichen Augenblick verschwand die junge Frau aus dem Blickfeld der Lagerraumkamera. In der Navigationszentrale hörten die drei das Surren einer Strahlenwaffe, danach ein dumpfes Geräusch, gleich einem Körper, der auf dem Boden aufschlug. Coles Gesicht wurde kreideweiß und Jandin liefen Tränen über die Wangen. Alle waren wie erstarrt. Der Captain schaffte es als erster, einen klaren Gedanken zu fassen und nutzte den Kommunikator für einen schiffsweiten Rundruf. „Norman, wo bleiben Sie?“

Stille.

„Norman, verdammt, melden Sie sich!“

Quälende Sekunden vergingen. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm die Helligkeit der Frachtraumbeleuchtung zu, kurz darauf tauchte Normans Oberkörper in der Kameraübertragung auf. Fassungslos starrte er zu Boden, schluckte und rang nach Worten.

„Captain, sie ist tot. Ina ist tot.“

Das kann nicht wahr sein, entschied der Erste und rannte nunmehr selbst zum Aufzug. „Ihr beiden bleibt hier. Marla kommt in wenigen Minuten zur Unterstützung. Und behaltet den Stern im Auge! Ich will über jede Veränderung informiert werden!“

Während die Aufzugtür hinter Rati schloss, rief er seine Waffenoffizierin. „Mane, ich brauche Sie umgehend im Lagerraum 17. Schnell und bewaffnet! Es gab einen Zwischenfall!“

Noch nie zuvor waren ihm die wenigen Sekunden, die der Aufzug für die fünfzehn Decks benötigte, so lang vorgekommen. Endlich, die Tür schwang auf. Er hastete über den Gang. Als der Erste durch das Zugangstor trat, war Mane val’ Monee bereits eingetroffen und kniete über Ina. Norman stand ein Stück abseits, damit beschäftigt sich zu übergeben.

„Ich befand mich nur eine Etage höher und bin sofort los gesprintet“, erklärte Mane atemlos. „Ina ist tot. Was ist passiert?“

„Wir sahen eine Videoübertragung, dann hörten wir einen Schuss.“

Die Offizierin stand auf und gab dem Captain den Blick auf das Opfer frei. Rati wusste, welch hässliche Wunden Strahlenwaffen hinterlassen konnten, doch diesen Anblick würde er niemals vergessen. Ein Energiestrahl hatte Inas Kopf regelrecht aufgeschlitzt und ihr Blut an den umherstehenden Containern verteilt, allem Anschein nach aus der Waffe, die verkrampft in ihrer Hand steckte.

2. Nachtschicht (3 Tage bis zum Bogen)

Das leise Pulsieren des Alarms ging einher mit dem langsamen, automatischen Ansteigen der Kabinenbeleuchtung. Marla Santiago erwachte aus ihrem kurzen Schlaf, setzte sich auf und rieb ihre müden Augen. Ein Blick auf die roten Ziffern der Digitaluhr neben der Tür zeigte, es war kurz vor zwei in der Nacht.

Es ist einfach zu früh, um aufzustehen ... Aber höchste Zeit, um noch pünktlich zu sein, redete Marla sich ein, streckte die Arme aus und rutschte schließlich nach vorne an den Rand des Bettes. In ihrer Kabine war es warm und so trug sie im Bett für gewöhnlich nicht mehr, als ihr weißes Lieblings-T-Shirt. Seit gut acht Monaten lebte Marla nun an Bord dieses krontenianischen Transportschiffs der Pegasus-Klasse mit dem verheißungsvollen Namen „Beautiful Decision“.

Es war Zeit für ihre Schicht.

„Verdammt“, fluchte sie, als sie aufstand.

Marla warf das wenige an Bekleidung ab, das sie trug und verschwand im Bad, um sich notdürftig zurecht zu machen. Nachts musste es immer schnell gehen, schlafen so lange wie möglich, dann sputen. Für einen Moment musterte Marla ihren Körper im Spiegel. Die schulterlangen, braunen Haare hingen leicht struppig und zerzaust nach unten. Die großen, hellblauen Augen wirkten noch müde. Sie war immer der Meinung gewesen, den Anflug von Mandelform habe sie von ihrer Mutter geerbt. Die schmalen, blass roten Lippen mit ihrem energischen Aussehen betonten die Blässe ihres knochigen Gesichts.

Mehr kannst du jetzt nicht aus dir machen, entschied Marla.

Ein frisches Outfit lag parat und nach weiteren fünf Minuten trug sie ihre Arbeitskleidung, war bereit den Raum zu verlassen. Sie berührte den Fingerscanner neben dem Ausgang. Ein grünes Licht, gefolgt von zwei kurzen Signaltönen, deutete die Freigabe der Tür zum Korridor an, die anschließend leise aufglitt. Beim Verlassen der Kabine dimmte das Licht automatisch und das startende Umluftgebläse würde für ein angenehmes Raumklima bei ihrer Rückkehr sorgen.

Der Flur leuchtete nachts in gelblichem Licht, in den Morgenstunden ließ sich eine Grüntönung erkennen und tagsüber schien das Korridorlicht weiß. Dieser künstliche Tag-Nacht-Zyklus half der Crew im lichtleeren Weltall die Schiffstageszeit abzuschätzen.

Marla mochte das gelbe Licht. Es wirkte entspannend auf die Augen, gerade dann, wenn man wenig geschlafen hatte. Sie folgte dem langen Korridor Richtung Raumschiffmitte. Der Boden aus nachgebendem, fast weichem Material, ließ sie leise und abfedernd gehen. Die meisten Wände trugen das dunkle Einheitsgrau einer Titanlegierung, wie sie überall auf diesem Schiff zu finden war. Auf Augenhöhe markierte ein grüner, handbreiter Streifen den Gang. Jede Etage besaß eine andere farbliche Kennzeichnung zur Orientierung in einem Transportschiff, das über zweiundzwanzig Decks und unzählige Laderäume in verschiedensten Größen verfügte. Auf der „Beautiful Decision“ glichen sich viele Etagen. Bei der Architektur hatte niemand auf Individualität und Einfallsreichtum Wert gelegt. Ganz anders zeigte sich die Ausstattung des Schiffes. Der Captain, ein Liebhaber von technischen Raffinessen und Spielereien, hatte über die Jahre die Standardausstattung des Transporters modifiziert und ein individuelles Raumschiff mit verändertem Antrieb, umgebauten Laderäumen, liebevoll gestalteter Kantine und unzähligen Freizeitmöglichkeiten geschaffen. Die Ausstattung, die Marla und ihre Kollegen auf dem Schiff von Captain Rati val’ men Porch vorfanden, war für Transportschiffe nicht üblich. Doch es schien ein entscheidender Grund dafür zu sein, warum sich die meisten an Bord so Viele geborgen und heimisch fühlten. Der krontenianische Captain verstand es, seiner Mannschaft einiges abzuverlangen, dies war der Ausgleich für die Strapazen.

Das Handelsschiff, auf dem Marla Santiago früher einmal gelernt hatte, war zweckdienlicher ausgestattet gewesen, so wie für Transporter üblich.

„Maximaler Raum zum Bewegen von Material und das nötigste zur Unterbringung der Mannschaft. Luxus oder Annehmlichkeiten sind verpönt“, dies waren die Worte ihres damaligen Captains eines drittklassigen Ausbildungsschiffes mit dem schwer tragenden Namen „Majestät“ gewesen. Marla konnte sich noch genau an ihre Ausbildung erinnern. Alles in allem kein leichter Job und dennoch gab es für Marla immer nur einen einzigen Traum: einen Beruf zu finden, der ihr das Reisen im Weltall ermöglichte. Klassische Arbeiten auf einem Planeten oder in einer Orbitalstation waren für sie nie in Frage gekommen und so bot die Stelle eines Fähnrichs das ersehnte Sprungbrett. Sie wollte andere Welten entdecken und die unterschiedlichsten Zivilisationen kennenlernen.

Hätte Marla damals geahnt, wie sich alles entwickelt! Sie erschauderte. Diese Ausbildung hatte sie nie beendet. Es ging nicht. Der zweite Maat Vladi Borginski war zu Beginn ein ganz netter Kerl, er wollte mit ihr ausgehen. Doch dann bedrängte er sie und ... Wie auch immer, beim ersten Landgang auf dem Planeten Gaya verließ sie ihr Ausbildungsschiff Hals über Kopf. Weit weg von Vladi fühlte sie sich frei und sicher und als die „Majestät“ drei Tage später aus dem Orbit schwebte, war Marla nicht mehr an Bord. Ein paar Wochen lang genoss sie das Leben auf Gaya, entschied sich dann aber zu einer erweiterten Ausbildung auf einem von Gayas Monden. Passend zum Semesterbeginn belegte Marla dort am abgeschiedenen Universitätsinternat Kurse in Sternenkunde und Navigationstechnik.

Schläfrig folgte Marla dem gelb leuchtenden Flur und bog an der nächsten Ecke nach links ab. Ein erschrockenes „Entschuldigung“ entwich ihr, als sie beinahe mit Tom Jerris, dem zweiten Maschinentechniker, zusammenstieß.

„Na, noch nicht richtig ausgeschlafen?“, versuchte Tom sie aufzuheitern.

Marla rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin spät dran und mein Weg zur Navigationszentrale ist einfach zu weit, zumindest nachts.“

„Das kenne ich“, erwiderte Tom zurückhaltend.

„Vielleicht sehen wir uns nachher zum Frühstück in der Kantine?“

„Ist möglich. Bis später.“

Sie lief weiter.

Er ist ein netter Kollege, vielleicht ein wenig zu schüchtern, machte Marla sich kurz Gedanken.

Seit zehn Monaten hatte es für sie keine Beziehung gegeben. Eine Zeitlang vermisste Marla nichts, sie genoss es sogar, unabhängig tun zu können, wonach ihr gerade der Kopf stand, ohne Rücksichtnahme und ohne Konsequenzen für andere. Doch seit Kurzem empfand sie immer öfters, irgendetwas könne ihr fehlen.

Am Ende des Gangs erwarteten die junge Frau vier Expresslifte. Binnen weniger Sekunden ließen sich so die Etagen des Schiffes überwinden. Gelegentlich nutzte Marla die Treppe, um sich zusätzlich fit zu halten, jedoch niemals, wenn sie die Nachtschicht arbeitete. Als Marla sich näherte öffnete sich eine der silbernen Edelstahltüren, und sie stieg ein.

„Deck 2“, instruierte Marla.

Eine kurze Fahrt, sechs Etagen nach oben, begann. Als sich die Tür des Aufzugs öffnete, stand sie in einem großen Raum, der Navigationszentrale. Die Raumhöhe entsprach drei Decks, rechter Hand standen die Arbeitstische mit integrierten Computern und digitalen Kartensystemen zum Vermessen und Kartographieren. An der Stirnseite hing ein überdimensionierter Monitor auf den die Navigatoren Bilder, Karten, Außenaufnahmen und Analysewerte auf den Großbildschirm übertragen konnten. Marla mochte diese Station besonders, denn von hier gelang einen echter Blick durch zwei große, kreisrunde Bullaugen ins Weltall. Ansonsten verfügte der Transporter nur über wenige Orte mit Aussicht. So hatte es sich für Marla zum Ritual entwickelt, vor Arbeitsbeginn den Ausblick ins dunkle All zu genießen, doch heute war sie besonders spät dran.

Zu ihrem Dienstbeginn befanden sich bereits die Zweite Navigatorin Ina Netson, die Kartografin Jandin Wellers und der Dritte Führungsoffizier Tar val’ Monec im Kontrollraum.

„Guten Morgen, ihr drei“, begrüßte Marla das Team.

Während Ina an ihrem Bildschirm arbeitete und nur ein kurzes „guten Morgen“ erwiderte, kam Jandin zu ihr, um sie zu drücken.

„Hallo Liebes, wieder mal zu wenig geschlafen?“

„Ich konnte erst nicht schlummern und dann war es wieder zwei Uhr.“

Der männliche Kollege gesellte sich zu ihnen.

„Guten Morgen, Frau Santiago. Heute kein Blick aus dem Fenster, bevor die Schicht beginnt?“ Dabei lächelte er ihr freundlich zu.

Tar val’ Monec war im Unterschied zu Marla und den beiden anderen Teammitgliedern kein Mensch. Tar stammte vom entfernten Planeten Krontes.

Die Krontenianer ähnelten den Menschen, großgewachsene Wesen mit haarfreier, hochgezogener Stirn. Zum Ausgleich trugen sie ihr Haar häufig lang und offen. Tar überragte Marla um gut dreißig Zentimeter. Dies entsprach dem normalen Größenverhältnis zwischen Krontenianern und Menschen. Technologisch gesehen hatte in der Vergangenheit zwischen beiden Spezies ein Entwicklungsvorsprung von einigen hundert Jahren existiert. Doch nach einer ersten Kontaktaufnahme, adaptierten die Menschen viel Wissen und kopierten Techniken. Bald stieß die Menschheit in Teile des Weltraums vor, die sie sich nie zuvor erträumt hatte, erreichen zu können und es zeigte sich, wie schön und unterschiedlich sich das Leben außerhalb des eigenen Sonnensystems entwickelt hatte. Nach und nach folgten Übersiedlungen.

„Wurden Sie auf der Erde geboren oder in einer der unzähligen Kolonien?“, setzte Tar sein Gespräch fort.

„Meine Mutter bekam mich auf dem Heimatplaneten“, antwortete Marla.

„Dann sind Sie weit weg von ihrem Zuhause.“

„Das stimmt, doch es hat mich nie gestört. Als ich im Alter von achtzehn Jahren von der Erde abwanderte, ließ ich nicht viel zurück. Meine Eltern waren ein Jahr zuvor bei einem brutalen Übergriff ums Leben gekommen, als unsere Familie am Wochenende einen gemeinsamen Ausflug unternahm.“

„Wie schrecklich! Davon wusste ich nichts“, entschuldigte sich Tar.

„Kein Problem, es ist lange her. Eine paramilitärische Splittergruppe, die nicht der offiziellen Global-Armee der Erde angehörte, verübte zu dieser Zeit vermehrt Attentate auf Menschen, die mit fortschrittlichem Denken Weltraumreisen und den Austausch mit anderen Spezies forcierten. Mein Vater brachte die gesamte Familie ungewollt auf die Abschussliste, da er und sein Unternehmen aktiv am Aufbau stabiler Handelsbeziehungen zwischen Menschen und Krontenianern arbeitete.“

Jandin schaute bedrückt. Tar wollte etwas sagen, fand aber kein passendes Wort und so setzte Marla ihre Geschichte fort.

„Nach dem Anschlag zog ich mich erst einmal aus dem Leben zurück. Als Einzelkind hatte ich wahrscheinlich immer die uneingeschränkte Aufmerksamkeit meiner Eltern genossen und plötzlich waren die Hauptbezugspunkte nicht mehr da. Es blieben eine Handvoll guter Freunde. Doch der Wunsch, die Galaxie kennen zu lernen, rang mir die Entscheidung ab, die Erde zu verlassen.“

„Bei mir war es genauso. Ich meine, ich wollte auch unbedingt mehr über den Weltraum und andere Planeten wissen“, warf Jandin ein.

„Und so haben wir alle auf diesem Schiff zusammengefunden. Wie lange sind Sie jetzt bei uns an Bord?“, wollte Tar wissen.

Marla überlegte kurz.

„So ungefähr acht Monate.“ Sie schmunzelte.

„Nur zwei Trangens. Eine kurze Zeit für den Aufstieg zur Ersten Navigatorin. Respekt!“

Marla lächelte verlegen. „Danke, val’ Monec.“

„Wir haben Kollegen an Bord, die haben sich in all den Jahren nicht weiterentwickelt. Ich kann so etwas nicht verstehen. Man muss doch Ziele haben.“

„Oder sie werden bei der Beförderung nicht beachtet“, murmelte Ina von hinten. Gerade laut genug, dass die kleine Gruppe es hören konnte. Doch der Dritte Offizier reagierte nicht darauf und überging den Kommentar der Navigatorin.

An Bord der „Beautiful Decision“ sprach man Valatar.

Eine gemeinsame Sprache, die es den verschiedenen Spezies ermöglichte, sich miteinander auszutauschen.

Die Sprache galt als verhältnismäßig einfach zu erlernen, obgleich sie einen extrem großen Wortschatz aufwies. Je nach Region oder Sonnensystem wirkte das dort gesprochene Valatar sauber und rein oder war durch die Einflüsse der dort lebenden Kulturen sprachlich verunreinigt. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten war es erstaunlich, wie schnell sich die einflussreichen Völker auf eine gemeinsame Kommunikationsstruktur geeinigt hatten. Im Laufe der Zeit nahmen es einige Lebewesen, die so genannten „Sprachwandler“, für sich in Anspruch, Valatar durchgängig bis in die Tiefe aller regionalen Besonderheiten sprechen zu können.

Ina hatte in der Zwischenzeit ihren Bildschirm ausgeschaltet, war aufgestanden und gesellte sich zu den drei anderen.

„Ja, am Anfang habe ich Marla hier noch alles in der Nav-Zentrale erklärt und nun ist sie schon verantwortlich für das, was wir Navigatoren hier so treiben.“

„Und das hat sie gut gemacht“, bestätigte Marla. „Ich hatte von Anfang an das Gefühl dazuzugehören und als Teammitglied akzeptiert zu werden“ Das reicht jetzt, genug hofiert!, entschied Ina. Es wird Zeit zu gehen.

„Ich bin hundemüde. Es gab keine besonderen Vorkommnisse, lediglich zwei Asteroidenkontakte. Die habe ich im Logbuch dokumentiert.“

Mit diesen Worten wandte sich Ina ab und ging zum Aufzug.

„Wir befinden uns auf einer Standardroute. Ich rechne bis morgen früh auch nicht mit Problemen“, erklärte Tar den beiden diensthabenden Frauen. „Sie finden mich in meiner Unterkunft.“

Unser Führungsoffizier geht sich entspannen und wir haben die Arbeit, schoss es Marla durch den Kopf. Sie verkniff es sich aber, ihre Gedanken laut auszusprechen und antwortete nur. „Okay. Wir halten die Stellung.“

„Funkt mich bei Bedarf an.“

Tar lief Ina hinterher und gemeinsam verschwanden sie im Fahrstuhl.

Marla war den ganzen Tag euphorisch gewesen. Sie hatte in der letzten Schicht etwas Interessantes in diesem Planetensystem entdeckt und wollte nun einige Werte prüfen, bevor sie darüber mit dem Captain sprechen würde. Doch zuerst benötigte sie einen kleinen Fitmacher. Sie ging zu der großen, langen Konsole auf der linken Seite des Raums. Ein massives Brett aus gedunkeltem Holz verlief an der Wand entlang, bis nach vorne zu den beiden großen Bullaugen vor dem Großbildschirm. Auf Höhe der drei Arbeitsplätze stand ein Kaffeeaufbereiter, der ein köstliches Kaffeesurrogat produzierte. Echten Bohnenkaffee bekam man in diesem Planetensystem selten zu Gesicht und der kleine Bestand, den sie sich von Gaya mitgenommen hatte, verbrauchte sich viel schneller, als erwartet.

„Jandin. Möchtest du auch einen Becher?“

„Ja. Gerne“, entgegnete diese und stand auf, um ihr Getränk abzuholen.

Der Duft ist herrlich, dachte Marla. So ein Schluck macht fit.

Marla füllte zwei Becher und reichte einen Jandin.

Die beiden Frauen hatten sich seinerzeit schnell angefreundet, kurz nachdem Marla als neues Mitglied an Bord gekommen war. Häufig arbeiteten sie in gleichen Schichten und folglich resultierte daraus auch gemeinsame freie Zeit.

„Gehen wir heute Nachmittag zusammen auf das oberste Deck Joggen?“, wollte Jandin wissen.

„Gerne. Vom Fitnessraum habe ich erst einmal genug, aber ein paar Runden Laufen wird uns gut tun. Vorher muss ich einen Abstecher in die Bibliothek unternehmen.

Das letzte Buch habe ich nur so verschlugen.“

„Bist du deshalb wieder so spät ins Bett gekommen oder gab es einen anderen, vielleicht männlichen Grund?“, hinterfragte Jandin grinsend.

Die Navigatorin seufzte.

„Nein, ein Mann war nicht schuld.“

Jandin und Marla hätten unterschiedlicher nicht sein können. Kurzes schwarzes, glatt gekämmtes Haar umgab den Kopf der dicklichen Kartografin. Das Gesicht wirkte schlank, doch die kleine Stupsnase schien etwas verloren unter den grünen Augen und über dem breiten, leicht geschminkten Mund. Ihre Körpergröße und die Auswahl von locker legeren Oberteilen, kaschierte das vermeintliche Körpergewicht geschickt. Jandin machte gerne Radau. Wenn ihr etwas nicht passte, bekam es jeder zu hören, ob er wollte oder nicht. Dennoch verband Marla und Jandin eine gemeinsame Wellenlänge, welche die Kartografin sonst zu wenigen im Schiff fand.

Während Jandin zurück an ihr Pult schlenderte, benutzte Marla einen Arbeitsplatz mit Raumscanner und Langstreckenanalyser. Sie, als Erste Navigatorin, trug die Hauptverantwortung für die Sicherheit des Raumschiffs beim Flug durch die Weiten des Alls. Gleichzeitig koordinierte sie als Teamführerin dieser Abteilung die Aufgaben aller Kollegen und deren Schichten. Neben Jandin, Ina und dem männlichen Navigator Richard Kallers arbeiteten noch eine Handvoll Mannschaftsdienstgrade auf dieser Station.

„Ich messe auf dem Schirm einen Stern mit recht hoher Eigenbewegung“, verständigte Jandin ihre Freundin.

„Ich denke, er ist vorbei, bevor wir seine Flugbahn kreuzen. Brauchen wir eine genauere Auswertung?“

„Es gehört zu unseren Hauptaufgaben ...“, begann Marla.

„Ja, ich weiß ... zu den Hauptaufgaben Gefahren für das Schiff rechtzeitig zu erkennen und den Piloten einen sicheren Flugkanal zu berechnen“, fiel Jandin ihr ins Wort.

Marla machte zur Bestätigung ein Zeichen, einen aus Daumen und Zeigefinger gebildeten Kreis, und die Kartografin leitete ihre Überprüfung ein. Anschließend betrachtete Jandin die Aufzeichnungen, welche die automatischen Systeme in der letzten Stunde mitgeschrieben hatten und analysierte die Besonderheiten des durchflogenen Raums.

„Noch bis zum Ende der Woche“, seufzte sie. „Dann folgen Tage komplett ohne Nachtschicht.“

„Endlich wieder durchschlafen“, erwiderte Marla.

Die erste Schicht eines Tages begann um zwei Uhr in der Nacht und betrug acht Stunden. Durch den vorgegebenen Arbeitsrhythmus ergaben sich für alle Mannschaftsmitglieder immer wechselnde Arbeitszeiten.

Captain Rati val’ men Porch, von seiner Crew liebevoll der Erste genannt, und sein Vertreter, Co-Captain Vanti val’ tech Dahr, genannt Zweiter, wechselten sich flexibel ab, machten gelegentlich auch gemeinsam Dienst, je nachdem wie sie von der Crew benötigt wurden.

Unterstützt und vertreten wurden sie durch den Dritten Führungsoffizier Tar val’ Monec. Alle drei Offiziere waren Krontenianer.

Marlas Bildschirm zeigte die Login-Maske und sie tippte zwecks Identifikation den Zugangscode ein.

„Mist, schon wieder Monatswechsel“, grummelte sie.

„Ja. Das hatte ich vorhin auch“, entgegnete Jandin.

„Neuer Monat, neues Kennwort. Sicherheit muss sein.“

Die Erste Navigatorin überlegte kurz und tippte einen neuen, zwölfstelligen Code über das im Tisch integrierte Tastenfeld ein. Eine Animation huschte über den Schirm und gab die Arbeitsoberfläche frei.

Unverhofft signalisierte der Fahrstuhl die Ankunft eines Lifts, die Edelstahltür driftete seitwärts und heraus sprang der junge Fähnrich val’ Volleg.

„Na, Mag. Etwas spät dran?“, fragte Marla provozierend.

„Äh, es tut mir leid. Der Wecker … Ich habe verschlafen“, entgegnete Mag val’ Volleg.

„Dann wollen wir das mal für uns behalten und den Captain damit nicht behelligen.“

Marla schaute den Fähnrich von oben bis unten an. Seine Arbeitskleidung saß schlampig, die Schuhe waren zerschlissen und am Hemd fehlte ein Druckknopf. Sein Gesicht lief vor Verlegenheit rot an. Mag gehörte ebenfalls zur Spezies der Krontenianer und überragte mit seinen fünfzehn Jahre die Erste Navigatorin bereits um Daumenbreite. Ein schlanker Kerl, mit unverkennbar hochgewachsener, haarfreier Stirnform.

Marla und Mag hatten ein angespanntes Verhältnis.

„An manchen Tagen gefällt mir deine wissbegierige, allseits interessierte Art. Man braucht die Dinge nur einmal zu erklären. Sofort hast du sie verinnerlicht“, lobte Marla.

Mag grinste selbstsicher.

„An anderen Tagen könnte ich dich verfluchen, wenn du zum wiederholten Male durch deine zerstreute und chaotische Art die eigenen Scannerergebnisse unbrauchbar machst.“ Marla musterte Mag erneut.

„Oder wenn dein Äußeres so aussieht wie heute Nacht!“

Sein Gesicht wurde ernst. „Es tut mir leid. Ich werde mich anstrengen.“

Die Navigatorin nahm ihn hart ran. Seine Ausbildung hatte erst vor zwei Tagen begonnen, aber sie kannte den jungen Mann bereits seit drei Monaten von anderen kleinen Projekten, bei denen Mag ausgeholfen hatte. Sein Status, neben Fähnrich auch der Neffe des Co-Captains zu sein, beeindruckte in der Navigationszentrale niemanden, doch da er sich nicht hinter seinem Onkel versteckte, ließ Marla ihm das eine oder andere kleine Missgeschick durchgehen.

„Jetzt ist Nachtschicht und das bedeutet, wir haben die Ruhe, uns alles anzuschauen und dich mit den Werkzeugen der Nav-Zentrale vertraut zu machen.“

Sie lächelte Mag an.

„Gerne, da bin ich sehr neugierig.“

„In den vergangen zwei Tagen hast du hier nur rumgelungert, dich nie wirklich eingebracht. Okay, du bist neu, aber Zeit absitzen und auf dem Stuhl im Kreis drehen bringt nichts.“ Marla blickte den Fähnrich auffordernd an.

Jandin hatte gelauscht und gluckste. Sie klatschte in die Hände und hatte Spaß. Dann biss sie sich auf die Lippen und drehte sich samt Stuhl wieder zurück zu ihrem Bildschirm.

„Nun will ich dir alles zeigen und die Wichtigkeit dieser Abteilung erklären“, begann Marla. „In den letzten dreihundert Jahren hat sich viel verändert, viele Überzeugungen und althergebrachte Werte wurden verworfen. Wir dachten und ihr dachtet, man wäre allein in der Galaxie und heute sitze ich hier zusammen mit einem Krontenianer.“

Mag schmunzelte.

„Mit der Technik des einundzwanzigsten Jahrhunderts hätten wir nie geglaubt, jemals den Rand unseres Sonnensystems erreichen, geschweige denn außerhalb in fremden Systemen siedeln zu können.“

Marla legte ihre Hände in ihren Schoß.

„Derzeit kennen wir einundfünfzig bewohnte Systeme.

Entweder kreisen deren Planeten um mindestens eine Sonne in ihrem Zentrum oder die Himmelskörper bewegen sich periodisch um ihren gemeinsamen Schwerpunkt. In dieser Auswahl von Lebensräumen entwickelten sich unterschiedliche Spezies, Ideologien, Religionen, ganz verschiedene Floren und Faunen.“

„Ja, es ist faszinierend“, fiel Mag ihr ins Wort. „Ich könnte niemals einfach nur so auf einem Planeten wohnen. Da draußen ist so viel los, so viel, was erkundet werden will.“

Das Gefühl kenne ich gut, schloss sich Marla in Gedanken an. Schließlich hat mich damals auch nichts mehr auf der Erde gehalten.

„Du hast Recht. Wir haben unzählige Dinge in den letzten Jahrhunderten erfunden. Man denke nur an den Pro-Puls-Antrieb. Ohne ihn wäre es uns niemals möglich gewesen das eigene Sonnensystem zu verlassen und eine Spezies wie die deine kennenzulernen.“

Marla rutschte mit dem Stuhl näher an ihre Arbeitsstation, Mag rollte daneben. Sie vollführte einige Eingaben und auf dem Bildschirm bauten sich Planeten, Sonnen und ganze Systeme auf. Immer weiter scannte sie durch die bekannten einundfünfzig Abschnitte. Dann übergab sie das Resultat auf das großdimensionierte Display an der Frontseite des Raumes. Marla stand auf und ging nach vorne und der Fähnrich folgte ihr.

„Hier siehst du mein Heimatsonnensystem und den Heimatplaneten der Menschen: die Erde. Dort drüben, zwei Systeme weiter, entstand dein Volk auf dem Planeten Krontes.“

Marla zeigte in die entsprechenden Richtungen.

„Ja“, antwortete Mag.

Natürlich wusste er das alles schon lange, doch er zeigte sich höflich, um die Einführung seiner Ersten Navigatorin nicht zu unterbrechen. Der junge Offiziersanwärter wollte sich anstrengen und Interesse zeigen.

Sein Onkel, der Co-Captain Vanti val’ tech Dahr, hatte ihm vor drei Tagen noch massiv ins Gewissen geredet, aufzupassen und sich zusammenzureißen. Mag mochte seinen Onkel nicht besonders, aber durch dessen Tätigkeit auf der „Beautiful Decision“ ergab sich die einzigartige Chance, um schon mit fünfzehn Jahren ins All aufbrechen zu können. Kein anderer Captain hätte ihn in diesem Alter anheuern dürfen und so übersprang er zwei Jahre.

„Was ist nun die genaue Funktion der Nav-Zentrale?“,

ergriff Mag die Initiative. „Es gibt die Steuerkabine, die Piloten, einen Steuerknüppel? Gang rein und los?“

Zu der Frage lächelte er schelmisch.

Willst du mich schon wieder provozieren?, überlegte Marla.

Fürs erste nahm sie einen weiteren Schluck Kaffee aus ihrem Becher und beide gingen zurück zu ihrem Arbeitsplatz. Wieder huschten die Finger über das Tastenfeld. Neue Grafiken erschienen auf der Anzeige.

Nach und nach wurden die Ergebnisse an den Großbildschirm übertragen und in einer Matrix aus drei mal drei Feldern aufgebaut. Die neun geladenen Animationen zeigten Asteroidenfelder, explodierende Sterne, Supernovae, totale Finsternis und andere Anomalien.

„Deshalb sind wir hier, deshalb ist die Navigationszentrale so wichtig. Wir sind die Augen für die Piloten, wir zeigen, wie die Welt da draußen aussieht und wir finden Gefahren, die das bloße Auge nicht sehen kann.

Regionen, die heute noch frei beflogen werden können, sind morgen vielleicht schon eine tödliche Falle. Der Weltraum ist kein statisches Gebilde, in dem Karten eine hohe Lebenserwartung haben. Permanent verschieben sich die Kräfte. Es entstehen und verschwinden Asteroiden-, Kometen- und Meteoridenschwarmpositionen.

Strahlungseffekte wirken auf den Raum, Anomalien kreuzen die Flugbahnen und vieles mehr.“

Sie nahm den letzten Schluck aus ihrem Becher und stellte ihn zurück auf den Tisch. Der Fähnrich hatte seinen Kopf gesenkt. Marla wusste nicht, ob sie nun in besonderer Form sein Interesse geweckt hatte, denn Mag saß ihr, ungewöhnlicher Weise, sprachlos und nachdenkend gegenüber.

Die verschiedensten Gedanken gingen Mag durch den Kopf. Schon in der Schule interessierte er sich für Astronomie und Flugkunde. Doch diese Art Unterricht lag bereits ein Jahr hinter ihm. Die reguläre Schulzeit auf Krontes betrug acht Jahre. Eine Zeit, in der krontenianische Kinder gedrillt und mit Wissen „gefüllt“ wurden. Mags Gedanken an diese Zeit waren düster. Er hatte immer Schwierigkeiten gehabt, sich zu integrieren, sicherlich lag es an seiner direkten und unruhigen Art.

Brachte er sich ein, warf man ihm häufig vor, er sei zu aktiv und ungestüm. Zu anderen Zeiten wurde er wegen Desinteresse oder Destruktivität aus der Klasse ausgeschlossen. Zu oft verrannte sich Mag in Problemen mit seinen Lehrkräften. Doch das alles lag nun hinter ihm und er konnte dieser Lernmaschinerie entfliehen.

Zumindest dafür war er seinem Onkel Vanti dankbar.

Jetzt musste er aufpassen, um nicht wieder den Anschluss zu verlieren. Hier an Bord bekam er eine neue Chance.

„Okay, wir sind die Augen. Also sind die Karten im Cockpit und den Terminals dynamisch. Sie enthalten das, was wir scannen und filtern.“

„Richtig“, entgegnete Marla. „Und die Karten, die wir beim Hinflug zu einer Transportmission nutzen, können bei gleichem Rückflug bereits verändert oder ungültig sein.“

Sie und Mag betrachteten wieder den Bildschirm.

„Ich habe in der letzten Schicht etwas entdeckt, das wollen wir heute mit weiteren Messungen bestätigen. Es sind noch fünf, vielleicht sechs Tage bis zu unserem Zielraumhafen. Dann werden wir auf Lumpur landen und die Waren aus den meisten unserer Frachträume löschen.“

Ich weiß, dachte der junge Fähnrich.

„Vielleicht lohnt sich aber ein kleiner Umweg.“

Die Navigatorin griente und tätigte weitere Eingaben, prüfte die Werte und Tabellen. Kurz darauf lud sie ihre älteren Scans auf den Bildschirm, um die Daten zu vergleichen.

„Die Informationen haben sich verändert. Aber was bedeutete das?“, hinterfragte Mag.

„Ich hatte das erwartet“, murmelte Marla vor sich hin, doch der Kollege verstand kein Wort. „Machen wir noch einen Test zur Sicherheit“, und schon startete sie einen weiteren Langstreckenscan.

„Das Ergebnis steht in vier Minuten zur Verfügung.“

Marla legte die Hände zurück in ihren Schoß und wartete entspannt, während das System für sie arbeitete.

„Was ist denn los?“, Mag wurde ganz unruhig. „Was suchen wir?“ Er verstand weder die Zahlen der vorherigen Tabellen, noch erahnte er, welche Informationen die Scanner gerade aus den Tiefen des Alls ermitteln sollten. Marla legte einen Finger auf ihren Mund und signalisierte ihm, er möchte warten und ruhig sein. Die Minuten vergingen. Jandin hatte das Geschehen schweigend verfolgt. Mittlerweile war sie aufgestanden, um sich hinter ihre Freundin zu stellen. Die Kartographin legte ihre Hände auf Marlas Schultern.

Leicht und ruhig massierend betrachtete sie von dort den Bildschirm. Marla hob den Kopf und lächelte entspannt.

Ein Blick zwischen den beiden Frauen sagte mehr als jedes Wort. Das Ergebnis des Langstreckenscanners wurde mit einem kurzen Piepen am Bildschirm angekündigt.

„Ja! Fantastisch!“, rief die Navigatorin, als sie die Daten sah und riss vor Begeisterung die Arme in die Höhe.

„Wir könnten in drei Tagen einen Bogen passieren …“ Jandin prüfte die Bildschirmanzeigen ihrer Freundin und erkannte, was Marla gerade eben bestätigt hatte.

„Keine Sorge. Dafür wird unser Captain den Kurs ändern und den kleinen Umweg in Kauf nehmen.“

„Das wäre toll“, erwidert Marla vergnügt.

Jandin freute sich schon jetzt auf das Rendezvous in drei Tagen, doch Mag verstand nicht, was seine Erste Navigatorin entdeckt hatte. Er wusste nichts von einem Bogen und nicht, was das alles bedeuten sollte. Einem Großteil der Crew würde es nicht anders ergehen.

Für viele war es eine Premiere, ein derartiges Ereignis zu erleben.

3. Acht Monate zuvor (237 Tage bis zum Bogen)

Marla Santiago schaute zur Uhr. 10:23 Uhr. Fast gleichzeitig erschienen die drei Sonnenaufgänge über dem kargen Planeten Gaya und tauchten die weit entfernte Welt in ein warmes, gelbfluoreszierendes Licht.

Es würde ein herrlicher Morgen werden.

Gaya gehörte zu den bewohnbaren, aber sehr dünn besiedelten Himmelskörpern im Krios-Sonnensystem.

Weite Teile der Oberfläche bestanden aus nicht bewohnbaren Lavawüsten und reduzierten das Leben Gayas auf einige große Städte. Direkt neben der Hauptstadt Gaya City war ein beeindruckender Raumhafen für Transportschiffe entstanden, dessen Ausmaße sich problemlos mit der Stadt messen konnten. Und obwohl der Planet an sich wenig zu bieten hatte, lag dieser Anlegeplatz doch zentral auf einer der sicheren Haupthandelsrouten zwischen einflussreichen Systemen.

Marla schnürte ihre knöchelhohen Lederschuhe und prüfte den Sonnenstand über der Stadt. Ein Besuch auf dem Markt Gaya Citys würde ihrem Hunger entgegenwirken und ihr eine reichhaltige Auswahl an Speisen bescheren. Unerwartet näherte sich ihr ein Mann und sprach sie an.

„Seien Sie gegrüßt, Frau Santiago.“

„Ähhh … Hallo.“ Überrascht, ihrem einstigen Dozenten noch einmal über den Weg zu laufen, suchte Marla nach Worten. „Herr Vintinius. Was treibt Sie hier runter in die Hauptstadt?“

„Wahrscheinlich das Gleiche wie Sie.“

„Das kann ich mir …“ Sie zögerte. „ … nicht vorstellen.“

„Nun, ich wollte den Tag genießen und ein paar Einkäufe erledigen.“

Der grauhaarige, ältere Herr stand ruhig vor ihr und musterte die ehemalige Schülerin ausgiebig.

Alter Lustmolch!, dachte Marla und suchte nach einem Vorwand, den Gesprächspartner loszuwerden.

„Ich habe mir vorgenommen den Raumhafen zu besuchen. Ich bin auf der Suche nach einem Job.“

„Job. Wieso? Gehörten Sie etwa zur Abschlussklasse des letzten Quartals?“

„Ich habe mein Zeugnis!“, antwortete Marla.

Und bin Sie los, beendete sie den Satz im Geiste.

Auf dem ersten und größten der vier Monde Gayas war vor Jahren eine Akademie für technische, medizinische und akademische Berufe gegründet worden. Eine Internatsuniversität, in der die Kadetten lernten und lebten.

Einige, insbesondere weibliche, leider nicht ganz unbehelligt.

„Wie viel Zeit haben Sie bei uns verbracht, Frau Santiago?“ Der Alte ließ nicht locker.

„Eineinhalb Jahre habe ich dort oben gewohnt“, dabei deutete Marla gen Himmel. „Nach meinem Abschluss bin ich froh, endlich hier auf Gaya zu sein und einiges vom Internatsleben hinter mir zu lassen.“

Sie schaute ihr Gegenüber strafend an.

„Verstehen Sie, was ich meine?“

Marla trat einige Schritte zurück, doch Vintinius verwickelte sie weiter ins Gespräch.

„Hatten Sie nicht in den ersten beiden Semestern bei mir Unterricht? Ich glaube im Fach Gravitationswellen?“

„Ja. Gravitationswellen und Gaffen.“ Marla geriet in Rage. „Ihre Art ist mir zuwider.“

„Wie bitte?“

„Sie haben mich schon verstanden! Und wäre es nicht eines der Pflichtfächer gewesen, keine Frau hätte an ihren Veranstaltungen teilgenommen. Wir haben uns alle so geekelt!“

Es schwieg einen Augenblick.

„Ich bin ein Mann in einem Kursus belegt von attraktiven Frauen. Wer mag einem da einen Blick verübeln?“

„Lassen Sie mich einfach in Ruhe!“, fauchte Marla. „Ich habe Hunger. Nicht auszumalen, ich müsste meine heutige Freizeit mit Ihnen verbringen!“

Marla ließ den Dozenten stehen und lief die Gasse entlang.

Der angrenzende Stadtteil wirkte, als wäre die Zeit stehengeblieben. Viele kleine, maximal drei Etagen hohe Häuser aus hellem Tuffstein ruhten an einem leicht ansteigenden Hang. Die meisten Dächer verliefen flach oder standen über. Die Wege waren mit dunklem Basalt gepflastert und enge Gassen prägten das Stadtbild. Diese Bauweise schirmte das direkte Sonnenlicht ab und brachte eine angenehme Kühle, die viele Besucher in ihren Bann zog. Und auch wenn vereinzelt Bäume von den Bewohnern am Leben gehalten wurden, Regen gab es nur zu drei sehr kurzen Perioden im Jahr.

Bis zum Markt blieb ein Fußmarsch von gut fünfzehn Minuten. Ein paar Mal klopfte Marla über ihre hellen Hosenbeine, um sie vom Staub zu befreien. Ihre Haare wehten im leichten Wind und sie streifte einige der braunen Strähnen hinter die Ohren. Hin und wieder schaute Marla zurück. Vintinius tauchte gelegentlich zwischen den anderen Personen auf. Entweder hatte er noch nicht aufgegeben oder er benutzte den gleichen Weg. Mit einem Mal wurde jegliche Bewegung in der Gasse unterbrochen.

„Ein fahrender Händler versperrt den Durchgang“, rief irgendjemand. „Sein schwebender Lastentransporter hat sich an der Häuserecke verkantet!“

Die Leute schimpften und innerhalb kürzester Zeit standen verschiedenste Spezies eng gedrängt beieinander. Laut diskutierend warteten sie auf die Freigabe des Weges. Gelangweilt beobachtete Marla zwei eidechsenartige Tiere, die an den hellen Tuffsteinwänden im wärmenden Sonnenlicht ruhten. Unbemerkt hatte sich Vintinius von hinten durch die Menge gedrängt, da spürte Marla seine Hand auf ihrem Rücken. Sie schreckte herum.

„Sie riechen immer noch so gut wie früher“, hauchte er.

Marlas schürzte die Lippen. Sie beugte sich zu ihm vor, legte ihre Wange neben seine und flüsterte: „Mir ist so schlecht. Hauen Sie ab!“

Im gleichen Augenblick holte sie aus und rammte ihm ihr Knie zwischen die Beine. Vintinius taumelte rückwärts zu Boden und stieß einen tierischen Laut aus.

„Nicht in der Akademie und schon lange nicht hier unten auf Gaya!“

Vintinius röchelte und schnappte nach Luft. Sein schmerzverzerrter Blick suchte in der Menge nach Hilfe, doch niemand interessierte sich für den Übergriff.

Kurzzeitig erstarrte er und wirkte verängstigt.

„Was bilden Sie sich ein?“, legte Marla nach. Irgendwie schaffte sie es, trotz ihrer schmalen Statur, beeindruckend auszusehen. „Verschwinden Sie aus meinen Augen. Endgültig!“

Ihre Stimme war hart und ihr Gesicht regungslos.

Vintinius gelang es unter Schmerzen aufzustehen. Er wollte protestieren, doch dann kehrte er ihr den Rücken zu und verschwand humpelnd in der Menge.

Endlich hat ihn jemand in seine Schranken verwiesen.

Marlas Körper setze Adrenalin frei und sie zitterte.

Dessen ungeachtet, es fühlte sich gut an.

„Der Weg ist geräumt, es geht gleich weiter“, rief jemand von vorne.

Nachdem Marla ein Stück gegangen war, nahm sie erste aufregende Gerüche wahr und deutete dies als Zeichen, dass sie den großen Marktplatz bald erreichen würden.

Ab und an warf sie einen prüfenden Blick über die Schulter, doch ihr Verfolger war verschwunden.

Es riecht nach verschiedenen Gewürzen und exotischen Früchten, dachte Marla, während eine weitere Windböe den Geruch von Gegrilltem und Gebratenem zu ihr trieb.

Die Straße vor ihr verbreiterte sich zu einem weitläufigen Platz mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Ständen und Tischen.

„Frische Wangtei-Wurzeln!“, „Saftiger Quos-Sud!“,

„Messer und Werkzeuge aller Art!“

Von überall schallten die Stimmen der Händler. Sie priesen ihre Waren und der Markt von Gaya City entpuppte sich als Fundgrube für exotische Kostbarkeiten und Waren mit Seltenheitswert. Viele der Stände verfolgten die Verköstigung ihrer Besucher. Mit frischen Nahrungsmitteln ließ sich seit Jahrhunderten ein schnelles Geschäft erzielen. Marla zwängte sich die Gänge zwischen den kleinen und großen Ständen hindurch und die Zeltdächer tauchten die Wege in ein gedämpftes Licht. Der vordere Teil des Marktplatzes zeigte sich staubig und verdreckt. Heruntergefallene Speisen, weggeworfene Verpackungen und sonstiger Unrat rollten den Besuchern zwischen die Füße. Weiter hinten, wo sich weniger Kundschaft drängte, wurde es besser und zudem ruhiger.

Erneut wehten köstliche Düfte durch die Luft.

„Haben Sie Hunger, hübsches, junges Mädchen?“, fragte eine unbekannte Stimme in höflichem Valatar.

Marla schaute sich um und schmunzelte. Sie hatte vor dem Stand eines trifallianischen Kochs angehalten.

Junges Mädchen?, dachte sie. Marla war fünfundzwanzig Jahre, aber sie freute sich über die Schmeichelei.

„Es riecht herrlich aus ihren Töpfen“, lobte sie. „Was kann ich bei ihnen zu essen bekommen?“

Während der Koch einige Suppengerichte aufzählte, betrachtete Marla die üppige Statur des Trifallianers.

Seine Haut schimmerte dunkelbraun und lag in Wellen über dem Körper. Bekleidet war er mit einem sehr hellen, fast weißen Umhang, auf dem sich nicht ein einziger Fleck befand.

Er gleicht einer „Hausmutter“-Raupe, die aus einer Vielzahl von Ringen besteht, dachte Marla.

„Sie schauen mich so an. Meine Gattung ist von Natur aus mit einem beleibten Körperbau ausgestattet. Es liegt nicht an meinem Beruf als Koch“, entgegnete der Trifallianer leicht beleidigt.

„Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht anstarren. Trifallianer gelten im ganzen System als großartige Gourmets.

Sie in diesem Sektor des Weltraums anzutreffen, ist jedoch eher selten.“

„Danke für das Kompliment. Darf ich ihnen dann vielleicht eines meiner Gerichte anbieten?“

An den Tischen neben seinem Marktstand saßen bereits einige Kunden und hatten sichtlich Freude an der Unterhaltung der zwei.

Marla bestellte einen Nudeleintopf und nahm Platz. Als der Koch wenig später das bestellte Essen brachte, neigte sie sich zu ihm. „Ich möchte noch etwas fragen. Die Kette, die Sie um den Hals tragen, was hat sie für eine Funktion?“

„Das Klima und die Luft auf Gaya sind für uns Trifallianer noch undankbarer, als für einen Menschen wie Sie.

Infolgedessen trage ich seit dem Verlassen meiner Heimatwelt diesen Kantar. Die steife, dickwandige Kette hilft mir, problemlos durchzuatmen.“ Dabei zeigte der Koch auf das Sekret, dass am Rand zur Atemunterstützung ausdampft.

„Verstehe.“

Marla verspeiste ihren Nudeleintopf und beobachtete den Trubel, der sich außerhalb des Standes abspielte.

„Einfach köstlich“, lobte sie, als sie das leere Geschirr auf der Theke abstellte. „All diese Düften. Beeindruckend.“

„Das freut mich, besuchen Sie mich doch bald wieder.“

Wenn ich heute keine Anstellung im Raumhafen finde, bestimmt!, entschied sie.

„Was bin ich Ihnen schuldig?“

„Drei Rollar“, entgegnete der Küchenchef.

Ein fairer Preis für ein feudales Essen. Sie gab einen Rollar Trinkgeld zusätzlich und stürzte sich wieder in den Trubel des Marktes.

4. Havarie (237 Tage bis zum Bogen)

Am Stadtrand von Gaya City angekommen, entschied Marla, für den verbleibenden Weg eine Fahrmöglichkeit zu suchen. Die Füße schmerzten und die junge Frau gestand sich ein, die Entfernung bis zum Raumhafen eindeutig unterschätzt zu haben. Ohne Unterlass pendelten Fahrzeuge mit Radantrieb, Ketten- oder Hoover-Technologie auf der Hauptstraße an ihr vorbei, um Personen sowie Material zu den benachbarten Orten oder auf das Hafengelände zu befördern.

„Taxi! Taxiiiii!“, rief sie und winkte dazu, immer wenn eines der gelbweißen Fahrzeuge in Sichtweite auftauchte.

Doch auch das achte oder neunte Gefährt fuhr vollbesetzt an ihr vorbei.

Es gibt hier zu wenige Taxis, dachte Marla genervt, kurz bevor neben ihr ein hellgelbes Hoover-Taxi mit leisem Surren zum Halten kam und sich auf den Boden absenkte.

„Benötigen Sie eine Fahrgelegenheit?“, erkundigte sich ein freundlicher Fahrer durch das geöffnete Seitenfenster.

Meine Rettung, lobte sie und stieg ein. „Bringen Sie mich bitte zum Raumhafen.“

Der Hoover hob ab, nahm kaum spürbar Fahrt auf, reihte sich in den Verkehrsfluss ein und bog nach einiger Zeit in die große Straße zum Raumhafen ein.

„Ich heiße Brunar. Darf ich fragen: Gibt es ein bestimmtes Ziel auf dem Hafengelände?“

„Mein Name ist Marla. Nein, bringen Sie mich einfach zum Eingang. Danke.“

Die Zufahrtsstraße zum Raumhafen beeindruckte Marla wie selten etwas zuvor.

„Was für eine riesige Allee“, staunte sie.

„Wie Sie sehen, lasten wir die fünfspurige Hauptstraße problemlos aus, um die umliegenden Städte mit ihren großen Lagerhallen und unzähligen Geschäften an die Hafenanlage anzubinden.“

Marla schaute abwechselnd links und rechts aus den Fenstern des Hoovers. „Es ist ein unbeschreibliches Verkehrsaufkommen.“

„Mögen Sie große Bäume?“, fragte der Fahrer wenig später, als durch die Frontscheibe riesige Gewächse erkennbar wurden.

„Arzeleibäume!“, rief sie voller Freude.

„Und zwar genau achtzig Stück. Der Raumhafen hat sie extra für die Hafenzufahrt nach Gaya einfliegen lassen.

Wenn Sie mich fragen, eine sinnlose Geldverschwendung.“

Wie schön, dachte Marla beim Anblick der Bäume und verfiel darüber in Gedanken.

Eines Abends, vor gut fünf Monaten, hatte Marla unter einem großartigen Exemplar eines Arzeleibaums gesessen. Auf dem bevölkerten Mond hatte es fast keine Flora gegeben. Nur innerhalb des Universitätsinternats bemühte man sich, einige Pflanzen zu züchtet und von den Studenten betreuen zu lassen. Der große Arzeleibaum im Zentrum des gigantischen Auditoriums galt als ganzer Stolz der Universität. Sein Aussehen war atemberaubend. Ein extrem dicker, von Kerben durchfurchter, kurzer Stamm, der sich nach oben verjüngte, trug eine mächtige, weit ausladende Krone mit unförmigen Ästen und unzähligen länglichen, handgroßen Blättern. Marla war guter Laune gewesen, denn dieser Tag auf Gayas erstem Mond war fantastisch verlaufen. Zwei erfolgreich abgeschlossene Klausuren hatte sie zurückbekommen, zusätzlich die Zusage für ein neues Projekt nach ihren Vorstellungen. Der Arzeleibaum hatte sich zum allabendlichen Treffpunkt von Marla und Ben, ihrem besonderen Glück, entwickelt. Die beiden waren an jenem Tag genau zweihundertzweiundzwanzig Tage ein Paar und sie wollte feiern. Marla hatte gewartet, sehr lange, doch Ben war an diesem Abend nicht gekommen.

Am nächsten Tag sah sie ihn mit einem anderen Mädchen. Seine Neue. Aussehen – eine „Bombe“. Marla hatte Ben zur Rede gestellt und es folgte das unvermeidliche Streitgespräch. Doch für Ben war die Beziehung bereits beendet gewesen, bevor Marla es überhaupt bemerkt hatte. In den verbleibenden Monaten konzentrierte sie sich verbissen auf ihren Abschluss und vollführte einen Bogen um männliche Wesen. Die Liebe zu Arzeleibäumen war bis heute geblieben.

Marla blickte auf. Das Taxi näherte sich den großen Eingangstoren des Raumhafens.

„Ziel erreicht“, verkündete der Fahrer und bremste.

„Wünschen Sie vielleicht eine Extrarunde über das Gelände?“

Marla schaute unentschlossen. „Danke! Ich denke, ich komme klar.“

„Zahlen Sie mir die zehn Rollar für die Fahrt hierher.

Den Rest spendiere ich für ein Lächeln.“

Marla griente. „Warum bekomme ich eine Bonustour?“

„Während der Fahrt habe ich ihr Gesicht im Spiegel beobachtet. Sie sind schon länger auf Gaya“, erklärte Brunar.

„Meine letzten eineinhalb Jahre verbrachte ich auf dem ersten Mond des Planeten.“

„Ah, dann ist meine Vermutung noch nicht widerlegt.

Das Internat benutzt eigene Shuttles für den Transfer und besitzt eine autonome Landestation am Stadtrand.

Der Raumhafen ist ihnen fremd. Umso näher wir dem Gelände kamen, desto aufgeregter rutschen Sie über die Rückbank meines Taxis.“

Marla bemerkte, Brunar hatte die Situation gut wahrgenommen, zweifelsohne war sie nervös, aber auch voller Vorfreude.

„Ich denke, Sie wollen Gaya verlassen. Mit großer Sicherheit für immer. Da Sie bis vor kurzem das Internat besucht haben, werden Sie nun nach Arbeit auf einem der Raumschiffe Ausschau halten.“

„Ausgezeichnet. Sie sind ein guter Beobachter“, entgegnete Marla erstaunt.

Brunar lachte und erzählte weiter.

„Da der Raumhafen im letzten Jahr umgebaut wurde, können Sie meine Hilfe benötigen.“

Marla reichte einen Zehn-Rollar-Schein nach vorne.

Brunar nickte zufrieden, nahm erneut Fahrt auf und schwebte durch den Haupteingang.

„Meine Tochter ist ungefähr in ihrem Alter“, der Fahrer schaute nach hinten. „Sollte Solinja Hilfe benötigen ... Ich hoffe auch immer, sie gerät an den Richtigen. Jemand der hilft, ohne sie auszunutzen.“

„Danke“, stimmte Marla zu.

Eine Zeit lang folgte das Taxi der ausgebauten Straße und egal, wie lange sie fuhren, das Arsenal erstreckte sich soweit die Augen blicken konnten. Außen herum grenzte ein Zaun den Zugang ab, an den sechs Ecken erhoben sich mächtige Kontrolltürme.

„Existieren im Raumhafen keine Zugangsbeschränkungen oder Sicherheitszonen?“, wollte Marla wissen.

„Nein. Jedermann kann sich frei bewegen. Die Besatzungen sind für den Schutz ihrer Raumschiffe selbst verantwortlich. Dafür können beim Hafenmeister zusätzliche Wachmannschaften angefordert werden. Gegen Rollars natürlich.“

Als das Taxi die ersten Hangars passierte, erblickte Marla vereinzelt Schiffe, die massiv von Wachpersonal abgeschottet wurden. Weitere Minuten vergingen, bis sie den zentralen Tower des Hafens passierten.

Wahnsinn!, ging es Marla durch den Kopf, als ihre Augen der Silhouette des Betongebäudes hoch zum Himmel folgten. Der untere, weiß gestrichene Gebäudekomplex entsprach in seiner Form einer imposanten, lang gestreckten Pyramide. Über die abgerundeten Kanten rasten pulsierende Markierungslichter, die auch am lichten Tag weit sichtbar leuchteten. Der Hafenmeister samt Team nutzte laut den Hinweisschildern die untersten drei Etagen. Den mittleren Abschnitt, ein Bereich frei von Fenstern, zierte das runde Firmenlogo des Hafen-betreibers. Darüber lagen weitere Stockwerke mit Büroräumen. Die gekappte Spitze des Towers trug eine zusätzliche, zylinderförmige Etage von beachtlichen Ausmaßen.

„Dort oben arbeitet die Flugsicherung“, informierte der Fahrer und deutete zum aufgesetzten Gebäudemodul.

„Eine technische Meisterleistung“, staunte Marla, „wie die kreisrunde Etage, trotz ihres beachtlichem Durchmessers, dort oben allen Naturgewalten widersteht.“

„Sie haben recht“, bestätigte Brunar.

Das Taxi bog zu den Landeplätzen ein.

„Hier finden Sie über zweihundert Andockstellen für die verschiedensten Raumschiffklassen. Die erste Anlaufstelle für alle, die einen Arbeitsplatz an Bord eines Raumschiffs suchen.“

„Fantastisch! Bitte halten Sie an. Von hier aus möchte ich zu Fuß weiter gehen.“

Das Hoover-Taxi hielt an der Seite des Gebäudes.

„Vielen Dank für die kleine Sightseeing-Tour“, bedankte sich Marla und sprang aus dem Fahrzeug.

„Gerne. Ich könnte ihnen noch so viel mehr zeigen. Doch ich verstehe ihren Drang, die Liegeplätze zu besuchen.

Erfolg wünsche ich ihnen!“

Brunar winkte kurz, dann schwebte der Hoover wieder über der Straße und entschwand zurück zum Hauptausgang.

Marla atmete tief durch und streckte sich. Die Luft wurde zum Nachmittag erträglicher, als die erste der drei Sonnen hinter dem Horizont von Gaya City verschwand.

Ich bin angekommen, dachte Marla froh gestimmt. Es riecht nach Arbeit und ich werde mir einen schönen Job suchen!

Marla lief an den Andockstellen entlang und staunte.

Kleinere Schiffe nutzten oft zu viert eine Landeinsel. Die mittelgroßen Transportschiffe, Handelsschiffe und Mittelstreckenraumschiffe teilten sich Abschnitte. Gut fünfzehn Raumschiffe benötigten dermaßen Platz, diese fliegenden Städte ragten über ihre Parkflächen hinaus.

Kolosse, gebaut für die Weiten des Alls, grübelte Marla. Nur Inspektionen oder Umbaumaßnahmen könnten sie zum Abstieg aus dem Planetenorbit zwingen. Egal. Mir sind sie zu groß und ohnehin zu unpersönlich.

In der gesamten Landezone herrschte permanenter Lärm, dutzende von Flugobjekten kreisten über der frisch ausgebildeten Navigatorin. Immer wieder starteten Schiffe und verschwanden in der Stratosphäre. Glühende Gase verwirbelten die Luft, wenn die Bremsraketen der Metallkolosse zündeten. Darüber hinaus kreuzten die Barkassen der Hafenmeisterei am Himmel und wiesen die großen Schiffe in ihre Parkpositionen ein. Eine Böe erfasste Marla und wirbelte ihr die schulterlangen Haare ins Gesicht. Um weiteren Windstößen vorzubeugen, band sie ihre Haare zum Zopf.

Das Leben in einem Ameisenhügel scheint ruhig zu sein, im Vergleich zu diesem Trubel.

Marla rief sich das endlose Treiben der kleinen Krabbeltiere vor Augen, welches sie als Kind immer fasziniert im Wald hinter ihrem Zuhause beobachtet hatte.

Lautes Getöse riss sie jäh aus ihren Tagträumen. Sie konnte nicht sofort orten, woher das Geräusch kam, als unerwartet ein großer Schatten den Boden um Marla verdunkelte. Instinktiv blickte sie nach oben.

„Was zum ...“ Einige Meter über ihr driftete ein Abfallcontainer-Hoover, eine typische Containerbarkasse zum Entsorgen von Schutt und Schrott, mit massiver Schlagseite. Aus einem der vier mächtigen Antriebsaggregate drang tiefschwarzer Rauch.

„Vorsicht!“, schrie jemand hinter ihr, doch schon schlugen erste Metallteile, Stangen und Bolzen direkt neben Marla zu Boden. Sie erstarrte vor Schreck, war nicht fähig sich zu bewegen. Teile des Asphalts splitterten ab und schossen an ihr hoch. Ein beißender Schmerz durchfuhr sie, als ihr Arm getroffen wurde. Sie blutete, ihr wurde flau im Magen und sie merkte, wie ihr die Knie zitterten.

Der Hoover geriet nun vollends außer Kontrolle und stürzte nach unten auf sie zu.

„Verdammt!“, kreischte sie.

Mit letzter Kraft hechtete die verletzte Frau zur Seite und rollte sich ab. Öliger, beißender Gestank und zu Boden tropfende Flüssigkeiten waren das Letzte, was Marla wahrnahm, bevor es um sie dunkel wurde.

5. Glück im Unglück (237 Tage bis zum Bogen)

Es roch nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten als Marla die Augen aufschlug. Sie erwachte in einem bequemen Bett, dem einzigen Mobiliar eines weiß getönten Raums. Ihr rechter Arm schmerzte und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen.

Was ist passiert?, schoss es ihr durch den Kopf. Warum bin ich hier?

Doch sie konnte sich an nichts erinnern. Verstört schaute Marla um sich und entdeckte an der gegenüberliegenden Wand die Projektion einiger Vitalfunktionen.

Die Diagramme zeigen die Herzfrequenz, Blutdruck, Nährstoffgehalte …, dachte sie, während ihr Blick der Anzeige von links nach rechts folgte. Daneben leuchteten Röntgenaufnahmen von Marlas Oberkörper. Sie setzte sich auf und rutschte nach vorne zur Bettkante. Erst jetzt bemerkte sie die Fixierung ihres rechten Ellenbogengelenks durch eine Medi-Kompresse, eine stramme Bandage mit digitaler Anzeige und den zwei darunter pulsierenden Lämpchen.

Ich war am Raumhafen ... Auf der Suche nach Arbeit ... Langsam kehrten ein paar Erinnerungen zurück.

Es scheint mir gut zu gehen, schätze Marla die Lage ein, rieb mit der anderen Hand über den Verband und drehte vorsichtig den Unterarm.

Sie bemerkte ein leichtes Vibrieren der Kompresse, dazu ein leises Summen. Gelegentlich kribbelte der Arm, gefolgt von einem erträglichen Stechen.

Auf der rechten Seite des Krankenzimmers entdeckte Marla ein virtuelles Fenster. Sie verließ das Bett und benutze den Taster neben dem hochauflösenden Display.

Je nach Auswahl erschien ein Ausblick auf die schönen Waldlandschaften von Valmeeré, auf die Küstenzone von Xantiar oder die Täler von Amur.

Nicht schlecht.

Sie entdeckte ein kippbares Glas und betätigte den daran angebrachten Hebel. Leicht und unauffällig drang entsprechender Duft in den Raum. Marla schlenderte zurück zum Krankenbett.

Unvermutet schwang die Tür auf, ein Mensch und ein Krontenianer traten ein. Beide in Weiß gekleidet, so wie man es von medizinischem Personal erwartete.

„Hallo, Frau Santiago. Wie fühlen Sie sich?“ Mit einem flüchtigen Lächeln schaute der Krontenianer sie fragend an.

Arzt oder Pfleger?, überlegte Marla und wich dabei einen Schritt zurück in Richtung Bett.

„Na, wenn das mal nicht Ihr persönlicher Glückstag ist“, schloss der Kollege sich dem Gespräch an.

„Ich kann mich nur bruchstückhaft erinnern. Was mache ich in diesem Raum?“

Marla setzte sich zurück aufs Krankenbett. Ihr Gesicht zeigte Unbehagen und Verwirrung.

„Entschuldigen Sie, mein Name ist Dr. Hadda val’ Zech.

Das ist mein Kollege Dr. Roger Mattez. Sie befinden sich auf der Krankenstation des Raumhafens. Über Ihnen havarierte ein Abfallcontainer-Hoover. Abstürzende Metallteile haben Sie verletzt.“

„Wurde ich denn schwer verwundet?“

„Die Operation am Arm ist gut verlaufen und der Heilungsprozess wird durch die Medi-Kompresse unterstützt.“

Langsam kam Marla in den Sinn, was passiert war, und Stück für Stück konnte sie sich wieder erinnern.

„Durch die Verletzung verloren Sie das Bewusstsein“, präzisierte Roger Mattez. „Wahrscheinlich ein Schockzustand. Mitarbeiter des Raumhafens zerrten Sie beiseite, als der Hoover seine Ladung entleerte. Darunter hätte niemand überlebt!“

„Verstehe“, stimmte Marla zu und das Bild vor ihren Augen vervollständigte sich. Bedächtig strich sie über die Haut neben der Medi-Kompresse. „Wo befindet sich diese Krankenstation?“

„Sie ist in der fünften Etage des Towers untergebracht“, antwortete Dr. val’ Zech. Unterdessen übergab er Marla ihre Tasche mit persönlichen Dingen. „Wie Sie heißen, wissen wir aus Ihrer Personalkarte. Ich habe sie in das Innenfach zurückgesteckt.“

Marla mochte Krontenianer. Sie wirkten für gewöhnlich friedlich, entspannt und ausgeglichen. Auf ihr Umfeld strahlten sie eine Ruhe aus, wie Santiago es von keiner anderen Spezies kannte. Marla fühlte sich in Dr. Haddas Gegenwart auf Anhieb geborgen. In der Zwischenzeit war Dr. Mattez auf die andere Seite gewechselt und prüfte nun die Anzeigen der Medi-Kompresse.

„Das sieht ja sehr gut aus.“ Er schaltete den Regenerationsprozess ab, das leise Summen der Kompresse verstummte, die Lämpchen erloschen und die Armbandage löste ihre Arretierungen. Behutsam weitete der Chirurg die Manschette und hob Marlas Arm heraus.

„Alles prima verheilt.“ Roger Mattez lächelte seine Patientin an.

„Wie lange habe ich eigentlich auf dieser Station verbracht?“

„Gerade einmal drei Stunden, Frau Santiago. Sie bekommen jetzt von mir eine mobile Schutzmanschette. Die können Sie morgen entsorgen.“

„Die Medizin hat in den letzten hundert Jahren fantastische Fortschritte gemacht“, bestätigte Marla zufrieden, während sie die Verheilung ihres Arms prüfte.

Dr. Mattez nahm eine leichte Manschette aus einem Schrankfach der Seitenwand und befestigte sie vorsichtig um den rechten Arm. Ungeduldig sprang Marla aus dem Bett und schaute sich um.

„Wo kann ich mich umziehen und dieses weiße Hemd entsorgen?“

„Da kann ich Ihnen helfen.“

Dr. Hadda betätigte einen Knopf neben Marlas Vitalanzeigen und seitlich der Eingangstür entfaltete sich ein Paravent aus der Wand.